MBl_2017__4.jpg

Marxistische Blätter 4_2017

Kommentar

Die etwas andere Sozialdemokratie

Lothar Geisler

In gemeinsamer Sache

»Oktoberrevolution im Bundestag«?

»Lieferservice für lesende Linke« unterstützt die SDAJ: Codewort FdJ

Unser Beitrag zum »Festival der Jugend«

Kampagne 100 Plus

Aktuelles

Die britische Labour Party im Jungbrunnen

Robert Griffiths

Verfassungsreferendum in der Türkei

Pyrrhussieg Erdogans? Eine vorläufige Wahlnachtsanalyse

Murat Çakır

Die Blockade von Leningrad, Schostakowitsch und die Revision der Geschichte

Jenny Farrell

Mehr Personal für unsere Krankenhäuser!

Monika Münch-Steinbuch

Von der Wehrmacht zur Bundeswehr – Braune Netzwerke von Anfang an

Ulrich Sander

In Memoriam Theodor Bergmann

Herbert Münchow

Thema: Rechtstrends international

Editorial

Parlamentsfähige Massenbasis für administrativ-autoritäre Politik

Aktuelle Rechtstendenzen – betrachtet mit Hilfe von Reinhard Opitz

Phillip Becher

Annäherungen an den Rassismus als Machtverhältnis

Achim Bühl

Rechtspopulismus, extreme Rechte und europäischer Widerstand

Ulrich Schneider

Die herrschende Ideologie ist der Kosmopolitismus, nicht der Nationalismus

Domenico Moro

Erwiderungen auf den Betrug des Front National

Pierre Laurent, Alain Hayot & Marc Brynhole

Die Kontinuität des Faschismus in Italien

Eine Übersicht von 1945 bis zur Gegenwart

Gerhard Feldbauer

Rechtsextremismus in den Ländern Osteuropas

Anton Latzo

Volksfront vs. Faschismus in Venezuela

Carolus Wimmer

Tagung der Marx-Engels-Stiftung für Günter Judick (1929–2017)

Lenins Partei neuen Typus im Widerstreit der An- und Draufsichten

Heinz Karl

Zur Aktualität von Lenins »linkem Radikalismus«

Nina Hager

Positionen

Berufsverbote historisch betrachtet

Hans E. Schmitt-Lermann

Jüdisches Gemeindeleben in der DDR – Teil 2

Das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde, der jüdischen Bevölkerung
und dem Staatsapparat der DDR in den Jahren 19501990

Ralf Jungmann

Kolonialität der Behinderung und Dekolonisierung

Wolfgang Jantzen

Rezensionen

Herbert Hörz: Ist Marxismus noch zeitgemäß? – Erfahrungen, Analysen, Standpunkte. (Nina Hager)

Ueli Mäder: macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz (Hans Schäppi)

Gabriel Gorodetsky (Hg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932–1943 (Rainer Venzke)

Klaus Gietinger und Winfried Wolf: Der Seelentröster, Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am I. Weltkrieg erlöst (Mark Stellberg)

Hans-Peter Wiechers: Harte Zeiten. Fotografien von Walter Ballhause –
Menschen in Hannover. 1930-1933
(Rainer Venzke)

Es schrieben diesmal

Impressum

Kommentar

Die etwas andere Sozialdemokratie

Lothar Geisler

»Links blinken und rechts abbiegen«, – auf bundesdeutschen Straßen würde jeder aus dem Verkehr gezogen, der sich so bewegt. In der bundesdeutschen Politik gilt das aber offensichtlich als Voraussetzung für Regierungsfähigkeit. Und – nicht nur – in der SPD hat das Tradition. Lassen wir den ganz großen Verrat von 1914, 1919 und aus den Weimarer Jahren mal außen vor, auch Schumachers Nachkriegsgerede vom »Sozialismus als Tagesaufgabe«, dem die Spaltung Deutschlands, kapitalistische Restauration, Kommunistenverfolgung und Wiederbewaffnung der BRD folgten. Und mit dem Godesberger Programm von 1959 dann der endgültige Abschied vom Marxismus.

Nehmen wir nur Beispiele, die mich und jüngere Nachkriegsgeborene von dieser Sozialdemokratie heilten: Auf das Versprechen »Mehr Demokratie wagen«, das mich als Jungwähler elektrisierte und mit »Willy wählen«-Plakette in den Wahlkampf trieb, folgten die Berufsverbote. Statt »Friedensdividende« am »Ende des Kalten Krieges« gab es 1999 unter SPD-Kanzlerschaft wieder Krieg mit deutscher Beteiligung. Die grüne »Friedens«partei wurde da endgültig NATO-Olivgrün. Und was blieb von dem versprochenen »Politikwechsel« nach 16 Jahren Volksverkohlung und Sozialraub? Erst die Verheerungen von »Hartz I bis IV«, »Agenda 2010« und dann das neoliberale Kooperationsprojekt »Große Koalition«, ohne das es uns allen heute besser ginge.

Da kann man doch nur heilfroh sein, dass eine sozialdemokratische Partei wie Corbyns Labour Party in Großbritannien nicht mit Anpassung bis zur Verwechselbarkeit, sondern mit dezidiert linker Politik wieder aus dem Tief kommt. Auch »Die LINKE« in der BRD hat nach solidarischem Streit in großer Einmütigkeit auf ihrem jüngsten Parteitag ein konkretes Wahlprogramm verabschiedet, das sich sehen lassen kann und wohltuend von dem der SPD unterscheidet. Mit »roten Haltelinien«, vor allem in der Friedensfrage.

