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Über dieses Buch:

Galiläa zur Zeit Jesu: Friedlich und behütet wächst Shoshanna im kleinen Dorf Nazareth auf – bis ein schicksalhaftes Ereignis sie zur Ausgestoßenen macht. Nur Jeshua, ein Freund aus Kindheitstagen, hält zu ihr. Voller Zuversicht schließt sie sich dem ungewöhnlichen jungen Mann an, als er beginnt, als Prediger durchs Land zu ziehen. Seine Worte und Wundertaten berühren sie, geben ihr neuen Mut – und wecken zarte Gefühle in ihr. Doch dann wird ihr gemeinsames Glück einer schweren Prüfung unterzogen: Entführt von grausamen Menschenhändlern wird die junge Frau als Sklavin verkauft. Allein und verlassen in der Fremde wäre es so leicht, einfach aufzugeben – aber in Shoshanna brennt ein unstillbarer Wunsch: zu Jeshua zurückzukehren …

Über die Autoren:

Jonah Martin ist ein Pseudonym des Autorenteams Iris Klockmann und Peter Hoeft.

Peter Hoeft, geboren 1957 in Helmstedt, schreibt seit 1981 Jugendbücher, Künstlermonografien und Erzählungen. Er lebt mit seiner Frau  in der Nähe von Hannover.

Iris Klockmann, geboren 1961 in Lübeck, verfasste bereits als kleines Mädchen erste Geschichten. Seit 2007 veröffentlicht sie Romane und Erzählungen. Sie lebt mit ihrer Familie in ihrer Heimatstadt.

Unter dem Pseudonym Gerit Bertram hat das Autorenduo bereits mehrere, erfolgreiche historische Romane veröffentlicht.

Bei dotbooks veröffentlichte Jonah Martin den historischen Roman »Die Frau aus Nazareth«.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Februar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2009 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Yuliya Yesina

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-125-5

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Jonah Martin

Die Frau aus Nazareth

Historischer Roman

dotbooks.

Und es begab sich, dass er durch Städte und Dörfer zog, predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die Zwölf waren bei ihm, dazu einige Frauen, die er gesund gemacht hatte, nämlich Maria von Magdala und Johanna, die Frau des Chuzas, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihnen dienten mit ihrer Habe.

Lukas 8, 1-3

Teil 1

Kapitel 1

Nazareth, Bergland von Galiläa

Zwei Stunden vor Sonnenuntergang hatte der Shabbat begonnen, der Ruhetag, den Adonai, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, seinem Volk als Tag der Besinnung und des Gebetes verordnet hatte. Es war der Tag, an dem Mensch und Vieh von ihrer Arbeit ruhen sollten, so wie der Höchste es selbst nach sechs Schöpfungstagen tat. Jeder gottesfürchtige Jude bereitete sich auf den abendlichen Besuch der Synagoge vor.

Jared zog einen Mantel über seine halblange Tunika und legte den Tallit an, einen weißen Gebetsschal mit mehreren Quasten an den Enden. Seine Frau Rebecca und ihre beiden Töchter Shoshanna und Esther bedeckten ihr Haupt mit einem Tuch. Der achtjährige Ruben musste zu Hause bleiben, er war noch nicht in die Gemeinde aufgenommen worden.

Das Gebetshaus, ein von Zypressen umzäunter, weiß gestrichener Bau mit einem flachen Ziegeldach, befand sich auf einem Hügel am Rande des Städtchens. Zahlreiche Männer, Frauen und Kinder strömten durch die weit geöffnete Tür ins Innere. Shoshanna und Esther reinigten, dem elterlichen Beispiel folgend, die Hände in einem bereitgestellten Becken mit Wasser. Dann traten sie hinter ihrer Mutter in den für die Frauen und Mädchen vorbehaltenen Teil des Hauptraumes ein und setzten sich auf ihre gewohnten Plätze. Der Raum, der durch eine niedrige Mauer aus gelben Ziegeln und einem Gitter in zwei Hälften getrennt war, füllte sich rasch. Die beiden wichtigsten Männer der Gemeinde, der Vorsteher der Synagoge und der Rabbiner, saßen schon auf ihren Ehrenplätzen. In den Kelchen der beiden großen, siebenarmigen Leuchter brannte Olivenöl. Dazwischen stand ein schön verzierter Schrein aus dunklem Zedernholz, der Aufbewahrungsort für die Schriftrollen mit den Worten des Propheten Jesaja und die Thora, die Gesetze und Vorschriften, die der Allmächtige seinem Volk auf dem Berg Sinai gegeben hatte. Davor befand sich ein hölzernes Pult, an das, wie an jedem Shabbat, der Vorsteher treten und aus den Psalmen zitieren würde.

Shoshanna ertappte sich dabei, wie sie verstohlen nach Jeshua bar Joseph Ausschau hielt. Da war er! Ihr Puls beschleunigte sich. Gerade betrat er zusammen mit seinem Vater und seinen Brüdern Jaakov, Joses und Juda den Raum und setzte sich mit ihnen in eine Reihe, schräg gegenüber von Rebecca und ihren Töchtern. Shoshanna hatte nur Augen für Josephs Ältesten, der, für seine siebzehn Jahre schon sehr kräftig, seinem Vater von morgens bis abends beim Anfertigen von Dachbalken, Tischen und anderen Holzwerkstücken und Möbeln half. Ernsthaft war er, anders als die meisten anderen Jungen in seinem Alter, jedoch immer freundlich und zuvorkommend. Er sah gut aus mit seinen schwarzen Locken, die das sonnengebräunte Gesicht fast bis zum Kinn umrahmten. Mit seinen blauen Augen, den schönsten, die Shoshanna jemals gesehen hatte, verfolgte er aufmerksam den Unterricht.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, lächelte Jeshua Shoshanna zu. Wie so oft in den letzten Wochen löste er dieses aufregende Kribbeln in ihrer Magengrube aus.

Sie kannten einander schon, seit sie denken konnte, hatten früher zusammen in den Gassen Nazareths gespielt. Jeshua konnte nicht ahnen, dass Shoshanna seit einiger Zeit mehr als reine Freundschaft für ihn empfand. Doch wie er zu ihr stand, wusste sie nicht.

Ein schmerzhafter Ellbogenstoß in die Seite schreckte sie aus ihren träumerischen Gedanken.

»Guck ihn nicht so an!«, zischte Esther neben ihr. »Sonst bildet er sich noch was ein!«

»Ich gucke an, wen und was ich will. Du hast ja auch nur Augen für deinen Jaakov!«

»Na und? Schließlich verloben wir uns in drei Wochen! Außerdem siehst du Jeshua wieder, sobald der Shabbat vorüber ist.«

Shoshannas Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Dann bringen Joseph und seine Söhne den Brautpreis für mich – acht Schafe und drei Lämmer«, erklärte Esther leise, bevor Shoshanna nach dem Grund fragen konnte.

