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Hilde Willes

Let's talk about 6





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Let's talk about 6

Let’s talk about 6

Hilde Willes

 

Eins und eins macht zwei. Meistens ist auch Sex dabei.
Sechs minus zwei gleich ... vier Frauen auf der Suche nach dem Glück.
Kann man so etwas vielleicht in Singleportalen finden?
Emmas Mann ist davongelaufen, und sie weiß nicht warum. Ist da eine andere und jüngere Frau im Spiel?
Greta will leben, auf jede Art, die sich ihr bietet! Sie hat sich die Brüste vergrößern lassen, und beim ersten Blind Date trägt sie rote High-Heels.
Karin wird immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt, wohin sie auch flüchtet.

Und Nathalie will heiraten. Doch das, was ihr Zukünftiger mit ihr im Bett anstellt, ist unaussprechlich.
Aber was auch passiert, Freundinnen sind füreinander da!

 

Copyright: © Hilde Willes – publiziert von

telegonos-publishing 1. Auflage

Cover: © Azrael Ap Cwanderay

https://www.facebook.com/azraelscoverwelten

Lektorat: Nathalie C. Kutscher

https://kutscher-lektorate.jimdo.com/

 

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

 

Kontakt zur Autorin:

http://www.telegonos.de/aboutHildeWilles.htm

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Greta

 

Von ihrem letzten Geld kaufte sie sich rote High Heels. Jede weitere Ausgabe würde sie für den Rest des Monats wieder in die Miesen bringen, aber sie brauchte diese Schuhe. Vielleicht, weil sie sich damit irgendwie anders fühlen konnte, denn es gab der Situation etwas Ermutigendes. Warf Fesseln ab, gegen die Greta immer wieder anging, die sie nicht mehr tragen wollte.

Sie hatte den Mann im Blind Date Amore aufgegabelt, einem Singleportal, in dem sie sich die leerstehenden Stunden vertrieb. Dabei war sie gar nicht unzufrieden mit dem Lauf der Dinge, eigentlich … Das Leben hatte ihr zwar nie wirklich den Arsch gepudert, aber im Vergleich zu früher fühlte sie sich heute manchmal sogar verhätschelt. Nur von brauchbaren Kerlen dürfte es gerne ein bisschen mehr sein! Solche traf man nicht an jeder Ecke. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, sagte man nicht so? Und vielleicht, vielleicht kam ja eines Tages dieser Eine? Jener, auf den sie schon so lange wartete, und alles würde anders werden …

Seitdem Greta ihre Scheidung halbwegs verdaut hatte, spürte sie ständig diesen Drang in sich, umherzugehen. Suchend, hetzend, jagend, um zu finden, was mit diesem Flammenmeer zurande kommen würde. Eben jenes, das zwischen den Beinen tobte und das andere in ihrem Herzen.

 

Als sie sich für ihr Date zurechtmachte, war sie so notgeil, dass ihr ganz schwindelig wurde. Wäre sie Schneewittchen, würde sie Pinocchio auf der Stelle zu Boden reißen, sich auf sein Gesicht setzen und schreien: „Lüg mich an!“

Aber sie war ja nur Greta. Greta mit den roten Schuhen, und nun stand sie da und wusste kaum weiter. Dabei hatte sie’s doch selbst heraufbeschworen. Blind Date Amore und dieser Typ mit seinem geheimnisvollen Profilbild und dem Nickname policeman. Allein das tagelange Herumschreiben, so verdammt abgefahren! Verwunderlich, dass man es kaum noch aushielt, hemmungslos geil wurde?! Manchmal krabbelten ihre Hände wie von selbst in den Slip. Dorthin, wo es so verlangend pulsierte, aber es reichte einfach nicht mehr, auf sone Art theoretisch. Greta wollte mehr, war wild auf reale Sensationen, mit anderen Worten: temperamentvollen Sex. Und darüber hinaus auch auf das Wunder, das womöglich geschehen könnte. Deshalb würde sie jetzt auch achtlos an all der inneren Zerrissenheit vorübergehen.

Ein letzter Blick in den Spiegel, wo sie die glühenden Augen einer Fremden anfunkelten.

Dann stöckelte sie los.

Mit jedem Kilometer, den sie fuhr, wurde ihr heißer. Unwillkürlich presste sie ihren Unterleib fester in den Autositz, seufzte auf. Sie könnte ja einfach anhalten und es tun. Jetzt und hier, weil sie nichts unter dem knappen Rock trug als ihre pure Lust. Und dann umkehren, denn justament wuchsen wieder unwillkommene Bedenken. Doch das Hirn sollte jetzt nicht denken, und Gretas Bauch suggerierte Vertrauen. Verführende Intuition, von der sie sich bezirzen ließ, was sie fühlte, was sie wollte. Kein Zurück mehr, denn sie hatten alles vorweg verabredet. Irre! Ein Deal, der gleich in die Tat umgesetzt werden sollte. In diesem Portal war solches möglich.

Ein einsamer Parkplatz, nirgends eine Menschenseele. Gretas Hände fühlten sich eiskalt an, aber sie öffnete die Tür, stieg langsam aus. Der Mond warf sein fahles Licht auf verkrüppelte Bäume, die wie finstere Gestalten der Unterwelt nach ihr greifen wollten. Furcht vermischte sich mit der unsäglichen Lust, die heiß zwischen ihren Beinen loderte. Wie benommen stakste sie Schritt für Schritt um das Auto herum. Der schlammig weiche Untergrund würde die High Heels ruinieren. Schnurzpiepegal! Was für eine obskure Situation, verrückt!

„Ich warte irgendwo im Dunkeln. Du wirst nicht wissen, wo. Ich beobachte dich, und dann ist mein Schwanz plötzlich da, wo du ihn haben willst!“ Purer Sex von Null auf Hundert, so war’s abgemacht. Warum auch nicht? Wer konnte sich anmaßen zu verurteilen, zu zensieren? Wenn zwei das Gleiche wollten?! Nicht ein einziges Wort, ohne Umschweife direkt zum Akt. Brauchte es da noch eine weitere Einleitung?! Oh nein! Denn allein diese Vorstellung kam Greta vor, wie das geilste Vorspiel überhaupt. Es hatte ein Feuer entfacht, das sich von alleine nicht mehr löschen ließ. Nun blieb ihr nichts als zu vertrauen, sich selbst, dem Moment und einem Fremden.

