Sibylle Biermann-Rau

An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen

Eine Anfrage

calwer Paperback

Sibylle Biermann-Rau

An
Luthers Geburtstag
brannten
die Synagogen

Eine Anfrage

Calwer Verlag Stuttgart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung

der Calwer Verlag-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über

http://dnd.ddb.de abrufbar.

2. Auflage 2014

ISBN (eBook) 978–3–7668–4312–8

ISBN 978–3–7668–4204–6

© 2012 by Calwer Verlag Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlags.

Typografie, Satz und Herstellung:

ES Typo-Graphic Ellen Steglich, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart

E-Mail: info@calwer.com; Internet: www.calwer.com

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

I    „Von den Jüden und ihren Lügen …”

(Martin Luther, 1543)

Luthers antijüdische Äußerungen

Exkurs: Begriffsklärung Antijudaismus und Antisemitismus

Die Berufung auf Luthers Judenfeindschaft in der Zeit des Nationalsozialismus

Veröffentlichungen außerhalb der Kirche

Veröffentlichungen innerhalb der Kirche

II   „Wir haben von D. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf”

(Generalsuperintendent Otto Dibelius, 1933)

Hitlers Machtübernahme und die evangelische Kirche

Exkurs: Bekennende Kirche im Überblick

Kirchliche Reaktionen auf die Ausgrenzung der Juden (1933–1935: 1. Phase)

Vielfältige Reaktionen aus dem Jahre 1933 – Kirchenleitungen, Deutsche Christen, Vorläufer der Bekennenden Kirche

Bekennende Kirche ab 1934

Kirchliche Reaktionen auf die Entrechtung der Juden (1935–1938: 2. Phase)

Die Denkschrift von Elisabeth Schmitz 1935/1936

Die Denkschrift an den Führer 1936 und die Bekennende Kirche

Exkurs: Zur Biografie von Elisabeth Schmitz

III  „An Luthers Geburtstag brennen in Deutschland die Synagogen”

(Landesbischof Martin Sasse, 1938)
Kirchliche Reaktionen auf die Reichspogromnacht 1938

Deutsche Christen und Bekennende Kirche

Proteststimmen einzelner evangelischer Christen – Elisabeth Schmitz, Helmut Gollwitzer und andere Prediger (Immer, von Jan), Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer

IV  „Gewiss fällt es der Evangelischen Kirche nicht ein, dem Staat bei seinem Kampf gegen den unheilvollen Einfluss des Judentums in die Arme zu fallen …”

(Landesbischof Theophil Wurm, 1939)

Kirchliche Reaktionen auf das Ausstoßen der Juden (1938–1941: 3. Phase)

Äußerungen aus dem Frühjahr 1939

Äußerungen ab Kriegsbeginn, Herbst 1939

Ein Zeichen am Fuße der Wartburg: Institut zur „Entjudung von Kirche und Christentum“

Kirchliche Reaktionen auf die Vernichtung der Juden (1941–1945: 4. Phase)

Deutsche Christen und Deutsche Evangelische Kirche

Bekenntniskreise

„Stunde Null“ 1945: Bilanz und Fragen

V   „… nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt”

(Stuttgarter Schuldbekenntnis, 1945)

Die evangelischen Bekenntnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit: EKD 1945, Sozietät 1946, Bruderrat 1947

„Nachträge“ zur Judenfrage: Bruderrat 1948, EKD 1950

VI  „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!” (Paulus)

Wegbereiter einer Neuorientierung im Verhältnis zwischen Christen und Juden bis 1978/1980

Personen im Dialog: Albrecht Goes, Martin Buber, Helmut Gollwitzer, Schalom Ben Chorin, Eberhard Bethge, Pinchas Lapide

Initiativen zur Verständigung und Versöhnung

Rheinischer Synodalbeschluss 1980 – Mitverantwortung und Schuld am Holocaust

Umdenkprozess in der evangelischen Kirche bis heute

Konsequenzen für die Gemeindepraxis

Gottesdienst und Bildungsarbeit

Kirchliches Gedenken an die Reichspogromnacht

Umgang mit Synagogen

VII „Luthers Judenfeindschaft ist ein Irrweg” – Ein Beitrag zum Luther-Reformationsjubiläum bis 2017?

Bewertung von Luthers Judenfeindschaft

Kirchliche Ansätze zu einer kritischen Sicht von Luthers Judenfeindschaft

Von der Notwendigkeit einer Absage an Luthers Judenfeindschaft durch die Evangelische Kirche in Deutschland

Nachwort Psalm 126

… in der Übersetzung Martin Luthers

… in der Übersetzung Martin Bubers

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Vorwort

zur ersten Auflage

Es begann mit einer Frage nach dem Gottesdienst, den ich am 9. November 2008 in unserer Friedenskirche zum Gedenken an die Reichspogromnacht vor siebzig Jahren gehalten habe. Eine 72-jährige Frau kommt auf mich zu: „Ja, stimmt das wirklich mit dem Judenhass von Luther?“ Und: „Haben Sie mir da etwas zum Nachlesen?“

Ich finde nichts Geeignetes und stelle schließlich ein paar Kopien zusammen. Durch Gespräche mit anderen verstärkt sich mein Eindruck, dass in unseren Gemeinden nicht sehr viel bekannt ist über Luthers Judenfeindschaft und ihre Wirkungsgeschichte im Dritten Reich sowie über die Reaktionen in der evangelischen Kirche auf die Judenpolitik der Nationalsozialisten. Haben die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse und die vielen Bücher zu diesem Thema nur wenige Interessierte erreicht?

Dabei geht es um eine zentrale Frage, die für uns als Christen in Deutschland eine brennende bleiben muss, auch wenn wir sie nie abschließend werden beantworten können:

Warum konnte diese Zerstörung jüdischen Lebens geschehen inmitten eines christlichen Kulturvolks, inmitten eines Landes, das sich zugute hält, das Land Luthers und der Reformation zu sein?

Als Nachgeborene – Jahrgang 1955 – steht es mir nicht zu, das Verhalten der Kirchen und vieler Christen im Dritten Reich selbstsicher zu verurteilen. Aber ich frage mit Erschrecken: „Warum?“ Diese „Warum“-Frage bricht immer wieder in mir auf, seit ich 1974 mit Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste zwei Wochen in der heutigen Gedenkstätte von Auschwitz war – und auch dann, als im November 2008 Mieciu Langer in unserem Kirchenraum seine persönliche Geschichte des Holocaust erzählte.

