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Nicolas Ancion

Der 35-Milliarden-Mann


Aus dem Französischen von Patricia Fridrich

 
 

Schruf und Stipetic

Deutsche Erstausgabe
© Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2017
www.schruf-stipetic.de

Titel der Originalausgabe: L′homme qui valait 35 milliards

© 2009 Nicolas Ancion

ISBN: 978-3-944359-41-0

Covergestaltung: JMC unter Verwendung von Fotos von misu und parallel-dream, fotolia

 

Das Zitat von Julien Coupat, online veröffentlicht am 26 Mai 2009 in Le Monde, die Gedichtzeile von Henri Michaux aus dem Gedichtband Face aux verrous, Gallimard, 1954, und das Zitat von Tristan Tzara aus Littérature, Mai 1921, wurden von Patricia Fridrich aus dem Französischen übersetzt.

Das ebenfalls von Patricia Fridrich übersetzte Zitat aus Roger Vaillands Roman 325 000 francs veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung des Verlagshauses Libella. Die Liedzeile vom Autor Tristan Nihouarn aus dem Song La Cerise der Band »Matmatah« mit Genehmigung von Upton Park Publishing.


Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.

Inhalt

Warnung

Widmung

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Zweiter Teil

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Dritter Teil

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Autor

 

Warnung

Manchmal möchte man, dass die Geschichten, die man erfindet, mehr als nur Fiktion sind. Dieses Buch jedoch ist ein Roman: Die Figuren

und ihre Handlungen sind frei erfunden. Wenn sie den Leser an lebende oder verstorbene Personen erinnern, so ist das reiner Zufall.

Viel Vergnügen!

 

Für Axelle, die zehn Jahre geduldig darauf gewartet hat, dass ich diesen Roman zu Ende schreibe und sie ihn lesen kann.

ERSTER TEIL

Die Unterscheidung erfolgt also, anders als man es sich in der Justiz vorstellt, nicht zwischen legal und illegal, zwischen Unschuldigen und Kriminellen, sondern zwischen Kriminellen, deren Verfolgung man für angebracht hält, und Kriminellen, die man in Ruhe lässt, weil die Gesellschaftspolitik es so erfordert.

Julien Coupat


Selbst wenn es richtig ist, ist es falsch.

Henri Michaux

1

»Der Wagen wartet auf dem Parkplatz, wenn Sie mir bitte folgen möchten.«

Der Geschäftsmann nickt, drückt die lederne Aktentasche an den Körper und folgt dem Journalisten. Gemeinsam steigen sie die Marmorstufen hinunter zum Eingang des Gebäudes der Europäischen Kommission. Sie gehen an einer endlos langen Betonmauer entlang, ein Arbeiter mit Schutzmaske entfernt ein grellrotes Graffiti: Glotze aus, Gehirn an! Einige Wahrheiten möchte man besser nicht lesen.

»Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns dieses Interview gewähren. Ich nehme an, Ihr Terminkalender ist ziemlich voll …«

»Das ist richtig.«

»Um keine Zeit zu verlieren, erkläre ich Ihnen kurz, worum es geht. In den letzten Jahren machen sich die Menschen zunehmend Sorgen um die Wirtschaft, wie immer in Krisenzeiten und bei steigenden Arbeitslosenzahlen. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Auf jeden Fall wollen wir als öffentlich-rechtliche Anstalt den Zuschauern im Rahmen unseres Nachrichtenjournals erklären, wie die Wirtschaft funktioniert. Leider haben Manager und Unternehmer einen schlechten Ruf, vielleicht weil sie nie im Fernsehen auftreten, während Fußballspieler und Sänger zum Beispiel ständig präsent sind. Man könnte meinen, dass Geschäftsleute sich lieber verstecken. Deshalb wollen wir in einer Reihe von Interviews Großunternehmer zu Wort kommen lassen.«

Die beiden Männer nähern sich einem weißen Van mit dem farbigen Logo und dem Schriftzug des Fernsehsenders. Der Grafiker hat ganze Arbeit geleistet, aber der Karosseriemechaniker hat geschludert: Das Rechteck hängt schief, und der Aufkleber wirft Blasen.

Der Journalist öffnet die Tür zum Rücksitz und lässt den Geschäftsmann zuerst einsteigen. Er ist ein wenig kleiner als der Journalist und trägt einen leichten Anzug, zweifellos maßgeschneidert von einem der besten Designer Londons, ebenfalls englische helle Schuhe, eine Seidenkrawatte und protzige goldene Manschettenknöpfe. Als einer der reichsten Männer der Welt kann man sich solche Details leisten. Sie machen Eindruck beim Gesprächspartner.

»Wann ist Ihr Meeting in Luxemburg?«

»Um vier Uhr, aber ich möchte etwas früher dort sein.«

»Sie werden pünktlich dort sein, sofern unterwegs alles glatt geht, natürlich. Raymond, du kannst fahren, es sind alle an Bord.«

»Soll ich die Aufnahme starten?«, will der Fahrer wissen.

»Warte noch kurz, ich habe noch nicht alles erklärt.«

»Die Details interessieren mich nicht«, wendet der Geschäftsmann ein. »Ich muss ohnehin noch einige Telefonate führen.«

»Tut mir leid«, entgegnet der Journalist, während er sich an seinem Gurt zu schaffen macht, »Mobiltelefone müssen ausgeschaltet werden, um eine Rückkopplung mit dem Mikro oder den Kameras zu vermeiden. Flugmodus reicht leider nicht.«

»Auch das Satellitentelefon?«, fragt der Geschäftsmann.

Der Journalist nickt.

