Ludwig Huna

 

Das Mädchen von Nettuno

 

3. Band um die Familie Borgia

 

Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Digitalisierung: Gunter Pirntke


2017 andersseitig.de

ISBN

9783961186891 (ePub)

9783961186907 (mobi)


andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


info@new-ebooks.de


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Inhalt1

Impressum

Sommerglut

Verschwörung

Carmela

Päpstliches Gespräch

Die große Stunde

Liebesnacht

Cesare

Gift

Der Papst ist tot

Carmela in Rom

Letzter Kampf des Cesare

Schlussakkord

Abgesang

 

Sommerglut

 

Glutenschwer liegt die Maremme unter den Gewalten der Sommersonne. Über dem Meer von Nettuno Glut, Glut, Glut. Die Wasser liegen ölig und träge, nach Süden zu von milchigen Streifen umsäumt. Reglos stehen die Fischerbarken im Glast, überblaut von einem einsamen, wolkenlosen Himmel. Kein Windhauch kost die Wellen, keine Möwe blitzt durch die Luft, keine Stimme zerbricht die schwüle Stille.

Schwüle und Stille auch über dem Sumpfwald der Maremme, der sich tief ins Land bis an die Hänge der Volskerberge zieht. Schwüle und Stille auch über dem Häuserklumpen von Nettuno. Rötlichgraue Kastellmauern schieben sich an die Wellen heran: die Burg der vertriebenen Colonna, wo jetzt des Papstes Schergenregiment wütet. Nach dem sonnenverflimmerten Anzio zu und bis hinüber nach dem traumhaft leuchtendem Turm von Astura erfasst das Auge der Fischer den Tuffstrand; aber die mit den Falkenaugen erhaschen auch noch die dunklen Sarazenentürme weiter südwärts, und wenn sie mit den Blicken den heißen Sonnendunst durchstoßen wollten, träfen sie auch noch das Zauberkap der Kirke mit seinem dunkelgrünen Waldkleid und die kleinen, stillen Ponzainseln, die wie verlorene Reste eines Erdenwracks im Meer schwimmen.

Und im Eichenwald, der landeinwärts im pontinischen Sumpf verwurzelt steht, brütet eine Stille, die erschrickt, wenn ein Vogel zweigbrechend durch die Wipfel scheucht. Dort aus dem Wald schleichen böse Fiebergeister ins Land, streichen bis in die Hügel der Campagna von Rom und lauern auf Menschenlungen. Aber die Brutstätte des Todes wimmelt von anderem Leben. Ruhevoll lagern die Herrscher des Sumpfes unter den Kronen, die wilden Büffel mit den nach rückwärts gekrümmten Hörnern auf dem mächtigen Schädel, den starren, tückischen Augen und der wuchtigen Brust. Und wenn die Leute an der Stadtmauer von Nettuno in den Herbstnächten das Ohr schärfen, hören sie das Wildschwein stöhnen und den Hirsch rören.

Am Strand, auf Rufweite von der Kastellmauer, hebt es sich langsam aus dem gelbroten Sand. Ein Mädchenkopf. Der rote Rock leuchtet wie eine riesige Mohnblume. Lässig auf dem Rücken hingestreckt, die Beine übereinandergeworfen, die Haare zerrauft, den Rock bis über das Knie sorglos verschoben, so liegt das braune Meerkind da. In der Ferne, weitab vom Ort, von einem einsamen Gehöft, einem Casale her, schallt ein Ruf: „Carmela!“

Aber das Mädchen regt sich nicht und duckt sich noch tiefer in das spärliche Gras. Mag die alte Gimani sich die Kehle ausschreien nach ihr.

Carmela Accolti blickt nach dem Meer, mit einem Auge, in dem die Schwermut der Pontinischen Sümpfe glänzt. Lauernd, glatt, ein funkelndes Ungeheuer, liegt es vor ihr. Nur ganz vorn an der kleinen Tuffklippe wirft es sich mit kleinen Wellen im losen Spiel ans Land, das letzte Aufatmen der Wasser, die eine schaukelnde Galeasse weit draußen in Unruhe gebracht. Das Mädchen spannt die Augen nach dem Fahrzeug. Die Segel leuchten herüber wie große Möwenflügel. Die Galeasse gleitet hoheitsvoll nach Süden auf die fernen Ponzainseln zu und ihre lang gestreckten Kielwasserstreifen silbern herüber. Carmela schiebt sich vorsichtig, den Leib eng an den Boden gedrückt, bis zur flutfeuchten Tuffklippe vor. Dort setzt sich nun das Mädchen hin und lässt die Füße in das laue Wasser baumeln. Poch, poch, poch! spricht das Meer am Strand. Die großen Augen spannen sich, die granatdunklen Lippen pressen sich aneinander, die feine Nase schnuppert in den fischelnden Geruch des Wassers, wo die lustigen Makrelen vor ihren Augen blitzen.

Carmelas Blicke fingen nun ein Boot auf, das sich langsam von Astura her dem Strand näherte. Sie kannte den braunen, schmal gebauten Holzleib und das gelbe Segel. Und ihre Augen verfinsterten sich.

Der Mann, der da heransegelt, ist einer, den sie ihr ans Herz geworfen haben vor Gott und den Menschen. Es ist Ercole Landi, ihr Verlobter. Aber der jungfräuliche Herzschlag geht kühl wie der Wellenschlag des Meeres. Ercoles Verlobungskuss vor zwei Jahren hatte keine schmerzlich-süße Wunde in ihr Leben gerissen. Es war das um die Zeit gewesen, da sie zum ersten Mal längere Röcke zu tragen bekam und da die Burschen, die ihrer Pflegeeltern Mühlenschenke besuchten, den Verstand um sie zu verheren begannen. Da fand es der Pflegevater Gimani an der Zeit, die schöne Carmela für einen zu bestimmen, der ihm passte. Das war Ercole Landi, kein Mondscheinheld, aber ein tüchtiger Fischer, der auf dem Meer Bescheid wusste, der sein Boot zu lenken verstand und auf dem Wasser herumstrich, den Handel klug besorgte, ein schmucker, wettergebräunter Bursche, der auf alles ergrimmt war, was nicht zu dem alten Herrengeschlecht der Colonna halten wollte. Er war sehr verliebt in das braune Fischermädchen. Noch hatte kein Bursche ihr das Herz beunruhigt, sodass sie nicht Gefahr lief, die Verlobung mit Ercole Landi zu bereuen, an den sie wie ein schöner Kamm verhandelt worden war. Das war nun einmal so Brauch.

Gelassen blickt sie nun der Fahrt des schlanken Seglers entgegen. Drei Mann sitzen darin. Vor zwei Tagen war Ercole Landi allein in der Nacht aufgebrochen, und nun kehrte er mit zwei Männern heim. Nun hält das Segelboot bei der einsamen Mühle da drüben, die sich klotzig im Geviert aus dem flachen Boden hebt. Das ist der Carmela Haus. Dort wohnt sie bei ihren Pflegeeltern, dem alten, humpelnden Gimani und der dicken, klumpigen Matrone Nanna. Die backen das Kornbrot und die Maiswecken, schenken den Nettuner Wein und Hefern Fische nach dem Kastell und nach Rom.