2008 war beim 70-jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht viel zu hören vom Schweigen der evangelischen Kirche und vom Widerstand der Bekennenden Kirche gegen den Nationalsozialismus. Wenn man genauer hinschaut, dann kann man aber wahrnehmen, dass es in der evangelischen Kirche insgesamt sogar auch ausdrückliche Zustimmung zur Judenpolitik der Nationalsozialisten gegeben hat, selbst noch zur Reichspogromnacht.

Sicher wurde in der Bekennenden Kirche überwiegend geschwiegen, aber nicht nur aus Angst, sondern auch aus Überzeugung, denn bei den evangelischen Christen in Deutschland bis weit hinein in die Bekennende Kirche gab es eine verbreitete tief sitzende antijüdische Einstellung. Und diese konnte sich unter anderem auf Luther berufen. Er selbst hatte seinerzeit sogar zur Zerstörung der Synagogen geraten.

Auch wenn die Bekennende Kirche nicht in die allgemeine Begeisterung für den nationalsozialistischen Staat eingestimmt hat, richtete sich ihr Widerstand nicht gegen das Unrechtsregime, sondern vor allem gegen nationalsozialistische Übergriffe auf die Freiheit von Kirche und Theologie, und Solidarität gab es nur gegenüber getauften Juden. Nur wenige einzelne Personen aus den Kreisen der Bekennenden Kirche haben gegen die Judenverfolgung protestiert und Juden geholfen, aber sie wurden weitgehend alleingelassen und blieben ohne Rückendeckung in ihrer Kirche. Zu ihnen gehörte auch die bis vor kurzem unbekannte Berliner Studienrätin Elisabeth Schmitz.

Das mündet in die Frage: Wie verarbeitet die evangelische Kirche nach 1945 ihr Verhalten gegenüber den Juden während der Zeit des Nationalsozialismus?

Es dauerte Jahre, bis die mangelnde Solidarität mit den Juden als Schuld erkannt wurde. Und es brauchte Jahrzehnte, bis in Theologie und Kirche eine inhaltliche Abkehr vom traditionellen Antijudaismus vollzogen wurde.

Eine prägnante und verbindliche Distanzierung von Luthers Judenfeindschaft durch die Evangelische Kirche in Deutschland steht noch aus.

Als die Evangelische Kirche in Deutschland am Reformationsfest 2008 – nur wenige Tage vor dem Gedenken an die Reichspogromnacht vor siebzig Jahren – eine Lutherdekade ausruft, die bis zur fünfhundertjährigen Wiederkehr des Thesenanschlags am 31.Oktober 2017 dauern soll, sucht man vergeblich nach einem entsprechenden Wort.

Aber wie können wir heute in Deutschland Luther feiern, ohne seine furchtbaren Äußerungen zu den Juden als Irrweg zu erklären?

All diese Fragen haben mich nicht losgelassen. Und so ist daraus nun ein Buch geworden. Darin geht es um Luther, den Protestantismus und die Juden vor und nach 1945.

Inhalt des 1. Kapitels sind Luthers judenfeindliche Äußerungen, die im Dritten Reich eine nicht unbedeutende Rolle spielten.

Im Zentrum der Kapitel II-IV steht die von den Nationalsozialisten so genannte Reichskristallnacht, die aber nicht ohne den Zusammenhang der 12-jährigen nationalsozialistischen Judenpolitik dargestellt werden kann. Diese Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 markiert zeitlich ungefähr die Mitte des Dritten Reichs, und in den Zerstörungen dieser Nacht „kristallisiert“ sich der Antisemitismus der nationalsozi-alistischen Ideologie. Die brennenden Synagogen, die zerbrochenen Fensterscheiben, die auf die Straßen geworfenen Möbel, das war für alle in Deutschland sichtbar und hat sich als Bild für die Gewalt gegen Juden eingeprägt.

Und in der Reaktion der Christen auf die Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser „kristallisiert“ sich der Antijudaismus der kirchlichen und gerade auch der lutherischen Tradition. Wenn seit Jahrhunderten die Tempelzerstörung als göttliche Bestrafung der Juden gepredigt wird, ist der ausbleibende Protestschrei der „Protestanten“ gegen die Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser nicht überraschend.

In den Kapiteln V-VII wird der Weg der evangelischen Kirche in Deutschland nach 1945 aufgezeigt bis zur Erkenntnis der Mitverantwortung, bis zur Überwindung der „christlichen“ Judenfeindschaft und bis zur nötigen Distanzierung von Luthers entsprechenden Schriften und Predigten.

Schließlich geht mein herzlicher Dank an alle, die die Entstehung dieses Buches ermutigend begleitet haben. Er gilt Prälat i. R. Paul Dieterich, der das Manuskript nicht nur begutachtet, sondern die Arbeit durch wichtige Impulse bereichert hat. Ebenso Pfarrerin i. R. Dietgard Meyer, die als Zeitzeugin und frühere Freundin von Elisabeth Schmitz die entsprechenden Passagen kritisch und konstruktiv gegengelesen hat. Ausdrücklich möchte ich auch der Calwer Verlag-Stiftung und namentlich Andrea Scholz-Rieker als Lektorin für ihre hilfreiche Unterstützung danken.

Und nicht zuletzt haben viele aus dem Freundeskreis und der Familie durch ihr Interesse das Schreiben gefördert, ganz besonders Brigitte Wendeberg. Bei unzähligen Tischgesprächen und aufgrund ihres intensiven Manuskriptlesens hat sie mir darüber hinaus wertvolle Rückmeldungen gegeben. All das hat dazu beigetragen, dass das Buch auch für Nichttheologen verständlich bleibt.

Albstadt-Ebingen, im November 2011 Sibylle Biermann-Rau

Vorwort

zur zweiten Auflage

Die Resonanz auf dieses Buch macht eine zweite Auflage nötig. Sie ist im Wesentlichen unverändert, sodass der Seitenumbruch weitgehend beibehalten werden konnte. Druckfehler wurden beseitigt und ein paar Formulierungen präzisiert, ebenso wie einige Anmerkungen und das Literaturverzeichnis.

Eine inhaltliche Änderung bezieht sich auf den Brief von Elisabeth Schmitz vom 15.11.1938 (S. 158f. und Anmerkung 229): Andreas Pangritz/Bonn machte mich darauf aufmerksam, dass entgegen seiner bisherigen Annahme Schmitz unmittelbar nach der Reichspogromnacht nicht Gollwitzer, sondern Pfarrer von Rabenau kontaktiert und ihm diesen Brief geschrieben hat.

