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Freya Phoenix, Michaela Feitsch

Die Stundenwelt - Lileyna

(Band 3)





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titel

Michaela Feitsch

 

 

Die Stundenwelt

 

 

Geschichten aus der Stundenwelt

 

Dritter Band

Lileyna

 

 

 

Roman

 

Vorwort & Landkarte

»Du wirst erkennen,

wie sich der Pfad deiner Welt immer mehr gestaltet

und ob es dir möglich sein wird,

den Ablauf der Zeit so zu beeinflussen,

dass es dir gelingt,

die Welt über ihr Ablaufdatum

hinaus zu erhalten.«

 

Der  Lehrer

(Gespräch mit dem Novizen)

 

 

 

 

 

 

 

3 Std. 59 Min. 59 Sek.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Kapitel

 

 

Die Luft schlug Wellen, verband sich mit dem trockenen Erdreich und wirbelte einen Hauch von Zeit auf. 

Bryns Füße berührten den sandigen Untergrund.

»Wann sind wir?«, fragte sie Dagget, der direkt neben ihr aus dem Portal geklettert kam. Der Zeitstrudel hatte sich noch nicht ganz geschlossen und Bryn sah Sam, der ihr durch das materielose Loch zuwinkte. Seine gesamte Erscheinung wirkte so matt, als wäre er nur eine Abbildung des Mannes, den sie liebte. Sam lächelte und rief ihr etwas zu, doch der Wind, der von dem materielosen Ungetüm ausging, fraß seine Worte. Bryn lächelte zurück und winkte. 

Der Strudel zog sich weiter zusammen. Für einen kurzen Moment sah sie noch Sams Gesicht, das sie anlächelte. Der Tunnel schloss sich nun völlig und hinterließ nur einen Gedanken an den Mann, der in einer anderen Zeitzone auf ihre Rückkehr wartete. Sam wusste, dass ihre Aufgabe von größter Wichtigkeit war. Dagget sagte immer, wenn sie nicht alle Zahnradsplitter finden sollten, dann hätte die Siebenwelt bald so ein schwerwiegendes Problem, das nicht mal mehr der Novize selbst es lösen könnte. 

Dies war ihre letzte Reise, die Bryn und Dagget gemeinsam unternehmen würden. Bis jetzt hatten sie zwölf von insgesamt dreizehn Splittern ausfindig machen und erfolgreich einsammeln können. Bryn konnte sie dank ihrer Fähigkeit in den unterschiedlichsten Zeitzonen aufspüren. Bei jeder einzelnen Suche sagte sie Dagget, wohin die Reise ging und er brachte sie in die richtige Zeit. Er öffnete einen dieser abstrusen Zeitstrudel, und Schwups, befanden sie sich am richtigen Ort um den Splitter zu bergen.

Bryn besaß die Gabe einer Lichtbrecherin, die es ihr ermöglichte, die Splitter durch die Zeit hindurch zu sehen, zu erkennen wo sie sich befanden und sie durch die Manipulation des Lichtes sichtbar zu machen. 

Die Gabe das Licht zu brechen zeigte sich zum ersten Mal vor ungefähr Sieben Jahren, als sie dem Widerstand dabei half, die Welt zu retten. Doch kaum hatten sie es geschafft, erläuterte Dagget ihr die nächste Aufgabe, bei der nur sie ihm helfen konnte. Alleine seien ihm die Hände gebunden, erklärte er ihr. Wenn er nicht auf die Unterstützung einer Lichtbrecherin hoffen konnte, dann würde er die Zahnradsplitter niemals finden. 

Natürlich stimmte sie zu, ihm zu helfen. Klar gab es in ihrer Zeitzone genug zu tun, und Sam, der auf sie wartete. Aber natürlich, wenn die Welt gerettet werden musste, dann musste sie gerettet werden. Also stimmte Bryn zu, mit Dagget durch die Epochen zu reisen und diese dreizehn ominösen Zahnradsplitter aufzuspüren.

»Wir sind zurück, zurück in der Zukunft«, sagte Dagget.