»Dann muss mein Leibwächter hier im Wagen mitfahren, ich unterliege sehr strengen Sicherheitsvorschriften, davon kann ich leider nicht abweichen. Man ruft mich jede halbe Stunde an, um meine genaue Position per Satellit zu ermitteln. Wenn ich nicht geortet werde, löst das einen Alarm aus und führt zu einer Menge Komplikationen für alle. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen lieber.«

»Ich schlage vor, wir rufen ihn einfach am Ende des Interviews an, es dauert sowieso nicht länger als eine halbe Stunde. Einverstanden?«

Der Geschäftsmann nickt. »Na gut, meine Leibwächter sind ja im Wagen hinter uns. Sie sehen mich und ich kann ihnen ein Zeichen geben.«

Er dreht sich um und winkt durch die Heckscheibe dem beeindruckenden Gefährt zu, das dem Wagen des Fernsehsenders folgt: ein schwarzer Jeep mit kugelsicheren Scheiben und verchromter Stoßstange. Die Schatten hinter der Frontscheibe heben zur Bestätigung die Hand.

»Gut«, fährt der Journalist fort, »hier oben in der Decke ist die Hauptkamera eingelassen, weitere Kameras sind in den Kopfstützen. Sie können sprechen, wohin Sie möchten, am besten ganz natürlich.«

»Sehr gut«, entgegnet der Mann im Anzug. »Aber um natürlich zu bleiben, müsste ich mich abschnallen, der Gurt stört mich.«

»Sie leben also gerne gefährlich!«

»Das nicht, aber in Indien schnalle ich mich nie an. Schon gar nicht in der Limousine. Ich bin es einfach nicht gewohnt.«

»Raymond, du kannst loslegen!«

Während der Chauffeur an Knöpfen am Armaturenbrett dreht, wendet sich der Journalist der Kopflehne des Beifahrersitzes zu und verkündet: »Lakshmi Mittal, Interview, Dienstagmorgen zwischen Brüssel und Luxemburg. Es geht los.«



An einem Morgen wie jedem anderen wachst du auf. Dein Atem stinkt wie ein polnischer Lastwagen, dein Schädel brummt. Es ist sechs Uhr. Deine Frau ist schon wach, sie hat im Neonlicht der Küche Kaffee gekocht. Deine Kinder schlafen noch, du wirst sie vor heute Abend nicht sehen. Sie gehen zur Schule und du hast Tagschicht. Du hasst deine Arbeit. Nicht speziell diese, du würdest wahrscheinlich jede Arbeit hassen. Aber trotzdem. Das Geräusch, wenn der Stahl gewalzt wird, der Lärm der Maschinen, die Hitze, der Wind und der Regen auf dem Nachhauseweg, die dummen Fressen der Kollegen unter ihren Helmen, sie ähneln deinem Gesicht im Spiegel, das gefällt dir nicht, es kommt dir vor, als würdest du in der Hölle malochen. Malochen ist die Hölle. Hier wie anderswo. Trotzdem. An die Fressen gewöhnt man sich nicht.

Deine Frau reicht dir Brotdose, Thermoskanne und Handschuhe. Du schüttest den Kaffee hinunter, greifst nach dem Autoschlüssel am Haken neben der Eingangstür. Du küsst deine Frau nicht. Du küsst sie schon lange nicht mehr. Du erinnerst dich nicht einmal mehr an den Tag, an dem du damit aufgehört hast. Man weiß immer, wann etwas angefangen hat, aber selten, wann es zu Ende gegangen ist. Du schließt die Tür hinter dir.



»Monsieur Mittal, die internationale Presse hat vor Kurzem bestätigt, dass sie in diesem Jahr wieder der reichste Mann Großbritanniens sind. Herzlichen Glückwunsch!«

»Das ist doch keine sportliche Meisterleistung. Ich habe immer viel gearbeitet aber nie den ersten Platz angestrebt. Wenn ich heute an der Spitze stehe, dann vor allem, weil andere zurückgefallen sind oder Vorsprung eingebüßt haben.«

»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie nur zufällig so viel Geld verdienen.«

»Nein, das wäre nicht ehrlich. Aber genau genommen habe ich in diesem Jahr vor allem Verluste gemacht. Große Verluste, viel mehr als alle anderen, die über die Krise klagen.«

Der Geschäftsmann hält inne. Hinter der Autoscheibe ziehen die Brüsseler Fassaden vorbei. Könnte der Journalist Mittals Augen sehen, würde er Traurigkeit darin bemerken.

»Aber ich beklage mich nicht«, fährt der Unternehmer fort, »Geschäftsrisiko.«

»Leiden Sie unter der Wirtschaftskrise?«

»Mein Konzern leidet nicht, mein Konzern ist regelrecht erschüttert. Zum Beispiel …«

»Die Frage bezog sich weniger auf den Konzern als auf den Menschen Mittal«, unterbricht der Journalist.

Der Geschäftsmann ist es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, doch der wohlwollende Ton des Journalisten verbietet eine barsche Erwiderung. Mittal fährt mit eisigem Blick fort: »Das läuft auf das Gleiche hinaus. In persönlicher Hinsicht war dieses Jahr desaströs. Wenn ich in Zahlen sprechen darf …«

»Gerne. Eine Sprache, die jeder versteht.«

»Im Laufe des Jahres 2008 habe ich persönlich 24 Milliarden Euro verloren«, sagt der Unternehmer

kühl und beiläufig. »Jetzt haben Sie eine Vorstellung von den Auswirkungen der Krise.«

»Aber das sind nur Zahlen, und die sind, ehrlich gesagt, ziemlich abstrakt.«

Mittal blickt den Journalisten erstaunt an. Wie kann man Zahlen als abstrakt bezeichnen? 24 Milliarden Euro sind eine beachtliche Summe!