Albstadt-Ebingen, im November 2013 Sibylle Biermann-Rau

I

„Von den Jüden und ihren Lügen …”

(Martin Luther, 1543)

Der Philosoph Karl Jaspers schreibt 1963: „Was Hitler getan hat, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“1 Tatsächlich verkündigt Martin Luther in seinen letzten Lebensjahren Judenhass und rät zu Verfolgungsmaßnahmen wie Synagogenzerstörung, Zwangsarbeit, Vertreibung der Juden aus ihren Häusern und aus dem Land.

Man kann Luther nicht allein die Wirkungsgeschichte seiner Worte anlasten, aber man kommt auch nicht um die bittere Erkenntnis herum, dass Luther sich in seinen späteren Jahren in einer Schärfe gegen die Juden ausgesprochen hat, die noch für führende Nationalsozialisten Anlass war, sich auf ihn als „Patron der Judenverfolgung“ zu berufen.2

Luthers Judenfeindschaft ist allerdings nichts Neues, sie ist bei den Christen im ganzen Mittelalter verbreitet. Die Lage der Juden ist damals überall in Westeuropa von Elend und Vertreibungen gekennzeichnet.3

Den Juden wird vor allem vorgeworfen, sie würden Menschen vergiften und Brunnen, und das sei der Grund für die Pestepidemie. Aber auch Hostienschändung, Ritualmord und Gotteslästerung werden ihnen zur Last gelegt … und nicht zuletzt die Schuld am Tod Jesu Christi. Der Grund für den Hass auf die Juden und den Wunsch, sie loszuwerden, liegt aber auch darin, dass viele Menschen bei den Juden Schulden haben und die handwerklich-gewerblichen Städter in den Juden unerwünschte Konkurrenten sehen.

Nach der Zeit der „spontanen“ lokalen Judenverfolgungen mit Plünderungen und Mord werden im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert die Juden aus den meisten deutschen Reichsstädten, Herrschaftsgebieten und Bistümern vertrieben. Gegen Bezahlung finden sie noch Schutz in manchen der vielen Länder im Deutschen Reich und in Dörfern. Hunderte von Synagogen sind bereits vernichtet. Judenfeindschaft und Judenhass werden in der mittelalterlichen Kirche auch durch Universitäten, Schulen, Schriften und Predigten in der Bevölkerung verbreitet.4 Das ist die Situation, die Luther vorfindet.

Luther äußert sich in allen Phasen seines Wirkens zur Judenfrage, in Vorlesungen über die Psalmen u.a., in vielen Predigten, Briefen und Tischreden und in seinen großen sogenannten „Judenschriften“ („Dass Jesus ein geborener Jude sei“/„Wider die Sabbather“/„Von den Jüden und ihren Lügen“/„Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“/„Von den letzten Worten Davids“).

Das Thema steht für den Reformator nicht am Rande und ist auch nicht auf die genannten Sonderschriften beschränkt, sondern vielmehr im „Grundmuster der Theologie Luthers“ verankert.5

Im Folgenden geht es vor allem um die Äußerungen Luthers aus seinen letzten Jahren, die von Judenfeindschaft und Judenhass geprägt sind (s. S.17ff.). Diese sollen zunächst – bis auf kurze Überleitungen – unkommentiert wiedergegeben werden. Eine Bewertung von Luthers Judenfeindschaft, die in der theologischen Diskussion durchaus unterschiedlich ausfällt, erfolgt erst an späterer Stelle (s.S. 292ff.).

Dieses Vorgehen erscheint mir möglich und auch sinnvoll, denn die meisten, die Luthers Worte seit Jahrhunderten hören und lesen, haben nicht den theologischen Hintergrund, um diese einzuordnen. Luthers Worte wirken zunächst so, wie sie dastehen. Und so werden sie gerade auch in den Veröffentlichungen aus der Zeit des Nationalsozialismus innerhalb und außerhalb der Kirche mit Berufung auf Luthers Autorität zitiert (s.S. 44ff.).

Luthers antijüdische Äußerungen

Auch wenn es dabei vor allem um die Äußerungen aus den späten Jahren 1538 bis 1546 geht, soll Luthers Einstellung zu den Juden in den fünfundzwanzig Jahren zuvor angedeutet werden6.

1514 stellt sich Luther im sogenannten Reuchlin-Streit mit einem Gutachten auf die Seite des Humanisten Johannes Reuchlin. Dieser hatte sich gegen die Forderung des getauften Juden Johannes Pfefferkorn ausgesprochen, jüdische Schriften zu verbrennen.7

1523 erscheint Luthers Schrift: „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei!“ Es ist „Die Wahrnehmung der Juden als Menschen“8 Darin heißt es:

„Darum will ich aus der Schrift erzählen die Ursachen, die mich bewegen zu glauben, dass Christus ein Jude sei von einer Jungfrau geboren, ob ich vielleicht auch von den Juden einige möchte zum Christenglauben reizen. Denn unsere Narren die Päpste, Bischöfe, Sophisten und Mönch, die groben Eselsköpfe, sind bisher so mit den Juden verfahren, dass, wer ein guter Christ gewesen wäre, hätte wohl mögen ein Jude werden. Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Grobiane gesehen den Christenglauben regieren und lehren, so wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ. Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen, haben nichts anderes kundgetan, als sie zu schelten und ihr Gut zu nehmen. Wenn man sie getauft hat, hat man keine christliche Lehre oder Leben an ihnen bewiesen, sondern nur der Päpsterei und Möncherei unterworfen. […]

Wenn die Apostel, die auch Juden waren, so mit uns Heiden gehandelt hätten, wie wir Heiden mit den Juden, es wäre nie jemand Christ unter den Heiden geworden.

Haben sie so brüderlich an uns Heiden gehandelt, so sollen wir wiederum brüderlich an den Juden handeln, ob wir nicht einige bekehren möchten … Und wenn wir uns gleich hoch rühmen, so sind wir dennoch Heiden und die Juden von dem Geblüt Christi, wir sind Schwäger und Fremdlinge, sie sind Blutsfreunde, Vettern und Brüder unseres Herrn. […] Ich hoffe, wenn man mit den Juden freundlich handelt und aus der heiligen Schrift sie säuberlich unterweist, so sollten von ihnen viele rechte Christen werden.“9

In dieser Schrift entfernt sich Luther etwas vom traditionellen kirchlichen Antijudaismus des Mittelalters und schlägt auch in Bezug auf die Juden neue Töne an. Er sieht sogar eine christliche Mitschuld am jüdischen „Unglauben“.