Jetzt steigen die drei Männer mit bootsmännisch gespreizten Beinen ans Land. Schwerfällig humpeln sie dem Mühlentor zu und verschwinden im Casale.

Carmela hört von weit drüben die Hühner herübergackern. Und nun sieht sie Ercole aus dem Hause treten. Im nächsten Augenblick schrillt es an ihr Ohr: „Carmela!“ Da springt sie auf und steht wie eine versteinerte Flamme im grellen Sand. „Diamine!“, ruft sie nach dem Sucher hinüber.

Der Bursche springt wie ein Jagdhund über die Meersalzpfannen, die am Strand spiegeln. Seine dunkle Jacke schlottert um die sehnigen Glieder. Mit einem tollen Sprung über die langen Bootshölzer, die in der Nähe liegen, ist er bei ihr, und seine braun gerösteten Arme fangen ihre Schönheit ein. Gelassen empfängt sie den Willkomm. „Zwei Tage ist man fort, und man spürt den Kuss kaum, der einen empfängt.“ Er sagt es mit einem bösen Blick.

Da tut er ihr leid. Mit scheuer Zärtlichkeit reicht sie ihm nun zum zweiten Mal die Lippen. Aber er wendet sich von ihr, geht mit schlenkernden Armen nach den Bootshölzern hinüber und wirft sich dort mit einem gemurmelten Fluch nieder. So verbittern sie sich den ersten Augenblick des Wiedersehens. Aber Ercole hält es nicht lange aus. „Hast du mir nichts zu sagen, Carmela? Ich war zwei Tage fort, und du bist kalt wie ein Thunfisch.“

Sie schlingt den Arm um seinen kurzen Nacken, denn sie weiß; dass ihr Händedruck den Mann noch immer besänftigt hat, der jetzt mit seiner Vergrämtheit großtut.

Ercole hob nun seinen blonden Kopf. „Sagte ich dir nicht, dass ich in zwei Tagen kommen werde?“ Sie nickte nur lässig.

„Und doch hast du mich nicht im Haus erwartet. Liegst hier und träumst.“

„Ich war auf dem Weg von der Stadt und kam durch die Hitze in Schlaf.“

„Drei Schritt vom Hause?“, fragte er ungläubig. „Du hast einfach ins Meer gestarrt, Carmela. Mach nur nicht so.“

„Also wenn du es weißt!“, entgegnete sie gleichgültig.

Der Ton schlug wieder böse in sein Herz. Er ergriff ihr Handgelenk und drückte es heftig, dass sie fast aufschrie. Sie schlierte mit ein paar Schritten nach dem Korb hinüber, der im Sande stand, voll mit Einkauf. „Gehen wir“, sagte sie verbissen.

„Bleib!“, befahl er barsch.

Sie stellte den Korb wieder hin und blinzelte scheu nach dem jähzornigen Gesellen. „Was willst du also? Das und jenes ist dir nicht recht. Bald sinkt die Sonne. Der Vater wartet, wir gehen auf den Calamaio.“

„Ich will dich allein haben“, sagte er heftig. „Kein liebes Wort hast du für mich. Wenn ich dich liebkose, sprichst du von deiner kranken Henne. Wenn ich dich meine caprina heiße, meine kleine, kleine Ziege, wirst du unwillig.“ Er sah sie mit hungrigen Augen an. Und dachte an die Zeit, da sie ihm ohne viel Feierlichkeit verlobt worden war. Es war aber auch eine ganz gehörige Ehre, wenn ihm der Wirt der Wolfsmühle Beppo Gimani seine Pflegetochter zum Weib gab, ihm, dem armen Fischer und Turmwächterssohn, der nur so nebenbei auch Sumpfhühner fing und Wildsäue verstohlen in die Falle lockte. Man nannte ihn auch den Froschuhu, weil er es verstand, mit einer Gerte die Sumpffrösche scharf und sicher zu zerschlagen und aus ihren Schenkeln eine wohlschmeckende Speise zu bereiten. Er hatte, als er noch in Civitavecchia arbeitete, manche Frau und manches Mädchen ohne besondere Gewissensbisse in seinen kräftigen Fischerfäusten gehalten, aber bei der Carmela musste er haltmachen, da gab es kein keckes Zugreifen, denn sie sollte ihm ja vor dem Altar ans Herz gebunden werden, da durfte er sie samt und sonders erst nehmen, wenn sie ihm angetraut war. Da fühlte denn der Bursche manchmal ein Gären besserer Lebenskräfte in sich, und er verband mit seiner wilden Sehnsucht nach ihrem Leib auch eine Art Verehrung ihres seltsamen Wesens. Sie war sein wildes Meer, sein Sturmvogel, seine kleine Krabbe, und er gab ihr Namen, oft ohne jede Innigkeit, mehr in Schalkheit und Hänselei. Und je näher es der Hochzeit ging, die im Herbst stattfinden sollte, desto mehr freute er sich bei dem Gedanken, dass dieser flatternde rote Rock einmal von ihm abgestreift werden würde und dass er in diesem verknoteten Haar einmal nach Herzenslust wühlen durfte.

Vor allem hatte es ihm ihre in voller Jugend blühende Gestalt angetan. Jetzt schon hatte sich die mädchenhafte Ungelenkigkeit verloren, die Glieder waren gestrafft, die Lenden weich gepolstert, die Brüste schön geschwellt, die Schultern fleischig und gerundet, der Nacken in wunderbarer Beugung geformt. Und der schöne Kopf machte den schmachtenden Ercole geradezu wirbeln, denn er saß in römischem Edelmaß, gar fein profiliert auf dem schlanken, braunen Hals, gekrönt von einer offenen Stirn, unter der die großen, oft seherhaft geweiteten Augen mit den glänzenden Pupillen wie zwei geheimnisvolle Feuer brannten. Das antike Oval des Gesichtes umrahmte von den Schläfen aufwärts das dicht geknotete, rabenschwarze Haar.

Ercole gewahrte nun, wie sie stolz an den Bootshölzern vorbeischritt, dem Uferrande zu, wo sich ihr nackter Fuß in den flimmernden, gerippten Sand grub.

Ercole rannte ihr nach und drückte ihre stolze Schlankheit an sich. Aber schon nach einigen Herzschlägen löste sie sich sanft aus den Fischerarmen. „Ercole, wen hast du da mitgebracht? Die zwei Männer, mit denen du kamst?“

„Ach die! Du hast sie nicht erkannt?“

„Die Sonne blendet.“

„Hm – am Abend wird es für dich ja doch aufkommen“, sagte er düster. „Und du bist schweigsam, Schwalbe. Es sind Leute von den Colonna, die ich mitgebracht habe.“

„Vom Kastell?“, fragte sie ohne innere Bewegung.

„Von den Vertriebenen, ja.“

„Was wollen sie? Sich fangen lassen?“

„Sie sind sicher auf dem Dachboden der Mühle. Es sind Diener des alten Kardinals Giovanni Colonna, der seit sechs Jahren in Sizilien verbannt ist.“

„Der mich gefirmt hat?“

Der Fischer nickte. „Gott halte die Hand über ihn und alle Colonna“, sagte er mit beinahe demütig gesenktem Haupt. „Und Gott zerschmettre den Papst und Cesare Borgia, die sie verbannt haben. Es waren gute Zeiten, da wir für die Colonna arbeiteten. Nun haben wir keine ruhige Stunde mehr. Unsere Rücken sind gestriemt von der Zuchtrute der Borgiaschergen, Gott zerschmettre den Vogt von Nettuno, den Aquasparta!“

„Das ist sehr wahr, ja wahrhaftig, das ist wahr. Gott zerchmettre alles Gezücht der Borgia!“

„Gehen wir in die Mühle“, sagte Ercole. „Ich habe auch Wein von Terracina mitgebracht.“

„Ach, wo Männer beim Wein beraten, hat ein Mädchen nichts zu suchen“, sagte sie schüchtern.