Als wolle er ihn trösten bemerkt der Journalist lächelnd: »Sie sind immer noch der reichste Mann Großbritanniens. Diesen Platz belegt man nicht einfach so.«

»Natürlich nicht.« Mittal überlegt einen Augenblick, bevor er fortfährt. »Ich hatte große Ambitionen für den Konzern. Es ist wichtig zu wissen, wohin man will. Aber wenn ich der Reichste bin, ist das nicht nur meinem Willen zuzuschreiben«, er lächelt leise, »sondern hauptsächlich der Tatsache, dass niemand reicher ist als ich. So ist das mit den Ranglisten. Mehr hat es nicht zu bedeuten.«

Er sieht wieder aus dem Fenster, dieses Mal bleibt das Lächeln auf seinen Lippen. »Darf man hier rauchen?«

»Das ist leider gesetzlich verboten, und die Rundfunkleitung würde es auch nicht besonders schätzen. Sie wissen ja, wie das mit Vorschriften ist, man sollte sich lieber daran halten.«

Der Geschäftsmann spielt mit seinen Manschettenknöpfen und sieht den Journalisten abwartend an.

»Zurück zu Ihrem Vermögen: Sie haben sich darauf spezialisiert, ganze Industriezweige kurz vor dem Bankrott aufzukaufen, zu einem sehr niedrigen Preis, um anschließend kolossale Gewinne zu erwirtschaften.«

»Ich habe nichts Neues erfunden, das ist das Prinzip des Handels: billig kaufen, teuer verkaufen. So wird man reich.«

»Aber Sie setzen dieses Prinzip nicht mit den gleichen Methoden um wie andere …«

Lakshmi Mittals Finger nesteln nervöser an den goldenen Manschettenknöpfen. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Sie begnügen sich nicht damit, zum Beispiel Stahl oder Rohstoffe mit einer Gewinnmarge zu verkaufen. Sie verdienen vor allem an der Ausschüttung von Dividenden.«

»Ich belohne eben Aktionäre, die dem Konzern vertrauen.«

»Der Hauptaktionär sind aber Sie und Ihre Familie.«

»Warum auch nicht. Ich setzte ja auch als Erster mein Vertrauen in den Konzern, den ich leite.«

Das Auto hält an einer Ampel. Der Journalist blättert in seinem Notizblock eine Seite um.



Der gepanzerte Jeep hält direkt hinter dem Wagen des Fernsehteams. Der Leibwächter am Steuer klopft im Rhythmus der Musik aus dem Autoradio auf das Lenkrad. Gleich wird es grün, er legt die Hand auf den Schaltknüppel. Ein Mann in Uniform tritt ans Auto. Mit einer autoritären Geste fordert er den Fahrer auf, das Fenster zu öffnen und geht in die Offensive: »Goeie morgen, Mijnheer, mag ik uw … «

»Sorry, I don′t speak French. Je pas français«, stammelt der Fahrer.

»Fahr die Karre an die Seite, wir müssen uns mal unterhalten«, erwidert der Polizist.

Der Leibwächter fährt rechts ran. Die Ampel springt auf grün. Aus ihrem Jeep heraus beobachten die drei Bodyguards entsetzt, wie sich das Fahrzeug mit ihrem Chef entfernt.

»I′m sorry but we′re bodyguards and we have to … «

»Shut up«, blafft der Polizist und streckt fordernd die Hand aus.



Dein Auto wartet unten auf dich. Schon als kleiner Junge hast du von einem Sportwagen geträumt, metallic-rot, verchromte Felgen. Ferrari oder Lamborghini. Du hattest Auto-Poster an den Zimmerwänden, neben denen von Sylvester Stallone, die dein großer Bruder aufgehängt hatte. Aus ihm ist nie ein Boxer geworden, und du fährst immer noch deinen alten Fiat Panda, das einzige Auto, das du beim Gebrauchthändler bezahlen konntest, als du vor drei Jahren deinen alten Golf in Zahlung gegeben hast.

Das Schlimmste aber ist, dass du immer noch für den alten Golf zahlst. Damals hattest du keine Vollkasko, hast den Peugeot von rechts nicht kommen sehen, du kamst von der Arbeit, warst müde, du kanntest den Weg wie deine Westentasche, niemand sonst benutzte diesen Schleichweg … und außerdem beachten nur Fahrschüler die Vorfahrtregeln. Im Nachhinein ist man immer schlauer.

Der Motor ist kalt, er läuft nicht rund, hustet und stottert, du spürst, dass er dich noch vor den Ferien im Stich lassen wird. Aber bitte nicht heute, die Stechuhr wartet, und am besten gar nicht, du kannst dir nichts anderes leisten als diesen alten, immer noch nicht abbezahlten Panda, höchstens ein Mofa. Du siehst dich mit einem Zweitakter zur Fabrik knattern, wieso nicht gleich mit dem Fahrrad. Der Motor heult und dreht hoch, aber er läuft, du schaltest in den ersten Gang, manchmal wäre es dir lieber, der Peugeot hätte nicht nur den Golf, sondern auch dich erwischt.



»Monsieur Mittal, ist es nicht üblich, dass Firmen einen Teil des Gewinnes ausschütten, nachdem die Anteilseigner investiert haben?«

»Ja, das ist üblich.«

Der Journalist atmet tief durch. »Und warum machen Sie es dann andersherum? Sie verteilen Dividenden an die Aktionäre, während Sie die Belegschaft entlassen, Werke schließen und die Produktion nur in den kostengünstigsten Ländern belassen.«

Mittal lächelt nachsichtig und wartet ab.

»Einerseits verteilen Sie Gewinne, anderseits erzählen Sie der ganzen Welt, wie schlecht es der Stahlindustrie gehe und dass Sie genötigt seien, Unternehmen zu schließen. Das passt nicht zusammen.«

Der Unternehmer lehnt sich immer noch lächelnd zurück. »Das war schon immer die Essenz der privaten Unternehmensführung: Aktionäre muss man entlohnen. Wenn Sie einen Wert schaffen wollen, müssen Sie ständig unter Beweis stellen, dass Sie Dividenden erwirtschaften können, um das Vertrauen der Aktionäre aufrechtzuerhalten, denn ohne sie ist ein Konzern wie der meine nichts.«

»Einen kleinen Unterschied gibt es aber, Monsieur Mittal. Im Falle des Konzerns, den Sie leiten, sind Sie selbst der größte Aktionär. Sie stellen es so dar, als ginge es um das Vertrauen der Aktionäre, aber die Dividenden mehren vor allem Ihr eigenes Vermögen und das Ihrer Familie. Über die letzten zehn Jahre hat genau dieser Mechanismus Ihr Vermögen enorm gesteigert.«



Bis der Polizist die Papiere überprüft und sie dem Fahrer im Jeep zurückgegeben hat, vergehen gut fünf Minuten. Währenddessen starren die Leibwächter auf die Autos, die dicht an dicht über die Avenue rasen. Der Wagen des Fernsehteams könnte längst überall in Brüssel sein. Der Leibwächter am Steuer greift nach dem Mobiltelefon. Noch vor dem ersten Klingelzeichen meldet sich die Mobilbox. Dem Fahrer bricht der Schweiß aus.