Bryn hob den Blick und sah hinauf zur Sonne. Die Zahnräder am Himmel rieben aneinander und trieben den großen Hitzeball an. Noch funktionierte der Mechanismus, auch ohne das fehlende Zahnrädchen.

»Scherzkeks, das ist mir schon klar. Aber wann genau?«

Als Dagget das Wörtchen Keks hörte, zuckte er zusammen. Er hatte schon seit Stunden nichts mehr gegessen, was für ihn eine richtige Qual bedeuten musste. Bryn fühlte mit ihm. 

Dagget vollführte eine Dreihundertsechziggraddrehung. Der sandige Untergrund knirschte leise. 

»Wir sind in der Zukunft. Also in deiner Zukunft. In meiner Vergangenheit«, sagte Dagget, während er sich den Staub von seinem verschlissenen Ledermantel klopfte.

Richtig, sie waren in Daggets Vergangenheit gelandet, das wusste sie genau, denn laut dem Zeitagenten waren nur Sprünge in die Vergangenheit möglich. Also in seine Vergangenheit. Er selbst stammte vom Ende der Zeit. Jedenfalls nannte er es so, wenn sie ihn danach fragte. Wenn sie religiös gewesen wäre, dann hätte er es ihr auch mit den Worten des Novizen erklärt. Doch Bryn legte darauf keinen allzugroßen Wert. 

Sie wollte Dagget nochmals fragen, in welcher Epoche sie sich befanden, ließ es aber dann doch lieber bleiben. Dieses Wissen änderte ja sowieso nichts an ihrer Aufgabe. 

Und sobald sie die Sonne repariert hätten und sie sich wieder von ganz alleine in Bewegung halten konnte, würde diese Zukunft in der sie sich gerade befanden, wahrscheinlich genauso sowieso nie existieren. 

»Ich werde jetzt das Licht brechen, damit ich den Splitter aufspüren kann. Bist du bereit?«, fragte Byn den Zeitagenten. 

Dagget salutierte. »Alles Roger! Walte deines Amtes, meine höchstpersönliche allertollste Lichtbrecherin.«

Bryn drückte ihre Lider zusammen und konzentrierte ihre Gedanken auf den letzten Splitter. Kaum dachte sie daran, bauschte sich das Licht und zerbrach in Abertausend Millionen Teile. Ein spektakulärer Anblick. 

Surreale Glühwürmchen tanzten in alle Richtungen und verstreuten ihre Lichtsamen bis der Grundton der Welt aus einem einheitlichen Schimmer zu bestehen schien.

Die Räder der Sonne ächzten unter dem enormen Druck, den der Lichtertanz verursachte. Die Atmosphäre veränderte sich, füllte sich mit grellem Schein, der Bryn in den Augen schmerzte. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah erneut zum Himmel empor. Die Zahnräder verharrten im Stillstand. 

Die Zeit stand still. 

Bryn hatte durch ihre Gabe das Tor zur Zwischenwelt aufgebrochen, in der Leben und Tod keinen Unterschied kannten. Die Zeit auf dieser Ebene war eingefroren und machte die ganze Existenz von Gegensätzen obsolet. 

Bryn atmete schwer. 

Man sollte meinen, sie wäre diesen Zustand mittlerweile gewöhnt, doch die Luft stockte in der Lunge und verhärtete ihre Atemwege zu Baumstämmen. Wie immer wenn sie ihre Gabe einsetzte. 

Dagget sah sich nervös um, hüpfte von einem Bein auf das andere. Er mochte diesen Zustand nicht. Bryn erinnerte sich noch genau an seine Reaktion, nachdem klar war, dass er eine Lichtbrecherin für die Erledigung seines neuen Auftrags brauchte: Er sollte das kleine Zahnrad der Sonne, das vom Himmel gefallen, und in dreizehn Teile zerschellt war, wieder zusammensetzen. So stand es zumindest in seinen aktuellen Arbeitspapieren. Die hatte er Bryn spontan beim Frühstück unter die Nase gehalten und gemeint, »du kannst so gruselige Sachen, hilf mir.« 

