Cover

Über dieses Buch:

Als Jane ihrem Mann in den Dschungel gefolgt ist, glaubte sie an die große Liebe. Doch die Jahre in der Wildnis haben einen hohen Preis gefordert. Von der magischen Zeit, die sie Seite an Seite  unter dem grünen Palmenhimmel verbracht haben, ist kaum noch etwas geblieben. Ihr Mann ist ihr fremd geworden, von Tag zu Tag beginnt er, sich seltsamer zu verhalten. Aber kann man einen Menschen, für den man alles aufgegeben hat, so einfach verlassen?

Über die Autorin:

Cecilia Bornäs (1968–2012) war eine schwedische Autorin, Journalistin und Literaturkritikerin. In Lund in Südschweden geboren, arbeitete Cecilia Bornäs für den schwedischen Rundfunk und verschiedene Zeitungen. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. 

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eBook-Neuausgabe Januar 2018

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 1999 by Cecilia Bornäs

Die schwedische Originalausgabe erschien  unter dem Titel Jag, Jane bei Norstedts Förlag, Stockholm.

Copyright © der Originalausgabe 2002 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildabbildung: HildenDesign, München © HildenDesign unter Verwendung von Motiven von Visual Language Library und  Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (er)

ISBN 978-3-96148-117-0

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Cecilia Bornäs

Ich, Jane

Roman

Aus dem Schwedischen
von Susanne Dahmann

dotbooks.

FÜR WILLY

Kapitel 1
DER DSCHUNGEL

Vor langer Zeit einmal fragte ich Jean, wie er den Dschungel beschreiben würde. Es war der Tag, an dem wir heirateten, und wir waren überzeugt, dass unser Glück ewig währen würde. Wir waren auf genau den großen Baum hinaufgeklettert, den Jean zu unserem Hochzeitsbett ausgewählt hatte, und dort saßen wir einige Zeit eng umschlungen und flüsterten miteinander. Wenn wir hinuntersahen, konnten wir Numa sehen, die Löwin, die uns anglotzte und gern zum Mittag verspeist hätte, und wenn wir in die Ferne schauten, sahen wir durch die Äste hindurch das kleine Dampfschiff, das darauf wartete, uns in die Zivilisation mitzunehmen. Die Entfernung zum Fluss war so weit, dass wir nicht ausmachen konnten, ob jemand auf Deck stand. Vielleicht hatten sich dort alle ein wenig hingelegt.

Es dauerte eine Weile, bis Jean antwortete. Dann sagte er nachdenklich, dass sich der Dschungel ständig verändere und für ihn so heimisch sei, dass er ihn eigentlich nicht beschreiben könne. »Der Dschungel ist ein Zuhause, doch er ist ein Zuhause ohne jede Sicherheit«, sagte er. »Stell dir vor, du lebst in deinem großen Elternhaus in Baltimore, ohne dich jemals irgendwo ausruhen zu können. Jederzeit kann im Wohnzimmer ein neuer Sessel aus dem Boden wachsen und jederzeit kann die nette alte Köchin auf die Idee kommen, dass dein Arm ein wunderbarer Sonntagsbraten wäre. So ungefähr würde ich den Dschungel beschreiben.«

Das war für Jeans Verhältnisse eine lange und wohl überlegte Antwort, doch schon damals ahnte ich, dass ihr etwas fehlte. Ich begriff, dass die fehlende Sicherheit nur ein Aspekt des Dschungels war, dass er eigentlich mehr bedeutete als Köchinnen, die es auf deinen Arm abgesehen haben. Und ich hatte natürlich Recht.

Dann zog Jean mich aus. Wie erstaunt und erleichtert war ich über seine Gelassenheit! Er war für mich durch Feuer und Wasser gegangen, doch als wir uns endlich ohne jede Bedrohung – sieht man einmal von der hungrigen Löwin ab – lieben konnten, war er weniger leidenschaftlich, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war, als halte ihn etwas zurück, etwas, das mir nicht Gleichgültigkeit zu sein schien.

Damals bildete ich mir ein, seine Art rühre vom Dschungel her, der auf ihn dieselbe Wirkung hatte wie auf mich. Eine Umgebung, die auf diese Weise wächst, blüht, verfault und wieder wächst, muss einen Menschen früher oder später enthaltsam machen. Ich bemühe mich ständig darum, nicht eins mit dem Dschungel zu werden, mir seinen Rhythmus nicht aufdrängen zu lassen. Das ist notwendig, wenn ich es hier aushalten will.