Sie stützte ihre bebenden Hände auf der Motorhaube ab, beugte sich vor und wartete mit weit gespreizten Beinen. Über die Maßen reif für dieses Spiel ohne Ouvertüre, doch ihr Herz pochte so wild, als ob es aus der Brust springen wollte.

Er kam aus dem Nichts, stand plötzlich hinter ihr. Die herbe Note seines Rasierwassers kroch in ihre Nase. Schwarze Lederhandschuhe zogen sie mit einem Ruck heran. Sie spürte ihn überall und roch den würzigen Duft des Leders, als er ihre Brüste umfasste. Es tat ein bisschen weh, als er fast grob zusammendrückte, aber ach … Greta presste sich ihm entgegen, keuchte. Wie rattig das klang, hier an diesem einsamen, finsteren Ort. Wahnsinnsgefühl! Und oh ja, Greta hatte jetzt Supertitten, ihre erste Maßnahme nach der Scheidung. Woran sie sich selbst immer wieder berauschte, und sein heißer Atem in ihrem Nacken ließ ihre Knie weich wie Butter werden. Aufgepusht tastete sie nach dem derben Stoff einer Uniformhose, stöhnte auf, als ihre Finger streiften, was dort hart herausragte. Beinahe vergaß sie, zu atmen, suchte nach Halt, den er nahm, weil er ihre Arme ergriff und nach hinten bog. Kaltes Metall an ihren Handgelenken, durchdringend das Klacken, als die Schließen einrasteten. „Ohhh!“

„Pscht!“ Diese irre Vereinbarung! Und dann beugte er sie vor leichtem Zwang, dabei wurden ihre Brüste auf das Stahlblech gepresst. Fast hätte sie laut gekichert bei dem Gedanken, ob das Silikon wohl halten würde? Ihre Knie zitterten noch mehr, als sie seine Hände an den Hüften spürte und er sich begierig an ihr rieb. Jetzt ging’s wohl zur Sache, denn er schob ihren Rock nach oben. Gretas Herz raste wie verrückt und obwohl sie es nicht wollte, verkrampfte sie sich, fühlte sich blockiert. Meinte, dass zumindest ein klein wenig Augenkontakt vorneweg besser gewesen wäre. Zudem ein paar Worte vielleicht, wenigstens die Illusion, sich erst irgendwie kennenzulernen. Und nicht so, nicht einfach so, aber genau das hatte doch diesen unglaublichen Kitzel gegeben.

„Angst?“ Kehlig sein Unterton, mit dem er ihre Vereinbarung zu schweigen unterbrach, und sie war dankbar dafür.

„Auch, ja …“

„Wir wollten es so.“

„Ich hab so was noch nie gemacht!“, wollte sie noch erklären, doch da hob er Gretas Hintern an, glitt über ihren empfindlichsten Punkt und rutschte ohne einen einzigen Moment des Widerstands in sie hinein. Langsam, bis er sie völlig ausfüllte. So verharrte er einige Atemzüge lang, ehe er loslegte. Und dann war alles egal, ging einfach unter in diesen gierigen Sekunden. Nur noch fieberhafte Laute voller Lust, spitze Schreie und das Klatschen, wenn nackte Haut auf nackte Haut traf. Weiter nichts.

---

Später lehnte sie taumelig an ihrem Wagen. Die Zigarette, die Greta jetzt unbedingt brauchte, fiel in den Dreck. Die Nächste schien unter ihren gierigen Zügen beinahe zu verglühen. So lautlos wie er gekommen war, verschwand er im Dunkel; sie hatten kein weiteres Wort mehr miteinander gewechselt, wie verabredet. Nach wie vor ein Unbekannter geblieben, doch eine Art sechster Sinn sagte ihr, dass auch er eine Situation heraufbeschworen hatte, die nicht seinen Alltag bestimmte. Und genau deshalb fühlte es sich plötzlich richtig an.

Allein stand sie da, hatte aber keine Angst mehr vor den gruseligen Baumgerippen, hinter denen Mr. Moon schillerte. Jeder Atemzug voller Nikotin verstärkte das Gefühl einer Befriedigung.

S-a-t-i-s-f-a-c-t-i-o-n!

Träge tänzelte der blaue Dunst nach oben, Greta blickte selbstvergessen hinterher.

Vom Mond aus betrachtet spielt das Ganze gar keine so große Rolle.

Als sie nach Hause fuhr, wusste sie nicht wirklich, was in ihr vorging. War das alles wirklich passiert?!

Oh! Oh! Oh!

Yeah! Yeah! Yeah!

What a feeling, what a night!

Würde man so manches vorher wissen, sämtliches Gewese könnte man sich locker sparen, Schiss inne Buchs wär’ auch nicht nötig. So hemmungslos geil, wie the policeman sich darin ausgetobt hatte. Noch immer fühlte Greta jeden einzelnen tiefen Stoß.

Wie berauscht trat sie aufs Gaspedal. Über den Wipfeln der Bäume leuchtete der Mond wie eine übergroße reife Orange und leitete sie heil nach Hause.

 

Emma

 

Auf die Signale des Überwachungsgerätes reagierte Emma stets sehr sensibel. Auch wenn es nachts nur leise vibrierte, erwachte sie sofort und taumelte aus dem Bett. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen, kurz vor drei. Aufseufzen, denn in letzter Zeit kam es häufiger vor, dass ihre demenzkranke Mutter sie nachtsüber aus dem Bett scheuchte.

Die alte Frau hatte sich Schuhe angezogen und trug einen Schal über dem Nachthemd. So saß sie lächelnd auf der Bettkante.

„Schau!“ Ihr runzeliger Zeigefinger deutete aus dem Fenster. „Er ist wieder da.“ Sie meinte den Mond, wie umgeben von einer mystischen Aura. Emma zog am Griff und ließ die frische Nachtluft hinein. Das weckte ihre Lebensgeister.

„Komm Mama!“ Sie half der Kranken auf die Beine, und dann blickten sie einige Minuten Seite an Seite in den Sternenhimmel.