Und was antwortete sie in ihrer Naivität, noch gepusht vom Tatendrang die Welt zu retten? »Okay.«

Sie fragte ihn natürlich, warum es so enorm wichtig wäre, die Teile zu finden. Vor allem so wichtig, dass sich die Leute aus der Zukunft dafür interessierten. Dagget erklärte ihr, dass die Menschen die Aufgabe des kleinen Rädchens zwar übernommen, und die Sonne alljährlich immer wieder aufgezogen hatten, doch Dagget meinte (nein, er wusste) auch, dass es eines Tages nicht mehr auf diese Art funktionieren würde. Die restlichen Zahnräder würden irgendwann blockieren und sich nicht mehr von Menschenhand in Bewegung setzen lassen. Durch das Fehlen dieses winzigen Rädchens würde irgendwann die Sonne stillstehen und nur der Novize allein wusste, welche Kettenreaktion das auslösen mochte. Zuerst würde wahrscheinlich die Sonne aufhören zu glühen. Dann würde sie sich mit der Zeit ganz verdunkeln. Und dann würden schreckliche Dinge passieren, von denen er Bryn aber nichts erzählen wollte. 

Natürlich wusste er genau, wie sich der Stillstand der Sonne auf die Siebenwelt auswirken würde. Immerhin stammte er angeblich vom Ende der Zeit. Aber bis jetzt lief die Sonne einwandfrei, sie wurde von den Menschen einmal im Jahr gewartet und ihre Zahnräder instand gehalten.

Bryn dachte sofort an das Stundenfest, bei dem die Sonne jedes Jahr neu aufgezogen, sozusagen auf Null gestellt, wurde. Eigentlich mochte sie das jährlich wiederkehrende Fest. Die Menschen verstanden es doch gut, das Innere des großen Feuerballs wieder in voller Pracht zum Glühen zu bringen, und das Fest war immer wieder ein richtiges Highlight für Jung und Alt. Irgendwie war es schade, dass sie in Zukunft auf das Stundenfest verzichten mussten. 

Wahrscheinlich würde es dann einfach ein anderes Fest geben. Zum Beispiel eines, zu Ehren des Tages, an dem das kleine Rädchen wieder seinen Platz am Himmel gefunden hatte. Es würde ein schönes Kindermärchen werden, das auch Bryn eines Tages ihren Kindern vor dem Einschlafen erzählen könnte. 

Das Licht zu brechen war ganz schön gefährlich, das wusste Bryn mittlerweile. Diese Ebene war fremdes Terrain, unbekanntes Land, in dem es noch viele unerforschte Dinge gab. Nicht nur die Geister der Verstorbenen hielten sich hier auf, sondern auch andere, dunkle Wesen, die ihnen nicht gerade wohlgesinnt waren. Sie hatten es schon ein paar Mal mit ihnen zu tun gehabt. Nicht jeder Splitter war einfach zu finden gewesen, aber bis jetzt waren sie immer heil davon gekommen und den dunklen Wesen entwischt. Davon gekommen, das traf es nicht so ganz, sie waren gelaufen, als wäre der Zorn des Novizen persönlich hinter ihnen her. 

Immerhin befanden sie sich jetzt auf ihrer letzten Mission und das Rad wäre danach endlich wieder komplett. Ein morbides Gefühl begleitete ihre Gedanken. Nein, es würde Bryn wirklich nicht wundern, wenn dieses Mal tatsächlich etwas schief ging. Irgendwie lag der Geruch von schlechtem Karma bereits in der Luft. Eilig tastete sie im Geiste nach dem Splitter. Um ihn besser aufspüren zu können, schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich, bündelte ihre Gedanken auf das Zahnrad, das einst vom Himmel fiel und die Welt in Aufruhr versetzte. Sie konnte seine Aura schon fühlen. 