Ein neuer Typus von sozialdemokratischer Partei, die nach der Wahl das tut, was sie vor der Wahl verspricht? Das wäre doch ein Durchbruch für alle! Und: Wie verlottert ist eigentlich das Demokratieverständnis derer, die das als »kühle Kompromisslosigkeit«, »Isolationskurs«, »Regierungsunfähigkeit« kritisieren, aber überhaupt nichts dabei finden, dass Parlamentarier nur ihrem »Gewissen«, statt ihren Wahlversprechen bzw. ihrem Wählerauftrag verpflichtet sind?

Nein, »Die LINKE« hat sich mit ihrem Parteitag nicht »eingemauert«, sondern ist für viele erst wählbar geworden, u.a. für alle, denen »die SPD als Partei abhandengekommen« ist. Das Wahlprogramm steht mit vielen unterstützenswerten Forderungen für einen Politikwechsel und politischen Klimawandel. Und das brauchen vor allem die arbeitenden, erwerbslosen, lernenden Menschen in diesem Land (und in Europa). Ein anderes politisches Klima brauchen übrigens alle Linken, auch wir KommunistInnen für’s Werden und Wachsen unserer DKP. Insofern sind wir gut beraten, unser Möglichstes für eine starke Linke im Bundestag zu tun. Unsere Eigenkandidatur zur Bundestagswahl steht dazu nicht im Widerspruch, ist keine »Gegenkandidatur«, sondern ein Angebot für alle, denen ein einfaches »Zurück zum Sozialstaat« zu wenig ist, die nicht nur ein paar Krümel mehr, sondern den ganzen Kuchen wollen. Und die aus der Geschichte gelernt haben, dass auch linke Hoffnungsträger unterstützenden und viel stärkeren außerparlamentarischen Druck von links brauchen, auch damit »rote Haltelinien« wirklich halten.

In gemeinsamer Sache

»Oktoberrevolution im Bundestag«?

Da sitzen 2017 zwei Mitherausgeber der Marxistischen Blätter (Nina Hager, Raimund Ernst), ein SPD-Mann (Peter Brandt) und zwei MdB der Partei Die LINKE (Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke) freundschaftlich zusammen und diskutieren streitbar-solidarisch über die Oktoberrevolution. Und das im Bundestag! Gibt’s nicht? Gibt’s doch! (Natürlich nicht im Plenarsaal – das wird wohl noch ein wenig dauern. Sondern in einem kleineren Sitzungsraum für Abgeordnete.) Initiiert von Diether Dehm und aufgezeichnet von weltnetz.tv. Sehenswert! [https://www.youtube.com/user/weltnetzTV] Und lesenswert das dazugehörige Sonderheft der Marxistischen Blätter »1917–2017 Was war, was wurde, was bleibt?«, das nach längeren Umbauarbeiten an unserer Shop-Datenbank endlich hier zu bestellen ist: www.neue-impulse-verlag.de

»Lieferservice für lesende Linke« unterstützt die SDAJ: Codewort FdJ

2018 wird die SDAJ 50 Jahre alt, zusammen mit Marxens 200. Geburtstag. Da haben wir uns als Marxistische Blätter überlegt, wie wir den Jugendverband auch finanziell unterstützen können. Das Ergebnis: wer zukünftig Bücher, CDs, Hörbücher, E-Books etc. bei unserem Lieferservice für lesende Linke (www.neue-impulse-verlag.de) bestellt – egal ob für Schule oder Beruf, Ausbildung, Studium, Weiterbildung, Freizeit oder Weltveränderung – kann mit jeder Bestellung einen Beitrag zur finanziellen Unterstützung der SDAJ bzw. ihrer Zeitschrift »position« leisten. Denn im Rahmen unserer »Kampagne 100 plus« geben wir – vorerst bis Ende 2018 – auf jede Bestellung mit dem Codewort »FdJ« (Freund der Jugend) einen Rabatt von 10%, den wir der SDAJ für ihre Zeitschrift spenden. Also: LLL-User werden, d.h. Bücher in unserem Shop bestellen, Codewort »FdJ« auf die Bestellung schreiben und damit die SDAJ finanziell unterstützen! Ist das ein Deal? Also Jugendfreunde aller Alters- und Gewichtsklassen: »Herzlich WiLLLkommen« beim Lieferservice für lesende Linke (LLL).

Unser Beitrag zum »Festival der Jugend«

Mit einem vorgezogenen Geburtstagsgeschenk sind die Marxistischen Blätter Pfingsten zum Festival der Jugend – einem wunderschönen Festival! – gekommen: Den ersten 50 BesucherInnen unseres Verlagsstandes haben wir das Sonderheft zur Oktoberrevolution geschenkt (bezahlt hat die Exemplare ein SDAJ-Veteran, der an dem Heft mitgearbeitet hatte). Darüber hinaus haben unsere Redaktionsmitglieder Nina Hager und Phillip Becher zwei spannende Diskussionsrunden mitbestritten, Nina zum Thema Sozialismus/Kommunismus und Phillip zu Rechtsentwicklung und AfD (siehe auch seinen Beitrag in diesem Heft).