»Sie haben eine merkwürdige Art, Fragen zu stellen. Ist das ein Interview fürs Fernsehen? Ich habe eher das Gefühl, mit einem sturen Gewerkschaftler zu sprechen.«

Der Journalist lächelt.

»Sie mögen keine Gewerkschaften, stimmt′s, Monsieur Mittal? Sie glauben, dass man ohne sie schneller vorwärtskommt?«

Die Stimme des Journalisten ist nicht mehr wohlwollend und der Unternehmer entgegnet barsch: »Träumen Sie tatsächlich noch von der großen Revolution? Dass man die Firmenbosse an ihren Eingeweiden aufhängen wird und dass die braven Arbeiter, was sage ich, die heiligen Arbeiter, alle ins Paradies marschieren? Man hat mir nicht gesagt, dass Sie von einem linken Fernsehsender kommen!«

Unangenehme Stille macht sich im Wagen breit. Aber sie hält nicht lange an, denn Mittal legt nach. »Ich maße mir nicht an, Ihnen zu erklären, wie man eine Reportage macht oder ein Interview führt. Daher sollten Sie sich auch nicht in die Führung meiner Geschäfte einmischen.«

»Entschuldigen Sie, Monsieur Mittal, ich habe nur Fragen gestellt und wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

»Sie treten mir nicht zu nahe, Sie rauben mir meine Zeit. Wenn Sie antikapitalistische Propaganda verbreiten möchten, machen Sie das ohne mich. Lassen Sie mich hier raus, ich werde die Fahrt in meinem eigenen Wagen fortsetzen.«

»Ich fürchte, Monsieur Mittal, Ihre Leibwächter sind nicht mehr hinter uns.«

Lakshmi Mittal dreht er sich langsam um. Hinter ihnen fährt ein blaugrauer Ford Ka mit einer Blondine am Steuer. Der Geschäftsmann blickt nach rechts und links, durchforstet die Stadtlandschaft mit all ihren Fahrzeugen. Der Jeep hat sich in Luft aufgelöst.

2

Mittal wird blass. Aber er zieht die Ärmel straff, rückt seine Krawatte zurecht und verkündet mit honigsüßer Stimme: »Also bin ich wohl dazu verdammt, mit Ihnen weiterzufahren. Es wäre mir sehr recht, wenn ich mein Mobiltelefon wieder einschalten könnte, um mich nach dem Verbleib meines Begleitdienstes zu erkundigen.«

»Bei dem Verkehr hier in Brüssel ist es nicht immer leicht, einem Fahrzeug zu folgen.«

»Meine Begleiter folgen mir überall auf der Welt, und sie sind wesentlich schlimmeren Verkehr gewohnt.«

»Es liegt nicht am Verkehr«, murmelt der Fahrer.

»Was sagst du da, Raymond?«, fragt der Journalist.

»Ein Motorrad hat sie in der Rue Belliard abgefangen. Ich habe es im Rückspiegel gesehen.«

»Und Sie haben nichts gesagt?«, fragt Mittal entsetzt.

Der Fahrer bremst und dreht sich um. »Ich bin doch nicht Ihr Laufbursche! Sollte ich etwa eine Fernsehaufzeichnung unterbrechen?«

»Sie sehen doch, dass das Interview beendet ist «, wendet der Unternehmer ein.

»Als die Bullen Ihre Eskorte angehalten haben, war es noch im Gang.«

Der Journalist sieht unschlüssig von einem zum anderen. Dann schlägt er vor: »Lassen Sie uns einfach mit den Fragen weitermachen.«

»Meine Begleiter rufen mich in maximal einer halben Stunde an, wenn sie es nicht schon getan haben. Darf ich meine Telefone endlich wieder einschalten?«, fragt Mittal.

»Noch nicht«, beharrt der Journalist, greift nach den beiden Telefonen des Unternehmers und legt sie auf den Vordersitz. »Könnten Sie unseren Zuschauern bitte erläutern, warum in einer Welt, die immer mehr Autos, Kühlschränke, Computer, Straßenbahnen und Züge produziert, insbesondere um China und Indien damit zu versorgen, warum in einer solchen Welt die globale Nachfrage nach Eisen zurückgehen sollte?«

Lakshmi Mittal hüstelt, reibt mit seinen Händen über die Oberschenkel und schließt kurz die Augen. »Die Nachfrage nach Eisen geht tatsächlich zurück, insbesondere in den letzten Monaten …«