„Er hat gesagt, dass ich zu ihm kommen soll“, sang die brüchige Stimme der Greisin in die Stille hinein. Emma legte ihren Arm um sie. „Ich denke aber, er möchte, dass wir weiterschlafen. Guck mal, er nickt uns sogar zu.“

„Aber …?“

„Doch Mama, es ist mitten in der Nacht. Der neue Tag hat noch nicht begonnen.“

„Kommt denn ein neuer Tag?“

„Es kommt immer ein neuer Tag!“

Emmas Mutter nickte, ließ sich widerstandslos zurück ins Bett bringen, schloss auch sogleich ihre Augen. Emma streifte die Schuhe ab und zupfte die Decke glatt, streichelte behutsam über eine faltige Wange. „Schlaf gut!“ Dann verließ sie auf leisen Sohlen das Zimmer. Ein sorbisches Sprichwort fiel ihr ein, das sie irgendwann auf einem Kalenderblatt gelesen hatte…

Eine Nacht weiß viel zu erzählen.

Mit einem Male beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. Dabei konnte sie noch gar nicht wissen, wie sehr künftige Nächte mehr vom Wachen als vom Schlafen geprägt sein würden. Für den Moment jedoch setzte sie sich an den Küchentisch, machte sich Gedanken, weil der Geist ihrer Mutter mehr und mehr zu verwirren schien. Deshalb hatte Emma auch vor fünf Jahren ihren Job aufgegeben, kümmerte sich nur noch um Familie, Haus und Garten. Nein, die Vorstellung eines Traumjobs war’s nicht wirklich! Ein ums andere Mal ging ihr diese schon irgendwie aufgezwungene Lebensform ungeheuer auf die Nerven. Andererseits kam sie damit wohl zurecht. Finanziell war es kein allzu großes Problem, Karsten verdiente genug. Zuweilen schränkte man sich ein wenig ein.

Früher war ihre Mutter stets für sie da gewesen, heute lief es andersrum. Die Kinder brauchten sie jetzt nicht mehr so sehr, wohl aber die Kranke. Irgendwie alles auch immer nur eine Frage der Zeit, doch in zunehmendem Maße überfiel Emma das unerklärliche Gefühl, diese liefe ihr mehr und mehr davon.

Sie betrachtete das gerahmte Bild. Seit drei Tagen lag es auf dem Tisch, weil sie bis jetzt noch keinen rechten Platz dafür gefunden hatte. Es zeigte ihre Mutter auf dem Sofa sitzend, dahinter Karsten, Leonie und Finn. Ein Geschenk ihrer Lieben zum 39. Geburtstag, daneben die hübsche Schachtel mit den erlesenen Pralinen. Diese zog Emma nun heran, sowie das Handy, das sie zu Weihnachten bekommen hatte. Eigentlich hatte sie solch ein Ding überhaupt nicht haben wollen. War auch nicht dafür gewesen, dass Leonie und Finn eines erhielten. Aber in diesen Zeiten musste so was wohl sein.

Vierzehn Tage ließ Emma ihr Weihnachtsgeschenk unbeachtet in der Ecke liegen, ehe sie es widerwillig zur Hand nahm. Leonie erklärte ihrer Mutter grinsend, wie man es bediente und seither …

„Hihi!“ Ja, seither gefiel ihr das blöde Ding! Eine Marzipanpraline lutschend, schaltete sie ein und entdeckte sofort eine Nachricht von Greta: Emma, wenn du das liest, ich muss dir unbedingt etwas erzählen! Ruf mich an!

Uuups, was war denn jetzt wieder passiert?

Nun, das würde wohl bis zum nächsten Tag warten müssen. Sie konnte ja schlecht mitten in der Nacht anrufen, obwohl Emma schon sehr neugierig war, was ihre Freundin Aufregendes zu berichten hatte. Eine Nougatpraline … Leonie hatte am vergangenen Abend noch ein paar hübsche Fotos vom Sonnenuntergang geschickt. Nach der Nusspraline wollte Emma das Handy ausschalten, als sie plötzlich sah, dass Greta online war, und schon kam eine Nachricht. Emma? Bist du wach? Kann ich dich anrufen?

Das musste aber wirklich dringend sein. Angespannt und neugierig drückte Emma das Signal.

„Was machst du denn mitten in der Nacht?“, erklang sofort Gretas atemlose Stimme.

„Ähhh, das wollte ich dich auch grad fragen!“

„Ich kann nicht schlafen, hab was Irres erlebt!“

„Das klingt ja dramatisch. Erzähl!“

„Hast du denn Zeit? Jetzt?“

„Ich war bei meiner Mutter.“ Das reichte als Erklärung, Greta wusste Bescheid.

„Nun fang schon an!“

Eigentlich musste dieser Prolog gar nicht sein. Mehr als ein halbes Leben lang teilten sie schon Freud und Leid miteinander. Dabei hatte es nie es eine Rolle gespielt, ob die Sonne schien, der Regen fiel oder die Dunkelheit einer Nacht quälte. Sie waren Freundinnen. Nein, sie nannten es nicht einfach nur so, sie waren Freundinnen!

Eine Nacht weiß viel zu erzählen.

„Emma, ich hab’s getan!“

„Was hast du getan?“

„Ihn getroffen!“

„Wen?“

„Mensch, frag doch nicht so blöd!“

„Hä?“

„Du weißt doch, Policeman!“

„Was? Wer?“ Die Rumtrüffelkugel erreichte Emmas Mund nicht, plumpste auf den Tisch und eierte über die Decke, bis sie von Karstens Zigarettenpackung gestoppt wurde. Zwei Schokoladeflecken zierten den Stoff. Ja, ja, wenn man einmal kein Wachstischtuch auflegte, weil man es stilvoller haben wollte!

Ja, ja, wenn man Andeutungen und Informationen der besten Freundin für Papperlapapp hielt! Dabei hätte Emma es doch wissen müssen. Zumindest spüren, dass da wohl ordentlich was im Busch war.

„Greta!“

„Ja, was denn Greta?“, schoss es schnippisch zurück. „Nenn meinen Namen nicht in diesem Ton!“

Emma schluckte. Okay, Greta hatte dieses Blind Date Amore hin und wieder erwähnt und von allerlei Typen erzählt, mit denen sie ein bisschen umher schrieb. Ein Zeitvertreib halt, wenn auch ein schräger! Wie Whatsapp und Co funktionierten, hatte Emma ja inzwischen kapiert. Also konnte sie sich ungefähr ausmalen, wie die neuste Freizeitbeschäftigung ihrer Freundin aussah. Aber dass Greta tatsächlich Nägel mit Köpfen machte, und dann gleich auf diese Weise?!