»Woher willst du das wissen?«

»Vielleicht weil ich zufällig mit angehört habe, wie unser Vater und Joseph darüber verhandelt haben?«

»Du hast gelauscht!«

»Seid ihr jetzt wohl still, ihr beiden!«, flüsterte ihre Mutter. »Der Gottesdienst beginnt.«

Ein alter Mann ging nach vorne. Er öffnete die Türen des Schreins mit den Schriftrollen, nahm eine davon heraus und trat an das Lesepult.

»Den Abschnitt für den heutigen Tag finden wir im Buch des Propheten Jesaja«, sagte er mit brüchiger Stimme. »›Das Volk, das im Finstern lebt, sieht ein großes Licht; hell strahlt es auf jene, die ohne Hoffnung sind. Du, Herr, machst Israel wieder zu deinem großen Volk und schenkst ihm überströmende Freude …‹«

Jeshua hielt die Augen geschlossen.

»›… denn uns ist ein Kind geboren! Ein Sohn ist uns geschenkt! Er wird die Herrschaft übernehmen. Man nennt ihn Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Ewiger Vater und Friedensfürst.‹«

Ein Lächeln umspielte Jeshuas Lippen. Shoshanna lauschte den Worten des alten Mannes am Lesepult nur halbherzig. Da durchfuhr ein heftiger, ziehender Schmerz ihren Leib. Ein weiterer ließ sie leise aufstöhnen.

Esther wandte den Kopf. »Was ist mit dir?«

»Mein Bauch tut weh«, flüsterte Shoshanna. Sie presste beide Hände auf den Leib. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Esther beugte sich vor. »Mutter, Shoshanna geht es nicht gut. Ich glaube, sie bekommt ihre …«

»Ich weiß schon«, unterbrach ihre Mutter leise. »Lasst uns nach Hause gehen. Dann kann sie sich hinlegen.«

Jared, Ruben und Esther hatten auf dem Boden des kühlen Kellerraumes rund um den Holztisch Platz genommen, den der Vater hergestellt hatte. Seine Frau Rebecca kam mit einem Topf Chalin die steinerne Treppe hinunter. Der dampfende Eintopf aus Ziegenfleisch, Getreide und Gemüse köchelte schon seit Stunden und duftete herrlich. Die heutige Mahlzeit und auch die für den morgigen Tag hatte sie bereits vor Beginn des Shabbat zubereitet, denn am siebten Tag der Woche durfte keine Arbeit verrichtet werden. Und zur Arbeit gehörte neben der Feldarbeit, dem Scheren der Schafe, neben Spinnen und Weben auch das Feuermachen, Kochen und Anzünden der Öllampen im ganzen Hause.

Rebecca sprach den Segen über die Lichter auf dem Tisch.

»Baruch Atah Adonai Elohejnu Melech Haolam – Gelobt seiest Du, HaSchem, unser Gott, König der Welt, der Du uns durch Deine Gebote geheiligt hast und uns geboten hast, das Licht des Shabbat zu entzünden.«

Jared nahm einen Becher mit Wein in die Hand und begann leise mit den ersten Worten des Kiddusch, des Shabbatsegens.

»Es war Abend, es war Morgen, der sechste Tag. Da wurden vollendet der Himmel, die Erde und ihr Heer. Am siebenten Tag vollendete Gott Sein Werk, welches Er getan hatte, und ruhte am siebenten Tag von Seinem ganzen Werk, das Er getan hatte. Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, denn am siebenten ruhte Er von all Seinem Werk …«

Während sie aßen, berichtete Jared, was sich in der Werkstatt des Zimmermanns Joseph, in der er seit fünf Jahren arbeitete, zugetragen hatte.

»Stellt euch vor, Shimon hatte heute einen Unfall«, erzählte er und tunkte ein Stück Brot in den Topf. Shimon war Josephs jüngster Sohn. »Er hat nicht aufgepasst, als Jaakov einen Dachbalken auf den Boden fallen ließ. Beinah hätte er dem armen Jungen den Fuß zerquetscht.«

»Adonai sei Dank!«, entfuhr es Rebecca. »Wie gut, dass nichts Schlimmeres passiert ist!« Sie erhob sich. »Ich werde hinaufgehen und nach Shoshanna sehen.«

Wie ein Messer fuhr der Schmerz durch ihren Leib und trieb ihr Tränen in die Augen. Shoshanna presste die Hände auf den Bauch, doch es nützte nichts: Erneut krampfte sich alles in ihr zusammen und trieb ihr Schweißperlen auf ihre Stirn.

Rebecca öffnete die Holztür des kleinen Raumes, in dem Shoshanna mit angezogenen Knien auf ihrem Lager lag. In der Hand hielt sie ein verschlissenes Leinentuch. »Ist es sehr schlimm?«

Ihre Jüngste nickte.

»Du musst versuchen, dich zu entspannen«, riet Rebecca leise.

Sie trat neben das Strohbett und reichte ihrer Tochter das mitgebrachte Tuch. Shoshanna wischte sich die Stirn ab. Sie stellte die nackten, staubigen Füße auf den Boden aus festgestampftem Lehm, versuchte aufzustehen. Ihr Blick fiel auf die hellrote Spur, die das Blut an ihren dünnen Beinen hinterlassen hatte.

»Ist das mein … Blut, Mutter?«

Rebecca nickte.

»Wie lange wird das noch dauern?«

»Eine Nidda bist du vielleicht vier oder fünf Tage lang. Aber auch danach bleibst du noch sieben Tage unrein. Und dies alle vier Wochen. Gib also acht, dass du während dieser Zeit niemanden berührst und verunreinigst!«

Kapitel 2

Wie von Ferne drang ein erster Hahnenschrei an Shoshannas Ohr, und sie schlug die Augen auf. Sie wandte das Gesicht zu dem kleinen, unverhängten Fenster, durch das die ersten Strahlen der Sonne fielen, die sich über die Berge Galiläas erhob. Der erste Atemzug nach dem Erwachen gehörte Gott. Shoshanna sprach ihr Morgengebet.

»Gelobet seiest du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der dem Hahne Erkenntnis gegeben zu unterscheiden zwischen Tag und Nacht …«

Nach dem ersten Gebet des Tages musste das Vieh versorgt werden. Ehe Hunger und Durst der Tiere nicht gestillt waren, durfte sich keine Familie zum Morgenmahl niedersetzen. Das Füttern war Shoshannas Aufgabe. Sie lief hinaus in den Obst- und Gemüsegarten, von dem ihr Vater ein Stück für ihre vier Schafe und zwei Lämmer abgeteilt hatte. Heute würden also noch einige Tiere dazukommen, wenn Joseph den Brautpreis brachte. Ob sie Jeshua sehen würde? Würde er sie endlich ansprechen? Oder wenigstens anlächeln? Shoshannas Herz machte einen Hüpfer. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, bekam sie feuchte Hände. Er hatte irgendetwas an sich, was in ihr den Wunsch nach seiner Nähe weckte. Ob er eines Tages ihr Bräutigam sein würde? Shoshanna konnte sich niemand anderen vorstellen. Kein Nachbarjunge, kein Spielkamerad übte diesen Einfluss auf sie aus. War es das, was die Erwachsenen Liebe nannten, worüber sie mit leuchtenden Augen miteinander sprachen?

