Cover

Lieber Freund, uns haben sie falsch geboren

Kurt Tucholskys Briefe an Walter Hasenclever

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Für Ortrun

ill i Bibliothek Wissenschaft
Band 15

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„Lieber Freund, uns hüben sie falsch geboren. “ 1

Kurt Tucholskys Briefe an Walter
Hasenclever

herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Dieter Mayer

illi Bibliothek Wissenschaft, Bd. 13

pg5

1. Auflage 2017

ISBN: 978-3-95420-026-9 (Print)
ISBN: 978-3-95420-126-6 (ePub)
ISBN: 978-3-95420-226-3 (ePDF)

Alle Rechte Vorbehalten

Inhalt

Hinweise zu dieser Ausgabe

Einleitung

Tucholsky als Autor von Briefen – allgemeine Hinweise

Walter Hasenclever – Kindheit, Schule Studium

Hasenschiller, HosenkläfFer

Beginn einer Freundschaft

„Man kann nicht schreiben, wo man nur noch verachtet.“
Das Jahr 1933

„Die Welt, für die wir gearbeitet haben, existiert nicht mehr.“
Das Jahr 1934

„Man muß von vorne anfangen (…) Von vorn, ganz von vorn
Wir werden das nicht erleben.“
Das Jahr 1935

„Immer suchen ist nicht schön, Man möchte auch mal nach Hause.“
Trauer um Kurt Tucholsky

Hinweise zu dieser Ausgabe

Die vorliegende Ausgabe aller Briefe Tucholskys an Walter und Marita Hasenclever übernimmt deren Wiedergabe in der Gesamtausgabe Texte und Briefe. Hg von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker (GA). Reinbek 1996ff., Briefbände 18 – 21. Diese enthalten erstmals alle Tucholsky-Schreiben an das Geschwisterpaar, ein Quellenund Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Werkregister. Alle Briefe sind kommentiert. Diese Ausgabe stützt sich mmer wieder auf die Kommentare in der Gesamtausgabe, soweit dies für das Verständnis der Brieftexte erforderlich ist, verzichtet aber weitgehend auf die Übernahme detaillierter Angaben, etwa die Geburts- und Sterbedaten von Personen, die in den Briefen erwähnt sind. Meine Anmerkungen beschränken sich auf Hinweise zur Briefpartnerschaft und Angaben zu Schreibanlass und – absicht des jeweiligen Briefes, sie gehen weiterhin auf Themen, Ansichten und Urteile ein, die Tucholsky vor allem von 1933 an beschäftigt haben. Dies wird in einzelnen Fällen dadurch erschwert, dass keine Gegenbriefe erhalten sind. Hasenclever hat Tucholsky immer wieder dringend gebeten, nach der Lektüre bzw. Beantwortung seine Briefe zu vernichten. Tucholsky hat sich stets an diese Bitte gehalten. Lediglich einige Schreiben Hasenclevers aus der letzten Lebenszeit Tucholskys haben sich nach dessen Tod gefunden, wohl deshalb, weil er sie noch beantworten wollte. Sie wurden umgehend dem Absender zurückgegeben, der sie vermutlich selbst beseitigte.

Allen Briefen werden Band- und Briefnummer in der GA beigegeben, ebenso die Seitenangaben der Texte, so dass man zusätzliche Informationen beschaffen kann.

Bereits vor der Gesamtausgabe sind mehrfach Tucholsky-Briefe an Hasenclever in einigen Auswahlbänden erschienen oder erwähnt worden, wobei wiederholt Briefe gekürzt abgedruckt sind.

Einleitung

Kurt Tucholsky hatte sich, wie in einigen Briefen an Mary Gerold nachzulesen ist, in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr aus dem Polizeidienst in Rumänien am 20. November 1918 in Berlin politisch wie beruflich weitgehend orientierungslos gefühlt. Seine Geburtsstadt bezeichnete er zunächst als ‚Wartesaal vierter Klasse‘2. Das Berliner Tageblatt des Mosse Verlags, in dem er seit Mitte August 1918 einige Artikel untergebracht hatte, bot ihm die Chefredaktion der Wochenzeitung Ulk an, die er nun übernahm. Seine eigentliche journalistische Heimat blieb jedoch auch in den Jahren nach der Revolution Jacobsohns Weltbühne, in der neben zahlreichen Artikeln vom 9. Januar 1919 bis zum 22 Januar 1921 seine umfangreiche achtteilige Serie Militaria erschien, eine gründliche Abrechnung mit der Gesamtsituation im Heer des Kaiserreichs. Friedrich Ebert, seit dem 10. November 1918 Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten, hatte, um die Gefahr einer Revolution der radikalen Linken zu verhindern, mit Groener, dem Generalstabschef der Truppen nach der Kapitulation, eine Übereinkunft getroffen, die sich als verhängnisvoll für die sich formende Weimarer Republik erwies. Groener gab darin als Chef des Heeres eine Legalitätserklärung für eine von Ebert geführte Regierung ab. Als Gegenleistung verlangte er die Zusicherung, dass im Heer des neuen Staates das bisherige Offizierskorps die Kommandogewalt behielt, um eine disziplinierte Rückführung des Heeres nach Deutschland zu ermöglichen. Auf diese Weise sicherte Groener die Aufnahme vieler Offiziere des Kaiserreichs in das künftige Heer ab.

Welche Folgen für die Einstellung und auch Handlungsweise der aus dem kaiserlichen Heer übernommenen Offiziere in der weimarer Republik hatte, schilderte und beurteilte Tucholsky bei Besuchen von Prozessen der Jahre 1919 und 1920, so etwa bei der Verhandlung eines Kriegsgerichts gegen Oberleutnant Otto Marloh im Dezember 1919. Dieser hatte eine größere Zahl von Mitgliedern der Volksmarinedivision, die in Kiel im November 1918 gegründet worden war und keine Offiziere aufnahm, auf Rat seiner Vorgesetzten erschießen lassen, wurde aber von der Anklage des Totschlags freigesprochen und aus der Haft entlassen. Tucholsky berichtete zunächst am 5.12.1919 in der Berliner Volks-Zeitung kritisch über den Ablauf des Prozesses und dann am 18.12. ausführlich In der Weltbühne. Er verwies hierbei auf seine mehrteilige Artikelserie Militaria, die zwischen Januar und August 1919 erschienen war und eine heftige Diskussion in der Presse ausgelöst hatte. Im Bericht Prozeß Marloh nach dem Urteil schrieb Tucholksy3