»Weil sie noch nie so stark angestiegen ist wie in den letzten Jahren.«

»Sie lassen mich nicht ausreden.«

»Sie haben recht«, erwidert der Journalist, »entschuldigen Sie.«



Du wohnst im hässlichsten Viertel der Welt, das sagst du dir schon, seit du mit deiner Frau dort hingezogen bist, aber du dachtest, es sei nur fürs Erste und dass du bald etwas Schöneres finden würdest, dann hast du den Kredit für den Geschirrspüler aufgenommen, für die Mikrowelle, für den Farbfernseher mit Fernbedienung, dann für einen größeren Bildschirm, danach für einen Flachbildschirm, ganz zu schweigen von dem Heimkino und dem Kabelanschluss. Mit jedem neuen Objekt hast du dich fester an dieses Haus gekettet, wurdest zum Gefangenen dieser Arbeiterstraße, der braunen Ziegel, der bis zum Horizont gleichen Fassaden, kleinen Gartenparzellen zum Depressionsabbau mit Blick auf die Parzellen der Nachbarn. Dies ist dein Eckchen Paradies inmitten der Hölle, die du auch dann nicht mehr verlässt, wenn du nach Hause kommst. Es regnet fast immer, und wenn die Sonne wieder scheint, dann bedeckt der Staub der Kokerei oder des Stahlwerks deine fünfzehn Quadratmeter Garten. Du hast schon daran gedacht, dich in die Maas zu stürzen. Aber du hast Kinder, und du liebst diesen Fluss, du beobachtest, wie er fließt, stoisch zwischen den Industrieanlagen, und du beruhigst dich, du bist ein Lastkahn, ein Schlepper, ein Stocherkahn, der nach Holland oder zum Kanal Albert fährt, du träumst von einem Boot, einem schwimmenden Zuhause, mit dem du von Brücke zu Brücke fährst, auf den großen Strömen Europas, bis nach Italien, um endlich das Dorf zu sehen, oder das, was von dem Dorf übrig geblieben ist. Während die Wäsche an der Leine zwischen Reling und Mast trocknet, pfeifst du, hörst, wie die Zeit vergeht, in Richtung Meer verfliegt. Du träumst, du träumst immer noch, wenn du zur Arbeit gehst, du willst hier raus, aber du kannst nicht. Du kommst ja kaum über die Runden, wenn du das ganze Jahr arbeitest; solltest du einmal aufhören, bist du tot. Du stellst dein Auto auf dem Parkplatz ab und steigst schwerfällig aus.



Nach ein oder zwei Standardfragen nimmt das Interview wieder eine unangenehmere Wendung für Mittal.

Direkt in die Kamera stellt der Journalist schließlich eine Frage, auf die er keine Antwort erwartet: »Sie finden es also nicht unehrenhaft, Monsieur Mittal, wenn man sein Vermögen auf dem Rücken tausender Menschen verdient, die sich abrackern, und diese Menschen dann als Argument vorschiebt, um sich in der ganzen Welt über die Rechtssysteme hinwegzusetzen? Im Grunde zeichnen Sie sich nicht durch außergewöhnlichen Geschäftssinn aus, sondern durch eine außergewöhnlich zynische Moral. Sie sichern sich persönliche Vorteile und verpacken das Ganze in fadenscheinige Argumente …«

Mittal antwortet nicht. Er schnaubt nur abfällig.

»Fahren Sie mich nach Luxemburg, und ich werde so tun, als hätte ich diese Verleumdungen nie gehört.«

Der Journalist frohlockt. Dass Mittal plötzlich so kurz angebunden ist und eingeschnappt an seinen Manschettenknöpfen herumspielt, zeigt, dass er ihn dort getroffen hat, wo es weh tut.

»Fahren Sie mich nach Luxemburg und vergessen wir den Rest. Es ist besser für uns alle, wenn dieses Interview nicht gesendet wird.« Mittal legt dem Journalisten die Hand auf die Schulter, leicht, aber bestimmt. »Wenn ich sage: wir, meine ich mich, das versteht sich von selbst, aber insbesondere meine ich damit Sie.«

Dieses letzte Wort, mit Nachdruck gesprochen, wie losgelöst vom Rest des Satzes, scheint eine Ewigkeit zu brauchen, bis es die Ohren des Journalisten erreicht. Als stünde die Zeit still. Wie ein Fußball, der mit unglaublicher Wucht von der Fußspitze des gegnerischen Spielers abprallt und unter dem starren Blick des Torwarts Stunden braucht, um im Netz zu landen. Das Sie dringt durch das linke Ohr in seine Gehörwindungen, bringt die Knorpel und das Trommelfell zum Vibrieren, das Nervensystem verlängert die Bewegung und leitet sie ins Gehirn, wo die Reaktion nicht auf sich warten lässt.

»Könnten Sie das bitte vor der Kamera wiederholen? Ich habe das Gefühl, Ihnen ist nicht bewusst, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird.«

»Sie sind derjenige, der hier etwas nicht begreift. Ohne meine Genehmigung werden Sie dieses Interview nie senden. Wenn Ihnen Ihr Job lieb ist.«

Eine bleischwere Stille füllt den Wagen, nur der Motor dröhnt, als laufe er auf Hochtouren, um das ganze Gewicht von der Stelle zu bewegen. Es ist warm, der Himmel grau. Die Zeit fliegt vorbei, aber in die Gegenrichtung.

In dem weißen Wagen ziehen sich die Minuten unendlich hin. Die beiden Männer schauen sich nicht einfach nur an, sie taxieren sich. Als wären sie kurz davor, aufeinander loszugehen und sich die Köpfe oder Zähne einzuschlagen.

Schließlich ergreift der Journalist das Wort, seine Stimme klingt ruhig, fast versöhnlich: »Was hatten Sie gehofft, Monsieur Mittal, als Sie sich zu diesem Gespräch bereiterklärt haben? Dass ich genauso wie all die anderen Journalisten vor Ihnen auf die Knie falle und Ihnen die Füße küsse? Haben Sie ernsthaft angenommen, dass wir beide die gleichen Wertvorstellungen haben? Dass ich so dumm bin zu glauben, der Profit einiger Weniger diene dem Wohle der Allgemeinheit?«

Mittal hat aufgehört, mit seinen Manschettenknöpfen zu spielen. Er streicht mit der Hand über den Griff der Wagentür. Das Fahrzeug fährt mit 120 Stundenkilometern auf der linken Spur. Will er während der Fahrt aus dem Auto springen? Oder will er nur überprüfen, ob es im Notfall noch einen Ausweg gibt?

»Es ist viel zu heiß in diesem Wagen. Sind sie sicher, dass die Klimaanlage funktioniert?«, wendet er sich an den Fahrer.