Kampagne 100 Plus

Unsere »Kampagne 100 plus« ist Anfang Mai gestartet und noch sehr jung. Trotzdem wollen wir über erste Ergebnisse informieren:

  1. Von unserem Spendenziel (15.000 Euro) sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Nur 2.135 Euro gingen bis Anfang Juni auf unserem Konto ein, das sind 14% der gesamten Zielstellung. (Allen Spendern (m+w) an dieser Stelle ein dickes Dankeschön. Für alle anderen potentiellen Spender*innen legen wir noch einmal unseren Spendenaufruf und Überweisungsträger bei).
  2. Das Ziel, von jeder MBl-Ausgabe mindestens 100 Exemplare zusätzlich zur Abo-Auflage zu verkaufen, wurde mit unserem Heft zur Oktoberrevolution locker erreicht. Verkauft wurden von Mai bis Anfang Juni 132 Exemplare. Der Verkauf geht weiter – bis zur Revolutionsfeier der DKP am 21. Oktober 2017. (Siehe Anzeige auf der 3. Umschlagseite)

Aktuelles

Die britische Labour Party im Jungbrunnen

Robert Griffiths

Nahezu 13 Millionen Menschen haben bei den jüngsten Wahlen zum britischen Unterhaus für ein linkes Labour-Programm mit folgenden politischen Forderungen gestimmt: die progressive Besteuerung der Reichen und der Großunternehmen, die gewaltigen Investitionen in den Nationalen Gesundheitsdienst und in andere öffentliche Einrichtungen, das gemeinschaftliche Eigentum an den Schlüsselindustrien und den Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge, eine Ausweitung der Beschäftigung und der Rechte der Gewerkschaften und ein Ende der Privatisierungen. Außerdem hat eine Mehrheit der Wähler die Austeritätspolitik zurückgewiesen. Die konservativen Tories haben kein Mandat für weitere fünf Monate der Kürzung öffentlicher Ausgaben, geschweige denn für weitere fünf Jahre.

Durch die Anhebung des Stimmenanteils für Labour um zehn Prozentpunkte, wodurch man fast mit den Tories gleichzog, wurden der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn und seine Führerschaft der Labour Party gerechtfertigt. Dies ist aufgrund einer der boshaftesten Medienkampagnen gegen den Anführer einer großen politischen Partei in Großbritannien seit mehr als einem Jahrhundert, die sogar widerwärtige tägliche Attacken in der angeblich links der Mitte stehenden Zeitung Guardian einschloss, eine bemerkenswerte Errungenschaft. Dies ist angesichts einer zwei Jahre andauernden Kampagne in der Parlamentsfraktion der Labour-Partei, die darauf ausgerichtet war, Corbyn zu verleumden und abzusetzen, eine noch bemerkenswertere Errungenschaft. Corbyn hat seine Kritiker mit einer unermüdlichen Kampagne in Form von öffentlichen Versammlungen, Bädern in der Menge, Arbeitsplatzbesichtigungen und Fernsehauftritten bestürzt. Er richtete die Verkündung seines Programms direkt an die Menschen, traute ihnen zu, die Lügen und Unterstellungen der Tories und der Medien beiseite zu wischen, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu beurteilen. Seine eigene Charakterstärke hat sich angesichts eines der skurrilsten Anschläge auf eine Persönlichkeit in der britischen Politik seit den Tagen des Labour-Gründers Keir Hardie gezeigt. Hardies Geist und der Geist von Aneurin Bevan, dem Vater des Nationalen Gesundheitsdienstes, würden heute lächeln.

Corbyns und Labours Kampagne und Politik haben Millionen von Studierenden und jungen Menschen animiert zu wählen, viele von ihnen zum ersten Mal. Die Wahlbeteiligung unter den Wählern zwischen 18 und 24 Jahren stieg von einem Niveau von etwa 40 Prozent bei den letzten vier Wahlen auf 72 Prozent an. Auch die Arbeiter und Gewerkschafter versammelten sich um die rote Fahne und verhalfen zu einer Gesamtwahlbeteiligung von 68% – der höchste Wert seit der Wahl, die Tony Blair im Jahre 1997 ins Amt brachte.

Die wichtigste Aufgabe in der Arbeiterbewegung muss es nun sein, sich um die Führung der Labour Party und ihre Politik zu vereinen und gleichzeitig die Liebesaffäre des rechten Flügels der Partei mit der nuklearen Bewaffnung kritisch zu überprüfen. Offensichtlich gab es eine taktische Stimmabgabe für Labour unter den Wählern der Grünen, der Liberalen Demokraten und der Walisischen Partei. Außerdem gab es Hinweise darauf, dass einige Wähler aus der Arbeiterklasse in Schottland zur Klassenpolitik zurückkehren, ohne ihre nationalen Ansprüche aufzugeben. Dies ist erst recht ein Grund, all das Geschwätz über den Aufbau irgendeiner »Mitte-Links«-Allianz in der britischen Politik zu begraben. Hinsichtlich der Wahlen repräsentiert die Labour Party bereits eine Allianz »links der Mitte« und zwar eine solche, die es nicht nötig hat, zu einem blassen Pink verdünnt zu werden.