Da wurde der Junge wieder wild. „Bei der Madonna, du treibst ein schlechtes Spiel mit mir.“ Er drohte ihr mit den Händen, dass sie es verstehen konnte. „Ich bin dir verlobt und habe Rechte auf dich.“

Als sie die böse zuckenden Lippen bemerkte, lenkte sie sanft ein. „Ich bin nur müde und will schlafen, bis die Sonne geht, denn in der Nacht muss ich mit Vater auf den Calamaiofang.“

„Hüte dich, die Sonne sinkt, und die Fieberhexe schleicht mit dem ersten Stern aus dem Sumpf.“

Carmela warf sich wieder in den Sand. Ercole streichelte ihre Glieder mit verliebten Blicken. Ein Gähnkrampf überfiel sie, und er nahm das für einen Abschiedsgruß. Er streckte Carmela die Hand entgegen, sie ergriff sie schläfrig und drückte sie. Dann hörte sie, wie seine Schritte über die Steine glitschten, sah noch seinen schwarzbraunen Nacken über dem Hemd dunkeln und die eckigen Bewegungen seiner Arme. Dann schloss sie müde die Augen. Ein Traum erzählte ihr Wahrheiten: dass alle Jungen von Nettuno nach ihr blickten. Und sie ärgerten sich über ihren Hochmut und meinten, wenn die Sonne zwischen ihren Füßen daherrollen würde, sie wüsste nichts von dieser Ehre. Der Turm zu Babel war hoch, aber der Stolz der Carmela Accolti ist noch höher, höhnten andere.

Als sie erwachte, ging die Sonne schon zur Neige. Die Flut patschte heran und versenkte die alten Marmortrümmer der Villentreppe in eine gründunkle Tiefe. Fern im Osten leuchteten die Zyklopenmauern von Norba aus dem violetten Hang der Volskerberge wie ein Demantgehänge auf, und darüber spannte sich ein Azur von undurchdringlicher Tiefe. Aus dem Waldsumpf tappten die Ungetüme der schwarzen Büffel in den beginnenden Abend, bis zu den Schultern oft im Morast watend, die unförmigen, schwer bewehrten Schädel erhoben, die blöden Augen auf die vergoldete Stadt gespannt.

Carmela löste sich mit weit gestreckten Armen den Schlaf aus den Gliedern. Ein altes Lied löste sich dann von ihren herben Lippen, es sang sich wie von samtenen Hüllen gedämpft in die ersterbende Glut hinaus.

Ich geh des Nachts, wenn der Mond tut gehn,

Ich suche, wo sie den Geliebten haben,

Da hab' ich den Tod, den finstern, gesehn,

Er sprach: Such nicht, ich hab' ihn begraben.

Unwillkürlich spielte Carmela mit dem kleinen Amulett, das sie am Busen trug; es war ein Wachsstück einer Kerze, die das Antlitz einer Bologneser Hexe bei ihrem Feuertod vor Jahren beleuchtet hatte. Das Ding hatte sie von der Pflegemutter erhalten, die es wieder einst in bösen Tagen von Carmelas wirklicher Mutter bekommen. Die war lange tot, solange, als das Kind jetzt Erdenlicht mit seinen Augen atmete, denn sie war bei Carmelas Geburt gestorben. Und es lag noch so mancherlei Geheimnis über dem Tod, von dem die dicke Gevatterin Gimani, die doch die Schwester der Toten war, nie recht reden wollte. Carmela musste zufrieden sein, dass sie von der Mühlenwirtin ins Haus genommen worden war und von ihr nun mütterlich erzogen wurde.

Wieder suchten Carmelas Augen das Meer ab, als hätten sie von dort das Heil zu erwarten. Der goldene Sonnenglanz, der sich allmählich verrötete, wollte ihr aber nicht wiedergeben, was er gestern gab.

Gestern. Ja, gestern hatte die Carmela Accolti genau um die Stunde, da der Tag verblutete, ein wundersames Erleben gehabt. Sie war mit dem Vater im Boot gelegen weit draußen auf dem Meer, denn die Fische sprangen, und es war viel Beute zu erhoffen. Der alte Gimani spürte in die Tiefe, und sie war auf einer Bootbank eingeschlafen. Und als sie erwachte, war ihr Herz wie im Traum. Vor ihr segelte eine Barke vorbei mit einem Mast und einem weißen Segel. Und an dem Mast lehnte ein Schiffer von solcher Schönheit, dass der Evangelist Johannes in der Kirche von Nettuno dagegen verblasste. Aber dieser Schiffer am Mast, von den Abendflammen umloht, war kein Heiliger, sondern ein Mensch. Sie spannte ihre Augen nach dem Schiffer, der in einem einfachen, groben Leinwandkittel stak, das Hemd weit geöffnet, dass die Sonne seine herkulische Brust brannte, die rote nettunische Mütze auf dem Kopf. Aber kaum erschaut segelte das Bild an ihr vorbei, verschwamm, verschwand. Das war alles. Es war keiner der Männer von Nettuno, keiner aus Anzio, das wusste sie. Und der Vater Gimani wusste auch kein Haus zu nennen, aus dem der Schiffer wäre, und auch die Barke sah er zum ersten Mal. So war der Fremde wohl aus einem anderen Ort in das Meer von Nettuno verschlagen worden. Als die Barke in der Richtung auf Terracina langsam zu einem kleinen Punkt zusammenschrumpfte, schaukelte noch immer in den Gedanken Carmelas der schöne Fremde hin und her. Und die Nacht war gekommen, und sie hatte dem Vater umständlich und geistesabwesend bei der Arbeit geholfen, sodass er sie schelten musste, wenn ihr die Haspel aus den Fingern glitt oder sie den Fisch beim Angellösen nicht richtig hielt. Und als heute der Abend kam, dieser goldflutschwere Abend über dem Meer, da kam ja auch die Stunde wieder, in der gestern –

Ja, die Stunde kam – das Schiff aber nicht. Da verdunkelten sich Carmelas Augen und ihr Herz schlug unruhig. Denn sie war eben in den Jahren, da das Blut nach dem Manne ruft. Über dem Meer entzündeten sich die rotgoldenen Wunder des Untergangs. Aus dem Feuergrab legte sich plötzlich ein breiter Strahlenteppich über das Meer bis zu den Füßen des lichtgeblendeten Mädchens; er erschien ihr wie eine feierliche Einladung, darüber hinwegzuschreiten, gerade auf das feuergoldene Himmelstor zu.