„Ich dachte, das ist nur ein bisschen Spaß für dich, Greta!“

Schnauben tönte in der Leitung. So laut, dass Emma den Hörer ein Stück von sich hielt. Anscheinend lachte sich die verkappte Abenteurerin gerade schlapp. Doch unter all dem Glucksen war auch noch etwas anderes zu vernehmen. Ein eigenartiger Unterton, der Emma veranlasste, das Handy wieder näher ans Ohr zu drücken. Und tatsächlich, die Geräusche verwandelten sich immer mehr in ein hysterisches Kichern. Dann Stille, ein Schweigen, das trotzdem in den Ohren lärmte.

„Bist du noch da, Greta?“

„Klar.“

„Na komm … was war?“

„Okay!“ Und Greta erzählte.

Währenddessen zog Emma mehrmals die Pralinenschachtel heran und schob sie wieder weg. Letztlich gab sie ihr einen solchen Schubs, dass sie beinahe über die Tischkante gerutscht wäre. Mit spitzen Fingern packte sie angeleckte Konfektkugel und ließ sie in den Aschenbecher plumpsen. Dann griff sie nach Karstens Zigaretten. Das Feuerzeug klickte, Greta war fertig und ihre Zuhörerin im Bilde. Es fauchte nur so, als Emma mit gespitzten Lippen den Rauch aus ihrer Lunge blies.

„Qualmst du etwa?“, rief Greta erstaunt.

„Hhm!“

„Ey, wieso?“

„Warst du vögeln?“

„Hhm!“

„Ey, wieso?“

Ein weiterer Lachanfall folgte, der diesmal jedoch beide schüttelte.

„Du weißt aber schon, wie saugefährlich das war, oder?“, stellte Emma fest, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten.

„Es ist nichts passiert!“

„Es hätte eine Fahrt ins Nimmerwiedersehen werden können!“

„Hätte, könnte, würde … mit dieser Einstellung lebt man nicht, man existiert nur!“

„Ähhh Greta! Wäre der Typ ein Irrer gewesen, würdest du jetzt nicht mal mehr existieren.“

Wieder Stille. Emma hörte, dass auch Greta rauchte.

 

Da saßen sie nun mitten in der Nacht, während alle Welt selig schlief.

„Jaaaaa!“, kam es zögerlich. „Du hast ja recht. Aber das will ich jetzt nicht hören!“

„Was soll ich denn sagen?“

„Mensch Emma, es war so geil, einfach nur geil!“

„Hhm!“

„Zeig mir nicht die Gefahren auf, komm mir nicht ständig mit Wenn und Aber! Ich musste das einfach tun. Weiß auch nicht so genau, warum. Würd’s sogar wieder tun!“

„Was weißt du denn über den Mann?“

„Alles, was ich wissen will.“

„Ist er verheiratet? Hat er einen Job? Will er nur so was von dir? Oder denkt er auch an normale Dates?“

„Was weiß ich?!“

„Ist dir das nicht wichtig, Greta?“

„Doch schon. Andererseits … vielleicht will ich ja auch nur so was.“

Wenn Emma alles glaubte, aber das nicht! Und sie wusste, dass auch Greta wusste, was Emma wusste … Deshalb kicherte sie jetzt leise: „Manchmal bist du unmöglich.“

„Mag sein!“, antwortete Greta und ihre Stimme zitterte. „Ich bin nur leid, was mich stets eingeschränkt hat. Und ich will leben!“

„Auf diese Art?“

„Auf jede, die sich mir bietet.“

„Sei vorsichtig, Greta!“

„Aber ja doch!“

„Vielleicht sollten wir beide jetzt versuchen, noch ein wenig zu schlafen.“

Kaum hatte sie das Gespräch beendet, fühlte sich Emma schäbig. Verhielt sich so eine gute Freundin? Oder eher eine engstirnige, miesepetrige Tante, die einem alles verleidete und das bisschen Emotion nicht gönnte, das andere vielleicht haben konnten.

Ihr Blick fiel auf das Bild, Ehemann, zwei Kinder, ihre Mutter. Sie hatte eine Familie, und nebenbei noch Haus, Garten und Auto.

Und Greta? Jahrelang von ihrem Angetrauten mit anderen Frauen betrogen worden, stand sie am Ende da mit nichts, da der holde Göttergatte obendrein noch das gemeinsame Haus und sämtliches Geld durchgebracht hatte. Kinder gab es keine, nur die getigerte Katze war oft einziger Trost gewesen. Vor einem Jahr wanderte das verschmuste Tier in Gretas Armen hinüber ins Regenbogenland.

Alles oder nichts, das war hier die Frage.

Auf einmal war Emma todmüde. Beim Aufstehen strichen ihre Fingerspitzen sanft über das kühle, glatte Glas, hinter dem ihre Lieben lächelten.

Eine Nacht weiß viel zu erzählen

Oh ja! All diese Sprüche und Zitate auf bunten Kalenderblättern, ganze Schubkästen voll hatten sich mittlerweile angesammelt, eine Anhäufung von Jahren und klugen Worten. Immer wieder kam ihr das eine oder andere einfach so in den Sinn. Jetzt gerade dieses: Viele Menschen versäumen das kleine Glück, während sie auf das große vergebens warten.

(Pearl S. Buck)

„Blödsinn!“, brummelte sie vor sich hin. „Wenn ich Greta damit ankommen würde …“

Auf leisen Sohlen schlich sie zum Bett. Karsten lag ihr mit dem Rücken zugewandt, schnarchte leise. Emma hätte sich jetzt gerne an ihn gekuschelt, ihre Hand kroch unter die Decke, spürte seine Wärme. Doch sie zögerte, ihn zu berühren. Weil sie wusste, dass er in etwa einer Stunde aufstehen und zur Arbeit fahren würde und ihn nicht stören wollte? Durch die Schlitze der nicht vollständig geschlossenen Jalousien fiel das fahle Licht des Mondes, zauberte ein behutsames Dämmergrau. Wie geschaffen für eine liebevolle Kuschelstunde und mehr, ehe der neue Tag begann. Würde er sich denn behelligt fühlen, weil sie sich nach ihm sehnte, ihn wollte? Irritiert von ihren Gedanken zog Emma ihre Hand zurück und lauschte Karstens gleichmäßigem Atem. Beobachtete eine Weile, wie sich seine Brust hob und senkte, ehe sie ihre Augen schloss.

 

Erholsamen Schlaf fand sie nicht, denn zu sehr beschäftigten sie die befremdlichen Fragen: Seit wann traute sie sich nicht mehr, die Nähe ihres Mannes zu suchen? Hatte es nicht einmal Zeiten gegeben, in der die Zeiger auf der Uhr keinerlei Rolle spielten?