In dieser Schrift, so die EKD-Studie III (s.S. 269), teile Luther zwar das allgemeine Urteil der Kirche seiner Zeit, das jüdische Volk stehe unter dem Zorn Gottes, weil es den in seinen eigenen heiligen Schriften geweissagten Jesus nicht als Messias anerkannt habe. „Er verweist jedoch auf die jüdischen Wurzeln des Christentums, wendet sich gegen Diskriminierung von Juden und jüdischen Lebensformen und redet stattdessen einer liebevollen Zuwendung der Christen zu Juden das Wort, ja er plädiert sogar für ihre Integration in die Gesellschaft. Er hofft, dass dadurch die Juden bereit werden, die christliche Botschaft zu hören und anzunehmen.“10

Luthers freundlicher Ton ist also durchaus zweckgerichtet. Er will die Juden gewinnen, sich zur Kirche der Reformation zu bekehren. Die neue Wertschätzung der Schrift, auch des Alten Testaments, könnte den Juden den Zugang zum Christentum erleichtern, hofft Luther.

Umgekehrt setzen auch die Juden ihrerseits große Hoffnungen auf Luther.11 Diese werden genährt durch Luthers Studium des Alten Testaments in seinem hebräischen Urtext sowie durch seine Auflehnung gegen die Römische Kirche, die die seitherigen Judenverfolgungen mitverantwortet hat.

Die Schrift „Dass Jesus ein geborener Jude sei“ wird deshalb auch von den Juden verbreitet und in Auszügen sogar ins Hebräische übersetzt, während Rom seit 1524 den Reformator als „semi-judaeus“ (Halbjuden) brandmarkt.

Luther ist jedoch mit den Juden nicht ins Gespräch gekommen. Stattdessen ist Folgendes überliefert:12

Als sich die Regensburger Juden zwischen 1519 und 1521 hilfesuchend an Luther wenden, weil ihnen die Vertreibung droht, bleiben sie ohne Antwort.

Ein Gespräch, zu dem 1526 drei gelehrte Juden Luther in Wittenberg aufsuchen, endet mit einer Konfrontation und wird daher auch als „Vergegnung“ bezeichnet.13 Und als der Vorsteher der Juden in Deutschland, Josel von Rosheim, 1537 Luther besuchen möchte, um ihn darum zu bitten, sich für die Wiederzulassung von Juden in Sachsen einzusetzen, weist dieser das Ansinnen in einem Brief „Meinem guten Freunde“ zurück. „Verletzter Glaube, enttäuschte Hoffnung, erstarrte Liebe“, kommentiert Peter von der Osten-Sacken diesen Vorgang.14

Eine breite Bekehrung der Juden zum Protestantismus findet nicht statt. Stattdessen kommt Luther zu Ohren, Juden hätten in Mähren eine erfolgreiche Mission unter Christen betrieben.

Auch wenn die jüdische Religion eigentlich keine aktive Missionstätigkeit kennt, mag es vorgekommen sein, dass einzelne Christen zum Judentum übergetreten sind.

Daraufhin schreibt Luther 1538 die Schrift „Wider die Sabbather“.15

Die Entgegnung eines jüdischen Rabbi aus dem Frühjahr 1542 ist nicht mehr erhalten. Darin sollen angeblich die Christen zum Übertritt zur jüdischen Religion aufgefordert worden sein.16 Das ist der äußere Anlass dafür, dass sich nun Luthers ganzer Zorn über die Juden entlädt, er sie mit pauschalen Vorwürfen überschüttet und dabei wieder die alten judenfeindlichen Vorurteile pflegt. Die eigentlichen Gründe liegen aber tiefer.

Allgemein wird angenommen, dass es mit einer großen Enttäuschung Luthers über die ausbleibende Bekehrung der Juden zur Kirche der Reformation zu tun hat und er in ihnen jetzt nicht mehr potentielle Christen sieht.

Zum anderen hat es nach Meinung von Walther Bienert mit der Entstehung der lutherischen Landeskirchen zu tun:17 Ursprünglich hatte Luther entsprechend seiner „Zwei-Reiche-Lehre“ eine vom Staat unabhängige und freie Kirche gewollt, aber nun standen die lutherischen Landeskirchen unter dem Schutz der Landesherren.

Luther sieht seine Rolle mittlerweile als Wächter über die Lehre, der denjenigen bekämpft, der der Wahrheit des Evangeliums die Anerkennung verweigert, und ruft nun die Landesherren zu entsprechenden Maßnahmen auf. Da die katholische Religion in den lutherischen Territorien keine Rolle mehr spielt, geht es jetzt vor allem darum, die Juden auszuschließen. (Zu den theologischen Begründungen für Luthers Polemik gegen die Juden siehe auch s. S. 292ff.)

Im Herbst 1542 gibt Luther in einer Tischrede den Regierenden zum ersten Mal den Rat, sie sollten Juden, welche die Jungfrau Maria lästern, zum Land hinaustreiben.18

Ein Jahr später, 1543, erscheint die umfangreiche 150-seitige Schrift „Von den Jüden und ihren Lügen“. Es ist „die hemmungslose Dämonisierung der Juden und die Saat der Gewalt“19. Vergessen scheinen manche früheren Einsichten. Luther hält jetzt sogar die Bekehrung der Juden für ausgeschlossen. So heißt es in der Einleitung:

„Es ist nicht mein Vorhaben, dass ich mit den Juden zanken oder von ihnen lernen wollte, wie sie die Schrift deuten oder verstehen; ich weiß das alles schon ohnedies gut. Noch viel weniger gehe ich damit um, dass ich die Juden bekehren will; denn das ist unmöglich.“20

Im ersten Teil dieser Schrift geht es um den jüdischen Anspruch, das Volk Gottes zu sein, im zweiten um die jüdische Weigerung, Jesus als den Messias anzuerkennen, im dritten um jüdische Lästerungen. Im Schlusskapitel gibt Luther seine Ratschläge an die Obrigkeit für den Umgang mit den Juden. Diese Schrift ist voller Aggressivität und hemmungsloser Verteufelung der Juden. Zwei der ungeheuerlichen Vorwürfe, die Luther den Juden macht, sollen herausgegriffen werden.