Vielleicht ist es im Laufe der Jahre sogar immer wichtiger geworden. Doch rückt der Tag näher, an dem ich endgültig ein Festmahl für Pilze und Bakterien sein werde. Das ist natürlich ungerecht. Der Dschungel erkennt eben keine Grenzen an. Alle warten nur darauf, einander aufzufressen oder im Fleisch des anderen Wurzeln zu schlagen. Ich will nicht zu dieser brutalen Gesellschaft gehören!

Noch immer habe ich den verstümmelten Elefantenkörper auf jener Lichtung vor Augen. Er lag dort wie eine aufgerissene braune Papiertüte und wartete darauf, ausgehöhlt und zu nichts zu werden.

Ich hatte bis dahin nicht geglaubt, dass etwas so Mächtiges aufgelöst und von Zähnen und Verrottung besiegt werden könnte. Die Löwen und die Hyänen hatten sich schon längst ihren Teil genommen und im Fleisch, das noch übrig war, krochen unendlich viele Würmer.

Ich erinnere mich, dass Jean damals gierig dorthin schaute, ehe er schuldbewusst den Blick abwandte. Heute würde ihn nichts mehr aufhalten.

Die Gerüche im Dschungel sind glücklicherweise anders als die, die der Elefant ausströmte. Sie sind nicht so direkt, fast stechend, sondern eher allgegenwärtig wie englischer Nieselregen. Sie schließen Leben und Tod ein, Verfall und Wachstum. Doch ich kann keinen Trost in diesem Wachstum finden, denn das, was eines Tages in mir Wurzeln schlagen wird, werde nicht ich selbst sein.

Um die Gerüche loszuwerden, muss ich mich nach hoch oben in die Baumkronen begeben. Wenn ich nur so gut klettern könnte wie Jean!

Injektionswettrennen. Es ist, als steckten die Insekten mit den Gerüchen unter einer Decke. Sie stechen absichtlich Löcher in meine Haut, um mich bei lebendigem Leib aufzufressen. Wie viele Bisse habe ich schon bekommen, seit ich hier im Dschungel wohne? Ich weiß nur, dass ich schon Generationen von geflügelten Insekten ernährt habe.

Ich habe mich immer gefragt, welche von all diesen verdammten Fliegen mir den Schüttelfrost gebracht hat. Die hätte ich gern zwischen den Fingernägeln zerdrückt. Doch sicher hat sie es schon geschafft zu sterben, zu verrotten und irgendeine Blume zu düngen. Sie hat sicher Tausende und Abertausende ansteckender Nachkommen produziert. Nicht einmal das hat der Dschungel zu bieten! Man kann die Schuld nicht auf ein einzelnes Individuum oder ein einzelnes Wesen schieben. Alle sind Teil von allem.

Ich wünschte, man ließe wenigstens meine Aufzeichnungen in Ruhe. Sowie ich einen Bogen Papier beschrieben habe, stürzt sich der Schimmel sogleich darauf, um ihn wieder dem Dschungel einzuverleiben. Ich habe schon alles versucht, doch es sind schon viel zu viele Worte verschwunden.

Vielleicht kann ich Jean bitten, hinaufzuklettern und meine Papiere, wenn schönes Wetter ist, an der obersten Wäscheleine zu befestigen, damit sie wenigstens ab und zu die Chance haben, etwas zu trocknen. Das könnte sie retten. Wenn er sich irgendwann mal bequemen wird, nach Hause zu kommen. Natürlich wird er über mich lachen, aber das ist mir egal. Ich würde so gern irgendetwas von mir hinterlassen.

Jean macht sich gar keine Gedanken über so etwas. Er macht sich überhaupt viel zu wenig Gedanken. Wie soll ich ihm begreiflich machen, dass seine Muskeln jetzt bereits anfangen zu verkümmern und dass sie eines Tages keine Chance gegen mikroskopisch kleine Tiere haben werden? Er lächelt immer, wenn ich ihn daran erinnere. Er zeigt dann seine weißen, breiten Zähne und sieht wirklich so aus, als sei das ein absurder Gedanke.