Welche Bedeutung konnte es haben, wenn man das Bedürfnis nach Nähe hinter einer irrelevanten Rücksichtnahme anstellte?

Eine Nacht weiß viel zu erzählen …

Und manchmal stellte sie viel zu viele Fragen.

Neuer Morgen


Obwohl ihre drei Pappenheimer alle eine ungestörte Nachtruhe genießen konnten, kroch einer nach dem anderen mürrisch und wortkarg aus den Federn. Nur Emma hatte keine schlechte Laune. Noch nicht!

Karsten rannte aus dem Haus ohne das obligatorische Abschiedsküsschen, Leonie stocherte missmutig in ihrem Müsli herum, und Finn wollte gleich gar nichts frühstücken. Im Vorübergehen warf er seiner Mutter einen Zettel auf den Tisch. „Komm heut später, hab nach der Schule noch ein Fußballspiel. Tschüss!“ Weg war er.

Woraufhin seine Schwester schlussendlich ihre Schale von sich schob. „Ich geh auch!“

„Leonie, was ist denn?“

„Nichts!“

Kurz darauf knallte bereits die Tür. Emma zuckte zusammen, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sank seufzend auf den Stuhl nieder, wo sie nächtens bereits gehockt hatte.

Hach, ein neuer Tag, und was für einer! Er konnte ja noch heiter werden. Man sollte den Dingen stets eine Chance geben. Sie löffelte ein wenig von Leonies verschmähtem Körnerfraß, aber es schmeckte nicht. Dann angelte Emma nach ihrem Handy und schrieb an Greta: Alles okay bei dir? Es tut mir leid, dass ich heute Nacht so blöde reagiert hab.

Wenig später kam ein Daumen-hoch-Zeichen und: Mach dir keine Gedanken! Mordsstress hier im Büro! Wir reden heute Abend beim Zumba.

Na dann!

Erst jetzt registrierte Emma den zerknüllten Zettel, strich ihn glatt und las: Einladung zu einer Schulkonferenz in Sachen Ihres Sohnes Finn. Der Grund wurde nicht genannt, aber man konnte getrost davon ausgehen, ein Angenehmer war’s nicht. Die Mitteilung war auch schon eine knappe Woche alt, der Tag X bereits morgen. Emma seufzte abermals. Karstens Zigaretten lagen noch am selben Platz wie vorhin. Offensichtlich hatte er sie liegengelassen, als er mit fliegenden Fahnen davon eilte. Nun verspürte Emma schon wieder Lust auf einen Glimmstängel. „Du bist wohl nicht ganz dicht“, schalt sie sich selbst. „Da hast du dir den Mist mit viel Mühe abgewöhnt, und jetzt willst du wieder anfangen?!“

Viel besser wäre es, endlich diesen vermaledeiten Alltag in Angriff zu nehmen. Er lief zwar nicht davon, stellte sich aber stets mitten in den Weg. Freilich konnte man zur Seite springen, doch er folgte brav auf Schritt und Tritt.

Manchmal schrie er auch ganz laut, wie gerade eben Emmas Mutter. Anscheinend war sie aufgewacht. Ein dritter Seufzer, als das Malheur zu Tage trat, das wohl gerade erst passiert war. Nun hieß es, Bett frisch beziehen und die alte Dame in die Badewanne stecken. „Shit!“ Hin und wieder stank einem dieses Ding, das sich Alltag schimpfte, gewaltig.


Später drückte Emma ihrer Mutter das Kartoffelschälmesser in die Hand, während sie das andere Gemüse fürs Mittagessen schnippelte. Lächelnd produzierte die Seniorin lange Schalen, die sich wie Emmas Korkenzieherlocken kringelten und sang mit brüchiger Stimme alte Schlager vor sich hin. Trotz allem und so wie es war, für sie schien die Welt wieder in Ordnung. Was eben noch gestört, im nächsten Moment vergangen, vergeben und vergessen. Emma jedoch bekam den üblen Geruch der Ausscheidungen auf Bettlaken und Nachthemd nicht so rasch aus der Nase.

Wie es wohl war, so vieles aus dem Gedächtnis zu verlieren? In einem Zustand zu leben, der unklar und schwammig schien wie in einem Kokon? Vielleicht dachte man gar nicht mehr wirklich, sondern existierte einfach nur von einem bis zum nächsten Atemzug. Kein Planen und keine Sorgen, Gefühle nur bedingt. Herzweh und Verlangen? Gab es das noch irgendwie? Wer wusste das schon?!

Was ihre Mutter jetzt empfand, schwerlich nachzuvollziehen. Aber für Emma war es einer dieser Tage, an denen sie sich danach sehnte, wieder im Büro zu sitzen, Stress hin, Stress her. Rauszukommen, mit den Kollegen zu plauschen, sich freitags ein schönes Wochenende wünschen. All das, was sie seit Jahren nicht mehr hatte, und dennoch wurde sie von vielen beneidet, in keiner solchen Tretmühle mehr herumtrampeln zu müssen. Müßig, immer wieder zu erklären, dass ihre halt eine andere war. „Ach!“, wollte Emma die Gedanken beiseiteschieben. „Es ist doch nie richtig, wie man’s hat!“ Greta klagte ja ständig über ihren mistigen Job.

„Was sagst du, mein Kind?“

„Nichts Mama, alles gut!“

Die Ältere schaute die Jüngere mit wachen Augen an. „Es kann richtig sein, wie du’s hast. Ist nur eine Frage der Sichtweise. Manchmal schadet auch ein bisschen Demut nichts.“ Sie schien einen ihrer immer seltener werdenden klaren Momente zu haben. Dann fing sie erneut an zu singen, glockenklar und hell, sämtliche Strophen von Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück. Hinter Emmas Augen stiegen plötzlich heiße Tränen auf, und sie wusste nicht, warum.


Nathalie


Mittags brauchte Greta einen starken Kaffee, denn ihr Blickfeld fing merkwürdig an zu flimmern, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Spürte, wie der Kreislauf absackte. So konnt’s gehen, wenn man die Nacht zum Tage machte!

„Leg dich auf den Boden und die Beine hoch auf den Stuhl. Dann läuft das Blut in den Kopf zurück“, meinte Karin, während sie frischen Kaffee aufsetzte.