Wie genau das Aufspüren der Splitter funktionierte, wusste sie nicht. Evangeline, eine Wissenschaftlerin aus ihrer Zeitzone, stellte die Hypothese auf, dass Bryn die Teilchen des Zahnrades spüren konnte, sobald das Licht gebrochen war, da sie zu den magischen Elementen der Siebenwelt zählten. Und deshalb, so ihre Theorie, in gebrochenem Licht sichtbar wurden. Manche der Splitter hatten in einer so starken Intensität geleuchtet, dass Bryn nicht einmal Ausschau nach ihnen halten musste. Es war fast so, als wollten die Splitter von ihr aufgespürt werden. Zum Beispiel der Splitter der im Haus des Bürgermeisters wie ein Ausstellungsstück hing. Oder der Splitter der im Keller des öffentlichen Krankenhauses festgesteckt hatte. Aber dieser hier, der versteckte sich vor ihr. Immer wenn sie dachte, jetzt würde sie ihn erwischen, entzog er sich ihr aufs Neue. 

Bryn sah sich hilfesuchend um. Dagget stand neben ihr und kaute auf seiner Unterlippe. Der sandige Untergrund wirkte in dem gebrochenen Licht noch abstruser als zuvor. Sie mussten sich in der Hilani-Wüste befinden. Bryns Kehle trocknete langsam aus, was aber auch an dem diffusen Zustand lag, in den sie die Welt mithilfe ihrer Gedanken versetzte. 

Am Horizont erahnte sie ein Gebilde aus schwarzem Rauch, das sich in abstrakten Zickzackbewegungen in ihre Richtung bewegte. 

Die bösen Geister. 

Sie schluckte schwer. Es war höchste Zeit den Splitter aufzuspüren. Nochmals presste sie ihre Augen zu Schlitzen zusammen und suchte mit aller Kraft nach dem Splitter. Die Zeit drängte, doch dem Objekt ihrer Begierde war das egal, er zierte sich immer noch. Rutschte immer wieder ein Stück von ihr fort, so als würde es vor ihr flüchten, sich bewegen. 

Doch dann, dann blieb er plötzlich an Ort und Stelle und leuchtete los, brannte fast lichterloh, zeigte sich in all seiner Pracht. 

Bryn öffnete mit einem Schlag die Augen.

»Dagget, ich weiß, wo er ist! Lass uns lieber schnell weg hier, bevor diese bösen Dinger uns erreichen. Ich will wirklich nicht wissen, was sie mit uns anstellen, sollten sie uns erwischen.«

Dagget nickte. »Welche Richtung?«

»Hier entlang.« Bryn zeigte ins Nichts. Sie schloss für eine Sekunde die Augen und ihre Umgebung normalisierte sich, die Atmosphäre floppte in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Jetzt konnten sie die düsteren Geschöpfe zwar nicht mehr sehen, aber diese dunklen Wesen befanden sich auf der anderen Ebene immer noch auf dem Weg direkt zu ihnen. Sobald sie erneut das Licht brach, wären sie schon ein gutes Stück näher gekommen. Die Zeit stand still, wenn sie ihre Gabe einsetzte, doch anders herum, wenn die Welt in ihrem Normalzustand war, lief die Zeit in der fremden Ebene einfach weiter. 

Vor ihnen erstreckte sich eine trockene, karge, leere, heiße Wüste. 

Sand. Hitze. Und der Horizont. Mehr schien es in dieser Richtung nicht zu geben.

 

»Ich wünschte, ich hätte mein Motorrad hier«, keuchte Dagget. Jetzt waren sie schon eine gute Stunde unterwegs. Vor ihnen erstreckte sich immer noch eine Landschaft aus kargem, staubigem Nichts. Die Sonne dampfte über ihnen und sog alle Flüssigkeit aus ihren Körpern.