Die Beurteilung dieses Mordes kann nur erfolgen, wenn man die Welt, aus der er hervorgegangen ist, genau kennt. Diese Welt ist skrupellos, tief unwahrhaftig und von einem großen Teil des deutschen Volkes heute noch verehrt und geschätzt. (…)4
Das deutsche Volk, in einer beispiellosen Katastrophe zusammengebrochen, die es zur guten Hälfte selbst verschuldet hat, befindet sich heute in schwerem wirtschaftlichen Niedergang5 (…) Und hier möchte ich aufnehmen, was ich anfangs andeutete: Es scheint aussichtslos. Wir kämpfen hier gegen das innerste Mark des Volkes, und das geht nicht. Es hat keinen Sinn, die Berichte Punkt um Punkt durchzugehen, hier WiderSprüche nachzuweisen und da Lügen, Roheiten und Minderwertigkeiten. (…)
Ich resigniere. Ich kämpfe weiter, aber ich resigniere. Wir Stehen hier fast ganz allein in Deutschland – fast ganz allein.

Dennoch war Tucholsky gewillt, diesen Prozess nicht grundsätzlich hinzunehmen und künftig zu schweigen:

Trotz alledem: wir wollen doch sehen daß man ihn als Abbruch verkauft. Das Ziel ist fern. Aber es gibt eins.6

Auch kritisierte Tucholsky die weitgehende Übernahme der kaiserlichen Verwaltung, vieler Lehrer, Universitätsprofessoren und vor allem der bisherigen Justiz in den jungen Staat. Immer wieder forderte er bis zum Beginn der dreißiger Jahre in einer Vielzahl von journalistischen Arbeiten und auch bei seiner Mitarbeit in pazifistischen Organisationen eine umgehende Korrektur der die Demokratie massiv belastenden Gründungsfehler. Dies trug ihm zahlreiche Angriffe konservativer, nationalistischer und später auch nationalsozialistischer Gruppen ein. Wiederholt musste Tucholsky aus diesem Grund juristische Verfahren durchstehen. Bereits in seinem frühen Aufsatz Wir Negativen7 antwortete er seinen Kritikern:

(…) damit wir in der Welt geachtet werden, müssen wir zunächst zu Haus gründlich rein machen .Beschmutzen wir unser eigenes Nest? Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmutzen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben die Nationalhymne ertönen zu lassen8
(…) Blut und Elend und Wunden und zertretenes Menschentum – es soll wenigstens nicht umsonst gewesen sein. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut.9

Bis zu seinem späten Resümee in der Schrift Deutschland, Deutschland, über alles10 hat Tucholsky für die Demokratisierung der ersten deutschen Republik gekämpft; er legte – zusammen mit Ossietzky – in der Weltbühne eine Reihe von Verstößen gegen den Versailler Vertrag offen und setzte sich in seinen Jahren als Korrespondent in Frankreich für die Aussöhnung der benachbarten Staaten auf vielfältige Weise ein.

Bereits im Jahr 1922 publizierte Tucholsky in der Weltbühne und der Welt am Montag eine dichte Folge von Forderungen, welche die Weimarer Republik von gravierenden Fehlentwicklungen befreien sollten; diese hatten in den vier Jahren seit ihrer Gründung eine durchgreifende Demokratisierung verhindert. Am 2. Januar erschien sein Aufsatz Wehrpflicht – hintenrum11, in dem er den Reichstag aufforderte, eine Gesetzesvorlage, ausgearbeitet vom Reichsausschuß für deutsche Leibesübungen, abzulehnen, weil damit alle Deutschen bis zur Volljährigkeit zu körperlichen Übungen verpflichtet werden sollten:

Was hier, ganz leise und heimlich heranschleicht, ist nichts mehr oder weniger als ein neues Wehrpflichtgesetz.12

Er forderte: Zu seinem Wiederaufbau braucht Deutschland vor allem einmal viele Generationen, die gar nicht wissen, was eine Dienstpflicht ist. Wir haben genug von ‚gedienten Leuten‘. Das Gesetz muß – im Namen der Freiheit – verschwinden..13

Zum gleichen Problem äußerte er sich erneut nach einigen Monaten:

Wir wollen keine neue Wehrpflicht! Wir wollen keine neuen Kasernenhöfe! Wir wollen keine neue Generalität! Wir wollen Arbeit, Stetigkeit und Frieden! Ab mit Ludendorff und Konsorten! Und dann sehen wir uns um und fragen:
Was tut die Republik für die Republik-?14

In gleicher Weise kritisierte Tucholsky Einstellung und Verhalten der vom Kaiserreich übernommenen Beamtenschaft:

Daß der Beamte aber auch ein Teil der Nation ist, daß er ein Symptom und kein Urphänomen ist, und daß jeder Beamte den andern Beamten gegenüber wiederum Bürger ist: das hat sich noch nicht herumgesprochen (…) Er ist also nichts als jeder andre Deutsche auch (…) Die Wollust, regieren zu dürfen und das Äquivalent für die gebotene Nachgiebigkeit dem ‚Vorgesetzten‘ gegenüber hundert Petenten in den Rücken treten zu dürfen, bringt einen eigenen Geisteszustand hervor, der jene Mischung zum Nero und einem Zigarrenhändler in die Welt gesetzt hat.15

Mit besonderer Schärfe wandte sich Tucholsky nach der Ermordung Erzbergers (26.8.1921) und Rathenaus (24.6.1922) durch nationalistische Täter, und wenig später nach dem Attentat auf Harden in einem umfangreichen Bericht über den mehrtägigen Prozess im Dezember 1922 vor einem Berliner Schwurgericht gegen die Denkweise, Verhandlungsführung und Urteilsfindung jener Richter, die offen nationalkonservativ agierten:

Das muß man gesehen haben. Da muß man hineingetreten sein. Diese Schmach muß man drei Tage an sich vorüberziehen lassen: dieses Land, diese Mörder, diese Justiz.(…)
Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr.16