Greta kam dem Ratschlag ihrer Kollegin gleich nach. Mit geschlossenen Augen lag sie da, atmete tief durch und wartete auf Besserung. Unwillkürlich malte sich jenes Bild der vergangenen Nacht im Kopf. Wie sie gebeugt über der Motorhaube hing, er hinter ihr … Gott, wie das brodelte in den Eingeweiden! Dabei hatte sie sich wirklich ganz fest vorgenommen, diese permanenten Fantasien abzustellen. Zumindest gewaltig zu drosseln, denn irgendwie hatte Emma ja recht. Was wusste Greta schon über diesen Mann? Nichts, absolut nichts! Nur, dass er einen geilen Dingsbums hatte. Sie grinste in sich hinein.

„Na, geht’s besser?“ Der Kaffee hatte fertig geblubbert, Karin holte zwei Pötte aus dem Schrank. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Mit einem knirschenden „Argh!“, fiel eine weitere Frau in die Teeküche ein.

Lange, blonde Haare, himmelblaue Augen, eine Figur zum Anbeißen. Gertenschlank und dennoch mit weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen, ohne Silikon wohlgemerkt! Nathalie, die Tochter des Chefs, das Bild eines Weibes schlechthin.

Immer, wenn Greta sie sah, fiel ihr die damalige Lieblingsbarbie von Emmas Tochter ein. Greta hatte sie der Kleinen einst zu Weihnachten geschenkt. Aber jene Puppenaugen waren nie rotumrandet gewesen, als hätten sie gerade geweint. Oh nein, Barbies lächelten ungebremst strahlend in die Weltgeschichte. Nathalies Mundpartie jedoch zeigte sich gegenwärtig ziemlich verkniffen. Was die holde Juniorchefin wohl für Probleme haben könnte? Noch dazu mit einem frisch abgeschlossenen Jurastudium im schnieken Aktenköfferchen!

„Was machen Sie denn da unten?“, wollte das Cheftöchterchen wissen und ließ sich sichtlich abgekämpft auf einen Stuhl sinken.

„Wahrscheinlich zu niedriger Blutdruck“, antwortete die bodenständige Karin an Gretas statt, stellte rasch eine dritte Tasse hinzu und obendrein noch ein Schälchen mit Schokoladenkeksen. Es duftete verführerisch in der kleinen Teeküche des Büros.

So saßen sie beisammen und musterten sich gegenseitig über die Ränder der dampfenden Kaffeepötte hinweg.

„Vater will vergrößern und eine Sozietät gründen“, kündigte Nathalie an.

„Aha, und was bedeutet das?“

„Lassen Sie mich doch ausreden!“ Nathalies guckte angenervt, doch Greta blubberte aufmüpfig weiter: „Noch mehr Arbeit also!“

„Davon kann man wohl ausgehen. Ein weiterer Rechtsanwalt wird einsteigen.“

Greta und Karin blickten skeptisch. Da sie die beiden einzigen Büroangestellten waren, die in Vollzeit arbeiteten, sahen sie das Elend bereits auf sich zukommen. Denn die beiden weiteren Rechtsanwalts- und Notargehilfinnen ließen mittags pünktlich ihre Griffel fallen. Und Nathalie? Bisher war es nie unter deren Würde gewesen, neben dem Studieren im Büro auszuhelfen, wenn Not am Manne war. Auch wenn sie als angehende Rechtsanwältin schon irgendwie zwischen zwei Stühlen gesessen hatte.

„Tja, und ich werde auch Partnerin der Sozietät.“ Cheftöchterchen hatte die ungestellte Frage wohl verstanden. Greta beäugte ihr allzu attraktives Gegenüber aufmerksam. Insgeheim war ihr schon klar, dass ihre leichten Aversionen lediglich damit zu tun hatten, weil die andere zehn Jahre jünger, erfolgreicher und, wie Greta meinte, um Längen besser aussehend war. Blanker Futterneid, sonst nichts!

„Oh je!“, stöhnte jetzt auch Karin. „Das wird ja hammerhart!“

„Wir stellen aber noch eine neue Reno ein“, besänftigte Nathalie. „Das haben Sie übrigens mir zu verdanken.“

„Immerhin!“

„Sind die Stellen schon besetzt?“ Greta dachte an Emma, ob das wohl eine Option für sie war?!

„Nein, die Prozedere mit den Bewerbungen gehen erst noch los.“

„Ich wüsste da vielleicht jemanden.“

„Nur zu!“ Nathalie nickte aufmunternd. Greta nahm sich vor, Emma zu fragen. Letztlich hatte ihre Freundschaft damals in der Berufsschule angefangen, weil beide diesen Job erlernten.

„Na, im Großen und Ganzen hört sich das alles doch gar nicht übel an“, stellte Karin fest.

„Jaaaa!“, kam eine langgezogene und verschnupft klingende Antwort. „Aber der neue Rechtsanwalt soll den Bereich übernehmen, den ich eigentlich wollte.“ Alle Belange in Sachen Scheidung und Trennung, darauf hatte die junge Juristin spekuliert.

„Ach!“

„Ja, ach!“

„Und nun?“

„Ich soll mit Vater den ganzen wirtschaftlichen Kram abdecken, diese leidigen Angelegenheiten der Gewerbe- und Handelswelt. Ökonomie, wie langweilig!“

„Vielleicht arbeitet Ihr Vater schon auf seinen Ruhestand hin und möchte Sie an seiner Stelle wissen.“

Die heute so blasse Blondine stieß lediglich einen genervten Pfeifton aus, und Greta sagte: „Mit dem Kram haben wir aber am meisten zu tun, so viel ist jedenfalls sicher.“

„Ja!“ Nathalie blickte unwirsch auf. „Das weiß ich. Aber dafür hätte auch der Neue zuständig sein können. Vielleicht darf ich ja nebenher mal einen Nachbarschaftsstreit übernehmen. Wie interessant!“

„Können Sie mit Ihrem Herrn Vater nicht noch mal reden?“

Wieder nur dieses Pfeifen, aber das war Antwort genug.

„Na ja, noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht entwickeln sich die Dinge zuversichtlicher, als man denkt ….“ Karins Versuch zu trösten schlug leider fehl, denn die frischgebackene Juristin griff urplötzlich nach einem Taschentuch, schnäuzte sich. Doch eigentlich hatte es eher den Anschein, als würde sie sich dahinter verstecken. „Nathalie?“ Karins behutsam angedeutete Frage und ihre Hand auf dem Arm ließen letztendlich die Tränen fließen.