Feuchte Schnauzen streckten sich ihren Händen entgegen und beschnupperten sie. Ein Tier nach dem anderen kam heran, um seinen Anteil an Liebkosungen und Leckerbissen einzuheimsen. Dann öffnete sie das Gatter und ließ die Tiere zum Trog hinaus, zu dem sie die Rinne öffnete, durch die das Wasser aus der Zisterne abfloss.

Im Schatten eines alten Ölbaums lehnte ein Mann am Baumstamm und ließ seinen Blick über den Marktplatz schweifen. Mit halb geschlossenen Lidern beobachtete er die jungen Mädchen, die sich nach und nach am uralten Brunnen einfanden, um Wasser zu schöpfen und ihre tönernen Krüge zu füllen. Tabitha, Lea und Rahel, Sara und Dina, Timna und Noomi – er kannte sie alle. Viele dieser heranwachsenden Mädchen waren mit ihren langen, offenen Haaren und den festen Körpern, die sich unter den dünnen Tuniken abzeichneten, hübsch anzusehen. Er schloss die Augen und atmete schwerer.

Scherzworte machten die Runde, helles Lachen erklang. Der Mann starrte wieder zu den Mädchen hinüber. Im Gegenlicht zeichneten sich ihre jungen Brüste deutlich ab. Leise stöhnte er auf. Wussten diese kleinen Biester eigentlich, was ihr Anblick bei einem Mann auslöste?

Auf seinem Gesicht zeichnete sich Lüsternheit ab. In seinen Lenden brannte es wie Feuer.

Ein Mädchen nach dem anderen machte sich auf den Heimweg.

Der Mann schob die Hand zwischen die Falten seines Mantels und überließ sich seinen Gefühlen.

Shoshanna lief die Töpfergasse hinunter, betrat die Mikwe, das öffentliche Reinigungsbad, am anderen Ende des Städtchens und zog die Holztür hinter sich zu. Im Halbdunkel des Raumes – das kleine Gebäude war bis auf eine Öffnung in der Wand fensterlos – tastete sie nach der tönernen Öllampe, die auf einem Tischchen am Eingang bereitstand. Sie entzündete die Leuchte, streifte die Sandalen ab und ging die Treppe zu dem tiefer gelegenen Teil des Bades hinunter. Dort entzündete sie zwei weitere Lampen und entkleidete sich. Wie kalt es hier unten war! Zögernd stieg sie in das Becken. Das Wasser darin war eiskalt. Esther hatte ihr erklärt, die Mikwe würde aus einer unterirdischen Quelle gespeist. Shoshanna atmete tief ein und hielt die Luft an. Einen Augenblick lang verharrte sie unter Wasser. Die Kälte ließ sie zittern, doch um ganz sicher zu gehen, wirklich jeden Teil ihres Körpers gereinigt zu haben, musste sie in die Hocke gehen.

Kurz darauf rieb sie sich trocken, wobei ihre Zähne heftig aufeinander schlugen. Sie zog sich an, ergriff das feuchte Handtuch und blies die Lichter aus, bis auf eines, das ihr die Treppe nach oben erhellen sollte. Schnell lief sie die Stufen hinauf und schlüpfte in ihre Schuhe. Dann trat sie zurück ins Sonnenlicht. Sie eilte durch die Gassen, vorbei an barfüßigen Kindern, die Fangen spielten, überquerte den mit schwarzen Basaltsteinen gepflasterten Platz mit dem Brunnen. Heute herrschte hier geschäftiges Markttreiben. Die Händler priesen lautstark Fische vom See Gennesaret, lebende Hühner und Ziegen, Obst und Gemüse an.

Shoshanna blickte sich zwischen den Verkaufsständen und Tischen um, auf denen Körbe und Fässer mit Granatäpfeln, Datteln und Feigen, Oliven, Lauch und Gurken standen. Sie hoffte darauf, Jeshua zu treffen, um ein paar Worte mit ihm wechseln, und schalt sich selbst. Für den Einkauf auf dem Markt, genau wie für das Wasserholen, waren schließlich die Frauen und Mädchen zuständig, nicht die Männer und ihre Söhne.

»Shoshanna!« Sie drehte sich um. Gegenüber, an einem Gemüsestand, erspähte sie Dathan, einen Bruder ihres Vaters. Er winkte sie heran.

»Komm her, du kannst mir rasch helfen, die Sachen nach Hause zu tragen. Du weißt ja, das Bein! Es will immer noch nicht so, wie es sollte.«

Dathan hatte vor einiger Zeit das Bein gebrochen.

»Nimm ihn!« Dathan zeigte auf einen mit Brot und Gemüse gefüllten Tragekorb, der auf dem Pflaster stand.

Eigentlich wollte sie schnell nach Hause. Außerdem mochte sie Onkel Dathan nicht besonders. Doch sie hatte gelernt, ältere Menschen zu ehren. Wortlos hob sie den Korb auf ihre Schultern und folgte Dathan zu dessen kleinem, lehmfarbenen Haus, das etwas außerhalb an einem steilen Hang gebaut war. Er öffnete die Tür und ließ sie vor sich hineingehen.

»In die Küche, Mädchen.« In einer Ecke befand sich ein kleiner Backofen aus Lehmziegeln, auf der anderen Seite stand ein Schemel.

»Groß bist du geworden!«

Sie bückte sich, um den Korb abzustellen.

»Und hübsch, richtig hübsch siehst du aus!« Dathan trat hinter sie. Plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrem Gesäß! Sie fuhr herum, doch schon packte seine zweite Hand ihren nackten Arm und hielt sie fest.

»Lass mich sofort los!«, stieß sie empört hervor.

Dathans fleischige Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Shoshanna fühlte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten. »Onkel, bitte!«

»Nur ein Kuss, Mädchen.«

»Nein!«

Dathan umklammerte ihren Arm wie ein Schraubstock und zog sie an sich. Mit der anderen Hand drückte er schmerzhaft ihr Gesäß, sein Mund presste sich grob auf ihre Lippen. Adonai, hilf mir, flehte sie stumm. Sie roch Dathans sauren Atem und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Während er sie weiterhin festhielt, schob er die freie Hand zwischen ihre Beine, drängte sich in die schmale Öffnung ihres Leibes. Shoshanna schrie auf. Es war ihr, als würden sich seine Finger in ihren Körper brennen. Galle stieg ihr in die Kehle, während sie sein Stöhnen vernahm. Er keuchte, als er ihren Widerstand spürte, was seine Lust nur noch steigerte.