Der Schatz der Kavandavanda hat jedenfalls schon seine Untauglichkeit bewiesen. Die Pillen, die uns auf ewig jung halten sollten, haben nicht verhindert, dass sich die Falten um unsere Augen sammeln, und ich weiß, dass sie auch weiße Haarsträhnen und Gicht nicht werden abwenden können.

Um Haaresbreite wäre ich selbst eine solche Pille geworden. Von allem war ich nur eine Haaresbreite entfernt und eines Tages wird Jean mir nicht mehr aus der Klemme helfen können. Die Frage ist inzwischen, ob er mich noch aus Liebe rettet oder nur noch aus Gewohnheit. Ich schließe die Augen und lausche. Es ist fast anrührend, wie die Tiere sich bemühen, in diesem Meer der Vegetation gehört zu werden. Das Knarren, das Klagen, das nadelstichfeine Piepen. Ein kleiner grauer Vogel klingt ganz genau so wie die gellenden Pfiffe der Hafenarbeiter in Baltimore. Manchmal denke ich an all die Laute, die meine Ohren schon gar nicht mehr aufnehmen, und dann bin ich sehr dankbar. Es ist gut, dass meine Ohren mich ein wenig schützen.

Was hätte ich nicht schon alles hören müssen, wenn sie schonungslos wären! Eine Komposition aus Paarungsrufen, Todesschreien, das Kauen, das Rülpsen, das Summen und das Schnüffeln. Ich hätte das Lachen der Affen gehört. Jeden einzelnen ihrer verabscheuungswürdigen, ätzenden Lacher.

Ich singe nicht mehr, obwohl ich früher einmal eine viel gerühmte Stimme hatte. Jetzt, da Bébé uns verlassen hat, ist niemand mehr da, der zuhören würde. Jean hat das mit dem Gesang nie richtig verstanden. Er kann alle Geräusche des Dschungels nachahmen, aber nicht die einfachsten Melodien formen.

Jean hat mir beigebracht, wie die Tiere heißen. Ich nehme nicht gern seine Kindersprache in den Mund, aber in gewisser Weise ist es zufriedenstellend, alle Geräusche und Formen, die uns umgeben, benennen zu können.

Einmal fragte ich Jean, ob die Tiere ihre eigenen Laute nicht irgendwann einmal leid seien. »Bist du denn deine leid?«, fragte er in diesem ärgerlichen Tonfall und verschwand wie gewöhnlich oben in den Bäumen.

Vielleicht wäre ich sie ja leid geworden, wenn ich sie nur öfter hätte anwenden können. Diese Unausgewogenheit zwischen Zuhören und Sprechen macht mich fertig. Meine Ohren schonen mich, dennoch lassen sie so viel mehr hinein, als durch den Mund wieder herauskommen kann.

Nicht einmal das Schreiben kann diese aufgezwungene Schweigsamkeit richtig ausgleichen. Ich wünschte, ich hätte einen Mann, der sich die Mühe machen würde, zu sprechen. Jean hat das mit der Konversation nie richtig gelernt. Es ist, als meine er wirklich das, was er sagt, und als sehe er mein Sprechen als ein Geräusch, zu dem er sich genauso verhält wie zu Vogelgesang.

Er spricht meine Sprache, aber er hat nie erzählt, wer sein Lehrer war. Erinnert er sich nicht daran? Weiß er nicht, wo er herkommt?

Tiergeräusche sind Alltagsgeräusche. Immer öfter höre ich auch etwas, das mich an Axthiebe in großer Entfernung erinnert. Aber dieser Dschungel kann nicht kleiner werden. Er ist beängstigend groß. Kein Kartenzeichner ahnt, dass er riesige Taschen mit anderen Welten enthält und dass irgendwo Urtiere wohnen, die viel Spaß am Leben haben.

Keiner weiß, wie der Dschungel aussieht. Man kann immer gerade so eine Lichtung erkennen. Ich sah ihn das erste Mal vom Fluss aus, also gleichsam von außen. Mehrere Wochen lang war er nichts als eine Mauer um mich herum zu beiden Seiten gewesen, eine Wandmalerei, auf der man die Augen ruhen lassen konnte, wenn die Blicke der Besatzung allzu aufdringlich wurden. Doch plötzlich sah ich, dass wir ein Teil davon geworden waren, dass sich die Äste nach uns ausstreckten. Ich wusste nicht, ob dieser wuchernde Urwald, der dabei war, uns zu verschlingen, meine Rettung oder mein Untergang sein würde. Und ich wusste ebenso wenig, dass ich auf diese Frage niemals eine Antwort erhalten würde.