1.  Die Juden hassen die Heiden, die durch Christus zum Gottesvolk hinzugekommen sind:

„Sie wollen’s nicht, sie können’s nicht leiden, dass wir Heiden ihnen vor Gott gleich sein sollten und dass der Messias für uns Trost und Freude sein sollte so gut wie für sie. Ehe sie das litten, sage ich, dass wir Heiden, die von ihnen ohn Unterlass verspottet, vermaledeit, verflucht, gelästert, geschändet werden, mit ihnen am Messias teilhaben und ihre Miterben und Brüder heißen sollten, kreuzigten sie eher noch zehn Messiasse und schlügen Gott – wenn dies möglich wäre – selber tot mit allen Engeln und allen Kreaturen, und wenn sie tausend Höllen statt einer (damit) verdienten. […]

Sie haben solchen giftigen Hass gegen die Gojim (Heiden) von Jugend auf von ihren Eltern und Rabbinen eingesogen und saugen (ihn) noch in sich ohn Unterlass, dass es ihnen … ganz und gar zur Natur und zum Leben geworden ist. Und so wenig sie Fleisch und Blut, Mark und Bein ändern können, so wenig können sie diesen Stolz und Neid ändern; sie müssen so bleiben und verderben, wenn Gott nicht sonderlich hohe Wunder tut.“21

Doch: Wer hasst hier wen? Und schreibt Luther hier nicht eine „Natur“ des Juden fest?

2.  Die Juden sind geldgierige Räuber:

„Sie leben bei uns zu Hause, unter unserem Schutz und Schirm, brauchen Land und Straßen, Markt und Gassen. Und die Fürsten und die Obrigkeit sitzen dabei, schnarchen und haben das Maul offen, lassen die Juden aus ihrem offenen Beutel und Kasten nehmen, stehlen und rauben, was sie wollen, d. h. sie lassen sich selbst und ihre Untertanen durch der Juden Wucher schinden und aussaugen und mit ihrem eigenen Geld sich zu Bettlern machen […] Wenn ein Dieb zehn Gulden stiehlt, so muss er hängen; raubt er auf der Straße, so ist der Kopf verloren. Aber ein Jude, wenn er zehn Tonnen Gold stiehlt und raubt durch seinen Wucher, so ist er (uns) lieber als Gott selber.“22

Vergessen ist die Tatsache, dass die Christen den Juden Arbeitsverbote erteilt und sie in den Geldverleih getrieben haben. Stattdessen bedient und verschärft Luther das gängige Vorurteil über den Wucherjuden. Von den Vorwürfen ist es nur ein kleiner Schritt zum Wunsch, sich die Juden vom Leibe zu halten:

„Wir wollten gerne (ein) Geschenk dazu geben, dass wir sie los wären. Denn sie sind uns eine schwere Last wie eine Plage, Pestilenz und lauter Unglück in unserem Lande […].

Sie halten uns Christen in unserem eigenen Lande gefangen, sie lassen uns arbeiten im Nasenschweiß und Geld und Gut gewinnen; dieweil sitzen sie hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, saufen, leben sanft und wohl von unserem erarbeiteten Gut, halten uns unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher.“23

„Die Juden sind unser Unglück“ wird es später in der antijüdischen Propaganda des Nationalsozialismus heißen. Luther redet geradezu einer Verteufelung der Juden das Wort:

„Darum wisse du, lieber Christ, und zweifle nicht daran, dass du nächst dem Teufel keinen bittereren, giftigeren, heftigeren Feind hast als einen rechten Juden, der mit Ernst ein Jude sein will.“

Und:

„Darum, wo du einen rechten Juden siehst, magst du mit gutem Gewissen ein Kreuz für dich schlagen und frei (und) sicher sprechen: ‚Da geht ein leibhaftiger Teufel‘.“24

Immer mehr steigert sich Luther in die wahnhafte Vorstellung hinein, die Juden seien „Christus- und Christenmörder“, während die Christen Schuld auf sich laden, indem sie das alles mit sich machen ließen und in Liebe den Juden begegneten.

„Wir fluchen ihnen nicht, sondern wünschen ihnen alles Gute, leiblich und geistlich, herbergen sie bei uns, lassen sie mit uns essen und trinken, wir stehlen und zerstechen ihre Kinder nicht, vergiften ihr Wasser nicht, uns dürstet nicht nach ihrem Blut.

Womit verdienen wir denn solchen grausamen Zorn, Neid und Hass dieser großen, heiligen Kinder Gottes?

Es ist nicht anders als wie oben aus Mose angesagt, dass sie Gott mit Wahnsinn, Blindheit und rasendem Herzen geschlagen hat.

Deshalb ist es auch unsere Schuld, dass wir das große unschuldige Blut, das sie an unserem Herrn und an den Christen dreihundert Jahre lang nach der Zerstörung Jerusalems und bis heute an den Kindern vergossen haben (was heute noch aus ihren Augen und aus ihrer Haut scheint), nicht rächen, sie nicht totschlagen, sondern sie für all ihren Mord, Fluchen, Lästern, Lügen, Schänden frei bei uns sitzen lassen, ihre Schule, Häuser, Leib und Gut schützen und schirmen, womit wir sie faul und sicher machen und helfen, dass sie getrost unser Geld und Gut uns aussaugen, dazu uns verspotten, uns anspeien, ob sie nicht zuletzt unser mächtig werden könnten.“25

Die Projektion eigener Gewaltfantasien auf die Juden ist offensichtlich. Und dass es gar als christliche Schuld angesehen wird, wenn Christen die Juden nicht totschlagen, kommt einem Aufruf zum Töten gefährlich nahe.26

Schließlich werden die antijüdischen Ressentiments vermischt mit religiösen Motiven und mit dem Feuer des göttlichen Zorns legitimiert:

„Was wollen wir Christen nun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden tun? Dulden können wir es nicht, nachdem sie bei uns sind und wir solches Lügen, Lästern und Fluchen von ihnen wissen […] Ebensowenig können wir das unauslöschliche Feuer des göttlichen Zorns – wie die Propheten sagen – löschen noch die Juden bekehren.