Er will eine Jungfrau, schoss es ihr durch den Kopf, und Tränen des Ekels und der Wut traten ihr in die Augen. Das kleine Mädchen in ihr schluchzte auf, wollte nicht glauben, was geschah. Es war ihr, als würde sie neben sich stehen und voller Entsetzen mit ansehen, wie der Onkel sie der jungfräulichen Reinheit beraubte. Sabbernd und gierig. Ein Würgen stieg in ihr hoch, unaufhaltsam, und ein Schwall Magensäure ergoss sich über seine Kleider. Er brüllte auf. Sie begann zu schreien, trat um sich. Ich muss hier weg, konnte sie nur noch denken. Fort von diesem Ort des Grauens.

Als sie gegen sein verletztes Bein trat, knirschte der Knochen. Dathan fluchte und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Shoshannas Lippe platzte auf, warmes Blut lief ihr über Kinn und Hals. Nur einen winzigen Moment lockerte er seinen Griff, doch er genügte. Sie stürzte ins Freie.

Wimmernd erreichte sie ihr Elternhaus.

»Shanna, was ist mit dir? Du weinst ja!« Esther ergriff ihre Hände, zog sie an sich. »Was ist geschehen?«

Ihre Mutter eilte mit fragendem Blick aus der Küche.

»Mama. Onkel Dathan. Er hat … Er wollte mir …«

Etwas Warmes und Klebriges lief ihr die Beine hinunter. Blut! Ihr Blut!

»Shoshanna?« Rebecca verfolgte stumm, wie sich zu Shoshannas Füßen eine kleine rote Lache bildete. »Hattest du nicht gerade erst …?«

Das Mädchen nickte. »Onkel Dathan …«, flüsterte sie, dann brach ihre Stimme.

»Du meinst, dein Onkel hat versucht, dir Gewalt anzutun?«

»Ja.« Shoshanna senkte den Kopf. Sie glaubte, ihrer Mutter nie wieder in die Augen sehen zu können. Rebecca strich ihr sanft über das Haar. »Komm, Kleines, wir gehen hinauf in dein Zimmer. Dann wirst du mir alles erzählen.« Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Tochter die Wahrheit sprach. Dieses Scheusal! Wie konnte er es wagen, ihre Tochter zu berühren! Ihre Sorge wuchs, als sie sah, wie viel Blut sie verlor. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, überlegte sie, während sie dem Mädchen die Tunika über den Kopf zog.

Dathan wurde von Jared und einigen anderen Männern zur Rede gestellt. Er leugnete seine Tat, aber die Nachbarn und Ortsansässigen glaubten dem Mädchen und stießen den Frevler aus der Dorfgemeinschaft aus. Schon am nächsten Tag musste Dathan Nazareth verlassen.

Shoshannas Leben aber sollte nicht mehr dasselbe sein. Seit jenem verhängnisvollen Tag blutete sie.

Kapitel 3

Sie durfte nicht mehr in die Synagoge!

Als die Tür sich hinter Rebecca schloss, sank Shoshanna wie betäubt auf ihr Bett. Die Erklärung ihrer Mutter, als Nidda das Gotteshaus nicht mehr betreten zu dürfen, war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Rebeccas Worte hatten bestimmt geklungen, doch das Bedauern und die Resignation in ihrer Miene trafen sie noch härter. Also waren die Eltern tatsächlich bereit, sie vom Gottesdienst auszuschließen, wie der Rabbi es gefordert hatte. Nein, nicht nur bereit – schlimmer noch – sie waren den Anweisungen des Synagogenlehrers ohne Protest gefolgt.

Shoshanna schnappte nach Luft. Unrein, schien es aus allen Ecken des Zimmers zu flüstern. Unrein, ausgeschlossen. Allein.

Shoshanna streckte sich auf ihrem Bett aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Synagoge war immer ein Ort der Besinnung und des Trostes für sie gewesen. Sie liebte den Geruch der brennenden Lichter, die von vielen Kehlen gesungenen Lieder. Jeshua! Ein Schluchzen stieg in ihr hoch. Der Gottesdienst war eine der wenigen Möglichkeiten gewesen, ihm nahe zu sein. Die erste Zeit, nachdem es geschehen war, hatte sie jede Nacht Alpträume gehabt. Manchmal waren sie ihr so realistisch erschienen, dass sie glaubte, Onkel Dathans Hände noch immer auf ihrem Leib spüren zu können. Sie schauderte, wenn sie daran dachte, welche Stellen er berührt hatte. Schamesröte bedeckte ihr Gesicht, wenn sie aus diesen Träumen jäh erwachte. Mit klopfendem Herzen hatte sie so manche Nacht schlaflos zugebracht, um dem Grauen dieser Erinnerung zu entgehen. Nun, nachdem mehrere Wochen ins Land gegangen waren, quälten die Alpträume sie seltener. Bestimmt hören sie bald auf, dachte das Mädchen. Das Leben wird wieder sein wie früher, und ich werde keine Nidda mehr sein.

Shoshanna lauschte Vaters Schritten, bis sie nicht mehr vernehmbar waren. Sie heftete den Blick auf die Schüssel mit dem Abendessen. Nicht mal an den Mahlzeiten durfte sie teilnehmen! Jegliche Berührung – und sei sie auch noch so banal und unbeabsichtigt – war zu vermeiden. Seine Worte klangen noch in ihr nach, doch die Bedeutung des Gesagten drang nur langsam zu ihr durch. Wie erstarrt hatte sie vor ihrem Vater gestanden und ihm Hilfe suchend eine Hand entgegengestreckt. Doch er war zurückgewichen. Der Laut, der aus ihrer Kehle gestiegen war, musste so verzweifelt geklungen haben, dass Jared das Zimmer fluchtartig verlassen hatte. Shoshanna wusste, wie nahe es dem Vater ging, sie aus der Gemeinschaft ausschließen zu müssen. Aber ebenso wie seine Trauer über ihre Unreinheit kannte sie seinen unerschütterlichen Glauben an die Vorschriften des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Einige Herzschläge lang starrte sie auf die Schüssel mit dem Abendessen. Dann sah sie an ihrem Leib hinunter. Er reagierte anders, als er sollte, folgte seinen eigenen Gesetzen. Etwas Heißes, Loderndes begann sich wie Gift durch ihre Adern zu schleichen. Sie röchelte. Der Raum erschien ihr stickig und viel zu eng. Ein Schrei formte sich in ihrer Kehle. Etwas brach in ihr. Sie umklammerte die Schüssel und warf sie mit vor Wut verzerrtem Gesicht gegen die Wand.

Das Geräusch des zerberstenden Tons ließ sie wieder zu sich kommen. Was hatte sie getan? Wusste sie nicht, wie viel Mühe es machte, eine Schüssel dieser Art anzufertigen? Shoshanna starrte auf die Tonscherben. Ihre Schultern zuckten. Mühsam stand sie auf, warf sich auf das Bett und ließ den bitter in ihr aufsteigenden Tränen ihren Lauf.