Aber jetzt weiß ich andere Dinge. Ich weiß, dass die Lianen morgens rutschig sind, ich weiß, dass eine seidig schimmernde Blüte Fliegen verschlucken kann, und ich weiß, dass eine Äffin ein Menschenkind annehmen kann.

Ich glaube, Jean hat den Dschungel von innen gesehen, ehe er ihn von außen sehen durfte. Er hat sich nie dazu verleiten lassen zu glauben, dass er gut zu handhaben und überschaubar sein könnte. Wie oft hat er nicht über die Menschen gelacht, die hierhergekommen sind und sich eingebildet haben, man müsse einfach nur wieder hinausgehen und vergessen, dass man hier war. Wie oft hat er nicht in den ersten Jahren über mich gelacht.

Sogar dem Vorstellungsvermögen fällt es schwer, aus diesem stickigen Wald hinaus zu gelangen. Es ist, als gäbe es nichts anderes, als sei alles feuchter Dschungel. Ich versuche mich zu erinnern, wie es sich anfühlt, auf einer Straße in der Stadt entlangzugehen. Die grauen Schattierungen, die sauberen Wege ohne heruntergefallene Äste und tote Vögel, die freie Sicht bis zum Himmel hinauf, die sich begegnenden Menschen, die so zahlreich sind, dass man sie nicht alle anschauen kann, die Restaurants, wo man Mahlzeiten kaufen kann, ohne sie erst jagen zu müssen. Und dann der sanfte Regen, der nur gerade so stark ist, dass er einen angenehmen Geruch hinterlässt. Ob Bébé auf einer solchen Straße entlanggeht? Das scheint allzu seltsam, allzu unfassbar. Er ist der Einzige, der es geschafft hat, hier herauszukommen. Jedenfalls bin ich sicher, dass er mich jetzt verstehen wird. Er weiß, warum ich so handeln musste.

Vielleicht geht er neben einer Frau her, die klappernde Absätze trägt. Vielleicht hallt das Geräusch an den Hauswänden hoch, so dass die Vorbeigehenden aufschauen und sie ansehen müssen. In der Stadt sollte man eine Frau hören, wenn sie vorbeigeht. Sie sollte die Absätze ohne zu zögern fest auf den Boden setzen und den Eindruck erwecken, als wisse sie, wohin sie geht.

Meine Stadtschuhe liegen in den Resten meines Schrankkoffers. Obwohl ich sie regelmäßig mit Elefantenfett eingeschmiert habe, um die Feuchtigkeit abzuhalten, fallen sie auseinander. Wahrscheinlich ist es ohnehin schon zu spät. Meine Füße haben sich schon längst daran gewöhnt, nackt zu sein, und als ich die Schuhe das letzte Mal anprobierte, litt ich mehr, als ich Jean gegenüber zugeben mochte. Im Dschungel darf eine Frau, wenn sie geht, niemals ein Geräusch von sich geben. Sie muss den Boden absuchen, um sicherzugehen, dass sie nicht einmal auf einen brüchigen Ast tritt. Sie muss aufpassen, dass das Gestrüpp, das sie berührt, nicht zu der Sorte gehört, die raschelt, sondern nachgiebig genug ist, um ihr zu erlauben, unbemerkt daran vorbeizugehen. Sie muss die Gefahren hören, ehe sie selbst gehört wird.

Früher glaubte ich, auch die Stadt könne gefährlich sein. Aber da habe ich mich getäuscht. Das Gefährlichste an der Stadt ist, dass man glaubt, dort immer sicher zu sein; deshalb kommen alle Gefahren überraschend. Im Dschungel hingegen kann man es sich nicht leisten, überrascht zu werden. Ich glaube nicht, dass auf meinen Beinen noch mehr Narben Platz haben.

Dutzendweise Ängste. Ich könnte wirklich ein Dutzend Dinge aufzählen, vor denen ich Angst haben muss. Ich bin Expertin für alle diese Ängste. Die Angst zu sterben habe ich schon so oft gespürt, dass ich sie fast gezähmt habe, sie ist mir selbstverständlich, auch wenn sie immer Angst bleiben wird.