Die beiden Arbeitskolleginnen blickten sich fragend an. So intim hatte sich die Tochter des Chefs ihnen gegenüber noch nie gegeben, und sie ließen ihr Zeit, sich zu beruhigen.

„Alles gut?“

„Tschuldigung!“, kam eine zerknirschte Antwort. „Es ist einfach mit mir durchgegangen.“

„Und das ist auch gut so!“ Karin fand stets die richtigen Worte.

„Das ist ja noch nicht alles!“, stieß Nathalie hervor. „Bevor das mit der Sozietät für mich akut wird, muss ich heiraten!“

Schweigen, in dem leichte Verständnislosigkeit mitschwang.

„Aber Sie sind doch schon länger liiert. War nicht sogar mal von Heirat die Rede?“

Die Blonde blickte auf, lächelte. Aber in ihren Augen schimmerten noch immer Tränen. „Ja Greta, das stimmt. Ich wollte sowieso heiraten.“

„Na also!“ Wo lag dann das Problem?

„Einen Mann, Kinder und ein Haus. Ja, auch das, mein Lebenstraum!“ Nathalies Stimme, leise und verträumt, klang so, als käme sie plötzlich von sehr weit her. Bis sie wieder an Schärfe zunahm: „Nur vielleicht nicht gerade jetzt, sondern irgendwann …“

Eigentlich wollte Greta fragen, ob Nathalie denn ihren Zukünftigen nicht lieben würde. Aber das ging wahrscheinlich zu weit, und überhaupt … Stattdessen fragte sie: „Kennen Sie Zumba?“ Woraufhin die blonde Schönheit lächelte. Ein dankbares Lächeln, mehr oder weniger, vielleicht, weil sich das Gespräch wieder in neutralere Bahnen lenkte. Sie war wohl selbst überrascht ob ihres Gefühlsausbruchs.

„Nein, ich gehe meistens joggen!“

„Na, dann haben Sie ja Ausdauer“, grinste Greta und fügte hinzu: „Ich geh zweimal die Woche zum Fitness-Dancing, heute Abend wieder. Macht echt Spaß!“

„Für mich ist das nichts! Ich mag autogenes Training. Da muss man sich nicht so anstrengen.“ Karin grinste verschmitzt in die Runde, woraufhin alle drei in gackerndes Gelächter ausbrachen. Dann scharrten die Stuhlbeine über den Boden; die Mittagspause war vorüber. Auf dem Weg zurück zum Schreibtisch sagte Nathalie augenzwinkernd: „Ich überleg mir das mal. Ein bisschen mehr Bewegung kann gar nicht schaden.“

„Wir sitzen ja auch den ganzen Tag hier rum.“


Ein kurzer Blick noch aufs Handy, da war eine Nachricht. „Wann?“, fragte Policeman, und prompt setzte das Ziehen in Gretas Unterleib ein.

Heute? Morgen? Nie mehr? Sofort? Was sollte sie antworten?

Sie schaltete den Bildschirm ein und schlug die Akte auf. Jegliche Entscheidungsfindung musste warten, arbeiten war angesagt. Geld verdienen für die täglichen Brötchen und hin und wieder vielleicht noch für die High Heels dieses Lebens.

Als es endlich auf den Feierabend zuging, fand sie eine neue Anfrage auf ihrem Profil.

Leonie


Steaks und Gemüseauflauf, mit Liebe gekocht! Emma hatte sogar noch eine Quarkspeise mit frischen Erdbeeren zubereitet für die Ihren. Die Früchte kamen zwar nicht aus deutschen Landen. Dafür war’s noch zu früh im Jahr, aber sie dufteten süß und glänzten verlockend rot in der Sonderangebotsschale.

Finn schaufelte alles ohne Sinn und Verstand in sich hinein, dabei vertieft in die Aktivitäten seines Handys. Leonie stocherte wieder nur herum. Ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit rührte sie auch den Nachtisch nicht an. Emmas Mutter verschluckte sich beim Essen und hustete daraufhin so stark, dass das meiste wieder Retour kam.

Karsten erschien überhaupt nicht. Er hatte angerufen und etwas von Überstunden erzählt.

Letztendlich fand sich Emma allein am Küchentisch wieder und starrte auf das beschmutzte Geschirr samt der Sauerei auf Tischdecke und Fußboden. Das musste alles noch aufgeräumt werden, ehe sie sich zum Zumba aufmachen konnte.

Heute schien der Tag des Seufzens zu sein.

Immerhin war Leonie so lieb und half ihrer Großmutter beim Waschen. Sie würde auch da sein, wenn Emma wegging.

Zwei Abende in der Woche zum Sport, viel mehr unternahm sie gar nicht, aber darauf freute sie sich. Meistens jedenfalls, heute irgendwie nicht, und jetzt war es so weit, dass sie doch nach Karstens Zigaretten griff.

„Gibst du mir auch eine!“ Die Stimme ihrer Tochter schreckte Emma auf, als sie gedankenverloren in ihrer Nikotinwolke saß.

„Leonie! Bist du verrückt?!“

„Mama!“

Der Tonfall ihrer Tochter zeigte auf, wie kurios es doch eigentlich war. Paffende Erziehungsberechtigte echauffierte sich über neuerdings Mündige, die ebenfalls nach einer Fluppe schmachtete. Genau genommen war Emmas Lizenz auf Weisung jeglicher Art mit Leonies 18. Geburtstag abgelaufen. Altmodisch betrachtet jedoch, stellte das Mädchen aber nach wie vor seine Füße unter den Tisch der Eltern. Außerdem schadete Rauchen der Gesundheit, und trotzdem tat Emma etwas, das ihr noch viel merkwürdiger vorkam. Sie hielt Leonie die Schachtel hin. „Dann nimm halt!“

So saßen sie da, rauchten und schwiegen. Kamen sich beide komisch vor und konnten einander nicht anschauen. Vielmehr Emma konnte es nicht, denn plötzlich fühlte sie sich ungenügend in ihrer Mutterrolle und wusste dennoch, dass sie trotz allem auch nur ein Mensch war. So what!

Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren erschien viel abgeklärter, als sie sagte: „Wir wissen beide, dass das nicht gut ist. Aber manchmal braucht man so was halt. Also!“

Hellhörig geworden, schaute Emma auf, blickte in Leonies Augen, die die Farbe eines grün schimmernden Waldsees hatten, von einem dichten Kranz wunderschöner langer Wimpern umrahmt.