In der Tat gibt es keinen Grund, irgendetwas zu tun, das die Liberalen Demokraten rehabilitieren könnte. Ihr Stimmenanteil ist verdientermaßen gesunken und die Vertreibung ihres Wortführers Nick Cleggs von seinem Abgeordnetensitz dürfte uns viele weitere dieser TV-Auftritte ersparen, in denen er nahezu alles über die Europäische Union und das positive, progressive Plädoyer für einen Austritt aus dieser verdreht. Es liegt nun an den Abgeordneten der Liberalen Demokraten, der Grünen, der Schottischen Nationalpartei (SNP) und der Walisischen Partei, sich zu entscheiden, ob sie ihr Feuer auf die Tories und deren Politik konzentrieren und dabei helfen wollen, so schnell wie möglich eine neuerliche Wahl und eine Labour-Regierung zu gewährleisten. Oder sie können sich entscheiden, beim nächsten Mal noch mehr Stimmen zu verlieren.

Die Aussichten sind günstig. Insbesondere der Zusammenbruch der Stimmabgabe für die rechtspopulistische UK Independence Party und die Rückkehr der aus der Arbeiterklasse stammenden Unterstützer zur Labour Party rechtfertigt Corbyns Beharren darauf, dass die Brexit-Entscheidung der Volksabstimmung vom 23. Juni des vergangenen Jahres respektiert und umgesetzt werden sollte. Seine prinzipielle Haltung war es, die die pro-EU-Fanatiker in der Labour-Fraktion erzürnte und eine zweite Wahl der Führungsriege der Partei – und einen zweiten überwältigenden Sieg für Corbyn als Parteichef nach sich zog. Etwa die Hälfte derjenigen, die beim letzten Mal für UKIP stimmten, wandte sich dieses Mal Labour und der Klassenpolitik zu. Rechnerisch macht dies mindestens die Hälfte des Zuwachses des Wahlergebnisses der Labour Party aus. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die Labour Party bei ihrer prinzipiellen Haltung für das Verlassen der Europäischen Union bei gleichzeitigem Schutz der Interessen der Arbeiter und ihrer Familien nicht nur in Großbritannien, sondern genauso in Europa und international bleibt.

Der Rückgang des Wahlergebnisses der Schottischen Nationalpartei bedeutet, dass ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in der näheren Zukunft unwahrscheinlich ist. Dies wird SNP-Chefin Nicola Sturgeon Zeit geben, dem Ergebnis des ersten Referendums vom September 2014 Respekt zu erweisen. Zweifellos war der Versuch der SNP, alle Unterstützer ihrer Partei und, darüber hinaus, der Schottischen Unabhängigkeit in das pro-EU-Lager einzupferchen, eine spektakuläre Fehleinschätzung. Die Labour Party kann ihre momentane Schwungkraft in Schottland beibehalten, indem sie den progressiven Föderalismus vollumfassend aufgreift und die Regionalisierung der ökonomischen Kraft der Nationen Großbritanniens mit ihrer eigenen radikalen Politik der Neuverteilung des Reichtums kombiniert.

Letztendlich hat sich das Beharren der Kommunistischen Partei darauf, dass alle linken und progressiven Wähler für Labour stimmen sollten, als korrekt erwiesen. In den meisten Fällen – auch in Wales, wo Labour die Tories vernichtend geschlagen hat, obwohl groteskerweise vor der Wahl behauptet wurde, dass die Waliser konservativ abstimmen würden – ist dies die Haltung gewesen, die Labour ermöglichte, Sitze zu gewinnen. Die britischen Kommunisten haben beständig die Position vertreten, dass Massenkampagnen, Aktionen am Arbeitsplatz und Klassenpolitik das Klassenbewusstsein der Menschen, ihr Selbstvertrauen und politisches Verständnis heben würden. Die Richtigkeit dieses Ansatzes wurde in zwei aufeinander folgenden Wahlen zur Bestimmung des Labour-Vorsitzenden und nun bei den Wahlen zum Unterhaus bewiesen. Dieselbe Perspektive wird weitere Fortschritte für Labour in der nächsten Wahl, die in der nächsten Zukunft notwendig werden wird, sobald Premierministerin Theresa May auf Verlangen des Volkes zurücktritt, bringen.

Übersetzung: Gerrit Brüning

Verfassungsreferendum in der Türkei

Pyrrhussieg Erdogans? Eine vorläufige Wahlnachtsanalyse

Murat Çakır

Staatspräsident Erdoğan scheint am Ziel angekommen zu sein. Mit 51,37 Prozent der gültigen Stimmen konnte er das Verfassungsreferendum am 16. April 2017 für sich entscheiden. Die Opposition unterlag mit 48,63 Prozent. Das sind vorläufige Zahlen, die von der Hohen Wahlkommission (YSK) genannt werden.