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Tucholsky gelegentlich vorgeworfen worden, er habe mit seinen journalistischen Artikeln der Weimarer Republik mehr geschadet als genützt und zu ihrem Untergang beigetragen, er sei ein ‚Nestbeschmutzer‘, wie etwa auch Karl Kraus. Einer mit dieser Ansicht ist Golo Mann gewesen.17 Auch habe Tucholsky viel kritisiert, aber keine praktikablen Vorschläge unterbreitet, auf welche Weise die Gründungsfehler des Nachkriegsstaates zu beseitigen wären. Dass diese Ansicht den Tatsachen nicht entsprochen hat, beweist der Aufsatz. Die zufällige Republik, veröffentlicht in der Weltbühne kurz nach der Ermordung Rathenaus und dem Attentat auf Harden im Juli 1922. Ein Ausschnitt mag das belegen:

Die Republik wird entweder anders sein als heute, oder sie wird nicht sein. Die Minimaltemperatur, bei der sie gerade noch leben kann, ist erreicht(…)18

Und dann formuliert Tucholsky seine Forderungen:

1. Umwandlung der Reichswehr in eine Volksmiliz (…)

2. Entmilitarisierung der Schutzpolizei (…)

3. Reformierung der Justiz – ganz besonders der Staatsanwaltschaften (…)

4. Demokratisierung der Verwaltung (…)

5. Stärkung des Reichs den Ländern gegenüber (…)

6. Völlige Umformung der Lehrkörper auf Schulen und Hochschulen (…)

7. Sofortige Amnestie für die politischen Häftlinge aller Art, soweit sie republikanisch sind (….)

(….)

8. Vor allem aber Aufklärung und Propagierung der neuen Ideen einer neuen Republik (…)

Dies sind unsere Forderungen. Werden sie befolgt, haben wir ein neues lebenskräftiges Land. Werden sie es nicht, haben wir in Wochen oder Monaten eine elende und von aller Welt verachtete Reichsverweserschaft.19

Da Tucholsky die Reichswehr in diesem Aufsatz als Misthaufen auf dem Felde Deutschlands20 bezeichnet hatte, wurde er massiv angegriffen und erhielt antisemitische Drohbriefe. Bis in die späte Krisenzeit forderte Tucholsky in einer sehr großen Zahl journalistischer Veröffentlichungen und auch in seiner Mitarbeit bei pazifistischen Organisationen eine grundlegende Korrektur dieser die Weimarer Republik massiv belastenden Fehler aus der Gründungszeit. Anfang der dreißiger Jahre allerdings reduzierte er enttäuscht in seinen fast immer in der weltbühne erschienenen Arbeiten seine Ansichten und Forderungen zur politischen und sozialen Lage in Deutschland. Sein letzter veröffentlichter Artikel war die Antwort auf eine Rundfrage des Reichsverbandes deutscher Leihbüchereien21, in der er empfahl, die deutschen Bücherpreise zu senken, um die rasche Verbreitung von Neuerscheinungen zu fördern. Die im Nachlass gefundenen nachgelassenen Texte Tucholskys haben in der Regel Aussagen zur aktuellen politischen Lage in Europa angesichts des Aufstiegs der NSDAP vermieden.

Allerdings war er auch dann noch keineswegs uninteressiert an der Situation in Deutschland, verlegte aber von 1933 an seine schriftlichen Äußerungen hierzu in Briefe. Eine herausragende Bedeutung dieser Kontakte mit Freunden und Bekannten, mit seinen Freundinnen und Geliebten (etwa Hedwig Müller und Gertrude Meyer) und auch mit dem Bruder Fritz, kommt den umfangreichen und gehaltvollen Briefen an den Dichter und Journalistenkollegen Walter Hasenclever zu. Ihn hatte er persönlich erst in Paris kennengelernt, als sie beide 1924 in die französische Hauptstadt umgesiedelt waren – Tucholsky im Frühjahr, Hasenclever im Herbst. Beide arbeiteten nun als Korrespondenten gegen festes Honorar, Tucholsky für die Weltbühne und die Vossische Zeitung, Hasenclever für das 8-Uhr-Abendblatt und den Dresdner Anzeiger, gelegentlich auch für andere Blätter.

Walter Hasenclever war bereits im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als Verfasser von Dramen in der Theaterwelt bekannt geworden, vor allem mit seinem in Dresden uraufgeführten Stück Der Sohn, das in Thematik, Form und Sprache bald als Muster des expressionistischen Ideendramas angesehen wurde und andere Dramatiker (etwa Sorge, Barlach, Goering und Toller) beeinflusste. Auf vielen deutschen Bühnen erzielte es einen Sensationserfolg. Tucholsky wird auch durch einige journalistische Arbeiten Hasenclevers bereits in diesen Jahren bekannt gewesen sein, da sie in der Schaubühne erschienen waren. Von 1918 an wird Hasenclever in Veröffentlichungen Tucholskys immer wieder erwähnt.

Tucholsky als Autor von Briefen – allgemeine Hinweise

Von Kurt Tucholsky sind gegen 2000 Briefe erhalten. Diese sind in die Bände 16 – 21 der Gesamtausgabe aufgenommen und jeweils kommentiert. Den Herausgebern der Gesamtausgabe der Texte und Briefe (GA, Bände 1-22) ist für die sorgfältige Arbeit sehr zu danken, vor allem durch die hilfreiche Kommentierung der einzelnen Schreiben. Hierbei sind in den Briefen an Hedwig Müller und den Beigaben (Q-Tagebücher) Textauslassungen und Datierungsungenauigkeiten in den Ausgaben von 1977 und 1978 korrigiert worden. Für die vorliegende Ausgabe aller Briefe an Walter Hasenclever, zu dem Tucholsky unter allen Schriftstellern seiner Zeit die intensivste freundschaftliche Beziehung unterhielt, sind die Briefbände der Gesamtausgabe auch deswegen von besonderer Bedeutung, weil Tucholsky alle Gegenbriefe Hasenclevers auf dessen Wunsch vernichtet hat.

Kurt Tucholsky war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein bedeutender Briefschreiber in Deutschland. Ihn auch anhand seines umfangreiches Briefwerks kennen zu lernen, ist notwendig, wenn man ein umfassendes Bild seiner Vorstellungen, seiner Interessen und Urteile zu politischen und wirtschaftlichen Fragen während des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik und den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur gewinnen will. Dabei erfährt man auch Wichtiges über die Beziehungen zu Schriftstellern, Pressejournalisten, Politikern, ihren Parteien und natürlich zu Bekannten und Freunden. Viele Briefe enthalten Urteile über Länder, die er gekannt hat – etwa Frankreich, England, USA, Sowjetunion, Schweiz und Schweden, jenes Land, in dem er von August 1929 an seinen ständigen Wohnsitz gehabt hat.