Die Maremme verdämmerte in fahle Schatten, aus denen, wie Landi sagte, die Fieberhexe herausschleichen würde. Aber Carmela brauchte nur Olivenharz anzuzünden, um die Hexe zu verscheuchen. Ihr gesunder, blühender Leib trotzte der aria cattiva. Wie oft lag sie in heißen Nächten vor der Mühle, ein dickes Wolltuch um den Leib gewickelt, und ließ den Mond in der Flut tanzen, während ihre Freundin, die Annunziata Forse, des Ölhändlers Tochter, ihre blitzblauen Liebeslügen herunterschnarrte.

Da stieg er jetzt empor, der Buhlen bleicher Geselle, gerade über dem Horn der Semprevisa. Laudos wie eine Katze schlich er sich in sein mächtiges Reich.

Nun erhob sich Carmela. Sie hatte noch einen wichtigen Gang zu tun. In jeder Vollmondnacht musste ihr zweites Amulett, ein Korallenhörnchen von rosigem Glanz, neue Zauberstärkung und Weihe erhalten, wenn es sie vor böser Liebe und allerhand Gebrechen bewahren sollte. Dazu musste Carmela zur Zeit des Mondaufgangs das Korallenhörnchen auf einen Baumstumpf am Waldrand legen; die Holzfläche musste mit Provatura, dem Büffelkäse, eingerieben werden, und im Inneren des morschen Baumes mussten drei Kügelchen aus den zerriebenen Blättern einer Euphorbie und der Milch einer Büffelkuh gedreht, auf einem Nagel hängen, der aus einem gestrandeten Schiff stammte. Das zauberkräftige Zubehör hatte sich Carmela schon vor Jahren verschafft, das hing nun alles in einem hohlen Baum, zu dem sie jetzt die Schritte lenkte. Stickige Luft wehte ihr aus den dunklen Eichentiefen entgegen, der Brodem des Giftes braute über dem Wurzelwerk, und aus den Sumpflöchern quarrten leise die verschlafenen Hühner und Lurche. Vorsichtig legte sie den Talisman auf das morsche Holz und sprach einen selbst erdichteten Mondsegen über das Hörnchen.

Der Vater wartete, und der Calamaio auch. Die ganze Küste rüstete sich um diese Zeit zum nächtlichen Fang.

Eben als das Mädchen heimkehren wollte, ertönte ein dumpfes Gurgeln und Schnaufen im Sumpf. Dann schwoll es an wie dröhnender Schlachtruf; aber er jagte ihr keine Angst ein. „Pojo, Pojo!“, rief sie ein über das andere Mal. Da platschte und spritzte es in der Dämmerung unter den Eichen. Und gleich darauf trottete ein klumpiger Büffel aus dem Schatten hervor und hielt schwer wie ein Lastschiff vor Carmela. Der Büffel war zahm und hatte Sinn für Gunstbezeigungen. Carmelas Ernst zerrann, wenn sie ihn sah, und sie ließ sich in Neckereien und Tollheiten mit ihm ein. Sie zog ihn beim Schwanz und ahmte sein Gegrunze nach, seine ungelenken, schwerfälligen Bewegungen, flocht Eichenlaub um seine Hörner oder bemalte seine Augenknochen mit allerhand Farben.

Jetzt stellte sie sich mit gespreizten Beinen vor ihn hin und lockte ihn mit Laub heran. Er kam willig wie ein Hündchen zu den guten Händen getorkelt, neigte sein schwer gehörntes, borstiges Haupt mit den Triefaugen, und sie kraulte ihm das schwarze Stirnhaar und gab ihm dann einen gut gemeinten Schlag auf die Schnauze. Aus dem nassen, verspeichelten Maul schnaubte ihr der heiße Atem entgegen. Nun biss ihr die Sumpfluft in die Augen, und der Büffelgeruch stach ihr in die Nase. Sie schwang sich behend auf des Riesen Rücken. Dort saß sie mit wohliger Behaglichkeit, ließ die Beine zu beiden Seiten der fettgepolsterten Weichen herabbaumeln und warf den Oberleib auf den Nacken des Stiers, fasste bubenübermütig die Hörner an und lenkte nun den geduldigen Tölpel nach Hause.

Durch die tiefe Stille tappte der Büffel mit seiner leichten Reiterin dem Meere zu. So ging der Ritt im beginnenden Mondenschein dahin. Bei den Bootshölzern bog sie links ein auf den Weg zur Mühle. Der Strand war hier sehr sandig, das Meer seicht; es reizte Carmela, mit dem Tier in das schwarze Wasser hineinzutraben. Aber der Büffel bockte. Sie streckte ihren Oberleib nach rückwärts und zog mit ihrer kleinen Kraft die Hörner des trotzigen Gesellen zurück.

Da erschrak sie.

Vor ihren Augen glitt wenige Schritte vom Ufer die Barke mit dem schönen Schiffer vorbei; sie erkannte sie sofort an dem weißen, schief hängenden Segel. An den Mast gelehnt stand der fremde Mann regungslos, ein Steinbild. Und plötzlich hielt die Barke. Und das Mädchen vernahm eine Stimme, die klang wie aus dem Meer herauf, gedämpft und flüsternd, als spräche das Meer selbst: „Mich hat wahrhaftig die heilige Jungfrau hierher geführt, dass ich dich schaue, süßes Kind. Alle Welt schläft, nur du wachst und ich.“ Hier hielt die Stimme inne, und Carmela sah, wie das Schifflein dem Ufer zusteuerte. Da erfasste sie ein heilloser Schreck und sie stachelte den Büffel zu einem wütenden Trab an. Atemlos hielt das Tier einige fünfzig Schritte vor der Mühle. Carmela drehte sich um, am ganzen Leibe zitternd. Und sie sah das Boot ganz fern im Mondenschein auf die Schatten des Colonnakastells zusegeln. Da glaubte sie, dass sie alles träume.

Es war nicht gut, dass Carmela Accolti in dieser wunderschönen Mondnacht ihren feisten Büffel ritt. Sie sah aus wie die Europa auf dem Stier. Es wäre besser gewesen, sie hätte den Büffel in den Sumpfpolstern der Selva Nettuna schlafen lassen.

* * *

 

Verschwörung

 

In dem Mauseloch – so nannte der Vater Gimani die alte Rumpelkammer auf dem Dachboden der Wolfsmühle, die zugleich Schenke war – sollte sich, wenn es nach dem Willen der Colonna gegangen wäre, um diese Stunde das Schicksal Roms vorbereiten. Hinter den verrammelten Gucklöchern, durch die kaum ein Strahl der untergehenden Sonne blitzte, saßen auf einem umgestürzten Fass bei dem Schein zweier von einem Balken herabhängenden Öllampen zwei struppige Männer, eben jene, die heute Ercole Landi mit dem Boot aus Terracina geholt hatte. Um sie herum lagerten ein paar Nettuner Bürger, Fischer und Knechte auf dem Boden, die dunklen Feuerköpfe, die bis zur Siedehitze erregt schienen, in den aufgestützten Händen verklammert, die glühenden Augen auf die Lippen der beiden Colonnadiener gespannt. Im Mauseloch lag eine Stickluft, von dem schwülen Mischgeruch von Zwiebeln, Fisch, Katzenkot, Orangenschalen, verbrannten Haaren und Öl durchschwängert. Auf verschiedenem Rumpelwerk lagen die Männer da, vor sich den Becher mit dem bernsteingelben Nettuner Wein, den der Hauswirt Gimani, auf seinem Gichtfuß humpelnd, von Zeit zu Zeit nachfüllte. Dem Wolfsmüller Gimani stand das alte, zerfurchte, zerrissene und vernarbte Gesicht, das wie eine leere Honigwabe aussah, in Flammen des Weins und der Begeisterung. Ercole Landi, der Leithammel der missvergnügten Männer, saß zu Füßen seiner zwei Freunde aus Terracina und begleitete jedes ihrer Feuerworte mit einer großartigen Geste der Bestätigung, sodass es manchmal aussah, als wollte er sich die Arme aus den Gelenken schleudern.