Die Hoffnung der Familie, Shoshannas Blutungen mochten bald wieder aufhören, zerplatzte wie eine Seifenblase. Nachdem weitere Wochen vergingen, ohne dass sich Shoshannas Zustand besserte, war es nun Rebeccas Aufgabe, ihre Tochter behutsam auf das Leben einer Unreinen vorzubereiten. Der Kummer und die Sorge um das geliebte Kind lasteten schwer auf Rebeccas Schultern. Doch was blieb ihnen übrig? Sie war so jung und hübsch – und dennoch einsam. Jared und sie hatten schon Jahre zuvor begonnen, nach einem geeigneten Bräutigam für sie Ausschau zu halten. Schließlich wollten sie einen redlichen und freundlichen Ehemann für ihre Tochter. O ja, es hatte viele junge Männer gegeben, die an einer Hochzeit mit Shoshanna interessiert gewesen waren. Doch nur die wenigsten erwiesen sich als gut genug. Entgegen aller Gepflogenheiten hatte Rebecca ihr gestattet, am Ende selbst zu wählen, denn sie wollten ihre Tochter glücklich sehen.

Vor wenigen Tagen jedoch hatte der erste Kandidat seine Bewerbung zurückgezogen. Rebeccas Sorge wuchs. Würde Shoshanna ihr Leben lang unverheiratet bleiben müssen? Allein und ohne Kinder, die im Alter einmal für sie sorgen würden? Ein Leben ohne Umarmungen und Zärtlichkeiten? Nicht einmal tanzen würden die jungen Männer mit ihr. Selbst Shoshannas Freundinnen durften sich nur mit gehörigem Abstand mit ihr unterhalten.

Esther, ihre Älteste, würde bald Jaakov heiraten und machte einen sehr verliebten Eindruck. Wenn Rebecca in die strahlenden Augen ihrer Ältesten blickte, ahnte sie, dass die junge Familie sich bald vergrößern würde. Und Shoshanna wird zusehen, wie ihre Freundinnen ebenfalls heiraten und Kinder bekommen, sinnierte sie. Schon seit Langem wusste sie von Shoshannas Schwärmerei für Jeshua. Er war ein wirklich netter junger Mann, wenn auch ein wenig seltsam. Schweren Herzens machte sich Rebecca auf die Suche nach ihrer Tochter. Sie schlug den Weg zu den Tieren ein. Und richtig, das Mädchen lehnte gegen den Pferch. Es war niemand sonst zu sehen, deshalb schloss sie die Tochter zärtlich und mit tränenfeuchten Augen in ihre Arme. Adonai wird es mir verzeihen, dachte sie.

Wochen, Monate – und schließlich Jahre zogen ins Land. Shoshanna blutete noch immer. Rebecca und Jared ließen nichts unversucht, ihrer Tochter zu helfen, doch die Ärzte waren ratlos. Niemand fand eine Ursache für ihren Blutfluss, und sie hegten die Vermutung, es müsste einen anderen, unbekannten Grund für diese Krankheit geben.

Kapitel 4

Jeruschalajim, elf Jahre später.

Flirrende Hitze lag wie eine gewaltige Dunstglocke über der wie ausgestorben wirkende Stadt Davids. Die fast vierzigtausend Einwohner – Juden, Griechen, Syrer, Römer, Ägypter –, die für gewöhnlich Jeruschalajims Märkte, Plätze und Straßen mit Geschäftigkeit und Leben erfüllten, wagten sich während der Mittagsstunden nur hinaus auf die Straßen, wenn es unbedingt sein musste. Die Händler und Handwerker hatten ihre Geschäfte geschlossen.

Der neunzehnjährige Ruben lenkte einen zweirädrigen Eselskarren, auf dem er mit seiner fünf Jahre älteren Schwester Shoshanna saß. Die Geschwister waren nicht zum ersten Mal in Jeruschalajim. Vor vier Jahren hatten die Eltern sie zum Laubhüttenfest mitgenommen und ihnen die heiligen Stätten gezeigt. Den gewaltigen, Ehrfurcht gebietenden Tempel, den König Herodes der Große in über vierzigjähriger Bauzeit errichten ließ, seine weitläufigen Anlagen und Säulenhallen, in denen Theologiestudenten miteinander diskutierten und Rabbiner ihre Schüler lehrten. Händler boten ihre blökenden und gurrenden Opfertiere feil, und Geldwechsler tauschten für die Opferstöcke das »reine Geld«. Die beiden bestaunten die prächtigen Villen reicher, jüdischer Geschäftsleute und römischer Bürger. Shoshanna und ihre Geschwister waren von dem Völker- und Sprachengemisch fasziniert. Anders als im nahen Sephoris gab es in Nazareth keine Griechen, Römer oder Phönizier. Die Geschäfts- und Einkaufsstadt Sephoris mit dem Palast des Herodes und seinem großen, in den Felsen gehauenen Amphitheater war schon eine beeindruckende Stadt. Doch mit Jeruschalajim war sie nicht zu vergleichen. Hier schien man den Ehrgeiz zu haben, alles noch größer zu bauen.

Drei aufregende Tage lang waren Jared, Rebecca und ihre Kinder damals durch die Stadt gestreift. Sie hatten Paläste, Villen und Aquädukte, das Amphitheater und die Pferderennbahn und immer wieder den alles überragenden Tempel bewundert, dessen Säulen aus Marmor und Zierden aus Gold durch die Sonne in ein überirdisches Leuchtfeuer verwandelt wurden.

Etwa fünf Monate nach dieser Reise war Rebecca im Kindbett gestorben. Auch das Neugeborene hatte nicht überlebt. Dann, ein Jahr später, war Jared krank und immer schwächer geworden und schließlich, nach vielen qualvollen Wochen, an der Schwindsucht gestorben. Seitdem lebten Ruben und Shoshanna allein in ihrem Elternhaus, denn Esther wohnte mit ihrer Familie in einem Haus hinter Josephs Werkstatt.

Drei Tage zuvor waren die Geschwister in Nazareth aufgebrochen, um einen Arzt aufzusuchen, der angeblich schon vielen Kranken geholfen hatte.

Ruben und sie hatten in zwei Herbergen in Samaria und Judäa übernachtet und durch das Bezetha-Tal die Neustadt erreicht. Vor ihnen ragten nun die mächtigen Mauern und Türme der Festung Antonia auf.

Ruben zog die Zügel an und brachte den kleinen Karren am Straßenrand zum Stehen. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das halblange schwarze Haar. »Oh, tut mir der Hintern weh von der Schaukelei.«

Mit einem Satz sprang er auf das Pflaster und streckte sich ausgiebig. Den Kopf in den Nacken gelegt, schaute er zu einem der Türme hoch, auf dem zwei römische Legionäre in Schuppenpanzern und Helmen mit langen Speeren in der Hand Wache hielten.

»Wusstest du, dass die Soldaten in der Burg die Amtskleidung des Hohepriesters bewachen und nur zu den jüdischen Feiertagen herausgeben?«, fragte er seine Schwester.

Shoshanna verscheuchte eine hartnäckige Mücke, die sich immer wieder auf ihrem nackten Oberarm niederlassen wollte.