Das knappe Ergebnis wird sehr umstritten bleiben und uns weiter beschäftigen. Festzuhalten ist: Sowohl die Wahlbedingungen als auch das Ergebnis des Referendums sind nicht demokratisch legitimiert.[1] Noch während der laufenden Wahl hat die YSK auf Antrag eines AKP-Mitglieds einen Akt der Rechtsbeugung vorgenommen, indem sie Stimmzettel, die in ungestempelten Umschlägen vorlagen, zur Auszählung freigegeben hat. Das geltende Wahlgesetz schreibt vor, dass Stimmzettel nur in von Wahlvorständen der jeweiligen Wahllokale abgestempelten Umschlägen abgegeben werden dürfen. Damit soll sichergestellt werden, dass keine anderen als an den Wahlurnen ausgegebene Wahlunterlagen benutzt werden können. Wenn man bedenkt, dass zwischen den »Ja«- und »Nein«-Stimmen nur ein Unterschied von rund 1,3 Millionen Stimmen besteht und – nach Angaben von Oppositionsparteien und Wahlbeobachtern – 2,5 Millionen Stimmen (rund 5 Prozent aller Stimmen) in ungestempelten Wahlumschlägen als »gültig« anerkannt wurden, sind Aussagen über mögliche Wahlfälschungen sehr ernst zu nehmen. Bei dem sehr knappen Ergebnis könnten diese Stimmen ausschlaggebend gewesen sein.

Es ist nachträglich wohl nicht mehr feststellbar, wie viele solche Stimmzettel für gültig befunden wurden, da die vorgeschriebene Prozedur – eine Aussortierung ungestempelter Unterlagen – nicht eingehalten wurde und eine nachträgliche Stempelung stattgefunden haben könnte. Insofern ist von einer Neuauszählung keine Aufklärung zu erwarten. Eine Wiederholung der Wahl ist geboten. Vertreter der CHP und HDP haben zwar erklärt, dass sie das Ergebnis anfechten werden. Dass sie damit Erfolg haben werden, ist zweifelhaft, da der Einspruch bei der Behörde eingelegt wird, von der der Bruch des Wahlgesetzes ausgeht.

Zahlen und Fakten

Die Wahlbeteiligung von 84,7 Prozent ist hoch. Von rund 58,4 Millionen Wahlberechtigten haben rund 49,4 Millionen ihre Stimme abgegeben. Mit »Ja« haben 25.157.025 Personen (51,4 Prozent) und mit »Nein« haben 23.777.091 (48,6 Prozent) abgestimmt. Mit einer Mehrheit von rund 1,3 Millionen Stimmen (2,6 Prozent der abgegebenen Stimmen) wurde die Verfassungsänderung angenommen.

Wie sind diese Zahlen zu interpretieren? Es ist zu konstatieren, dass das Erdoğan-Lager trotz Ausnahmezustand und massiver Behinderung der Opposition an Zustimmung verloren hat. So betrug der Stimmenanteil der AKP und der MHP bei den Parlamentswahlen am 1. November 2015 zusammen 61,4 Prozent, während die CHP und die HDP 36,1 Prozent holen konnten. Obwohl die AKP neben der neofaschistischen MHP auch von der ultra-nationalistischen BBP und der islamistisch-kurdisch-nationalistischen HÜDA-PAR unterstützt wurde, sowie den gesamten Staatsapparat zu ihren Gunsten eingesetzt hat, ist es nicht gelungen, die Wähler*innen aus den vergangenen Wahlen zu mobilisieren.

Erstmals hat das Regierungslager in den Ballungsräumen Istanbul und Ankara ihre Mehrheit verloren. In den kurdischen Gebieten, insbesondere in den Städten, die in den letzten Monaten durch militärische Gewalt zerstört wurden, zeigt der hohe Anteil der »Nein«-Stimmen, dass die kurdischen Wähler*innen der Autokratie eine klare Absage erteilt haben. Demgegenüber hat die mittelanatolische Bevölkerung deutlich mit »Ja« gestimmt. Es existiert ein harter sunnitisch-konservativer Kern in der Mitte des Landes, der sich zu den Rändern hin auflöst. Womit der Schwund an Stimmen für das Regierungslager in den Metropolen zusammenhängt, kann so kurz nach der Wahl nicht beantwortet werden. Feststellungen, wonach die Spaltungslinien zwischen gebildeten und bildungsfernen Bürger*innen sowie zwischen Industrie- und Dienstleistungstandorten und ländlichen Gebieten verlaufen, müssen spekulativ bleiben. Jedenfalls wurde in 17 von 30 Großstädten mehrheitlich mit »Nein« gestimmt. Hier einige Beispiele:

Das Wahlverhalten von kurdischen Wäh­ler*­innen sowie der im Ausland lebenden Staatsbürger*innen sorgt unmittelbar nach der Wahl für Diskussionen. Haben sie den Ausschlag für das (anfechtbare) Ja gegeben? Voreilige Schlüsse sollten vermieden werden. Erstens sind von den insgesamt 2.957.870 Wahlberechtigten im Ausland nur 1.406.573 gültige Stimmen abgegeben worden. Das entspricht rund 2,8 Prozent der gesamten abgegebenen Stimmen. 831.208 haben mit »Ja« abgestimmt, was rund 3,3 Prozent der gesamten »Ja«-Stimmen entspricht und 575.365 haben mit »Nein« abgestimmt, was rund 2,4 Prozent der gesamten »Nein«-Stimmen ausmacht. Der Anteil der Ja-Stimmen ist zwar höher als im Inland, jedoch nicht so hoch, dass hieraus ein entscheidender Einfluss abgeleitet werden kann. Zweitens ist festzuhalten, dass die Stimmen aus den teils oder mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten insgesamt knapp 13 Prozent der gesamten abgegebenen Stimmen ausmachen. Die »Ja«-Stimmen aus diesen Gebieten machen insgesamt 14 Prozent der gesamten »Ja«-Stimmen aus. Die »Nein«-Stimmen entsprechen 12 Prozent der gesamten »Nein«-Stimmen. Trotz Zerstörungen, Ausgangssperren und Kolonialpraktiken hat die HDP ihre Hochburgen weitgehend verteidigen können. Leichte Stimmenverschiebungen sind zwar erklärungsbedürftig, aber nicht ausschlaggebend. Zudem soll die Mehrzahl der für gültig erklärten ungestempelten Wahlumschläge aus den kurdischen Gebieten stammen.[2]