Die zwei Männer auf dem Fass waren in unscheinbare Bettlerfetzen gehüllt. Es waren Vater und Sohn, beides treue Knechte der Colonna. Der alte Zoratti, fünfzig Jahre im Dienste des berühmten Geschlechts, und seit dreißig Jahren Kammerdiener des verbannten Kardinals Giovanni Colonna, saß wie ein verrunzelter Silen auf dem Fass, das gebräunte Gesicht mit den weißen Haarfetzen in der Stirn in die linke Hand gestützt, mit der Rechten jedes Wort seiner Flammenrede mit südländischer Überschwänglichkeit begleitend. Dem jungen Andrea Zoratti, vor zwei Jahren noch Turmwächter auf dem Kastell in Nettuno, jetzt ebenfalls durch die Borgia nach Sizilien vertrieben, lohten die Feuer des Grimms aus den großen, blaugrünen Augen. Die Jugend bestand auch nur gegenüber dem eisgrauen Vater, denn Andrea war schon längst über die Wanderjähre des Lebens hinaus und lehrte daheim schon einen siebzehnjährigen Sohn, wie man für die Ehre der Colonna, des alten Ghibellinengeschlechts, die Waffen führt.

„Das Maß ist voll“, beendete Vater Zoratti seine Lästerrede auf den Papst Alexander VI. „Der Himmel wird die Strafrute schwingen, aber wir sind es, die ihm dabei helfen müssen.“ Sein blitzendes Greisenauge winkte dem Sohn zu, auf dass er spreche.

Unter den horchenden Männern von Nettuno entstand eine Bewegung. Der Alte hatte ihnen aus dem Herzen gesprochen, er hatte die Leiden seines Herrn geschildert, der seit sechs Jahren verbannt war. Und nun schien die Zeit herbeigekommen zu sein, denn aus Sizilien schwärmten in den letzten Wochen die geheimen Sendlinge der Colonna verkappt und vermummt in den latinischen Landstrichen umher, spürten und tasteten in die Stimmung des unterdrückten Volkes und versuchten den Brand des Aufruhrs in die Herzen zu werfen. Aber die Borgia waren auf der Hut.

Da streckte sich einer der Zuhörer mit dem Oberleib fischschnell empor. „Haben wir es nicht vor Augen, das Schreckensregiment des Alexander Borgia?“

Und Ercole ballte seine Fäuste. „Haben sie nicht meinen Bruder in Bagliano gefangen, weil er verdächtig war, einen Colonnabrief den Conti zugetragen zu haben? Und haben sie ihn nicht gefoltert, bis er gestand, was gar nicht wahr war?“

Und ein junger Fischer, dem die Zähne blitzten, kroch an das Fass heran und spie seinen Geifer gegen die katalanische Wirtschaft, wie man das ganze Treiben der Borgia nannte, von sich. „Bluthunde sind sie! Die Blutsteuer wird von Tag zu Tag höher, und jetzt haben sie uns in Nettuno die Zwingburg errichtet, auf der des Papstes Vogt, der wütende Aquasparta, unsere Daumen foltert. Sechzehn unterirdische Gefängnisse, halb mit Meerwasser gefüllt, harren dort auf die ärmsten Opfer aus den Reihen der Colonna. Und jetzt wird das Maß überlaufen, denn man erwartet Cesare Borgia, des Papstes schrecklichen Sohn, in Nettuno. Dann gnade uns Gott und die Jungfrau.“

Da ging leise die Tür. Ein Lichtstrahl der roten Sonne flüchtete über das erhitzte Gesicht des Eisenhändlers Balbo, der in das Mauseloch hereinjagte und die Tür hinter sich zuwarf. „Cesare Borgia kommt nach Nettuno! Mit Mordhänden, an denen noch das Blut seines Opfers klebt!“

„Was ist geschehen?“, brausten die siedenden Köpfe auf. Und der alte Gimani griff mit seinen stangendürren, nackten Armen nach des Händlers Schultern. „Wer ist ermordet?“

„Der Sekretär des Papstes, der Bischof Lazzaro Troccio!“

Balbo ließ das Entsetzen nicht ausfluten und warf neue Nahrung in die erregten Gemüter. „Troccio soll geheime Verhandlungen zwischen dem Papst und Spanien an Frankreich verraten haben. Cesare kommt darauf, will ihn verhaften lassen, Troccio bekommt Wind, schifft sich ein, wird jedoch von pfeilschnellen Galeassen bei Korsika eingeholt, er wehrt sich wie ein Verzweifelter, sein Schiff wird in den Grund gerannt, er selbst von den Würgern Cesares ohne Verhör ermordet. Der Papst lässt das Gerücht aussprengen, Troccio habe sich selbst erdolcht aus Kränkung darüber, dass er nicht auf der Liste der neuen Kardinäle stand.“

Ein prasselndes Hohngelächter erschütterte das Mauseloch.

Einer der Fischer mit einem echten Furbazzogesicht, mit dem der Römer gewiegte Schelme bezeichnet, ballte die von Seilen zerfurchte, zerschnittene Faust. „Der Bischof hatte eine gefüllte Geldtruhe, und darum musste er daran glauben wie der Kardinal Michele, den sie vor zwei Monaten vergiftet haben, worauf einhundertfünfzigtausend Dukaten in den großen Mordsack des Papstes wanderten. So ist es dem Kardinal Orsini ergangen, dem Ferrari, dem Santa Croce und vielen anderen.“

„Und nun passt auf, wie die letzten Colonna, die noch in Nettuno hausen, lange Beine bekommen werden, wenn Cesare Borgia naht“, sagte ein nach Teer und Zwiebeln riechender älterer Mann.

Balbo hatte sich unterdessen zwischen die zwei Zoratti auf das Fass geworfen. „Trachtet noch heute das offene Meer zu erreichen, wenn euch euer Leben lieb ist“, warnte er.

„Nein, nein, wir haben unseren Auftrag“, sagte der alte Zoratti. „Und wer seinem Herrn dient, ruht nicht, bis der letzte Apfel vom Stamm gefallen ist.“

Balbo zog die Köpfe der Nächstsitzenden an sich heran. „Seht, die Gelehrten von Rom sollen es gefunden haben, dass vor undenklichen Zeiten unter der Ätnaglut ein böser Dämon gehaust hat, Typhon nennen ihn die Gelehrten, der hat mit der Schlange Echidna furchtbare Menschenungeheuer erzeugt, der schrecklichste der Abkömmlinge aber ist Cesare Borgia. Er ist schön wie der Marmorgott, den sie bei Ostia jüngst gefunden haben, und die Frauen, die in seinen Armen liegen, kommen von seiner Liebe nicht los, denn sie hat Basiliskenglut.“

Die Leute saßen mit gespannten Nerven da. „Erzähl uns noch vom Papst, Balbo“, bat Gimani und schenkte dem Eisenhändler das Maß übervoll, dass der gelbe Wein duftend auf die Erde tropfte.