Wenn ich möchte, kann ich spüren, wie sich die Kälte in meinem Körper ausbreitet. Es ist ganz so, als bereite sich der Körper, noch bevor das Herz aufgehört hat zu schlagen, darauf vor, kalt zu werden. Und obwohl mein Herz bisher noch die Erlaubnis bekommen hat, weiterzuschlagen, weiß ich doch, dass die Angst zu sterben nie vergebens kommt. Am Ende wird sie begründet sein.

Als ich noch jünger war, sah ich diese Dinge anders. Da dachte ich jedes Mal, wenn Jean sich an seine Liane gehängt und mich in letzter Minute von Numas Maul weggezerrt hatte, dass es einen tiefen Grund für meine Rettung gäbe, dass das vorherbestimmt und notwendig für die Geschichte sei. Ich sollte eigentlich über meine Anmaßung lächeln, doch es ist mir mehr nach Weinen zumute, weil ich nicht mehr so denke.

Inzwischen kenne ich das Gesetz des Dschungels, so weit man es kennen kann. Wenn es in erster Linie die Stärksten bevorzugen würde, dann hätte ich nicht lange überlebt. Wenn es nur die Wachsamsten bevorzugen würde, diejenigen, die niemals gedankenlos einen Schritt unternehmen, dann wäre ich schon längst ein Haufen Erde. Das Gesetz des Dschungels ist wie Spielregeln. Nur Jean spielt mit gezinkten Karten und ich hatte das Glück, diese oft von ihm ausleihen zu dürfen.

Und doch bin ich oft nur um Haaresbreite dem Tod entkommen. Es ist seltsam, dass die Bewohner des Dschungels, der eine Ewigkeit besteht und ewig weiter existieren wird, sich ständig der Bedeutung der allerkleinsten Zeiträume bewusst sein müssen.

Die Angst, den Verstand zu verlieren, habe ich nie bezwingen können. Aber vielleicht ist es ja längst geschehen. Manchmal, wenn ich nachts aufwache und nichts sehe als Dunkelheit, dann bin ich mir fast sicher. Aber natürlich gibt es hier niemanden, der einen Wahnsinn diagnostizieren könnte. Jean würde das nur als eine weitere Variante zivilisierten Benehmens ansehen, eine, die ich zufällig bisher noch nicht an den Tag gelegt habe. Er ist Überraschungen gewohnt.

Die wirklich tiefe Angst ist von Jahr zu Jahr größer geworden. Anfangs wusste ich nicht einmal, dass es einen Grund für eine solche Angst gab. Heute überschattet sie alles und mich dazu, ununterbrochen, in Licht und Dunkelheit. Ich habe Angst vor dem Unausweichlichen: dass ich niemals aus dem Dschungel herausfinden werde.

Mein Schoß sei wie der Dschungel, pflegte Jean in unserer glücklichen Zeit zu sagen. Er sagte, er sei zugewachsen und feucht und es sei unmöglich, wieder herauszukommen, wenn man einmal den Weg hinein gefunden habe. Ich weiß, dass er ein wenig erstaunt war, als er mich zum ersten Mal nackt sah. Er hatte gedacht, dass ich in meinem Schoß ebenso glattes Haar haben würde wie auf meinem Körper oder dass er zumindest von denselben Wellen bedeckt wäre wie mein Kopf und nicht von einem ungeordneten schwarzbraunen Gestrüpp.

Ich weiß nicht, ob Jean Recht hat damit, dass mein Schoß dem Dschungel gleicht. Ihm, der sein ganzes Leben hier verbracht hat, fehlt es natürlich an Vergleichsmöglichkeiten.

Dennoch scheint er seine Meinung geändert zu haben. Denn offenbar konnte man doch wieder herauskommen.

Ich frage mich, wo er wohl ist. Den ganzen Tag lang suche ich die Baumkronen ab. Früher fiel er wie eine reife Frucht herunter, wenn es Zeit zum Abendessen war, doch heute kann ich nur noch mit den Fliegen rechnen. Die haben das Eichhörnchensteak schon längst verschlungen.

An meinem Mittagstisch sollten eigentlich drei Personen sitzen. Wir wären zu dritt, wenn alles so wäre, wie es sein sollte. Wie es sein sollte? Gibt es in diesem Dschungel etwas, was so ist, wie es sein sollte?