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die YSK, indem sie eine unbekannte Anzahl an nach Gesetz ungültigen Stimmen kurzerhand für gültig erklärt hat, nicht nur die Legitimität der Wahlen unterhöhlt hat. Sie hat bei dem sehr knappen Ergebnis es auch verunmöglicht, das Wahlverhalten einzelner Gruppen in ein aussagekräftiges Verhältnis zum Endergebnis zu setzen.

Pyrrhussieg? – Gewählt ist gewählt

Aufgrund der Tatsache, dass die Hälfte der Bevölkerung das Präsidialsystem abgelehnt hat und Erdoğan keine klare Zustimmung erhalten konnte, sprechen einige Kommentatoren von einem »Pyrrhussieg« Erdoğans. Es ist schon zutreffend, dass ein solch knappes Ergebnis es schwieriger für Erdoğan machen wird, die Koalitionen im Staatsapparat aufrechtzuerhalten.

Doch das bedeutet nicht, dass Erdoğan und die AKP nicht in der Lage sein werden, auch diese Situation zu überstehen. Erdoğan hat längst den Sieg verkündet und ein neues Referendum über die Einführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. Er wird weiter polarisieren und alle Möglichkeiten für die Sicherung der Machtverhältnisse nutzen.

Die Regierung hat bereits den Ausnahmezustand verlängert. Die Erfahrungen aus den 15 Regierungsjahren der AKP zeigen, dass die Partei sehr flexibel agieren und auf Rückschläge mit Strategieänderungen reagieren kann. So war sie in der Lage, den gescheiterten Putschversuch für die Konsolidierung ihrer Macht auszunutzen und die Absicherungserwartungen ihrer nationalistischen Koalitionspartner in der Staatsbürokratie zugunsten des Präsidialsystems zu instrumentalisieren.

Insofern wäre es viel zu verfrüht, das Ergebnis des Referendums als einen »Pyrrhussieg« zu bezeichnen. Auch wenn das Ergebnis knapp und höchst umstritten ist: Gewählt ist gewählt! Die de facto Autokratie ist jetzt verfassungsrechtlich verankert. Als Regierungs- und zukünftiger Parteichef wird Erdoğan ein Rollback nicht zulassen. Jetzt beginnt eine Phase von Gesetzänderungen. Viele Gesetze müssen den veränderten Verfassungsartikeln angepasst werden. Die Erklärungen Erdoğans und seiner Parteifreunde machen deutlich: Jetzt beginnen die dunklen Monate, gar Jahre einer neuen Willkürherrschaft.

Und die Opposition?

Die Frage ist, was macht die Opposition? Wird sie den Übergang begleiten oder das Wahlergebnis, das unter antidemokratischen Umständen zustande gekommen ist und mit dem gleichzeitig offengelegt wurde, dass die Unterstützung für das Regierungslager geschrumpft ist, konsequent anfechten? Selbst wenn die CHP sich entschließen würde, das Ergebnis des Referendums nicht zu akzeptieren, wird sie, solange sie ihre Anhänger*innen nicht auf die Straße mobilisiert und nur mit juristischen Mitteln »Widerstand« leistet, die Installation des autokratischen Präsidialsystems nicht verhindern können. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass die CHP mit parteiinternen Machtkämpfen beschäftigt sein wird. Proteste und Rücktrittsforderungen nach der Pressekonferenz des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu in der Parteizentrale deuten auf eine schwere Auseinandersetzung.

Das einzige, was eine Ära der Willkürherrschaft verhindern könnte, wäre der Widerstand einer breiten gesellschaftlichen Opposition. Das knappe Ergebnis könnte als eine Chance für den Aufbau einer breiteren Front gesehen werden. Die Tatsache, dass tausende Menschen in den Großstädten trotz der weitverbreiteten Angst vor Terroranschlägen und Polizeigewalt gegen die Rechtsbeugung der YSK protestierten, weist auf ein Potential hin. Doch muss dieses Potential aktiviert und mit einer Strategie unterlegt werden, damit es nicht im Sande verläuft. Die oppositionellen Kräfte konnten bis jetzt keine solche Strategien aufweisen, mit denen sie die Krisenhaftigkeit des Regimes, die sich bei den Gezi-Protesten, der verlorenen Wahl vom 7. Juni 2015 aber auch dem Putschversuch 2016 einstellte, vertiefen konnten. Während des Wahlkampfes konzentrierten sich alle Kräfte auf ein »Nein«, ohne eine Perspektive für die Zeit nach dem Referendum aufzuweisen. Angesichts dessen, dass vor dem Referendum massenhaft über Wahlmanipulationen spekuliert wurde, überrascht die Unentschlossenheit der Opposition jetzt, wo ein Gesetzesbruch vorliegt.