Überblickt man den gesamten Briefkorpus, stellt man fest, dass die Anzahl der jährlich versandten Briefe nahezu kontinuierlich gewachsen ist: zwischen 1911 und 1918 (GA 16) waren es im Schnitt 60 Schreiben, zwischen 1919 und 1924 (GA 17) 80, zwischen 1925 und 1927 (GA 18) 111, nach dem Weggang aus Frankreich zwischen 1928 und 1932 (GA 19) gab es einen moderaten Rückgang auf 86. Dann aber, in den Jahren 1933 und 1934 (GA 20), also nach der Entscheidung, keine weiteren journalistischen Texte zu veröffentlichen, kam es zu einem deutlichen Anstieg auf 138, und im letzten Lebensjahr (GA 21) auf 161. Bemerkenswert ist dabei, dass die Zahl der Adressaten, die Tucholsky anschrieb, sich in den Jahren der Ausbürgerung stark verringerte, so dass einige Briefpartner häufiger angeschrieben wurden; Hasenclever etwa, der zwischen 1926 und 1932 insgesamt 10 Briefe erhalten hatte und seine Schwester Marita weitere 2, erhielt in den Jahren 1933 bis 1935 45 Schreiben, allein im ersten Jahr der Diktatur erreichten ihn 22 und in den Folgejahren waren es 13 und 10. Noch häufiger schrieb Tucholsky Anfang der zwanziger Jahre an Mary Gerold, und mit Hedwig Müller in Zürich, die er erst 1932 kennengelernt hatte, korrespondierte ihr Freund und Vertrauter, für den das Verfertigen von Texten – meist an seiner Schreibmaschine – über Jahrzehnte zu einer selbstverständlichen Aufgabe geworden war, in der Regel mehrmals in der Woche, gelegentlich auch täglich. Trotz einiger Verluste sind über 270 Briefe und über 200 beigelegte Q-Tagebücher an sie erhalten geblieben.

Für die Forschung sind Tucholskys Briefe, der als Journalist im Herbst 1932 verstummte, von außerordentlicher Bedeutung; seine Biographen haben diese zumeist intensiv befragt. Dies gilt allerdings vom Briefwechsel mit Hasenclever nur eingeschränkt, weil ausschließlich die Schreiben Tucholskys auf uns gekommen sind. Hasenclever, der Tucholksys Briefe sehr schätzte, folgte nicht der Bitte seines Freundes, auch dessen Schreiben zu vernichten. Edith Schäfer, die zweite Ehefrau Hasenclevers, versteckte nach dessen Selbstmord während seiner Haft in Les Milles im Juni 1940 die Briefe vor den deutschen Besatzungstruppen und nahm sie nach der Befreiung Frankreichs wieder an sich.

Befragt man die wichtigen Tucholsky-Biographien, welches Gewicht diese Briefe für unser Wissen über Tucholskys Denken und Empfinden vor allem in den letzten Lebensjahren haben, stellt man fest, dass einige Verfasser sie eher beiläufig gewürdigt haben. Helga Bemmann erwähnt zwar in ihrem auch heute noch lesenswerten Buch die in Frankreich beginnenden persönlichen Kontakte in Paris und Le Lavandou, auch geht sie auf die gemeinsame Arbeit am Kolumbus-Stück ein, doch die hohe Bedeutung der späten Schreiben wird nicht deutlich. Bei Michael Hepp stellt sich die Angelegenheit etwas anders dar. In dem bis heute maßgeblichen Buch Biographische Annäherungen vom Jahr 1993 fragt er bei seinen Ausführungen zu Tucholskys Tod am 21. Dezember 1935, warum Hasenclever nicht wie Mary Gerold, der Bruder Fritz oder Arnold Zweig ein Schreiben mit erkennbarem Abschiedscharakter erhalten hat. Man erfährt bei Hepp, dass die Beziehungen zwischen Tucholsky und Hasenclever herzlich und kameradschaftlich gewesen sind, vergleichbar etwa mit den Beziehungen zu seinen Kollegen Mehring und Leonhard, sonst aber belässt es der Biograph bei Hinweisen auf gelegentliche Begegnungen und gemeinsame Mitgliedschaften in pazifistischen Organisationen. Doch in seiner später veröffentlichten rororo-Monographie hat sich Hepp mit der häufig gestellten Frage beschäftigt, was den Journalisten mit den 5 PS veranlasst hat, vom Herbst 1932 an keine journalistischen Texte zu veröffentlichen.

In der frühen Tucholsky-Forschung findet man hierzu wiederholt die Ansicht vertreten, dass ein Grund Tucholskys wachsendes Desinteresse an der Lage in Deutschland gewesen sei, ein anderer aber die selbst eingestandene Wirkungslosigkeit seiner zahlreichen Vorschläge und Appelle in der Weltbühne. Sicher hat sich Tucholsky während der immer wieder auftretenden psychischen Krisen gelegentlich so geäußert, aber gerade die zahlreichen Briefe an Hasenclever lassen diesen Schluss nicht zu. Hepp selbst hat sich nun die Frage gestellt:

Aber wer es endgültig satt hat, schreibt nicht fast täglich Briefe, als wolle er seine produktiven Zeiten übertreffen. Die noch erhaltenen, inzwischen vollständig publizierten Briefe der Jahre 1933 – 1935 an die wenigen Vertrauten wie Walter Hasenclever, Arnold Zweig, den Bruder Fritz und natürlich Hedwig Müller in der Schweiz geben denn auch eher den Blick frei in eine Werkstatt des Denkens, zeigen ihn beim Spekulieren und Prophezeien, Urteilen und Verurteilen, zeigen sein Ringen um einen neuen Standort.22

Auch die 2012 erschienene Biographie von Rolf Hosfeld stützt ihre Ausführungen über Leben und Werk Tucholskys immer wieder mit Hinweisen aus Briefen Tucholskys an seinen Freund.