Schon von Geburt an konnte sie alle Welt mit ihren Blicken bezaubern, etwas Magisches schien darin zu liegen. Aber jetzt guckten sie bekümmert drein, und Leonies Wangen hatten auch nicht ihr sonst so frisches Rot, das kaum Rouge benötigte. Offensichtlich, dass irgendetwas nicht stimmte, und nicht erst seit heute Morgen.

„Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt, mein Kind?“

Leonie ließ es geschehen, so angeredet zu werden. Vielleicht war es einer jener Momente, wo sie doch gerne wieder ein Dreikäsehoch gewesen wäre. Hatte man sich wehgetan oder kam irgendwie nicht weiter, konnte man sich immer in Mamas behutsame Liebe und Fürsorge flüchten. Im Handumdrehen machte sie alles wieder heil. Eine Zauberfee! Und genauso wirkte Emma auch jetzt, wie sie ihrer Tochter aufmunternd zulächelte. Allerdings, qualmten elfenhafte Fabelwesen?!

„Mama … ich kann nicht mehr!“ Leonies Lippen fingen an zu zittern, dann stürzten auch schon die Tränen hervor.

„Leonie! Kind, was um Himmels willen ist passiert?“

Aus all dem heulenden Gestammel, das nun folgte, konnte Emma sich keinen rechten Reim machen. Dabei hätte sie Karsten so sehr an ihrer Seite gebraucht, als Leonie jetzt sagte: „Ich werde die Schule abbrechen, und zwar sofort!“

Zumba


Da sie nur ein Familienauto besaßen, erledigte Emma die meisten ihrer Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuß. An diesem Abend war sie spät dran, deshalb schwang sie sich auf ihren Drahtesel, obwohl den Reifen ein wenig mehr Luftdruck sehr gutgetan hätte. Eigentlich hatte sie Karsten schon vor vierzehn Tagen drum gebeten, wohl vergessen!

Es dämmerte bereits, vielleicht lag’s aber auch an den dicken, finsteren Wolken, die sich zusammenballten. Wind kam auf und verfing sich in Emmas Lockenkopf. Nein, ein schöner Frühlingsabend war das nicht. Alle Welt wartete auf den Lenz, aber der zeigte sich zickig. Wenn er mal den Anschein erweckte, erwachen zu wollen, zog er sich ganz flugs wieder in sein kühles nebelgrau zurück. Immerhin war Mai, längst sollten die Bäume leidenschaftlich ausschlagen und die Menschheit vom Duft des blühenden Flieders betäubt werden. Vielleicht gingen deshalb auch viele so missmutig umher, und alle Welt versandte Whatsapp-Sprüche:

Selbst der strengste Winter hat Angst vor dem Frühling.“ (Sprichwort aus Finnland)

Wovor konnte der denn jetzt noch Angst haben, er war ja längst fertig mit schneeweiß.

Oder: „Die Bäume fahren im Frühling aus der Haut.“ (Wilhelm Busch) Ja, wenn sie es denn endlich mal täten!

Hurtig trat Emma in die Pedale. Weil’s so aussah, als wollte es gleich auch noch anfangen zu regnen. Dann tät sie auch noch mit einem Mopp auf’m Kopp beim Zumba aufkreuzen. Ja Himmel-Herrgott-noch-einmal-aber-auch!


Die anderen waren längst zugange, als Emma sich einreihte, um mit ihnen, um die Wette zu hüpfen.

„Du kommst spät!“, japste Greta und schwang behände ihre Arme nach oben.

„Hör mir bloß auf! Daheim brennt die Luft.“

„Was ist?“

„Leonie will die Schule schmeißen.“

„Oh!“ Für einen Moment kam Greta aus dem Rhythmus. „Warum das denn?“

„Schule ist doof, Lehrer sind Scheiße, alles deprimierend, Feierabend!“

Dabei war, als Leonie sich beruhigt hatte, recht anschaulich und gleichermaßen energisch erklärt worden, dass man wohl einen falschen Weg eingeschlagen hätte und sich neu orientieren müsse. Jedoch unmöglich und obendrein völlig sinnlos, noch bis zum regulären Ende dieses Schuljahres auszuharren. Lieber ausruhen und sich finden. Die Entscheidung sei getroffen, Schulabmeldung bereits erfolgt, somit Schluss mit lustig! Alles Weitere würde sich ergeben. Punkt und aus!


Emma kämpfte mit ihrer Atmung, obwohl sie längst noch nicht zur richtigen Form aufgelaufen war.

„Lass uns später reden!“, raunte Greta und stellte im Schnelldurchlauf die beiden neuen Kursteilnehmerinnen vor, die sich an ihrer Seite bemühten, im Takt zu bleiben. Eine Blondine im neonfarbenen Outfit, das sie mit ihrer astreinen Figur jedoch wunderbar tragen konnte. Die andere war ein Stück kleiner und kompakter mit hellbraunem, kinnlangem Pagenkopf. Nathalie und Karin, den Namen nach wusste Emma in etwa, um wen es sich handelte. Schließlich gehörten auch die Menschen, mit denen man täglich zusammenkam zum gelegentlichen Gesprächsstoff unter Freundinnen. Jene Karin kam schon genauso kreuzlahm rüber wie Emma, die Blondine schien noch gut dabei.

Eine Stunde strammes Fitnessdancing zweimal die Woche, an die dreißig Frauen und eine Handvoll Männer im Kurs. Hatte man sich erst einmal daran gewöhnt, machte es einen Heidenspaß und tat körperlich enorm gut. Außerdem mochte Emma die lateinamerikanischen Rhythmen. Zum Ende hin wurden die Bewegungen etwas gemäßigter, wie jetzt auch bei einem abschließenden Reggaesong.

„Und?“, fragte Greta ihre beiden Mitbringsel. „Wie war’s?“

Nathalie nickte begeistert, Karin schnaufte nur, hochrot im Gesicht. Aber dann grinste sie und hielt Emma die Hand hin: „Ob ich mich daran gewöhnen kann, das weiß ich noch nicht! Hallo Emma!“

„Glaub mir, das wird von Mal zu Mal besser! Willkommen!“

Die Brünette wischte sich den Schweiß aus der Stirn. „Sorry, mir läuft das Wasser aus allen Ritzen!“

Greta schlug vor, nach dem Duschen noch einen Absacker zu nehmen. „Bei Enrico, was meint ihr?“

Alle waren einverstanden, auch Emma. Irgendwie war es ihr heute nicht so eilig damit, zurück in ihr trautes Heim zu kommen. Obwohl …