Die Bäume, die um unseren Bungalow herum stehen, kenne ich in- und auswendig. Jeden Ast kenne ich und jedes Blatt. Ich habe zugeschaut, wie sie wuchsen. Im Dschungel wächst alles schnell. Manchmal, wenn ich auf der Veranda liege und nach Jean Ausschau halte, entdecke ich in den Baumkronen Formen. Das ist genau so wie damals, als ich klein war und im Garten in Baltimore lag und in die Wolken schaute. Doch hier im Dschungel gibt es keine Wolken, sondern nur den ewigen Regen, der aus ihnen herabfällt.

Die Formen in den Baumkronen verwischen, sie sind halb aufgelöst. Manchmal kann ich sie nur im Augenwinkel sehen. Fast immer stellen sie Gesichter dar.

Wenn die Bäume Augen hätten, könnten sie die Wolken anschauen. Egoistisch drängeln sie sich ans Licht und verbannen dadurch uns andere in ständiges Halbdunkel. Wer hier unten lebt, kann niemals sagen, wo oben und wo unten ist, was Himmel und was Erde ist. Der einzige Unterschied ist, dass das Laub über unseren Köpfen frischer und grüner ist als das, was wir unter den Füßen haben. Die Sonne zeigt sich hier unten nur indirekt. Sie spendet Wärme, aber kein Licht. Früher nahm Jean mich mit hinauf in die Baumkronen, damit ich den Himmel zu sehen bekam, und wir saßen stundenlang dort oben und ließen uns in der Sonne braten. Er hielt mich fest um die Mitte umschlungen, damit ich nicht herunterfiel. Meine Haut verbrannte zwar, doch es war, als müsse ich mich dem Überfluss an Licht aussetzen, um wieder ins Dunkle hinabsteigen zu können.

Inzwischen mag ich das Dunkel. Meine Augen haben sich anscheinend daran gewöhnt, und wenn manchmal ein Sonnenstrahl durch die Blätter dringt, bin ich geblendet. Und doch gebe ich es nicht auf zu versuchen, ein Stück weit hinaufzuklettern, um ein Stückchen Himmel zu sehen. Mein Körper leistet Widerstand. Er ist steif, feige, faul. Zweimal bin ich heruntergefallen und habe mir so weh getan, dass ich unzählige Tage liegen musste.

Ich spüre gern die Borke unter meinen Händen. Das Schroffe, Feste und gleichzeitig ständig Wachsende. Die Unberührtheit. Ich bin neidisch auf die Unberührtheit. Die Bäume müssen keine Angst vor dem Sterben haben. Sie leben unendlich lange, und wenn sie genug gelebt haben, dann verfallen sie mit Würde, geruchslos.

Das Dunkel schafft die erstaunlichsten Farben. Als ich hierher kam, hatte ich noch niemals etwas Vergleichbares gesehen. Nichts war einfach grün, rot oder gelb, sondern alles hatte einen unbestimmten Schleier von Braun in sich. Die Konturen verliefen ein wenig. Ich staune immer noch über dieses prächtige Halbdunkel.

Auch die Kleider, die ich bei mir hatte, die Kleider, die in meinem verrotteten Reisekoffer liegen und vergammeln, haben ihre alten Farben verloren. Aber das macht wahrscheinlich nicht so viel aus. Im Dschungel braucht man keine Kleider. Ich ziehe sie nur manchmal zur Erinnerung an.

Doch dass mein eigener Körper seine Klarheit verloren hat, das macht mir immer noch zu schaffen. Meine Haut war einmal die schönste in ganz Baltimore. Sie schimmerte wie ein Vollmond und es gab keinen hoch gewachsenen jungen Mann weit und breit, der mir widerstehen konnte. Aber ich glaube, jetzt ist all das verschwunden. Selbst wenn es mir entgegen aller Wahrscheinlichkeit einmal gelänge, aus diesem Dschungel heraus zu finden, könnte man die Dunkelheit nicht von mir abwaschen.

Ich weiß nicht einmal, welchen Monat wir haben. Hier verändert sich nichts. Lebewesen sterben und werden geboren, aber es gibt nur eine ewige Jahreszeit.