Sicherlich ist es nicht einfach, in einer Konstellation, in der keine einheitliche »Nein«-Front existiert, sich auf eine gemeinsame Strategie und Perspektiven zu verständigen. Das »Nein«-Lager bestand auf dem einen Pol aus Kemalisten und (säkularen) Ultra-Nationalisten, auf dem anderen Pol standen links-sozialistische Kräfte sowie die kurdische Befreiungsbewegung. Dazwischen standen andere säkulare und demokratische Kräfte, auch Konservative, die von dem Präsidialsystem nicht überzeugt sind. Dies ist eine Sammlung von Kräften, die sich traditionell gegenseitig bekämpfen. Die Frage ist, ob der kleinste gemeinsame Nenner dieser Sammlung – inzwischen ist das nicht mehr der Erhalt, sondern die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie – ausreicht, um Feindschaften zu überwinden.

Eine taktische Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Gruppen, die das »Nein«-Lager bildeten, erscheint als einzige realistische Option, aus der dünnen bis schwindenden Mehrheit für das Regime eine Krise zu erzeugen und schrittweise Konzessionen zu erzwingen. Einer zersplitterten Opposition wird es aber nicht gelingen, selbst einem angeschlagenen Erdoğan die Stirn zu bieten, zumal der Weg einer Eskalation der Gewalt durch das Regime jederzeit offen steht.

Die handzahme Pressekonferenz des CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu nach der umstrittenen Wahlentscheidung der YSK lässt befürchten, dass von der größten Oppositionspartei CHP keine positiven Impulse für eine gemeinsame Strategie ausgehen werden. Die Frage, warum diejenigen Kräfte innerhalb der CHP, die mit der Linie der Parteiführung schon lange unzufrieden sind, keine Initiative ergreifen, steht im Raum. Auch die Abtrünnigen der MHP scheinen sich untereinander nicht einig zu sein, so dass zu erwarten ist, dass sie keine Alternative zur Linie der MHP-Führung bilden können, die mit der AKP paktiert.

So bleibt es den zahlenmäßig schwächsten Gliedern im Nein-Lager – den linken Kräften der Türkei – und der kurdischen Befreiungsbewegung überlassen, das Potential zu nutzen. Die linken und demokratischen Kräfte in der Türkei und in Kurdistan werden auf die internationalistische Solidarität aus Europa mehr denn je angewiesen sein. Nach dem Referendum wird es besonders wichtig sein, gegenüber dem bürgerlichen Lager im eigenen Land darauf zu bestehen, dass dieses Regime sowohl diktatorisch ist, als auch nicht mehr durch demokratische Wahlen legitimiert ist.

[1] Murat Çakır, Vor dem Verfassungsreferendum: Erdogans »totaler Krieg« und das deutsche Kapital, in: Infobrief Türkei.

[2] http://t24.com.tr/haber/akamin-sahibi-en-cok-muhursuz-oy-dogu-ve-guneydoguda-tamamindan-evet-ciktigi-bilgisi-var,399560

Die Blockade von Leningrad, Schostakowitsch und die Revision der Geschichte

Jenny Farrell

Der kalte Krieg gegen Russland – ehemals Sowjetunion – geht weiter. Dazu gehört auch die Entsorgung der zahlreichen Gräueltaten aus dem öffentlichen Bewusstsein, die Nazi-Deutschland an der sowjetischen Bevölkerung beging, sowie der heldenhaften Rolle dieses Volkes bei der Zerschlagung des Faschismus.

Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion und begann einen Völkermord, dem über 25 Millionen Russen zum Opfer fielen – die Hälfte der Toten des Zweiten Weltkrieges. Eines der grausamsten deutschen Verbrechen war die Blockade von Leningrad: Fast 900 Tage lang, vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944, wurde die Stadt eingekesselt, von allem Lebensnotwendigen abgeschnitten und ihre Einwohner systematisch in den Hungertod getrieben. Über eine Million Leningrader starben.

Begeben wir uns in unsere eigene Zeit: Im April 2017 findet in St. Petersburg – ehemals Leningrad – ein tödlicher Terroranschlag (von Gruppen statt von Staaten ausgeführt) statt. Nach ähnlichen Anschlägen in westeuropäischen Städten wurde die Nationalflagge des betroffenen Landes auf das Brandenburger Tor projiziert. Als Ausdruck der Solidarität. Jedoch nicht dieses Mal, weil St. Petersburg keine »besondere Beziehung« zu Berlin habe, wie der in Westberlin aufgewachsene Bürgermeister behauptete.[1]

Der Blockade von Leningrad wurde nicht nur in Büchern, sondern auch in der Musik gedacht. Der damals in Leningrad lebende Sohn der Stadt, Dmitri Schostakowitsch, nahm sofort nach dem faschistischen Überfall die Arbeit an einer Sinfonie auf, um seinen Gedanken über das Leben des sowjetischen Volkes musikalischen Ausdruck zu geben, wie auch seinem Glauben an die Fähigkeit seines Volkes, die Faschisten zu besiegen. Diese siebte Sinfonie wurde unter dem Namen ›Leningrader‹ weltbekannt.