Wir müssen mit Gebet und Gottesfurcht eine scharfe Barmherzigkeit üben, ob wir doch etliche aus der Flamme und Glut erretten könnten.“27

„Scharfe Barmherzigkeit“– was für eine merkwürdige, unbiblische Wortschöpfung. Was Luther darunter versteht, führt er im Folgenden aus: „Ich will meinen treuen Rat geben.“

Seine sieben konkreten Ratschläge an die politische Obrigkeit zum Umgang mit den Juden sind erschreckend.

„Erstens soll man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecken und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufen und zuschütten, dass kein Mensch einen Stein oder eine Schlacke davon sehe ewiglich. Und das soll man unsrem Herrn und der Christenheit zu Ehren tun, damit Gott sehe, dass wir Christen seien und solch öffentliches Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen nicht mit Wissen geduldet noch (darin) eingewilligt haben […].

Zum andern soll man auch ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören […]. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder in einen Stall tun, wie die Zigeuner, damit sie wissen, sie seien nicht Herren in unsrem Lande, wie sie sich rühmen, sondern im Elend und gefangen […].

Zum dritten soll man ihnen alle ihre Betbüchlein und Talmudisten nehmen, in denen solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt wird.

Zum vierten soll man ihren Rabbinen bei Leib und Leben verbieten, hinfort zu lehren […].

Fünftens soll man den Juden das Geleit und die (freie) Straße ganz aufheben […]. Sie sollen daheim bleiben […].

Sechstens soll man ihnen den Wucher verbieten und ihnen alle Barschaft und Kleinodien an Silber und Gold nehmen und es zur Verwahrung beiseitelegen […].

Siebentens soll man den jungen, starken Juden und Jüdinnen Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel in die Hand geben und sie ihr Brot verdienen lassen im Schweiß der Nase […]. Befürchten wir aber, dass sie uns an Leib, Weib, Kind, Gesinde, Vieh usw. Schaden tun könnten, wenn sie uns dienen oder arbeiten sollen […], so laßt uns […] mit ihnen abrechnen, was sie uns abgewuchert haben; und darnach gütlich geteilt, sie aber auf jeden Fall zum Land hinausgetrieben! Denn, wie gehört, Gottes Zorn ist so groß über sie, dass sie durch sanfte Barmherzigkeit nur ärger und ärger, durch Schärfe aber (nur) wenig besser werden. Darum nur fort mit ihnen!“28

Luther macht sich selbst zum scharfen Richter über die Juden, der alles, was ihnen wert ist, in die Flammen stoßen will. Als direkte Folge dieser Schrift gibt es in Hessen einen Ausweisungsbefehl, und in Sachsen verbietet Luthers Landesherr jedem Juden Aufenthalt und Durchzug. 29

Die Juden sind über diese Schrift zu Recht bestürzt. Josel von Rosheim, der bereits erwähnte Sprecher der Juden, ersucht den Stadtrat von Straßburg, die Veröffentlichung dieser Schmähschrift zu verhindern, denn niemals habe „ein Hochgelehrter solch grob unmenschlich Buch mit Scheltworten und Laster uns armen Juden auferlegt, von dem sich, Gott weiß es, in unserem Glauben und in unserer Jüdischkeit in der Tat auch nicht das Geringste finden lässt“.30

Ebenfalls 1543 erscheint die Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“. Es ist eine Schrift „Von Schmähung und Schmach“.31

Darin wendet sich Luther scharf gegen die Geheimlehre der Kabbala, einer bedeutenden jüdischen Mystik.

Was diese aus dem „Schem Hamphoras“, dem „Unverstelltern Namen“ Gottes, entwickelt, ist für Luther eine Buchstabenspielerei. In diesem Zusammenhang spricht er unverhohlen von der Judensau, die – wie an vielen anderen Kirchen – auch an der Stadtkirche Wittenberg zu sehen ist.32 Die Juden zusammen mit einem Schwein darzustellen, ist eine besonders infame Beleidigung angesichts ihrer Tradition, die in den Schweinen unreine Tiere sieht, die auch nicht verzehrt werden dürfen.

So beantwortet Luther die Frage, woher die Juden diese hohe Weisheit haben, gemeint ist diese Geheimlehre der Kabbala:

„Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen. Da liegen junge Ferkel und Juden darunter, die saugen. Hinter der Sau steht ein Rabbiner, der hebt der Sau das rechte Bein empor und mit seiner linken Hand zieht er den Bürzel (d.i. Schwanz) über sich, bückt (sich) und guckt mit großem Fleiß der Sau unter den Bürzel in den Talmud hinein, als wollte er etwas Scharfes und Sonderliches lesen und ersehen. Daselbst haben sie gewisslich ihr Schem Hamphoras […] Denn also redet man bei den Deutschen von einem, der große Klugheit ohne Grund vorgibt: Wo hat er’s gelesen? Der Sau im (grob heraus) Hintern.“33

Hier bringt Luther sogar den Talmud, diesen grundlegenden rabbinischen Kommentar zur Tora (zu den fünf Büchern Mose) in grober Weise mit der Judensau in Verbindung.

Über dem Relief an der Wittenberger Kirche ist zweihundert Jahre nach Luther wohl unter dem Eindruck seiner Schrift die Inschrift „Rabbini“ und „Schem Hamphoras“ eingemeißelt worden.34

Ausgerechnet ein Foto davon ist als einzige Illustration im 1920 gedruckten (und 1968 wieder abgedruckten) 53. Band der Weimarer Luther-Ausgabe aufgenommen worden.

Zwei Fragen drängen sich zudem auf:

1.  Wie steht Luther zu den sogenannten Israel-Kapiteln Römer 9–11, in denen sich Paulus zur bleibenden Erwählung Israels und zu Gottes besonderem Weg mit Israel äußert?

Dazu heißt es in der erwähnten Schrift „Vom Schem Hamphoras“:

„Kurz und gut: Es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt […].