»Kannst du es nicht einfach her teleportieren, oder so?«

»Bryn, erinnerst du dich noch an den Donut, den ich mal durch das Zeitportal mitgenommen habe?«

»Meinst du den Bernut? Halb Berg Müll, halb Donut?«

»Hmmmm.« Dagget sabberte beinahe, als sich die Erinnerung an den Bernut in seinen Gedanken zu einem Bild manifestierte. »Ja genau, den meine ich. Leblose Materie setzt sich selten wieder in ihrer ursprünglichen Form zusammen. Entweder hast du dann nur einen Berg Müll, oder eine Skulptur die als Kunstwerk durchgehen würde. Lucy würde also mit großer Sicherheit nicht aussehen wie Lucy – das Motorrad, wenn ich sie durch das Portal ziehe. Eher wie Lucy – die makabere Verunstaltung eines geliebten Begleiters. Sie wäre wohl kaum fahrtüchtig.«

»Dann weißt du ja, womit du in Zukunft dein Geld verdienen kannst, falls du deinen Auftrag nicht zu Ende führst und deinen Job verlierst«, scherzte Bryn.

»Wenn ich meinen Auftrag nicht zu Ende bringe, dann werde ich keinen neuen Job brauchen. Weil die ganze Stundenwelt dann so aussehen wird, als hätte sie ein Zeitagent durch ein Portal gezogen.«

Matsch. Dreck. Müll. Die Welt wäre nur noch ein Haufen Müll. Oder eine entstellte Skulptur der ehemaligen Welt, die als abstruses Kunstwerk durchgehen würde. 

Bryn realisierte erst jetzt, wie ernst die Lage tatsächlich war. Aus Daggets Mund hörten sich sogar die schlimmsten Tatsachen meist nach einem Scherz an. Sie mochte diesen witzigen Kerl wirklich, aber eine Prise Seriosität würde seiner beruflichen Ausstrahlung wirklich nicht schaden. 

Eine geschlagene Stunde später ging ihnen dann doch langsam der Gesprächsstoff aus. Auch das trockene Gefühl in ihren Mündern schien für eine Unterhaltung nicht gerade förderlich, und so verbrachten sie den Großteil des Weges schweigend nebeneinander, durch die karge Wüste stapfend. Das Durstgefühl nahm langsam unerträgliche Ausmaße an. Jedes Mal wenn Bryn versuchte, etwas zu sagen, pappten ihre Lippen aneinander, so als wären sie mit Kleister versiegelt (oder als hätte sie sich den ganzen Bernut in den Mund gestopft). Die Sonne stach erbarmungslos mit spitzen Hitzemessern auf sie ein. 

Der Tag würde kein gutes Ende nehmen. 

 

Sie irrten, der Novize allein wusste wie lange schon, durch diese erschreckend große Wüste. Bryn konnte den Splitter immer noch fühlen. Wenn sie einen Splitter einmal aufgespürt hatte, war sie mit ihm verbunden, konnte ihn auch ohne gebrochenem Licht in der Welt ertasten. Ihr Herz diente als Kompass. Es lenkte sie wie von selbst in die Richtung, in der sich der Splitter aufhielt. Verlaufen unmöglich. Wenigstens dessen war sie sich sicher. 

Evangeline, die Wissenschaftlerin, erklärte dieses Phänomen durch eine Verbindung, die magische Elemente miteinander eingingen. Bryns Fähigkeiten, die Zahnräder am Himmel, selbst die Manipulation der Zeit, all das war außergewöhnlich und wissenschaftlich noch nicht zu hundert Prozent erklärbar. Deshalb nannte sie es magisch. Doch auch dieses Geheimnis würde Evangeline lösen und eines Tages wissenschaftlich erklären können. Sie war schon nah dran. Und dann wären die Lichtbrecher ebenso durchschaubar, erklärbar wie die Zeitreisenden es auch sein würden. Bryn konnte sich jedoch auch gut vorstellen, dass so etwas wie Magie tatsächlich existierte. Sie glaubte zwar nicht an den Novizen und die Geschichte der Siebenwelt, doch wenn man selbst so eine Fähigkeit besaß, dann wirkte es kein bisschen paradox. Aber die Anomalie der Zeitreise, die stellte sich Bryn sehr wohl als wissenschaftlich erklärbar vor. 

Wobei Evangeline das Phänomen der Zeitüberbrückung noch nicht erklären konnte, da Zeitreisen in ihrer Zeitzone einfach noch nicht erfunden worden waren. Bryn lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein. Es wäre gut möglich, dass ihre Freundin, die geniale und leicht verrückte Wissenschaftlerin, eines Tages sogar selbst das Zeitreiseportal entwickeln würde. 