Die Sinfonie hat vier Sätze. Der erste hat den Titel ›Krieg‹ und beginnt lyrisch, ein friedliches Leben in der UdSSR vor der faschistischen Invasion beschreibend. Eine Solovioline wird durch eine ferne Trommel und das »Invasionsthema« unterbrochen, das zwölfmal mit anwachsender Zahl von Instrumenten wiederholt wird, die immer lauter und schriller werden und ein tiefes Gefühl von Unbehagen schaffen. Militärischer Trommelklang durchsetzt diesen Abschnitt, der in einem Schrei von Schmerz und Entsetzen endet. Eine ruhigere Passage folgt – eine Soloflöte, dann ein Fagott, die Toten betrauernd. Die Begleitung ist zersplittert, wie die zerbrochenen Menschen, die sie beklagt. Dissonanzen dominieren.

Im zweiten Satz, ›Erinnerung‹, ändert sich die Stimmung in der Rückblende an glücklichere Zeiten, man hört Tanzmelodien, obgleich auch Traurigkeit mitschwingt.

Die Musik des dritten Satzes – ›Heimatliche Weiten‹ – bejaht das Heldentum des Volkes, seinen Humanismus und die große Naturschönheit Russlands. Der Satz kann als Dialog zwischen dem Choral, der trostspendenden Heimat, und der Solostimme, den Violinen, dem Einzelnen in seiner Qual verstanden werden. Sowohl der zweite als auch der dritte Satz drücken Schostakowitschs Überzeugung aus, dass dieser Krieg nicht die Empfänglichkeit für kulturelle Werte zerstört.[2]

Über den letzten Satz, ›Sieg‹, sagte Schostakowitsch: »Meine Vorstellung des Sieges ist nicht etwas Brutales; es ist besser erklärt als der Sieg des Lichts über die Dunkelheit, der Menschlichkeit über die Barbarei, der Vernunft über die Reaktion.«[3] Der Satz beginnt mit der musikalischen Beschreibung arbeitender Menschen in Friedenszeiten, voller Hoffnung und Glück, als sie von den Trommeln und Geschossen des Krieges überwältigt werden. Die Musik marschiert, kämpft und widersteht. Der Sieg wird nicht mühelos errungen. Schostakowitsch beginnt mit einer Paukenrolle, die den langsamen dritten Satz beendet hat und fügt allmählich weitere Stimmen hinzu. Langsam bewegt sich die Musik mit Blechbläser-Fanfaren und Paukenschlägen auf ihren Höhepunkt zu. Sie erzwingt ihren Weg in ein helles C-Dur – der aufstrebenden Tonart des Sieges. Doch in den letzten Klängen dieser großartigen Tonart schwingen auch traurige Töne mit. In voller Anerkennung der Wirklichkeit, dem unvorstellbaren Leid des Krieges, kann die Sinfonie nicht in einfachem Triumph enden.

Schostakowitsch komponierte den größten Teil der Sinfonie in Leningrad während der Belagerung. Trotz seiner Einwände evakuierte die sowjetische Regierung die Schostakowitsch-Familie gemeinsam mit anderen Künstlern nach mehreren Monate der Blockade. Die Leningrader wurde am 9. August 1942 in der verhungernden Stadt aufgeführt. Die Partitur wurde über die feindlichen Linien in die Stadt geflogen. Das Orchester bestand nur noch aus 15 Musikern, weitere mussten von der Front geholt werden.

Galina Lelyukhina, Klarinettenspielerin bei dieser historischen Aufführung, erinnert sich an die Proben: »Im Radio wurde angesagt, dass alle lebenden Musiker aufgerufen waren. Es war schwer zu laufen. Ich litt an Skorbut, und meine Beine taten sehr weh. Zuerst gab es nur neun von uns, aber dann kamen mehr Leute. Der Dirigent Eliasberg wurde auf einem Schlitten gebracht, so hatte der Hunger ihn geschwächt.«[4]

Am 9. August 1942 war der Saal überfüllt, Fenster und Türen standen offen, damit die draußen Versammelten auch hören konnten. Die Musik wurde auf die Straßen und an die Fronten übertragen, um dem ganzen Volk Mut zu machen. Die Rote Armee vereitelte deutsche Pläne, die Aufführung zu stören, indem sie den Feind zuvor beschoss, um die zwei Stunden Feuerstille zu gewährleisten, die für das Konzert benötigt wurden.

Eine Blockade-Überlebende, Irina Skripacheva, erinnert sich: »Diese Sinfonie machte einen großen Eindruck auf uns. Die Musik erregte ein Gefühl der Erhabenheit, eines Fluges … Gleichzeitig konnten wir den furchterregenden Rhythmus der deutschen Horden spüren. Es war unvergesslich und überwältigend.«[5]

Fünfundsiebzig Jahre später bereiten sich NATO-Truppen und -Panzer (einschließlich deutscher) an der russischen Westgrenze auf den Krieg vor.

Die Leningrader ist auf youtube zu finden.

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/308458.macht-das-licht-an.html

[2] Hrsg. v. Laurel E. Fay, Shostakovich and his World, Princeton University Press, 2004, S. 66.

[3] Ebd.

[4] https://www.rt.com/news/seventh-simphony-inspiration-leningrad/

[5] Ebd.