In Baltimore stand nichts still. Die Temperatur veränderte sich, die Bäume wurden ausgezogen und wieder angezogen, die Winde sorgten dafür, dass niemand dieselbe Luft wieder einatmete, die seine Lungen gerade von sich gegeben hatten. Es gab Stürme und Brisen und Frühlingslüftchen. Wie ich mich danach sehne, im Gegenwind spazieren gehen und meine Frisur zerzausen lassen zu können!

Ob Bébé in einem solchen Gegenwind geht? Er muss geschrieben und mir berichtet haben, doch vielleicht sind die Briefe verrottet. Versteht er nicht, dass er es immer und immer wieder versuchen muss? Versteht er nicht, dass er mir sagen muss, er wisse, dass ich das Richtige getan habe?

Im Dschungel gibt es keinen Wind. Die Luft wird Molekül für Molekül mit Sauerstoff versetzt. Sie wird heimlich vermischt, ohne irgendwann über eine Wange zu streichen. Und ich habe immer gedacht, dass es windig ist, damit die Luft sich zu erkennen geben kann, damit wir sie in ihrer Durchsichtigkeit nicht vergessen.

Doch die Luft im Dschungel bringt sich auf andere Weise ins Gedächtnis. Die Feuchtigkeit und die Gerüche machen, dass keiner Gefahr läuft, sie zu vergessen. Sie ist satt an Sauerstoff, doch für den, der sie einatmet, hat sie immer etwas Erstickendes. Es ist eine Luft, die ihren Preis hat.

Manchmal habe ich hier im Dschungel den Wind gehört, aber immer nur in einiger Entfernung. Er ist da oben über den Baumkronen, wie die Sonne.

Ich habe Durst. Das Obst ist alle. Die letzten drei Früchte sind vergammelt. Jean müsste hinausgehen und ein paar neue pflücken, wenn er nach Hause kommt, wenn es ihm denn heute Abend danach ist, sich zu zeigen.

Ich denke wirklich, dass ich wieder friere. Dann ist es also mal wieder so weit. Der Schüttelfrost hat sich auf den Weg gemacht, um mir erneut einen Besuch abzustatten. Immer zuverlässig, immer diszipliniert. Er wird mich nicht aufs Lager werfen. Er wird seine Aufgabe erfüllen und dann wieder verschwinden.

Ich glaube, der Schüttelfrost kommt, um mich daran zu erinnern, wie es ist zu frieren. Auf gewisse Weise ist er der Einzige, der es wirklich schafft, mich vergessen zu machen, dass ich mich hier befinde, an diesem Ort, wo man die Wärme mit dem Löffel essen könnte, wenn man einen hätte. Wenn der Schüttelfrost kommt, kann ich mich tatsächlich daran erinnern, wie es war, als kleines Kind ohne Schuhe in den Keller hinunterzugehen, oder wie es war, sich nach einem Tanz auf einer kühlen Veranda auszuruhen. Der Schüttelfrost ist unversöhnlich. Er lässt mich so lange erinnern, bis ich erschöpft bin und mich ehrlich in den Dschungel zurücksehne. Vielleicht ist es der Schüttelfrost, der mir hilft, es hier auszuhalten.

Ich weiß, dass es zwei Gebiete gibt, auf denen es dem Menschen an Vorstellungskraft mangelt. Derjenige, der satt ist, kann den Hunger nicht verstehen, und derjenige, dem warm ist, weiß nicht, wie es ist, zu frieren.

Ich kann das in Jeans Blick sehen, wenn er während meiner Anfälle neben mir liegt. Er starrt auf meinen zitternden Körper und manchmal hält er mich fest, als könnte seine Muskelkraft mich wieder zur Ruhe bringen. Doch Jeans Muskeln haben gegen den Schüttelfrost keine Chance. Wenn ich krank bin, ist mein Körper stärker als der seine. Doch ich weiß, dass ich noch eine Weile Aufschub bekomme. Der Schüttelfrost kommt immer mit der Dunkelheit, so dass es noch eine Weile dauern wird. Die Feuchtigkeit hat meine Uhr schon vor langer Zeit zum Stehen gebracht, aber ich weiß trotzdem, dass die Nacht naht. Die Vögel setzen sich auf die Äste und schauen sich unruhig um.

Die kleinen Blumen auf der Erde fangen langsam an, sich zu schließen. Die Dschungelengel zeigen sich einige wenige Sekunden lang, um dann wieder dünn und unsichtbar zu werden.