Dagget wusste wahrscheinlich, wer die Möglichkeit der Zeitzonenüberschreitung erfunden hatte, aber über solche Dinge sprach er im Normalfall nicht. Zu viele Informationen könnten sonst den Verlauf der Geschichte beeinflussen, sagte er. Aber, ganz ehrlich. Dagget hantierte so viel in der Zeit herum und pfuschte ständig in die Zeitzonen hinein, in denen er gar nicht sein durfte. Und auch an den Verhaltenskodex der Zeitagenten hielt er sich nicht wirklich. Da sollte es doch auf so kleine geschichtliche Meilenstein-Informationen wie Wer die Zeitreise erfunden hat wirklich nicht ankommen. Aber er schwieg beharrlich. Dagget konnte Geheimnisse Eins A für sich behalten. Was Verschwiegenheit betraf, glich er einem Stein. Ohne Mund, Augen und Ohren. Unmöglich, etwas aus einem Stein herauszubekommen. Harte Schale, harter Kern. Felsenfest. Und kein bisschen ernsthaft. Genauso war Dagget. 

Bryn durchfuhr ein elektrischer Impuls. Sie mussten schon ganz nah sein.

»Dagget, wir erreichen in Kürze den Splitter«, prustete sie zwischen verdörrten Lippen hervor. 

Der Zeitagent hob die Hand und streckte ihr als Antwort seinen hochgereckten Daumen entgegen. 

 

Wenige Momente später baute sich direkt vor ihnen eine beeindruckende Kulisse auf. Zuerst sah sie nur eine unüberschaubare Anzahl spitzer Türme, die in den welligen Himmel ragten, und mit der Spiegelung der Hitze am Horizont zu einer Collage verliefen. Ein konfuses Bild, gemalt von zu feuchten Pinseln, die wackelige Linien in den Himmel zogen. 

Unter den Türmen offenbarte sich ein standfestes Gemäuer. Als sie noch näher herantraten, wurde klar, woraus diese Festung gebaut worden war. Dieses Gebäude, das mitten in der kahlen Wüste vor ihnen in den Himmel ragte, bot einen grotesken Anblick. Bryn fühlte sich, als wäre sie um ein Vielfaches geschrumpft. Sandburgen sollten doch im Normalfall wesentlich kleiner sein als die Menschen, die sie mit ihren Händen erbauten. Aber diese hier ... Bryn hielt den Atem an.

»Was ist das?«, fragte sie, und legte ihre Handfläche ganz behutsam auf das Mauerwerk. 

Sand. Tatsächlich.

Dagget starrte genauso wie sie auf das Bauwerk und schüttelte nur den Kopf. 

Sehr schön, auch der Zeitreisende wusste es nicht. 

»Ich nehme an, das sind die neuesten Auswirkungen meines letzten Auftrags. In den geschichtlichen Unterlagen für Zeitagenten gibt es keinen Hinweis auf ein Schloss aus Sand in der Hilani-Wüste. Falls die Wüste überhaupt noch so heißt.« Er zuckte mit den Schultern. »Lass uns einfach mal an die Türe klopfen. Mal sehen, wer sie uns öffnet. Oder ob sonst etwas passiert. Wenn sie auch aus Sand ist, dann stürzt vielleicht das ganze Gebäude in sich zusammen, sobald wir sie berühren.«

Diese Aussage sollte lustig anmuten, doch Bryn schluckte bei dem Gedanken unter den herabstürzenden Sandfluten begraben zu werden. Sofort dachte sie an die Massen von staubtrockenem Sand, die auf sie nieder donnern würden, wenn dieses Monstrum von Sandburg in sich zusammensackte.

Bryn glaubte zuerst, dieses Schloss wäre nur eine Fata Morgana, ein Hauch einer Einbildung. Doch dann legte sie erneut eine Hand auf die Mauer und fühlte wieder nur heißen, aber festen Sand. Sie lehnte sich mit vollem Gewicht dagegen. Die Mauer hielt ihrer Berührung stand und bröckelte nicht. 