»Beantworten Sie meine Frage, Monsieur Mittal. Warum sollte ein einfacher Journalist wie ich denken wie einer der mächtigsten Industriebosse des Planeten? Wir leben nicht in der gleichen Welt, Sie und ich.«

Mittal richtet seinen Blick auf die Laternenmasten, die mit hypnotischer Regelmäßigkeit vorbeiziehen. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts.

»Sie haben Ihren Sohn zum Finanzdirektor Ihres Imperiums ernannt, Ihre Tochter haben Sie mit einem erfolgreichen indischen Geschäftsmann verheiratet, für die Hochzeit haben Sie mehr Geld ausgegeben als meine Nachfahren in drei Generationen verdienen werden. Wir wohnen auf dem gleichen Planeten, wir atmen die gleiche Luft, aber damit wären die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft.«

»Sie vergeuden Ihre Zeit, Monsieur. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Das ist meine Antwort. Ich bitte Sie daher, zu schweigen, bis wir ankommen.«

Mittal zieht einen Aktenordner aus seinem Lederkoffer und beginnt darin zu blättern.

Der Journalist beobachtet schweigend, wie die Autos vorbeiziehen, die Hochspannungsmasten, die Straßenschilder. Alles, was nicht aus Beton oder Plastik besteht, beinhaltet zwangsläufig Eisen. Tonnen von Stahl. Asiatische Autos, amerikanische Autos, europäische Autos. All dieses Metall will schließlich irgendwo gekauft werden. Viel Konkurrenz bleibt nicht mehr. Egal welche Automarke, der Stahl kommt aus denselben Fabriken.

»Monsieur Mittal, Sie haben mich sehr höflich aufgefordert zu schweigen, aber ich lasse mir von Ihnen keine Befehle erteilen. Sie sind nicht mein Boss, auch wenn das für Sie schwer zu verstehen ist.« Der Journalist lacht herzhaft. »Selbst ein so langer Arm wie Ihrer kann uns nichts anhaben. Raymond und ich arbeiten nicht für die Presse. Um die Wahrheit zu sagen, sind wir nicht einmal fest angestellt. Deshalb entscheiden wir selbst, wozu wir Lust haben, wohin wir fahren und welche Fragen wir stellen.«

Das hat gesessen.

Mittal sieht auf die Uhr, beugt sich vor, um sein Handy vom Beifahrersitz zu nehmen.

»Suchen Sie Ihr Telefon?«, fährt der falsche Journalist fort. »Das haben wir gleich.« Er nimmt das Handy in die eine Hand, angelt unter dem Sitz eine Zange hervor und zerquetscht entschlossen zunächst die Tastatur und dann den Bildschirm.

Das Geräusch von splitterndem Plastik lässt nicht den geringsten Zweifel: Die Zerstörung ist irreversibel.

»Rechnen Sie nicht damit, dass ich Ihnen den Schaden ersetze, das kann ich mir nicht leisten. Ich nehme an, Sie hoffen, dass ich Ihr Satellitentelefon vergesse, aber da kennen Sie mich schlecht.«

Das zweite Telefon ereilt das gleiche Schicksal.

»Sehen Sie, Monsieur Mittal, es gibt keinen Anlass, um Hilfe zu rufen oder einen Fluchtversuch zu starten. Wir sind jetzt einfach als Menschen unter uns, mit gleichen Waffen. Sie werden auf Ihre Verstärkung und Ihre Kavallerie verzichten müssen. Wir regeln unsere Angelegenheiten unter Männern, einfach und sauber.«

Der Inder dreht sich um, in der Hoffnung, die beruhigende Silhouette des gepanzerten Jeeps durch die Heckscheibe zu erblicken, vergeblich.

3

Die Fahrt zieht sich. Über eine Stunde dauert die angespannte Stille nun schon.

Seit er begriffen hat, dass sie die Bodyguards abgehängt haben und keine Hoffnung besteht, dass sie wieder auftauchen, hat der Boss von Arcelor-Mittal kein Wort mehr gesagt. Er hat vergeblich versucht, die Tür zu öffnen. Die Kindersicherung hält ihn auf dem Rücksitz des Wagens gefangen. Soll er einen Aufstand wagen? Dem Fahrer einen Fuß in den Nacken und dem Journalisten die Faust ins Gesicht rammen? Viel mehr als einen Autounfall würde er dadurch nicht provozieren.

Sie rollen über Straßen, die Mittal nicht kennt, dann biegt der Wagen in eine Privateinfahrt und hält vor einer dunkelgrün gestrichenen, doppelflügeligen Garagentür. Der Journalist steigt aus, öffnet die Garage, und Raymond parkt den Renault Espace neben einen nicht mehr ganz neuen beigefarbenen Wohnwagen.

Der Journalist öffnet Mittal die Tür. »Wir sind da«, verkündet er. »Steigen Sie aus und machen Sie es sich im Wohnwagen gemütlich. Es kann gut sein, dass Sie hier noch ein Weilchen hier bleiben.«

Raymond steigt auch aus und betritt den Wohnwagen. Die Einrichtung ist klassisch, deutsches Modell aus den 80ern, eine Schlafecke vorne rechts, ein Tisch und eine orangefarbene Sitzbank am Fenster links. Als er klein war, hatte Raymond das gleiche Modell als Playmobil-Ausgabe, mit einer Markise, die zwar farblich zu den Sitzbänken passte, sich aber nicht richtig bedienen ließ.

Damals hieß er noch nicht Raymond. Der Stahlindustrie ging es schon schlecht, aber man war noch nicht gezwungen, einen Firmenboss zu entführen, um bis zum Monatsende über die Runden zu kommen, und sich ein Pseudonym zuzulegen, um nicht erkannt zu werden. Wenn man damals ein hohes Tier entführte, dann aus rein politischen Gründen.

Raymond beugt sich prüfend vor: Tatsächlich, den Tisch kann man einklappen, und die Sitzbank lässt sich in ein Doppelbett umwandeln. Er schmunzelt. Die deutschen Ingenieure haben damals ganze Arbeit geleistet.