Ein Fischer mit einer schwarz behaarten, bronzebraunen Brust, die das Hemd sprengte, griff nach den rauen Händen Balbos. „Du weißt es, du kommst jeden Monat nach Rom, und dein Sohn ist beim Kardinal Rovere bedienstet gewesen, der da jetzt in Frankreich verbannt ist.“

„Ja, wenn wir den wieder hätten, den Kardinal Rovere!“, nickte missmutig der Eisenhändler. „Dann wackelte dem Papste die Tiara auf dem Haupte. Rovero ist der größte Feind der Borgia gewesen.“

Der schmale, verfaltete Hals des alten Gimani streckte sich wie ein Flamingoschlauch vor. „Erzähl uns von Borgia“, baten seine blutleeren Lippen. „Ist es wahr, dass der Papst nach Nettuno kommen soll?“

Balbo nickte. „Er will sich das hergerichtete Kastell besehen und der Messe am Johannestag beiwohnen, die der Kardinal Herda zelebrieren wird. Und Cesare soll an dem Tag einen Faustkampf mit dem stärksten Mann von Nettuno, dem Schmied Tignosi, bestehen, und alle Mädchen und Frauen sind auf das Schloss geladen zu einem großen Essen –“

Die Zoratti, die durch des Händlers reichliche Neuigkeiten zum unfreiwilligen Schweigen verurteilt worden waren, sprangen jetzt auf. „Das alte Blendwerk der Hölle!“, rief der alte Vasall der Colonna. „Das Festessen wird der Fischteich für Cesare sein, dort fängt er seine schönen Karpfen. Seht diese brauen Haare, sie haben viel erlebt, manche Fehde mit dem Orsini, Conti und Santa Croce, aber sie sind erst grau geworden über der Schmach der eigenen Tochter, die einem Kardinal Borgia in die Arme fiel vor zehn Jahren. Nun kommt an euch die Reihe. Für die Lüste des Papstsohnes habt ihr eure Töchter großgezogen, Nettuner, in einer einzigen Nacht wird sich die Schande über euer Haupt ergießen. Wollt ihr es erleben?“ Der alte Leib hatte sich hoch aufgerichtet, das Auge sprühte das Feuer der Empörung, die Lippen zuckten und die Hände dräuten zum Himmel.

Da klopfte es dreimal an die Tür. Gleich darauf rief draußen eine dünne Stimme: „Chi dorme non piglia pesci! Wer schläft, fängt keine Fische!“

Alle Mienen verzerrte die Angst. Nur die Zoratti, die das Losungswort erkannt hatten, horchten mit freudig gespannten Gesichtern auf, und der junge Andrea sprang zur Tür, riss sie auf und stürzte vor einer männlichen Gestalt nieder, die jetzt im Zwielicht zwischen den Pfosten stand, eingehüllt in einen Hirtenmantel, einen grauen Schlapphut auf dem Kopf, die Beine in Strümpfen aus Ziegenwolle und von braunen Bändern umschnürt, die Füße in den spitzen, durchlöcherten Ciocien aus Eselshaut steckend, ein Hemd aus grober, schmutziger Leinwand auf dem Oberleib. Das junge Gesicht war durch vulkanischen Staub, den der Schweiß zu Klumpen geballt hatte, völlig entstellt. Nun trat der Fremde, von dem verzückten Andrea geleitet, in den bescheidenen Lichtkreis der Lampen, warf den Hut ab und wischte sich mit dem Mantelfetzen Staub und Schweiß vom Gesicht. Da warfen sich die verblüfften Männer plötzlich mit Ausrufen der Freude auf die Knie.

„Herr! Herr! Herr!“, stolperte die Freude ungeschickt und zärtlich zugleich aus den Brüsten. Und die Hände zerknüllten den Mantel und streichelten ihn, als wäre er eine heilige Reliquie. Der alte Zoratti aber bot mit zitternder Hand dem Fremdling den Sitz auf dem Fasse an, während Gimani die Treppe hinabtorkelte, einen Stuhl für den ehrwürdigen Gast zu holen und das Frauengelichter aus allen Mühlenwinkeln hervorzuscheuchen, damit es auf der Wacht sei und niemand mehr einlasse in die Wolfsschenke, denn es sei dem Hause großes Heil widerfahren, das freilich zugleich Gefahr bedeute, wenn ein Unberufener dahinterkäme, wer in diesen armseligen Mauern eingekehrt sei. Und ganz verklärt murmelte er, den Stuhl bringend: „Oh, diese Ehre, diese unverdiente Ehre! Vespasiano Colonna lässt sich herab zu dem Hund von der Wolfsmühle! Vespasiano Colonna!“ Er hätte den Namen des Heilands nicht ehrfürchtiger aussprechen können.

Der junge Herr aus dem alten Geschlecht stand noch immer gerührt unter der Bedrängnis einer überströmenden Verehrung seiner einstigen Dienstmannen.

„Legt mehr Bretter vor die Luken, dass man unser Licht nicht sieht“, sagte der Colonnajüngling mit seiner glockenhellen Stimme.

Ein Fischer stellte Fassdauben vor die Spalten der Fensterbretter. Und nun sahen alle auf die künstlich entstellten feinen Adelszüge des jungen Menschen, der noch vor zwei Jahren mit seinem Oheim Prospero, dem berühmten Kriegsmann, Eigner des Kastells von Nettuno gewesen war. Ja, das waren noch Tage ohne Knechtung gewesen, denn die Colonna waren in allen Landschaften südlich von Rom gar freundliche Herren, und die Bauern arbeiteten ohne Hochdruck für ihre Kastelle, der Wein wurde gern gezinst, und wenn des alten Prospero Kriegergestalt einmal im Jahre von Ort zu Ort ritt, um die Fechsung zu besichtigen und die Weinlese mitzumachen, dann gab es Freudentage für die Colonnabauern. Sie waren keine übermütigen Herren und kannten nur eine Leidenschaft: als Stämmlinge der alten Kaiserpartei der Ghibellinen den Papst und seine Orsini zu bekriegen. Im ganzen südlichen Latium saßen ihre Vögte, und ihre Kastelle schimmerten von den sabinischen Bergen ins Tal des Sacco hinab. Die edelsten Jünglinge aus den kleinem Geschlechtern Roms dienten ihnen, und alles schwache und vom Papst verfolgte Volk verband sich mit ihnen zu heimlichen Trutzbündnissen. Spanien hatte an ihnen eine treue Stütze, und das Haus Aragon in Neapel war lange Jahre mit ihnen verbunden. Da ereilte sie ihr Schicksal. Den diplomatischen Künsten Alexander Borgias und seines Sohnes Cesare gelang es, sie zuerst an sich zu ziehen, um sie dann um so sicherer zu verderben. Mithilfe der Orsini wurde der Colonna Einfluss zuerst geschwächt, und eines Tages rannten die päpstlichen Truppen Sturm gegen alle Colonnaburgen. Die Bergfesten wurden auf zwei kleine Borgiakinder verteilt, Nettuno, das Meerkastell der Colonna, erhielt der kleine Rodrigo, der Sohn der Papsttochter Lukrezia Borgia.