Die besondere Bedeutung der Tucholsky-Briefe an Hasenclever, hat zuerst Fritz J. Raddatz erkannt. Seine Zusammenstellung Politische Briefe sollte demonstrieren, dass Tucholskys mehrfach geäußerte Behauptung, zu den Ereignissen in Deutschland seit 1933 nichts mehr zu publizieren, in den Dokumenten des Buches von ihm selbst widerlegt worden ist. Dafür nahm Raddatz neben Schreiben an seinen Bruder Fritz, an Heinz Pol, Annette Kolb, Herbert Ihering, Maximilian Harden und Arnold Zweig eine ungewöhnlich große Zahl (insgesamt 38) Briefe an Hasenclever in seine Darstellung auf. In seinem später veröffentlichten Essay Tucholsky. Ein Pseudonym benannte Raddatz die äußeren und inneren Gründe für Tucholskys Verstummen als Journalist. Auch schilderte er dort sein Vexierspiel mit zahlreichen Pseudonymen, die Vielfalt von Kosenamen, Verfremdungen in den Anreden seiner Briefpartner und den Tausch der Geschlechter im Briefwechsel mit seiner zweiten Frau, ein Spiel, das sie mitmachte.

Auf diese Weise stellte Tucholsky mit einer Reihe von Briefpartnern auf schriftlichem Wege einen lebendigen Ersatz für das vertraute Gespräch her; er erhob sie so zu einer Art von ‚Mitautoren‘ in seinen Schreiben. Mehrfach – so im Brief an Hasenclever um den 18.8.1935 – teilte er Briefe in zwei Abschnitte auf, die dem Adressaten mitgeteilt wurden.

Lieber Max,
das ist schon keine Briefschuld mehr: – das ist ein Debet. Hoffe aber, daß dasselbe zu würdigen wissen, in Anbetracht der weiter untig aufgeführten Umständlichkeiten und bitte sehr allerwertest um Ihre Verzeihung! Dieselbe als gewährt voraussetzend, zerfällt unser heutiges Evangelium in zwei Teile, und zwar a) in einen persönlichen und b) in einen mehr sachlichen.23

Gegenüber Hedwig Müller begann er während seines Lysekil-Urlaubs im Spätsommer 1934 ein anderes Verfahren der Aufteilung seiner häufigen Briefe: den eigentlichen Briefen legte er insgesamt 52mal bis zu seinem letzten Schreiben am 19. Dezember 1935 sogenannte Q-Tagebücher bei, die nicht für eine Veröffentlichung gedacht waren, weil er sie nicht überarbeitete, sondern in ihnen seinen Einfällen freien Lauf ließ und den Text wie bei einer vertrauten Plauderei behandelte.

Walter Hasenclever – Kindheit, Schule, Studium24

Wie Tucholsky wurde Hasenclever 1890 geboren; als Walter Georg Alfred Hasenclever wurde er am 8. Juli in Aachen evangelisch getauft. Seine väterlichen Ahnen stammten aus der Umgebung von Detmold; sein Vater, Dr. Carl Georg Hasenclever, war Arzt, später dann Sanitätsrat in Aachen. Die Mutter, Mathilde Anna Reiss, war die Tochter eines wohlhabenden Kommerzienrats jüdischer Herkunft, der zum evangelischen Glauben übergetreten war. 1863 erwarb er eine Tuchfabrik. Die Eltern Walters hatten im März 1889 geheiratet und ein Haus des Großvaters bezogen, in dem der Vater seine Praxis einrichtete. Später gründete er mit drei Kollegen eine Klinik in einem Aachener Stadtteil und leitete deren Innere Abteilung. Der erste Sohn wurde von ihm in großer Strenge erzogen; er bestimmte stets, wie dieser zu denken und handeln hatte, damit er nicht die großbürgerliche Lebensart des Großvaters nachahmen sollte, und er gebrauchte zu diesem Zweck immer wieder die Prügelstrafe mit einer Reitpeitsche. Walters Mutter erlitt während der Schwangerschaft eine Psychose und konnte lebenslang keine positive Einstellung zu ihrem ersten Kind aufbauen. 1901 wurde der zweite Sohn Paul und ein weiteres Jahr später die Tochter Marita geboren, die später mit Walter Hasenclever als Betreuerin und Sekretärin nach Paris übersiedelte. Walters schwer belastete Kindheit wurde von den liebevollen Großeltern gemildert, die er häufig in ihrer Villa aufsuchte. Von 1899 an besuchte er das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Aachen, eine evangelische Anstalt mit streng wilhelminischen Erziehungsmethoden.

Hier fand Hasenclever Freunde, mit denen er einen Kunstsammler besuchte, der die Jungen über Maler der Jahrhundertwende (Picasso, Matisse) und auch Dichter (Stendhal, Strindberg, George, Rilke) informierte und ihr Interesse für die aktuelle Kunst weckte. Im Elternhaus dagegen verbot der konservative Vater solche Neigungen, konnte aber nicht verhindern, dass sein Sohn heimlich Theateraufführungen in Düsseldorf besuchte. Der Schulalltag dieser Zeit war ihm, wie auch anderen Dichtern dieser Zeit (etwa Döblin, Hesse, Joyce) zunehmend verhasst, immerhin aber bestand er mühsam die Abiturprüfung. Der Vater hatte ihn für die Diplomatenlaufbahn bestimmt; er schickte ihn 1908 nach Oxford zum Studium des britischen Rechts. Als er herausfand, dass der Student sich eher für literarische Dinge interessierte und ein erstes Drama entworfen hatte, musste Walter noch im Herbst 1908 nach Lausanne wechseln, weil dort ein Kollege des Vaters ihn aufnahm und sein Studium überwachte. Bereits im Frühjahr 1909 flüchtete Hasenclever heimlich aus dem Haus, zu dem er keinen Schlüssel erhalten hatte; mit einem Freund reiste er über Zürich, Innsbruck und Wien nach Berlin. Dort trennten sie sich, Hasenclever ging nach Leipzig, wo er nun literaturwissenschaftliche Vorlesungen hörte. Beim Studium lernte er Kurt Pinthus kennen, der in Leipzig 1910 in Germanistik promovierte, als Theaterkritiker und Entdecker der Verfilmung literarischer Texte bekannt wurde und sich stets für die journalistische und dichterische Karriere Hasenclevers einsetzte. Er wurde Redakteur im Berliner 8-Uhr-Abendblatt und verschaffte Hasenclever den Auftrag als Pariser Korrespondent für dieses Blatt. Hasenclever war bereits seit dem 2. Jahrzehnt als Verfasser von Dramen in der Theaterszene bekannt geworden, vor allem mit seinem 1916 in Dresden uraufgeführten Stück Der Sohn, das in Form, Sprache und Thematik als Muster des expressionistischen Ideendramas für weitere Dramatiker (etwa Sorge, Barlach, Goering, Toller) anerkannt wurde und auf zahlreichen Bühnen einen Sensationserfolg erzielte.