»Nein. Aber ich bin auch erschöpft, Ruben. Lass uns in die Stadt hineinfahren und nach dem Arzt suchen, bevor …«

Sie brach ab, hob den nach jüdischer Sitte mit einem Tuch bedeckten Kopf und lauschte. Ein gespenstisches Rauschen unterbrach plötzlich die über der Stadt liegende mittägliche Stille. »Was kann das sein?«, fragte Shoshanna verwundert. Das Geräusch wurde lauter, und im nächsten Moment tauchte über den Festungsmauern eine große schwarze Wolke auf.

Während sie sich in etwa fünfzig Ellen Höhe zwischen den beiden Türmen hindurch bewegte, schien die Luft von tausendfachem Flügelschlagen und einem durchdringendem Pfeifen erfüllt zu sein, wie Shoshanna es nie zuvor gehört hatte.

»Was ist das, Ruben?«

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Fledermäuse! Aber die schlafen eigentlich tagsüber und gehen erst in der Dämmerung auf die Jagd.«

Ein ahnungsvoller Schauer lief Shoshanna über den Rücken. Während sie der dunklen, lebenden Wolke aus Tierleibern, die sich langsam in Richtung Kidrontal entfernte, noch verwundert nachsah, kletterte Ruben wieder auf den Wagen und setzte sich neben seine Schwester.

»Wo befindet sich die Gasse, in der dieser Epraphas wohnt, Shoshanna?«

»In der Unterstadt. Irgendwo zwischen dem Turm von Siloah und der Pferderennbahn.«

»Nicht gerade die beste Adresse!«, gab ihr Bruder zu bedenken. »Du bist dir aber sicher, dass es sich bei diesem Arzt nicht um einen Tierarzt handelt, der für die Pferde im Hippodrom zuständig ist?«

»Ach, Ruben.« Shoshanna konnte nicht über seine Witzeleien lachen. Hatte sie denn eine Wahl? In den vergangenen zehn Jahren war sie bei vielen Ärzten gewesen, jüdischen wie griechischen, obwohl es ihr als Jüdin eigentlich nicht gestattet war, das Haus eines Heiden zu betreten. Doch letztlich waren sie alle ratlos gewesen. Der Letzte, ein alter Ägypter in Cäsarea, hatte ihr ein Gemisch aus Wein, Alaun, Gartensafran und zerstoßenem Kautschuk aus Alexandria zu trinken gegeben, angeblich ein sicheres Mittel gegen starke Blutungen. Als die ekelhaft schmeckende Mixtur nicht die beabsichtigte Wirkung zeigte, hatte der Arzt sie mit verbundenen Augen an eine Straßenkreuzung geführt und von hinten erschreckt, um sie in einen Schockzustand zu versetzen. Auch diese Therapie war wirkungslos geblieben, und Shoshanna war, um eine Hoffnung und einen großen Teil ihrer Ersparnisse ärmer, nach Nazareth zurückgereist. Andere Mediziner hatten mehr oder weniger deutlich die Vermutung geäußert, Shoshannas Blutfluss sei nicht natürlichen Ursprungs, sondern auf einen Fluch Gottes zurückzuführen. Natürlich hatte sie sich immer wieder die bange Frage gestellt, womit sie Adonais Zorn auf sich gezogen hatte. Warum strafte der Höchste sie damit, tameh zu sein und ein Leben als Unreine zu führen, abgesondert von den meisten Menschen, die ihr etwas bedeuteten? Sie hatte sich das Gehirn zermartert und nach unerkannten Sünden in ihrem Leben gesucht. Inzwischen glaubte sie nicht mehr daran, dass sie selbst die Schuld an ihrer Krankheit trug. Es musste eine andere Ursache geben.

Sie wusste nicht viel über den neuen Arzt, nur, dass er Grieche war und an der berühmten Hohen Schule von Alexandria studiert hatte. Er war ihr kürzlich von einem seiner Kollegen empfohlen worden, der eine Behandlung von vornherein abgelehnt hatte.

Bald darauf hatten die Geschwister den höher liegenden Teil der Stadt erreicht, den südlich vom Tempel gelegenen Ophel. Hier standen die einfachen Lehmhäuser dicht aneinandergereiht wie Perlen auf einer Kette. An Mauern und Häuserwänden hockten Bettler und klapperten mit ihren Almosenschalen, in den ungepflasterten Gassen stank es nach den Ausdünstungen von Mensch und Tier. Räudige Hunde schnupperten an den Abfällen. Shoshanna rümpfte die Nase. Dieser Teil Jeruschalajims war wirklich nicht die beste Adresse für einen Arzt.

Als ihnen ein paar barfüßige Kinder entgegenliefen, hielt Ruben an.

»Könnt ihr mir sagen, wo Epraphas, der Arzt, wohnt?«

»Du meinst den Griechen?« Ein etwa zehnjähriger Junge mit einem sonnengebräunten Gesicht grinste. »Was gibst du mir, wenn ich euch hinführe? Allein findet ihr den nie.«

Ruben zog einen Lederbeutel aus seinem Gewand, nahm drei Sesterze heraus und warf sie dem Jungen zu, der sie geschickt mit einer Hand auffing.

»In Ordnung. Folgt mir! Euren Karren müsst ihr aber stehen lassen, für den wird es zu eng«, erklärte er. Er wies auf einen etwas kleineren Jungen, der neben ihm stand. »Das ist mein Bruder Benjamin. Wenn ihr ihm auch ein paar Sesterze gebt, passt er solange auf den Karren auf!«

»Wie heißt du?«, wollte Shoshanna wissen.

Der Junge warf sich in die Brust. »Habe ich mich noch nicht vorgestellt? Ich bin Joel, der beste Fremdenführer in ganz Jeruschalajim!«

»Bist du das? Also gut.« Ruben nickte. »Jeder von euch bekommt einen ganzen Denar. Aber erst, wenn wir wieder zurück sind.«

»Es gibt aber auch wirklich kein Vertrauen mehr unter den Menschen!« Der Junge schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf. »Kommt mit!« Er wandte sich an seinen Bruder. »Pass gut auf den Eselskarren auf, Benjamin, sonst kriegst du Ärger mit mir.«

Die Geschwister folgten Joel durch ein Labyrinth von Gassen und brüchigen Treppen, bis der Junge endlich vor einem zweistöckigen Haus in der Nähe der Stadtmauer stehen blieb, hinter der das Kidrontal verlief. »Hier ist es.« Einige Tauben, die sich gurrend vor dem Eingang niedergelassen hatten, wurden aufgeschreckt und flogen davon.

Der Junge setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die weiß getünchte Außenwand des Hauses.

Shoshanna streichelte abwesend über das Fell einer grau getigerten Katze, die sich an ihren Beinen rieb. Sie zögerte kurz, klopfte dann aber kräftig an die Holztür. Innen wurde ein Riegel zurückgeschoben, und die Tür schwang knarrend auf. Im selben Augenblick sauste die Katze mit einem schrillen Kreischen und gesträubtem Fell an ihr vorbei und verschwand blitzschnell in der schmalen Gasse.