Das Kastell Nettuno hatte einst Papst Martin V., der einzige Papst aus dem Hause der Colonna, gleichzeitig mit Astura von den Frangipani käuflich erworben, und seitdem hatte es im friedlosen Wandel der Zeiten unbekämpft dagestanden.

Nach dem Heimatschloss, dessen Mauern nun von einem fahlen Licht umsponnen wurden, spannten sich jetzt die sehnsüchtigen Blicke Vespasianos, der mit müde gewanderten Füßen, bestaubt und verschmutzt, in das alte Wolfsloch geschlichen kam. Aus Neapel hatte er sich bis in das Patrimonium als Schafhirt verkleidet durchgeschlagen, war schon bis nach Rom gelangt, hatte dort einen allzu heißen Boden gefunden, war vielen Borgiasöldnern begegnet, und hatte dann endlich, am Rand der Pontinischen Sümpfe vorwärtsschreitend, Nettuno erschaut. Als es zu dämmern begann, war er in die verrufene Wolfsmühle, aus der die getreuesten Colonnasöldlinge stammten, geschlichen, um den Vater Gimani zu begrüßen und dort das Saatgut seines Willens zu bestellen.

Nun grüßte ihn durch die Rundung einer Luke das blasse Gemäuer seiner Vaterburg. Sein Vater selbst war längst tot, die Mutter unter dem Schutz treuer Freunde in Taormina.

Mit gesenktem Antlitz, wie ein im Gebet Versunkener, ließ er die Kindheitsschauer aus den Mauern der Burg herüberwehen in sein Herz. Wenn er den Blick anstrengte, sah er die kleinen, zerbrochenen Zinnen, wo er seine Kinderpfeile verschossen hatte, sah das kleine Seitentor, durch das er mit anderen Knaben auf den Strand hinabgestürmt war, um Seeschlachten zu spielen und die aus Sand geformten Sarazenentürme zu zerstören. Auch auf dem Boot hatte er Mädchenschultern gekußt und manch zarte Blume geknickt.

„Dass wir Euch nur wieder haben!“, wimmerte der alte Gimani kniend, während er dem Herrn die Hand küsste. Man wusste nicht, ob er weinte, denn seine Augen waren immer vertränt, als wären sie von Meerwasser vollgesogen. „Blass seid Ihr geworden, edler Herr, als hättet Ihr unser Fieber in den Knochen.“

„Das Leben fern der Heimat macht blass, Alter“, sagte der Colonna mit verfinsterter Stirn. „Wie geht es euch, Leute? Der Kardinal lässt euch grüßen.“

„Du bist Balbo, der Eisenhändler, nicht wahr?“, wandte sick Colonna an den lebhaften Nettuner.

„Habe ich Euch doch die Reifen geschmiedet“, lachte Balb „und manch zerbrochenes Spielzeug ganz gemacht. Glaubt uns, Herr, seit die Colonna verjagt sind, wollen unsere Maulesel nicht mehr recht fressen, über den Wein kommt die Reblaus, die Ratten vermehren sich, die Schiffe scheitern, weil das Leuchtfeuer von Anzio oft verlöscht, und niemals noch schwammen so viele tote Fische im Meer wie jetzt. Ihr kommt von Rom, edler Herr?“

Vespasiano nahm einen tiefen Schluck aus dem grünen Steinkrug, den ihm der Wolfsmüller gereicht. „Rom liegt im argen. Ich habe Cesare Borgia gesehen, und ihr werdet ihn am Johannesfest auch sehen.“

„Wenn Cesare durch die Straßen geht“, erzählte Vespasiand weiter, „hat er einen dreifachen Ring von Leibwächtern um sich, denn auch er hat Grund, vor ganz Rom zu zittern.“

„Wie sieht er aus?“, rückte die Neugier Ercole Landis hervor.

„Schön wie ein Erzengel Peruginos und stark wie Simson. Vor acht Tagen ist nur die Hälfte eines Prälaten auf der Engelsbrücke gehangen, und Cesare Borgia ritt vorbei und bekreuzigte sich mit einem Lächeln. Die Orsinischlösser sind gefallen, von den Mauern baumeln noch die Leichen der Vögte, und ihr habt wohl auch von der tapfern Tiziana de' Calvi gehört, die ihre Burg in die Luft sprengte, um Cesares Giftkuss zu entgehen. Blut und Rauch sind die Wahrzeichen der Borgia. Cesare hält das Heft in Händen, er ist Herzog der Romagna, geworden und wird bald König der Welt werden oder Papst von Teufels Gnaden. Alle göttlichen und menschlichen Rechte hat er gebrochen und hat das schwankende Schifflein Petri, auf dem der ohnmächtige Steuermann Alexander sitzt, in den Sturm hinausgetrieben, dass es keinen sichern Hafen mehr finde. Er ist unangreifbar wie ein Igel, unausrottbar wie ein Rattenkönig, und wenn man nicht unter seiner blutigen Größe zu leiden hätte, müsste man sie bewundern.“

Balbo wurde rot vor Neugierde. „Und was ist mit der Parisina?“

„Cesare wird, wenn er die Laune dazu hat, die Kurtisan vielleicht zur Herzogin adeln. Aber Freunde, ich bin nicht wie der Dieb in der Nacht gekommen, um euch von den Gelüstes unseres Todfeindes zu erzählen, sondern um euch zu fragen:

Wie lange noch wird eure Langmut währen?“ Wieder warf er durch eine Spalte seine sorgenden Blicke in die Nacht hinaus.

„Habt keine Angst, edler Herr“, beruhigte ihn Gimani. „Die Hunde schlagen rechtzeitig an, und bei der Tür steht meine Nanna, die hat Wolfsaugen und sieht Euch bis in das Augenweiße des Burgtürmers. Herr, wenn es an uns läge, wir brächen lieber heut als morgen in die Burg und spießten den Aquasparta auf der höchsten Zinne auf.“

„Ja, ich weiß, der Bluthund gießt die Schale des Borgiazornes über alle Colonnadiener aus, aber er ist ebenso wenig wie Cesare mit gewöhnlichen Waffen zu schlagen. Und dann aber – wo sind die Helden, die sich an seinen Leib wagten? Von Rom ist kein Heil mehr zu erwarten, denn es besteht aus Schwärmen von Prälatenknechten, Sykophanten, Pharisäern, Bullenschreibern und im Müßiggang geschulten und von den Papstlastern angesteckten Tagdieben. Aber seht, hier am Meer haust noch ungebrochene Kraft, – oh, rückt ganz nahe heran, Freunde, seht, ihr seid auf den Ruf des braven Ercole Landi zusammengekommen, um eurer Landsleute Not in eure Hände zu nehmen. Die Besten und Treuesten von Nettuno hat er aus den Löchern der Dürftigkeit herausgekitzelt, um mit ihnen den Weg der Befreiung zu beraten. Nun bin ich unter euch und frage euch, ob ihr mir euer Schicksal anvertrauen wollt.“

Die beschwörenden, mit Schwielen bedeckten Hände griffen nach seinem Hirtenfell.

„Edler Herr, jagt uns aufs Schloss, und wir töten Aquasparta!“, rief ein Fischer.