Tucholsky wird wohl noch früher auf den Verfasser aufmerksam geworden sein; von 1918 an hat er ihn in Veröffentlichungen immer wieder erwähnt.

Hasenschiller, Hosenkläffer

Erstmals findet sich ein schriftlicher Hinweis Tucholskys auf Hasenclever in einem satirischen Gedicht, in dem er sich mit dem von Max Reinhardt im November 1917 gegründeten Verein Das junge Deutschland beschäftigt hat. Der berühmte Theaterregisseur wollte mit diesem Verein für die Aufführung expressionistischer Stücke werben. Tucholskys Text erschien unter dem Titel Wünsche und der Verfasserangabe Theobald Tiger am 4. Juli 1918 in der Weltbühne; später hat ihn der Verfasser auch in die Anthologie Fromme Gesänge aufgenommen. Tenor der vier Strophen ist eine Zurückweisung der Aktualisierungsbestrebungen sowohl im öffentlichen Leben wie in der künstlerischen Szene und auch bei der Kriegsführung. In der zweiten Strophe wird auf Hasenclever spöttisch hingewiesen:

Jung Deutschlands Dichter gehn zur Zeit
in Fritz von Schillers Schülerkleid –
(der war nicht so behende).
Vom Recken wird man noch nicht groß;
bleibt ruhig noch auf Mutterns Schoß;
sie hat die klügern Hände.25

Die resümierende Schlussstrophe wehrt die angesprochenen Neuerungsbestrebungen ab:

Und so hat jeder was zu Schrein.
Der Neger will ein Weißer sein,
der Fußfantrist ein Reiter …
Wir wollen aufrecht stehn, mein Kind,
und bleiben was wir selber sind!
Ich glaub, das ist gescheiter26

Schon Jahre zuvor war die Darstellung des Generationskonflikts in Hasenclevers Drama Der Sohn von einigen Rezensenten als missglückter Versuch angesehen worden, die Vater-Sohn-Thematik als Nachfolgestück von Schillers Drama Die Räuber zu gestalten. Tucholsky schloss sich dieser Ansicht mehrfach an, wenn er Hasenclevers Name als „Hasenschiller“ verspottete. In seinem Text Selbstanzeige, mit dem er das Lesepublikum auf seine Anthologie Fromme Gesänge aufmerksam machen wollte, lobte er sich kräftig als Peter Panter, blickte aber zugleich auf den Kollegen Hasenclever, weil dieser stets für seine Veröffentlichungen zu werben verstand;

Mein ziemlich guter Freund Kaspar Hauser hat seine Weltbühnen-Gedichte in einem Band hineingesammelt, ihn „Fromme Gesänge“ tituliert, als Verfasser Theobald Tiger angesehen und das Ganze bei Felix Lehmann in Charlottenburg erscheinen lassen.
Man weiß ja, wie Kritiken zustande kommen – Kaspar HaUser ist ein angetrauter Stiefzwilling des für die „Weltbühne“ verblichenen Theobald Tiger, der ist wieder mit mir verwandt, und dann wundert sich noch einer, daß die Gedichte hier lobend erwähnt werden! Da kann selbst Hasenschiller noch etwas lernen.27

1920 erwähnte Tucholsky, dass Twardowsky eine neue Sammlung seiner geschätzten Parodien in einer zweiten Auflage ediert und er dort auch Hasenclever mit einem Text bedacht hatte.28 Als im gleichen Jahr ein Band mit Texten von Arno Holz, einem von Tucholsky sehr geschätzten Dichter des Naturalismus, erschienen war, befand Peter Panter, dass die Arbeiten von Holz nichts an Aktualität verloren hatten, und blickte zugleich auf die Überlebenschancen der derzeit bekannten Dichter:

(…) was wohl von unseren jungen Helden bleiben wird, wenn die einmal in die Jahre kommen werden … Ein bißchen Staub, ein paar abgestandene Reklamenotizen … Hasenclever, Hosenkläffer …29

Im November 1920 erschien Theobald Tigers Gedicht mit dem Titel Literatur-Walzer. Es besteht aus drei Strophen, die stets mit dem gleichen Refrain enden. Die zweite Strophe beschäftigt sich mit der Schreibweise und der Ausdruckswelt Hasenclevers, der sich zu dieser Zeit mit Swedenborgs okkulten Lehren beschäftigte:

Der Kriegsgewinnler, der auf sich hält,
macht hin in die dicken Premieren.
Da sitzt die literarische Welt
Walter Hasenclever zu Ehren.
Und kürzer wird immer der Sätze Bau
Und dunkler, O Herr, der Sinn ...
„Wat hat er jesacht?“ Man weiß nicht genau.
Da steckt Metaphysike drin!
Wenn dir nur der Artikel fehlt,
das Andre machen schon
die Wallungen
die Ballungen
O ungeratener „Sohn“!30

Bereits im Herbst 1919 hatte Tucholsky die rasch anwachsende Dramenproduktion Hasenclevers (Der Retter 1916, Antigone 1917, Die Menschen 1918, Die Entscheidung 1919) kritisch und wohl auch ein wenig neidisch beobachtet. Als Kaspar Hauser kommentierte er dies im Gedicht Saisonbeginn mit folgenden Strophen:

Nun schnüren sich die Musen in ihr Mieder
Auf neu gebügelt wird der Kintopp-Beau
Sogar den alten Holzbock kitzelts wieder –
Rideau!
Rideau!
L. Fulda und der Knabe Hasenschiller,
Sie schreiben monatlich ein neues Stück;
Schon sitzen beide je in einer Villa –
Ein Glück! ein Glück!31

Mehrfach thematisierte Tucholsky in seinen Arbeiten die aktuellen literarischen Moden, vor allem den verkrusteten O-Mensch-Duktus und auch die damalige Kinobegeisterung der Expressionisten, so auch in einem allgemein gehaltenen Aufsatz mit dem Titel Krankheit und Besserung, veröffentlicht im Berliner Tageblatt,32 und er beklagte wenig später den zunehmenden Verlust jener Geselligkeit in Berlin, wie sie die Fontanezeit ausgezeichnet hatte:

Die Geselligkeit ist ja nicht jene Summe von zartem Rehbraten, schwerem Burgunder, Importen, Tanz und Klatsch und jungen Mädchen, jungen Frauen und jungem Mittelalter – wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann soll es mehr sein. So, wie ein Verein nicht gleich die Summe seiner Mitglieder ist, sondern etwas Neues, Andres, Geheimnisvolles.
Die Berliner Geselligkeit trennt aber heute nur noch eine oblatendünne Schicht von jener realen Summe: sie ist kaum mehr als diese.33

Für Tucholsky war damals Hasenclever ein Mitglied dieser oberflächlich und kalt gewordenen Berliner Gesellschaft mit ihren modischen Themen:

Es wird in der Berliner Gesellschaft ein bißchen viel über ,Thema' gesprochen.
Und erschreckend ungeistig. Dabei waren wir wohl stehen geblieben. Der Magen des Kopfes ist groß: da geht Sudermann hinein und Hasenclever und Pfitzner und Gilbert – alles geht hinein, was gut und teuer ist und Erfolg hat. Erfolg muß es gehabt haben – sonst wirds nicht verdaut.34

Unter der Rubrik „Ungesicherte Texte“ ist in Band 5 der Gesamtausgabe eine Faschingsnummer der Weltbühne mit dem Titel Welt- Wald- und Wiesenbühne aufgenommen, ein Sonderdruck, der am 17.2.1921 erschienen ist. Auf dem Titelblatt werden zwar neun Herausgeber genannt, zu denen auch Peter Panter und Theobald Tiger gehören, doch fehlen alle Angaben zu den Autoren der insgesamt zwölf abgedruckten Texte. Vieles spricht dafür, dass Tucholsky mehrere Texte geliefert hat, vor allem eine satirische Hymne mit dem Titel „Hymne auf meinen halben Namensvetter Friedrich“

Hymne auf meinen halben Namensvetter Friedrich
Von Walter Hasenschiller

O, Fremdling, dunkler, klassischenGemütes
Wie bin ich deiner Klassik zugetan!
Ich brenne im Schein deines Dichtergeblütes,
ich nenne dich Onkel, Vetter und Ahn!
Dich trug die Wolke – o schimmernder Name!
Manches Mädchen zerkrümelt an deinem Gefüh!
Wer machte dir seligste Zeitungsreklame?
O Wollust! O Rausch! O Premierengewühl!
Betäubender Beifall, zersträubend zu Tropfen!
Unendlich im Raume vom Jubel umtost!
Ich möchte dir auf die Schulter klopfen,
ich protegiere dich, sei getrost!
Der Äther flammt von meinem Blute rosa.
Ein Schutzmann deklamiert den Monolg.
Ein Gymnasiast erscheint als Marquis Posa.
Wann war es, daß ich noch auf Jamben flog?
Ich schlinge mich um Himmel, Mond und Erde.
Ein jegliches erscheint mir als Symbol.
Ich bin, ich ward, ich wurde und ich werde,
ich gurgele mit kosmischem Odol,
ich putze mir die Zähne metaphysisch.
Mein Fühlen überschwemmt den Horizont.
Das Caféhaus erscheint mir sanft elysisch.
Vor mir die Welt liegt da in schwarzem Blond.
Ich greife zur ekstatischen Gebärde,
ich stoße hymnisch hoch in steiler Bahn.
Wir Dichter sind das Salz, das Schmalz der Erde!
Ich grüße, Vetter, dich im Aeroplan.35

Auch den Beitrag Unsere Rundfrage. Woran arbeiten Sie? hat wohl Tucholsky verfasst. Am Beginn der satirisch-spöttischen Antworten von Dichtern, Intendanten und Herausgebern heißt es:

Wie alljährlich haben wir auch dieses Jahr an die namhaftesten Persönlichkeiten eine Rundfrage gerichtet, aus deren Beantwortung hervorgeht, wie reich trotz des Tiefstandes der Valuta das geistige Leben in unserm schwergeprüften Land noch immer sich entwickelt.
Hermann Bahr: An meiner Meinung von morgen.
Julius Hart: An einem philosophischen Kommentar zu meinen Kritiken.
Walter Hasenclever: An meiner vergangenen Zukunft.36

In den Jahren 1922 bis 1924 hat Tucholsky nichts über Hasenclever veröffentlicht. Beide fanden zueinander, als sie, beauftragt von Berliner Blättern, jahrelang aus Frankreich berichteten.

Beginn einer Freundschaft

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Passbild für Aufenthalt in Frankreich ab 1924.

Kurt Pinthus, der Hasenclever beim gemeinsamen Studium an der Leipziger Universität kennengelernt und sich mit ihm angefreundet hatte, verschaffte ihm im Oktober 1924 die Stelle eines Korrespondenten in Frankreich beim Berliner 8-Uhr-Abendblatt. Kurz vor seiner Übersiedelung nach Paris war Hasenclever vermutlich zum ersten Male mit Tucholsky in Berlin bekannt geworden. Dieser hatte sich dort am 30 August 1924 mit Mary Gerold verheiratet, und wurde wenige Tage später in eine Freimaurerloge aufgenommen. Zum 13. September war er von einer Berliner Buchhandlung in der Bellevuestr. 4 zu einem Verlags-Tee eingeladen worden, bei dem neben einigen weiteren Autoren auch Hasenclever aus eigenen Werken vorlas. Wenige Tage später reiste das Ehepaar Tucholsky zurück nach Frankreich, in jenes Land also, in das Tucholsky seit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten während der Inflationszeit übersiedeln wollte. Bereits seit seiner Schulzeit im Französischen Gymnasium in Berlin schwärmte er für den Nachbarstaat im Westen; 1913 plante er ein Buch über Frankreich zu verfassen, was er allerdings nicht realisierte. Eine engere Beziehung zwischen Tucholsky und Hasenclever wird sich im Herbst 1925 ergeben haben, als sich beide einer von ihrem Kollegen Rudolf Leonhard angeregten Schriftstellervereinigung linker Autoren anschlossen. Tucholsky hat hierzu in den Jahren 1925 – 1927 9 Briefe an Leonhard geschrieben. Diese dann Gruppe 1925 benannte Institution, eine lose Vereinigung von linksbürgerlichen und sozialistischen Schriftstellern, Künstlern und Philosophen, hatte zum einen das Ziel, Kollegen, die in Schwierigkeiten geraten war, zu unterstützen; vor allem aber wollten sie die sich häufenden repressiven Aktionen des Justiz- und Polizeiapparats auf der Grundlage der vom Reichstag verabschiedeten Kulturgesetze gemeinsam bekämpfen. An der Gründungsversammlung in Berlin nahmen sowohl Hasenclever wie Tucholsky teil. Zunächst konstituierte sich die Versammlung als Arbeitsgemeinschaft der Schriftsteller 1925, nannte sich dann aber bei dem ersten Mitgliedertreffen am 1. Februar 1926 Gruppe 1925, Schriftstellergemeinschaft. Da Tucholsky und Hasenclever wegen ihrer Tätigkeit vor allem in Paris lebten, konnten sie an den weiteren Treffen meist nicht teilnehmen, erhielten aber regelmäßig Rundschreiben und unterstützten die Aktivitäten der Gruppe auch weiterhin, etwa die Protestkundgebung gegen das Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften, die am 7.11.1926 in Berlin stattfand. Als aber Leonhard im Januar 1927 seinen Austritt aus der Gruppe erklärte, für die in der letzten Phase Alfred Döblin die Führungsarbeit übernommen hatte, endeten die Aktivitäten der zwischenzeitlich auf 39 Mitglieder angewachsenen Gruppe. Deren Interessen wurden aber weiterhin von anderen Vereinigungen vertreten, denen Tucholsky und Hasenclever angehörten.