Vom ganzen Haufen mag hoffen, wer will, ich habe da keine Hoffnung, weiß auch keine Schriftstelle dafür. Können wir schon den großen Haufen unsrer Christen nicht bekehren und müssen uns am kleinen Häuflein genügen lassen, wie viel weniger ist es möglich, diese Teufelskinder alle zu bekehren! Denn dass einige aus dem Römerbrief Kapitel 11 den Wahn schöpfen, als sollten alle Juden am Ende der Welt bekehrt werden, ist nichts; St. Paulus meint etwas ganz anderes.“35

Offenbar ist Luther blind gegenüber der Erkenntnis des Paulus in Römer 9–11, die nicht nur die Christen vor Überheblichkeit gegenüber ihrer Wurzel mahnt, sondern auch vom bleibenden Bund Gottes mit Israel spricht und schließlich vom Geheimnis Gottes über den Weg mit Israel.36

2.  Was sagt Luther zum Umgang mit dem Alten Testament, der Bibel der Juden?

Dazu heißt es in der dritten Schrift von 1543 „Von den letzten Worten Davids“:

„Gott gebe, dass unsere Theologen tapfer Hebräisch studieren und uns die Bibel wieder heimholen von den mutwilligen Dieben und alles besser machen, denn ich’s gemacht habe. D. h. sie sollen sich nicht in die Gefangenschaft der Rabbinen mit ihrer gemarterten Grammatik und falschen Auslegung begeben, damit wir den lieben Herrn und Heiland hell und klar in der Schrift finden und erkennen.“37

Luther hält am Alten Testament fest, hat aber die Schriften so umgeordnet, dass sie besser zu seiner Auslegung passen, das Alte Testament führe geradezu auf das Kommen des Messias Jesus Christus hin. Auch die Psalmen werden von Christus her gedeutet.38 Den „Rabbinen“ spricht er einfach ab, ihre Bibel recht auslegen zu können und beansprucht dies allein für die christlichen Theologen. Er meint, als Christ das Alte Testament vor den Juden, den „Dieben“, retten zu müssen, obwohl das Alte Testament doch zunächst die Bibel der Juden ist.

An dieser Stelle ist unbedingt noch von der Einführung des „Judensonntags“ durch Luther und die Reformatoren zu reden, eines besonderen Gedenktages an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels.39

Dieser Sonntag hat jahrhundertelang zur Rechtfertigung von Judenverachtung beigetragen.

Seit jeher gedenken die Juden jedes Jahr im August an die Zerstörung des Tempels. Schon in der mittelalterlichen Kirche wird in zeitlicher Nähe, am 10. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest (Trinitatis), Jesu klagende Ankündigung der Tempelzerstörung aus Lukas 19,41–48 gelesen oder gepredigt. Aber erst in den lutherischen Kirchen seit der Reformation bekommt dieser Sonntag seine besondere Prägung als „Judensonntag“. Gepredigt wird nach dem Vorbild Luthers, der viele Predigten zu diesem Bibeltext gehalten hat – eine davon ist in den beiden über Jahrhunderte am weitesten verbreiteten Predigtbüchern Luthers aufgenommen worden.

Dazu wird in diesem Gottesdienst die „Historie von der Zerstörung Jerusalems“ von Johannes Bugenhagen verlesen, einem Freund Luthers – und diese wird auch in Gesangbüchern abgedruckt. „Bugenhagen und Luther interpretieren die Tempelzerstörung als gerechte göttliche Bestrafung der Juden.“ Auch wenn das abschreckende Negativbeispiel der Juden die Christen zur Umkehr aufrufen soll, werden hier doch zugleich antijudaistische Vorurteile bestätigt und verstärkt.

Der Judensonntag hat seinen festen Platz im Kirchenjahr und in der Gemeinde, über viele Jahre, und wirkt also unmittelbar auf die Menschen ein. So können gerade auch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die entsprechenden Gottesdienste und Veröffentlichungen in Sonntagsblättern zum Judensonntag zur Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland beitragen.

Diese Art und Weise des jährlichen Gedenkens an die Tempelzerstörung dürfte nicht zuletzt auch die Hemmschwelle zur Zerstörung von Synagogen gesenkt und den Protest dagegen gelähmt haben.

(Zum Umgang mit diesem Sonntag nach 1945 s. S. 274ff.)

Schließlich die letzten Worte Luthers über die Juden: 1546 „Vermahnung wider die Juden“. Es ist „Kanzelhilfe zur Judenvertreibung“.40

Diese Vermahnung schließt Luther an seine letzte Predigt in Eisleben an, in der er die Juden als grobe Narren beschimpft.

Es sind somit die letzten Worte, die der Reformator von einer Kanzel spricht, am 15.Februar, drei Tage vor seinem Tod.

Luther ergreift Partei in der Streitfrage der Mansfelder Grafen, ob die Juden ausgewiesen oder in Schutz genommen werden sollten. Dabei scheut er nicht davor zurück, sich gemeiner Vorurteile zu bedienen und die eigene Aggression als „Verteidigung“ gegenüber der vermeintlichen jüdischen Aggression auszugeben:

„Zudem habt ihr auch noch die Juden im Lande, die da großen Schaden tun. Nun wollen wir christlich mit ihnen handeln und bieten ihnen erstlich den christlichen Glauben an, dass sie den Messias wollen annehmen, der doch ihr Vetter ist […]

Wo nicht, so wollen wir sie nicht leiden, denn Christus gebietet uns, dass wir uns sollen taufen lassen und an ihn glauben […]

Nun ists mit den Juden also getan, dass sie unsern Herrn Jesus Christus täglich nur lästern und schänden […]

Darum sollt ihr Herren sie nicht leiden, sondern wegtreiben.

Wo sie sich aber bekehren, ihren Wucher lassen und Christus annehmen, so wollen wir sie gerne als unsere Brüder halten.

Anders wird nichts daraus, denn sie machens zu groß. Sie sind unsere öffentlichen Feinde […] und wenn sie uns alle töten könnten, so täten sie es gerne und tuns auch oft, sonderlich die sich für Ärzte ausgeben, ob sie gleich je zuzeiten helfen. Denn der Teufel hilfts doch zuletzt versiegeln. So können sie auch die Arznei, so man in Welschland kann, da man einem ein Gift beibringt […] Die Kunst können sie […]

Noch wollen wir die christliche Liebe an ihnen üben und für sie bitten, dass sie sich bekehren […] Welcher solches nicht tun will, da setze es in keinem Zweifel, dass der ein verböster Jude ist, der nicht ablassen wird, Christum zu lästern, dich auszusaugen und [wo er kann] zu töten.“

Und Luther schließt mit den Worten:

„Wollen sich auch die Juden zu uns bekehren und von ihrer Lästerung und was sie sonst getan haben, aufhören, so wollen wir es ihnen gerne vergeben. Wo aber nicht, so sollen wir sie auch bei uns nicht dulden noch leiden.“ 41

Luther kennt keine Gnade mehr mit den Juden, sie verkörpern das Böse, es sei denn, sie bekehren sich. Das wird aber gleichzeitig durch die Haltung der Christen gegenüber den Juden ziemlich unmöglich gemacht. Diese letzten Äußerungen sind ein uns heute erschreckendes Vermächtnis.