Während der Journalist, der keiner ist, den Inder auf die Sitzbank drückt, kehrt Raymond zum Auto zurück, um eine Flasche Alkohol und drei Gläser zu holen.

»Das ist Pékèt, ein Genever«, erklärt der Pseudo-Journalist, als sein Kollege zurückkommt. »Wacholderschnaps. Zweiundvierzig Prozent und ein Nachgeschmack nach Stahlbecken. Das trank man auf der Zeche oder bei Beerdigungen, um zu vergessen, dass man sowieso eines Tages dran ist: Lungenprobleme, Bergsturz oder Schlagwetter. Damit hat man sich auch an Festtagen betrunken, bevor der Geldbeutel leer war. Die Tradition hat man hier in den Stahlwerken beibehalten. Die Vorschriften verbieten es zu trinken, bevor man auf seinen Posten geht, also schmuggelt man ein paar Bier hinein, das ist kein Trinken, nur zum Durstlöschen, es ist heiß in den Schächten. Aber auf Beerdigungen und Festen trinkt man immer noch Pékèt

Mittal verzieht keine Miene. Er schaut mit leerem Blick auf seine sorgfältig manikürten Fingernägel, überprüft, ob seine Manschettenknöpfe noch da sind, sieht auf die Uhr. Er tastet nach seinem Geldbeutel, der noch in der Brusttasche vom Sakko steckt, erleichtert spürt er das Gewicht, zwei Fingerbreit von seinem Herzen entfernt. Aber was haben sie mit seiner Aktentasche gemacht?

»Trinken Sie«, rät ihm der Fahrer. »Das wird Ihnen guttun, der Wohnwagen hat keine Heizung.«

»Geh du mal besser den Wagen umparken«, sagt der Pseudo-Journalist.

»Bin schon weg.«

Raymond kippt das Schnapsglas in einem Zug und steigt aus dem Wohnwagen. Man hört, wie er das Garagentor öffnet, den Wagen anlässt und hinausfährt, dann das Garagentor zweimal hinter sich abschließt. Das Motorgeräusch entfernt sich, es wird wieder still. Die beiden Männer sitzen schweigend da. Ihre Kleider dünsten einen leichten Geruch nach feuchtem Stoff und chemischer Farbe aus. Der Journalist schenkt Alkohol nach, reicht dem Unternehmer eines der Gläser.

In unmittelbarer Nähe bimmelt eine müde Kirchenglocke.

»Daran wirst du dich gewöhnen müssen, Boss. Du pennst unter einer Kirche. Bevor du hier wieder rauskommst, kennst du die Gottesdienstzeiten auswendig.«



Du wirst nicht hingehen. Nicht heute. Du wirst blau machen, abhauen, dir endlich den Traum erfüllen, den du seit Jahren hinter Bierbauch und Hüftspeck hegst. Du wirst allen sagen, sie können dich mal, du wirst dein eigenes Büro haben. Privat. Privatdetektiv. Du wirst eine Filiale nach der anderen eröffnen, von der Stahlwalze zur Telefonwanze, Liebhaber im Morgenrot mit dem Teleobjektiv jagen, Ausreißer aus gutem Hause einfangen, entlaufene Hunde zurück zu ihren aufgelösten Frauchen bringen. Privatdetektiv, der Rächer der modernen Zeiten. Du wirst in das Büro des Vorarbeiters gehen, vorbei an der Stechuhr, und es ihm direkt ins Gesicht sagen: Ich gehe, ich will meinen Lohn und meine Papiere, ich mach mein eigenes Ding. Heute Morgen ist der richtige Tag dafür, das spürst du. Wie jeden Morgen seit Jahren. Du musst diesen verdammten Job an den Nagel hängen, du hast noch nicht einmal fünfzig Jahre auf dem Buckel und bist schon dazu verurteilt, in der Hölle zu schmoren. Du drückst die Metalltür oben an der Treppe auf, begrüßt den Wachmann, nimmst wie jeden Morgen deine Stempelkarte, gehst zur Maschine, schaust auf die Wanduhr mit ihren alten Zeigern, solide Mechanik, die so viele Jahre in so feindlicher Umgebung überdauert hat, alles ist voller Staub, Hitze, jedes Mal Durchzug, wenn einer reinkommt oder rausgeht. Aber die Hölle ist es doch nicht, denn nach jeder Pause stempelst du wieder, gemeinsam mit den anderen, es ist nur der Maschinenraum der Hölle, ihr harter, erbarmungsloser Kern, hier schuftet man sich kaputt und schwitzt, hier brütet man Eisendraht aus, Hand in Hand, im Team, so, wie man eine Festung gegen den Feind verteidigt, jeder auf seinem Posten, jeder führt Befehle aus, nur dass der Feind hier im Inneren sitzt, der Feind, das ist die Arbeit selbst, du weißt das, auch wenn Manu dir auf die Schulter klopft, bevor du die Maschine anwirfst, auch wenn er dir sagt, es gibt wichtige Neuigkeiten, heute Nacht waren in der Pause Typen von der Gewerkschaft hier, sie kommen gleich noch mal, auch wenn er dir sagt, dass es zum Himmel stinkt und dass die Regierung bestimmt den Schwanz einzieht vor dem Inder. Du weißt, dass es in Wirklichkeit anders aussieht, jede Minute, die du hier verbringst, ist eine Tortur, das Einzige, was dich tröstet, ist, dass das Treffen mit der Gewerkschaft die Pause um ein paar Minuten verlängern wird, das ist mal eine gute Nachricht. Also machst du dich an die Arbeit.



»Wie viel wollen Sie?«

Lakshmi Mittal legt seine Hand auf die des Pseudo-Journalisten. Er sieht dem jungen Mann direkt in die Augen.