Also ja, tatsächlich. In der Wüste, mitten im Nichts, meilenweit von der Stadt entfernt, stand eine riesige Sandburg. Gebaut von wem auch immer. Mit einer Holztüre versehen. In einer Zeit, die nicht einmal ein Zeitreisender richtig kannte. Wenn sie anklopften, würde das Gebäude wohl nicht in sich zusammenfallen. Aber was sonst geschehen würde, überstieg Bryns Vorstellungskraft.

»Der Splitter ist irgendwo in der Burg. Ich kann ihn fühlen«, sagte sie und klopfte spontan gegen die morsche Türe. Eine Weile standen sie nur da und nichts geschah. 

Dagget zuckte mit den Schultern, setzte einige Schritte zurück und nahm Anlauf. Zielstrebig hastete er los. Er kickte sein Bein in die Höhe. Sein ausgestreckter Fuß landete jedoch in einem unerwarteten Ziel. Denn im selben Moment wurde die Türe aufgerissen und seine Schuhsohle preschte auf den Brustkorb eines jungen Mädchens nieder. Die Getroffene schnappte nach Luft und fiel von der Wucht des Tritts nach hinten. 

Bryn lief auf das Mädchen zu. Instinktiv, ohne darüber nachzudenken, streckte sie ihr die Hand entgegen und wollte ihr aufhelfen. Sie lächelte dem Mädchen zu. 

»Tut mir leid, Dagget hat das nicht mit Absicht gemacht. Warte, ich helfe dir auf. Ich bin übrigens Bryn.«

Das Mädchen, eine junge Frau, vielleicht Zwanzig Jahre alt, ergriff ihre Hand. 

»Schon in Ordnung. Mir ist nichts passiert.« Sie lächelte zurück und sagte, »Mein Name ist Lileyna.«

Und dann geschah es. Bryn schoss erneut ein Gedanke durch den Kopf. 

Dieser Tag würde nicht gut enden. 

Ihre Fingerkuppen berührten im gleichen Moment die Hand der jungen Frau. In derselben Sekunde weiteten sich Bryns Augen, geschockt von dem was als Nächstes passierte. Lichtfetzen stoben aus Lileynas Fingerspitzen und zwangen Bryn auf die Knie. Keuchend fasste sie sich an die Brust, schnappte nach Luft, rang mit dem Atem, der sich kontinuierlich aus ihrer Lunge presste. 

»Sie ist der Splitter. Er ist in ihr«, hauchte Bryn mit heiserer Stimme. 

Ein Glanz, noch heller als gebrochenes Licht, umhüllte das Mädchen, ein Funkenschwall aus gleißendem Weiß ließ ihre Haut unendlich intensiv glitzern. Wie goldener Sand, schimmerte ihre Haut und überzog ihre gesamte Erscheinung mit extremer Helligkeit. Aus dem Körper des Mädchens, aus jeder einzelnen Pore, ergoss sich ein Schwall aus purem, atemberaubendem Licht. 

Das Schimmern nahm ein Ende, als Bryn die Hand des Mädchens zur Gänze umfasste. Bryn verschwand, so wie auch das Schimmern gerade verschwunden war. Das scharfe Licht zog sie mit sich, hinab in eine fremde Welt, bestehend aus materielosen luftleeren Gedanken. 

In diesem Moment tat Bryn ihren letzten Atemzug.

Das Leben wich aus ihrem Körper, etwas zerrte sie in einen spiegelnden, unendlich funkelnden, körperlosen Raum. 

Dieser Tag würde kein gutes Ende nehmen. 

Jedenfalls nicht für Bryn, die, gemeinsam mit dem intensiven Flimmern von dieser Welt verschwunden war. 

Ihre letzten Worte hallten durch die leere Wüste, prallten an den Mauern der Sandburg ab und wurden von dem Sandgebäude zurückgeworfen. 

Sie ist der Splitter, hauchte der Wind.