Ein etwa fünfzigjähriger Mann mit einem sorgfältig geschnittenen Kinnbart blickte sie fragend an. Er trug eine halblange Tunika aus ungefärbter Wolle mit einem breiten Wollstreifen als Gürtel darum.

»Du bist der Arzt?«

Der Grieche nickte. »Wie schon mein Vater und mein Sohn Lukas, der in Antiochia praktiziert. Was kann ich für euch tun?«

»Das lasst uns drinnen besprechen«, antwortete Ruben. »Es geht um meine Schwester.«

Shoshanna beschlich ein beklemmendes Gefühl. Es war auf einmal so still – unheimlich still. Die Tauben gurrten nicht mehr, und von den Hunden, die vorhin noch in den Gassen herumgestreunt waren, war nichts mehr zu sehen, gerade so, als hätten sie die Stadt verlassen. Ein Gefühl von Bedrohung nahm von ihr Besitz.

»Tretet ein!« Im Inneren war es angenehm kühl. Er führte die Geschwister in einen kleinen Raum und wies auf zwei Holzstühle. »Nehmt Platz! Ich bin gleich zurück.«

In einem Gestell an der Wand steckten zahlreiche Schriftrollen. Auf einem großen Holztisch türmten sich Pergament- und Papyrusbögen. Dazwischen lagen Pinzetten, Spatel und verschiedene chirurgische Instrumente. Unter dem Tisch und auf mehreren Regalen standen Terrakottatöpfe, Krüge und Amphoren, in denen der Grieche offenbar Öle und Wein aufbewahrte. In einer Schale zischte Weihrauch und verströmte einen würzig süßlichen Duft. Ein Zittern überlief ihren Körper unvermittelt. Zunächst glaubte sie, es läge an der Aufregung, doch dieses eigentümliche Empfinden schien sich vom Boden direkt in ihren Körper zu übertragen. Im nächsten Moment war es vorbei. Epraphas betrat wieder den Raum.

»Nun erzähl mir, welches Leiden dich plagt«, forderte er Shoshanna mit einem aufmunternden Lächeln auf.

Sie schlug die Augen nieder. »Ich habe den Blutfluss. Schon seit über zehn Jahren.«

Der Grieche hob eine Augenbraue. »Beim Äskulap! Das ist eine lange Zeit.«

Shoshanna überhörte das Anrufen des heidnischen Gottes und verzog das Gesicht. »Wem sagst du das?«

»Hattest du schon einmal einen ähnlich schweren Fall?«, wollte Ruben von dem Arzt wissen.

»Zehn Jahre lang Blutfluss? Nein, so etwas habe ich bisher noch nicht gehört.« Er wandte sich wieder Shoshanna zu. »Du musst furchtbar leiden. Sicher warst du schon bei vielen Ärzten.«

»Bei sehr vielen. Kannst du mir helfen?«

»Das will ich hoffen. Versprechen kann ich allerdings nichts. Wie haben die anderen Ärzte dich behandelt?«

Shoshanna berichtete ihm, was sie mit anderen Medizinern erlebt hatte.

»Da das Verabreichen von Heilpflanzen, Kräutern und Mineralien bei dir bisher nicht die beabsichtigte Wirkung gezeigt hat, würde ich dich gerne in Hypnose versetzen«, sagte er.

Shoshanna horchte auf. »Was ist das – Hypnose?«

»Der Patient wird in eine Art Schlaf versetzt«, erklärte Epraphas. »Trotzdem kann er die Stimme des Arztes hören. Es ist eine Methode, die ägyptische Ärzte schon seit langer Zeit benutzen, zum Beispiel bei Haarausfall, Blindheit, Lähmungen und vielen anderen Krankheiten und Beschwerden. Ich habe gehört, dass sie auch schon bei Frauen angewendet wurde, die unter starken Blutungen litten. Wollen wir es versuchen?«

»Ja, ich habe schließlich nichts zu verlieren.«

»Gut. Dann lege dich bitte hin.« Der Grieche deutete mit dem Kopf auf die Liege an der Wand und wandte sich an Ruben. »Wartest du bitte draußen?«

Ruben kratzte sich am Nacken. »Aber warum?«

Der Grieche legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir brauchen völlige Ruhe. Deine Schwester darf während der Hypnose durch nichts abgelenkt werden. Und hab keine Angst – diese Methode ist völlig ungefährlich.«

Ruben nickte widerstrebend. »Dann warte ich draußen bei dem Jungen.«

Schließlich nahm Epraphas Shoshanna gegenüber Platz. »Bist du bereit, alles zu tun, was ich dir sage?«

»Ja.« Shoshanna schluckte.

»Dann sieh jetzt nur noch auf meine Hand!«

Sie tat, wie ihr geheißen. Epraphas spreizte langsam die Finger. Nur der Daumen drehte sich auf merkwürdige Art auf der Handfläche. Fasziniert betrachtete sie ihn. Sie konnte ihren Blick nicht von der Hand wenden, die sich wieder und wieder vor ihren Augen hin und her bewegte. Shoshanna spürte, wie eine eigenartige Ruhe über sie kam. Die Zeit schien stillzustehen.

»Schließ die Augen!«, sagte er. »Du entspannst dich. Deine Arme und Beine werden schwer, ganz schwer. Alles an deinem Körper fühlt sich wunderbar warm und schwer an. Mit jedem Atemzug fühlst du dich wohler und entspannter. Lass alle Gedanken kommen und gehen. Atme tief ein und aus. Immer weiter ein und aus. Ja, so ist es gut. Ein und ausatmen. Ein und aus. Wie fühlst du dich jetzt?«

»Ich fühle mich … wohl«, antwortete Shoshanna mit ruhiger Stimme.

»Das ist gut. Atme weiter ein und aus. Der Blutfluss in deinem Schoß versiegt. Von nun an wirst du …«

Ein gespenstisches, rollendes Grollen erklang aus der Ferne, das aus der Erde selbst zu kommen schien. Epraphas verstummte. Erschreckt riss Shoshanna die Augen auf. Im nächsten Moment fühlte sie, wie sich der Boden unter ihren Füßen hob.

»Was ist das?«, stieß sie ängstlich hervor.

Epraphas war aufgesprungen. »Ein Erdbeben!«, rief er. »Schnell, komm mit! Wir müssen hinaus ins Freie!«

Abermals bewegte sich der Boden unter ihnen heftig. Wie von der Hand eines unsichtbaren Riesen gepackt, wurden Shoshanna und der Grieche emporgeschleudert. Im nächsten Moment stürzten sie wieder herab. Shoshanna schrie vor Schmerzen auf. Der Tisch mit den chirurgischen Geräten und den Schriftrollen fiel mit Getöse um. Krüge und Amphoren zerbrachen mit einem hässlichen Krachen. Wein und Öl spritzen auf den Steinfußboden und bedeckten ihn mit einem duftenden Film.

Der Grieche zog sie mit sich hinaus ins Freie, wo Ruben und Joel bereits unter einem mächtigen Olivenbaum Zuflucht gesucht hatten.