»Ich verstehe die Frage nicht, Boss.«

Mittal lächelt. Er verstärkt den Druck seiner Hand. »Sie verstehen mich sehr gut. Sie sind nicht dumm. Alles hat seinen Preis. Wenn Sie mich hierhergebracht haben, dann doch wohl, weil Sie ein Lösegeld wollen. Verhandlungen mit Außenstehenden bringen nichts. Ich bin der Chef. Also, wie viel wollen Sie haben?«

Der junge Mann lächelt. Er füllt die Gläser noch einmal bis zum Rand. Zeigt mit dem Finger auf das Glas des Unternehmers. Schweigend leert dieser es in einem Zug. Der Alkohol brennt in der Kehle. Er wird ihm bald zu Kopf steigen, aber es ist noch zu früh, um das mit Sicherheit zu sagen.

»Das ist eine interessante Frage. Die Presse hat bestätigt, dass Sie der viertreichste Mann der Welt sind. Dabei werden jedoch nur Ihr Bankguthaben, Ihre Aktien und Ihr Vermögen berücksichtigt, ein bisschen abstrakt, das Ganze. Mich interessiert eher, wie viel Sie selbst wert sind. Sie allein. Wie hoch schätzen Sie Ihren Wert für diese Welt?«

Mittal lächelt zuversichtlich. Mit Verhandlungen, kennt er sich aus. Wenn zwei Männer erst einmal verhandeln, gibt es einen Ausweg. Man muss nur zuhören und im richtigen Moment vorschlagen, was der Gesprächspartner erwartet. Das ist die Kunst des Verhandelns. Der eine möchte das, was der andere besitzt, und umgekehrt.

»Sie gehen das Problem verkehrt an, Monsieur«, antwortet er.

»Nennen Sie mich Arschloch, das ist ehrlicher, Mittal. Wenn Sie mich Monsieur nennen, klingt das für mich herablassend und nach Schleimerei. Alles nur Schein. Ich denke, Arschloch drückt besser aus, was Sie wirklich denken.«

Nun ist es Mittal, der lächelt. Der Pseudo-Journalist hat nicht unrecht, aber dies zuzugeben kommt nicht in Frage.

»Das kann ich nicht nachvollziehen, Monsieur. Ich bin verärgert, verängstigt, beunruhigt, aber ich empfinde mit Sicherheit keine Verachtung für Sie. Es gehört Mut dazu, sich in ein solches Unterfangen zu stürzen, erst recht ohne Maske, ich habe Respekt vor dieser Art von Temperament. Sie setzen viel aufs Spiel bei diesem Abenteuer. Wenn man Sie schnappt, kommen Sie für mindestens zehn Jahre hinter Gitter …«

»Von uns beiden riskieren Sie am meisten, Boss. Ein gezielter Schlag mit der Eisenstange, genau hier …« Der Entführer streckt seinen Arm aus und berührt Mittal mit dem Zeigefinger an der Schläfe. »… und es ist vorbei mit Ihnen. Glauben Sie etwa, Sie haben sieben Leben? Die Chancen stehen schlecht, als eine der drei Personen, die reicher sind als Sie, wiedergeboren zu werden. Das Risiko, es schlimmer zu erwischen, ist groß. Müllmann in Tiflis oder Minenarbeiter in einem Uranbergwerk in Niger. Sagt Ihnen das zu? Wenn ich Sie wäre, würde ich versuchen zu bewahren, was ich habe. Sie haben viel zu verlieren. Aber wie viel genau? Die Frage bleibt interessant. Also, wie hoch schätzen Sie den Wert dieses Lebens?«

»Das ist, wie gesagt, nicht so einfach. Der Wert einer Ware ist abhängig von dem, der sie kauft. Der Eisenhändler berechnet den Wert Ihrer Art-deco-Lampe nach Gewicht, da zählt nur der gusseiserne Sockel. Der Antiquitätenhändler wird Ihnen einen anderen Preis dafür bieten.«

»Nehmen wir mal an, Sie sind eine alte Lampe und ich bin der Antiquitätenhändler.«

»Sie müssen mir Ihren Preis nennen. Das ist es doch, was ich eben meinte. Der Antiquar bestimmt den Preis, nicht die Lampe.«

»Ich werde Ihnen mal was sagen, das Sie ärgern wird, Mittal. Geld interessiert mich nicht. Wenn es mir um Geld ginge, hätte ich das Thema längst angesprochen.«

Mittal hebt den Kopf und schaut zur Wohnwagendecke. Der Rost der Karosserie hat auf die Innenverkleidung abgefärbt, und der beigefarbene Stoff ist von Zigarettenrauch gelb geworden.

»Ich kann Ihnen weit mehr als Geld anbieten. Arbeit, Geschäfte, Papiere, einen guten Ruf, ich weiß nicht, was Sie interessiert, aber ich bin sicher, dass ich Sie glücklich machen kann.«

»Da bin ich mir auch sicher.«

»Na, sehen Sie!«

»Sonst hätte ich mir nicht so viel Mühe gegeben, Sie in dieses verlassene Loch mitten in Europa zu bringen. Ich hätte weiter mein kleines unspektakuläres Leben gelebt und hätte den Tag irgendwie rumgebracht, bis spätabends zum Erotikprogramm, um mir dann vor dem Fernseher einen runterzuholen.«

»Sie wollen Frauen? In einem Pornofilm mitspielen? Selbst einen drehen? Ein Jahr lang auf einer einsamen Insel verbringen, nur Sie und vier Prostituierte, die dafür bezahlt werden, Ihre erotischen Fantasien zu befriedigen?«

»Ihre Fantasie möchte ich haben!« Der Pseudo-Journalist schüttelt den Kopf. »Ist es das, was Sie mit Ihrem Geld machen? Sie bezahlen Huren?«

Mittal antwortet nicht. Diese Verhandlungen entwickeln sich nicht gut für ihn. Aber in einer Viertelstunde kann man keinen Friedensvertrag aushandeln. Der junge Mann füllt erneut die Gläser. Mittal will ablehnen, aber er hat wohl keine Wahl. Er kippt sein Glas auf ex und fühlt, wie der Boden unter seinen Füßen nachgibt.