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Hasendever in den zwanziger Jahren.

Tucholsky hat wiederholt Sammelbände aus seiner sehr großen Zahl von Publikationen in Zeitschriften und Zeitungen zusammengestellt, vor allem aus der von ihm stets bevorzugten Weltbühne und auch der Vossischen Zeitung. Nur ihm besonders wichtige Texte unterfertigte er mit seinem Namen. Die Vielfalt seiner ausgewählten Texte benannte er wie bei der Erstveröffentlichung mit Pseudonymen. In den frühen zwanziger Jahren handelte es sich um Zusammenstellungen aus seinen lyrischen Texten (Fromme Gesänge, Träumereien an preußischen Kaminen), später mischte er die literarischen Gattungen in den Sammlungen Mit 3 PS, Das Lächeln der Mona Lisa und Lerne lachen ohne zu weinen. In seinen Briefen an Kollegen und Freunde bzw. Freundinnen gebrauchte er zum Teil stets die gleichen Benennungen für Adressaten und Absender, wählte aber auch humorvolle, oft auf den Briefinhalt bezogene Namen und Berufsangaben. Bei seiner 2. Frau und auch bei Hedwig Müller wandelte er häufig einen erfundenen Grundnamen immer wieder ab. Im Band Mit 5 PS informierte Tucholsky seine Leser in einem Vorwort über die Entstehung seiner Pseudonyme, sein Verhältnis zu ihnen und auch das Eigenleben, das sie im Laufe der Zeit gewonnen hatten:

Wir sind fünf Finger an einer Hand Der auf dem Titelblatt und:
Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.
Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der „Weltbühne“ standen. Eine kleine Wochen-schrift mag nicht viermal denselben Namen in einer Nummer haben, und so erstanden zum Spaß diese homunculi. Sie sahen sich gedruckt, auch purzelten sie alle durcheinander; schon setzten sie sich zurecht, wurden sicherer, sicher, kühn – da führten sie ihr eigenes Dasein (…)
Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie.
Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter Namen zu verkriechen (…)
Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug auch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durch-aus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre.37

Seine frühen Briefe an Hasenclever hat Tucholsky häufig in den witzig-humoristischen Ton eines Rollenspiels gekleidet. Die zeitlichen Abstände zwischen den Briefen, in denen er sich an den Freund wendet, sind sehr unterschiedlich. So sind allein vier Briefe an Hasenclever und das Schreiben an dessen Schwester alle in der zweiten Oktoberhälfte 1926 verfasst, und dies jeweils aus dem gleichen Anlass. Dann aber stößt man auch auf eine Schreibpause von eineinhalb Jahren zwischen März 1928 und Oktober 1929.

Das Ehepaar Tucholsky hatte zum 1. Mai 1925 ein Haus – Mary nennt es in einem Brief an ihre Mutter „Pavillon“ – in dem westlich von Paris gelegenen Vorort Le Vésinet gemietet, ein Anwesen mit fünf Zimmern, Küche, Bad und einem eigenen Garten. Über die Suche nach der neuen Wohnung und die Umzugsmühen verfasste Tucholsky im Anschluss daran ein Gedicht und einen Bericht für die Weltbühne. Von diesem Haus aus schrieb Tucholsky seinen ersten Brief an Hasenclever am 28.2.1926, durchzogen von einem ironisch-satirischen Ton. Bereits die Anrede Liebe junge Generation ist davon bestimmt. Tucholsky spielte damit auf einen Artikel an, der in der Berliner Illustrierten Zeitung des Ullstein-Verlags unter dem Titel Die Jungen. Die neue Bühnendichter-Generation Deutschlands erschienen war; er handelte von einer Gruppe, zu der im Text L. Berger, Brecht, Bronnen, Klabund, von Unruh, Werfel, Zuckmayer und auch Hasenclever gezählt wurden. Dieser hatte kurz vor dem Erscheinen dieses Textes sein Drama Mord fertiggestellt. Typisch für diese Art humorvoller Tucholsky-Briefe sind bewusst eingesetzte sprachliche Verdrehungen und die Verwendung umgangssprachlicher Ausdrücke (komm man her, kannste, fahrstu, Gachten), dazu auch bewusst eingefügte grammatische Fehler ( da brauch ich ihm nicht zu pflügen). Hasenclever war als Autoliebhaber und rasanter Fahrer bekannt und wurde in diesem Brief zur Gartenarbeit eingeladen. Charles Reber war ein den Freunden bekannter französischer Journalist und Übersetzer.

Brief 1 (GA 18, B 91)

Le Vésinet

28 Avenue des Pages 28 – 2 – 26.

Liebe junge Generation,


Hier unten kannste noch Tantièmen berechnen.

Einnahmen – Ausgaben – Außenstände
Soll – Haben – Mecht gehabt haben