Was Luther in den Schriften des Jahres 1543, insbesondere in der Schrift „Von den Jüden und ihren Lügen“ polemisch gegen die Juden schreibt, hat er nicht erfunden.42 Er stützt sich dabei größtenteils auf die spätmittelalterliche antijudaistische Polemik eines Nikolaus von Lyra (bis 1349) und Paulus Burgensis (bis 1435) sowie auf das 1520 gedruckte Traktat von Salvagus Porchetus und die 1530 erschiene Schrift des Zeitgenossen Antonius Margaritha „Der gantz Jüdisch glaub“. Dieses Buch eines zum Christentum übergetretenen Rabbinersohnes liefert Luther das wichtigste Material für seine Verleumdungen und Lästerungsvorwürfe. 43

Wie aber denken andere Zeitgenossen Luthers über die Juden?44

Judenfeindliche Äußerungen finden sich insbesondere auch bei seinem Gegenspieler, dem katholischen Theologen Johannes Eck. Die Humanisten Reuchlin und Erasmus schlagen zwar neue Töne an, sind aber auch keine Freunde der Juden.

Bei den Reformatoren gibt es unterschiedliche Stimmen: Bei manchen zeigt sich eine judenfeindliche Haltung, wenn auch nicht in der Schärfe wie bei Luther. Bemerkenswert aber ist, dass es unter den lutherischen Reformatoren auch Distanz zu Luthers Äußerungen, dass es auch judenfreundliches Denken und Handeln gibt.

So bezeichnet es Melanchthon, der Weggefährte Luthers, der zeitweilig in Wittenberg Hebräisch lehrt, 1519 ausdrücklich als einen Verdienst Reuchlins, jüdische Schriften vor dem Scheiterhaufen bewahrt zu haben. Als sich Josel von Rosheim 1539 mit der Bitte an Melanchthon wendet, dieser möge sich für die aus Brandenburg vertriebenen Juden einsetzen, trifft er auf offene Ohren – und Melanchthon hat Erfolg. Trotz seiner negativen Sicht des nachbiblischen Judentums sieht Melanchthon die Juden nicht als Feinde an, aber auch nicht als Brüder. Luthers Judenschriften reicht er weiter, und in der Schrift „Von den Jüden und ihren Lügen“ sieht er – bei manchen Bedenken – Nützliches enthalten.

Zwar ist auch Martin Bucer (Straßburg) überzeugt, dass die Juden das Gemeinwohl bedrohen, allerdings kritisiert er Luthers Judenschriften von 1543 als maßlos.

Eigenständige Standpunkte gegenüber den Juden finden sich insbesondere bei den Reformatoren Jonas, Osiander und Rhegius. Justus Jonas (Halle) gelingt ein theologischer Neuansatz im Verhältnis von Juden und Christen, den Luther ausdrücklich einmal als anderen Weg bezeichnet. Jonas verwendet auch das Bild vom „Baum Israel“, auf den die Christen aufgepfropft seien. Andreas Osiander (Nürnberg) tritt 1541 in einer anonymen Schrift für die Juden ein. Er protestiert dagegen, den Juden zu unterstellen, sie hätten christenfeindliche Absichten. In einem Schreiben an den Juden Levita äußert er sich abfällig über Luthers Schrift „Vom Schem Hamphoras“. Urbanus Rhegius (Braunschweig) hat Kontakt zu jüdischen Gemeinden und tritt schützend für sie ein. Er liefert auch eine theologische Begründung für die Tolerierung der Juden.

Auch aus der Schweiz, in der die Juden allerdings bereits ausgewiesen waren, kommen andere Töne: Während sich der Genfer Reformator Calvin kaum zu den Juden äußert, nennt Zwinglis Nachfolger in Zürich, Bullinger, Luthers Schriften von 1543 „sehr schmutzig geschrieben“.

Nach 1945 sind Luthers judenfeindliche Äußerungen nicht nur aus manchen Lutherausgaben, sondern allgemein ziemlich stillschweigend in der Versenkung verschwunden. Aber angesichts ihrer Wirkungsgeschichte muss man sich mit ihnen auseinandersetzen und ihnen eine klare Absage erteilen.

Abschließend sei der jüdischen Historikerin Marianne Awerbuch das Wort gegeben:

„Güte und Milde, wie sie einem Christenmenschen nach lutherischem Verständnis wohl anstehen sollten, suchen wir in diesen [sc. antijüdischen] und auch in anderen seiner Schriften vergebens. Dies gilt es zur Kenntnis zu nehmen, mit dieser Tatsache muss man lernen zu leben.“45

Exkurs: Begriffsklärung Antijudaismus und Antisemitismus

Erscheinungen von Judenfeindschaft gibt es seit dem Altertum, die beiden Begriffe „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ stammen jedoch erst aus dem 19. Jahrhundert. Auch wenn Antijudaismus und Antisemitismus unterschieden werden, gibt es fließende Übergänge und Zusammenhänge. Eine strikte Trennung zwischen einem in der christlichen Tradition begründeten Antijudaismus einerseits und einem rassisch begründeten Antisemitismus andererseits ist zu einfach.

ANTIJUDAISMUS „Der Begriff Antijudaismus ist in neuerer Zeit eingeführt worden, um eine aus der christlichen Tradition begründete Judenfeindschaft vom allgemeinen Antisemitismus abzugrenzen. Antijudaismus nennt man judenfeindliche Einstellungen und die jüdische Glaubensweise herabsetzende Äußerungen im Verlauf der Geschichte der christlichen Kirche. Antijudaismus trägt ohne Zweifel zur religiösen Begründung des Antisemitismus bei.“46

Der Antijudaismus hat seine Wurzeln bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus, als eine zunehmend scharfe Trennung zwischen christlicher und jüdischer Gemeinde erfolgte und durch eine wechselseitige polemische Abgrenzung verstärkt wurde.

Das findet auch seinen Niederschlag in den späteren Schriften des Neuen Testaments wie beispielsweise dem Johannesevangelium. Diese antijüdischen Tendenzen im Neuen Testament dürfen aber nicht aus diesem historischen Zusammenhang herausgelöst und als Fundament eines christlichen Antijudaismus missbraucht werden. Auch die früheren Aussagen des Neuen Testaments, die wie der Römerbrief des Paulus 47