„Sachte, sachte, Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden, und man sagt, der Fisch stinkt vom Kopf. Was hülfe es euch, wenn ihr Aquasparta beseitigt? Wenn ihr Aquasparta treffen wollt, müsst ihr Cesare treffen. Und trefft ihr Cesare, trefft ihr auch den Papst, und damit stürzt das ganze Teufelsregiment in Trümmer.“

Die Blutgierigen fletschten die Zähne, als wollten sie Granit zerbeißen. „So treffen wir Cesare Borgia!“, schnellte die aufgestachelte Wut Ercole Landis heraus.

Alle Gesichter fieberten in Erregung. Der Rachedämon im Herzen Vespasiano Colonnas hätte leichtes Spiel. Aber er, der gebildete, überlegene Kopf arbeitete feiner als die allzu leicht beweglichen Herzen seiner Parteigänger. „Ihr wollt also die Hellebardenmauer der Spanier durchbrechen, ihr, die armen Lazarusse, die waffenlosen Knechte? Seid klug wie die Schlange und einfältig wie die Taube. Man sagt, Cesare soll einen demantenen Helm in den Schlachten tragen, und wer den in die Hand bekäme und ihn mit Bocksblut erweichte, könnte den Herzog niederstoßen. Freilich, das Leben jedes einzelnen von euch ist so kostbar, dass man es nicht nutzlos dahinopfern sollte.“ Mit klügelnder Berechnung schmeichelte er dem Menschenwert dieser Lumpen, und dankbar blickten ihn ein paar Augen an. Es war ja so leicht, ihre Herzen zu erregen. Der Papst schwelgte in Tafelfreuden, und sie lebten in Steinlöchern und würgten Kürbissuppe und Brot hinunter.

Vespasiano tat, als zermalme er einen Gedanken. Dann blickte er das Dutzend Gestalten mit wägender Miene an. Es war keiner unter ihnen, dem er das Opfer zutrauen könnte. Auch Ercole Landi nicht, denn wenn er noch verlobt war wie vor zwei Jahren, dann – da flammte ein Strahl durch Vespasianos Gedanken. Hatte Ercole nicht das schönste Mädchen Nettunos zur Braut? Wie hieß sie nur gleich? Und nun schlug er dem in Verschwörungsgedanken vergrabenen Fischer auf die Schulter, dass er zusammenschreckte. „Hör doch, Ercole, du hast dein Mädchen doch lieb, die schöne – ach ja, die schöne Carmela Accolti?“

Den Burschen überlief es heiß. „Wer mir die Carmela antastet, wird zu Fischfutter zermalmt“, sagte er prahlerisch.

Da knurrten die Hunde. Gimani sprang herbei und hielt ihnen die Mäuler zu. Im nächsten Augenblick klang es draußen durch die beginnende Mondnacht wie ein geisterhafter Ruf, der leise anschwoll, verhallte, sich wieder erhob und näherkam.

Die Fischer rissen sich aus dem Bann der Aufruhrstimmung, und alles drängte zur Luke, wo man die Bretter wegriss. Ein schiefbuckliger Geselle mit einem dunkelroten Weingesicht flüsterte: „Die Sibylle! Die Sibylle!“

Vespasiano kannte das unheimliche Weib, das im Geruch einer halb heidnischen, halb heiligen Macht stand und sich im Tuffgestein am Meeresstrand eingegraben hatte, um Gottes Weisheit zu ergründen und in den ernsten Zeitläuften die Gewissen der Küstenbewohner aufzurütteln. Schon unter dem Papst Innozenz VIII. saß sie spinnengrau und vertrocknet in der Tuffsteinhöhle, die mit den Resten eines halb im Meer versunkenen Peristyls angefüllt war, und handelte mit Weisheit, welche sie, als sie noch lesen konnte, aus einer kostbaren Bibel und aus anderen geheimnisvollen Handschriften hervorholte. Es hieß, sie stamme aus edlem Haus und wäre zur Zeit der avignonischen Päpste in eine dunkle Liebesgeschichte verwickelt gewesen, bei der auch poetischer Verrat und allerhand Spuk mitgespielt haben sollten. Ihr Wissen war tief, und von den eleusinischen Geheimnissen, sagte man, wisse sie auch mehr, als einem ehrlichen Christen ziemte. Wenn die sonderbaren Gelehrten aus Griechenland an den alten Villenstrand kamen, um Ausgrabungen zu machen, hielten sie oft Zwiesprache mit der wunderlichen Greisin. Vespasiano erinnerte sich der Zeiten, da er selbst von ihr manchen Segen geholt, bevor er in ein Orsinigefecht gezogen; ja, gar manchen Liebeshandel hatte er von ihrer Prophetie abhängig gemacht, die sie unter Zuhilfenahme einer geheimnisvollen Rauchpfanne über einem Eisengestell von sich gab.

Nun hörte man den Klageruf der Greisin näher tönen, und Vespasiano erblickte im bleichen Mondschimmer die von zwei zwerghaften Männchen begleitete Gestalt der Sibylle, wie einen grauen Schatten aus dem Orkus daherhumpeln.

„Führt sie herauf“, befahl Vespasiano.

Da schnellten zwei junge Burschen hinunter, und bald darauf schleppten sie die alte Krähe mit zwei possierlichen Zwergen in das Mauseloch.

Auf der Schwelle der Kammer hielt der Fuß der halb blinden Greisin inne. Gimani wollte sie auf eine alte Truhe niederdrücken, aber die Sibylle hieb mit erstaunlicher Kraft mit ihrem Stock auf das morsche Ding los, dass die Umstehenden beiseite sprangen. Dann nahm sie die Zwerge bei den Händen, drückte ihre viereckigen, verrunzelten Wasserköpfe gegen ihre Lenden und tappte mit ihnen langsam über den geziegelten, roten Boden bis zur Luke. Man wusste nicht, führte sie die Zwerge oder wurde sie von ihnen geführt. Sie humpelten wie gichtbrüchige Kranke, stützten sich ebenfalls auf Arbutusstöcke und hatten verzwickte Gesichter, von Pergamenthäuten umspannt.

Die Sibylle stand jetzt bei der Luke. Es schien, als tauchte ihr überirdischer Blick in die dämmernde Helle der Nacht. Das graue, togaartige Linnen, von einem Geißelstrick über den Hüften zusammengehalten, schlotterte um ihr Knochengerüste in unzähligen Falten und erhöhte das Geisterhafte ihrer Erscheinung. Um den Hals schloss sich das Gewand mit einer brandroten Krause, sodass es aussah, als leuchtete dort eine breite Strangulierungsnarbe. Die spitze, kreideweiße, dünnflügelige Nase saß wie ein Fremdkörper in dem umbrabraunen skelettierten Gesicht, und das glanzlose, halb erloschene Augenpaar gab diesem nur den Ausdruck einer Totenmaske. So stand sie wie ein erdfremdes Wesen, vom Hauch einer Unsterblichkeitswelt berührt, vor den Verschwörern.

Vespasiano näherte sich ihr wie einem kostbaren Tabernakel. „Was treibt dich, Sibylle, wehklagend durch die Nacht?“, fragte er leise, als fürchtete er, ihr morsches Wesen könnte vom Schall seiner Stimme zerbrechen.