»Die Bücher«, hörte Shoshanna den Griechen rufen. »Ich muss noch mal hinein – meine Schriftrollen!«

»Lass die Bücher! Das ist doch viel zu gefähr–«

Aber Epraphas war schon wieder im Inneren seiner Arztpraxis verschwunden.

Die Gasse war plötzlich voller Menschen, die in Panik hin und her liefen. Kinder schrien nach ihren Müttern, und krummbuckelige Leute krochen erschreckt in Ecken.

»Hilfe! Hilfe!«

Shoshanna fuhr herum. Eine Frau stürzte auf sie zu. Ihre Kleidung war schmutzig, die nackten Füße blutig. Sie taumelte, während sie versuchte, auf dem sich hebenden Untergrund das Gleichgewicht zu halten. Shoshanna fing sie auf, bevor die Alte zu Boden stürzte. Verwirrt stolperte sie die Straße hinab. Im nächsten Moment hörte sie hinter sich einen grässlichen Schrei, der ihr vor Entsetzen das Blut in den Adern stocken ließ. Sie drehte sich um. Die Frau war buchstäblich wie vom Erdboden verschwunden. Stattdessen entdeckte Shoshanna mit weit aufgerissenen Augen, wie ein tiefer Spalt mitten durch das Pflaster wie eine Schlange auf sie zu kroch und sich dabei weiter verbreiterte. Unfähig, sich zu bewegen, starrte Shoshanna auf die Straße, die sich vor ihr teilte, wie ein reißender Saum. Das aufgeregte Bellen eines Hundes löste sie schließlich aus der Erstarrung. Mit einem Satz sprang sie zur Seite, während sich die Spalte mit einem unheimlichen Knirschen verbreiterte. Das Geräusch des berstenden Pflasters unter ihren Füßen schmerzte in ihren Ohren.

Das Beben schien kein Ende nehmen zu wollen. Immer neue Erdstöße ließen die ärmlichen Häuser der Unterstadt zusammenstürzen, die alles unter sich begruben. Mauern und Säulen stürzten ein, Dachziegel und Fensterläden flogen durch die Luft. Mensch und Tier rannten um ihr Leben, versuchten der Katastrophe zu entkommen. Und dann, so plötzlich, wie das Inferno begonnen hatte, war es vorüber. Das Grollen der Erde verstummte, und schlagartig lag eine unheimliche Stille über der Stadt, nur unterbrochen von den vereinzelten Schmerzenschreien der Verletzten.

Shoshanna erschrak. Ruben lag einige Schritte von ihr entfernt zwischen mehreren großen Steinen auf dem Boden. Er blutete aus einer klaffenden Stirnwunde. Shoshanna stürzte zu ihm, fiel auf die Knie. »Ruben! Du bist verletzt!«

Ihr Bruder wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Sieht wahrscheinlich schlimmer aus, als es ist. Hast du den Jungen gesehen? Er war doch eben noch bei mir, als es losging.«

»Joel?!«, rief sie.

Im Schatten einer Hausruine bewegte sich etwas. Shoshanna vernahm ein leises Stöhnen. Sie lief zu der Stelle hinüber, wo der Junge lag. Sein rechtes Bein stand in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab. Sie zögerte, denn sie war schließlich eine Nidda. Aber ich kann ihn doch nicht hier liegen lassen, dachte sie. Als Shoshanna das Bein berührte, schrie der Junge auf. Wir brauchen einen Arzt, überlegte sie. Wo war eigentlich der Grieche? Ein schrecklicher Verdacht keimte in ihr. Sie machte einige vorsichtige Schritte zwischen die Trümmer des zusammengefallenen Hauses. Da! Ihr Magen verkrampfte sich. Der Grieche lag unter einem Teil der herabgestürzten Decke, begraben zwischen zerbrochenen Krügen und Amphoren. Die Augen starrten blicklos in den Himmel, mit der linken Hand hielt er eine seiner geliebten Schriftrollen umklammert.

Ruben stand hinter ihr und legte ihr eine Hand auf die bebende Schulter. »Komm! Wir können nichts mehr für ihn tun. Aber der Junge braucht jetzt unsere Hilfe. Ich vermute, sein Bein ist gebrochen. Wir müssen versuchen, seine Knochen zu schienen.«

Shoshanna nickte und sah sich in dem verwüsteten Raum nach etwas um, das sie als provisorisches Verbandsmaterial benutzen konnten. Schließlich entdeckte sie zwischen den vielen ärztlichen Utensilien und anderen Dingen ein Stück Stoff und zog es heraus. Ruben riss es in mehrere Streifen. Mit Hilfe dieser Binden und zwei schmalen Brettern gelang es ihnen, Joels rechtes Bein zu schienen.

»Und jetzt?«, fragte Shoshanna, als sie fertig waren.

»Wir müssen unseren Esel und den Karren wiederfinden«, erklärte Ruben. »Bis dahin werde ich den Jungen tragen. Gott sei Dank sieht er nicht besonders schwer aus.«

Als sie Joel über Rubens Rücken legen wollten, schrie der Junge auf.

»Warte!« Shoshanna lief in das Haus des Arztes zurück. Es musste doch unter den verschiedenen unversehrt gebliebenen Flaschen und Amphoren mit Essenzen und Ölen auch etwas gegen Schmerzen geben. Schon entdeckte sie eine kleine, mit einem Korken verschlossene Glasflasche, an der ein Papyruszettelchen mit griechischer Aufschrift klebte. Shoshanna roch am Korken. Schlafmohn – ein starkes Schmerzmittel. Sie nahm das Fläschchen an sich und lief wieder hinaus.

»Trink einen ordentlichen Schluck hiervon, Joel. Es wird dir guttun.«

Nachdem der Junge etwas von der Arznei getrunken hatte, warteten sie. Dann versuchten sie es erneut. Das Mittel wirkte schnell, und sie konnten Joel auf Rubens Rücken laden. Shoshanna warf einen letzten Blick auf Epraphas zerstörtes Haus. Ob der Grieche ihr hätte helfen können? Das wusste Adonai allein. Dann marschierten sie los, nach der Stelle Ausschau haltend, an der sie den kleinen Benjamin mit ihrem Eselskarren zurückgelassen hatten. Dabei mussten sie umgestürzten Mauern und Erdspalten ausweichen, die das Beben in das Kopfsteinpflaster gegraben hatte. Immer wieder begegneten ihnen weinende Menschen, die wie Shoshanna, Ruben und Joel nach Vermissten suchten. Andere hockten stumm vor den Ruinen ihrer Häuser und starrten mit versteinerten Gesichtern ins Leere. Besonders die zahlreichen Kinder, die durch die Gassen irrten oder vor ihren zusammengestürzten Elternhäusern standen, brachen Shoshanna fast das Herz.

Sie hatten die Unterstadt hinter sich gelassen und befanden sich in der Nähe der mächtigen Mauern, die den Tempelbezirk umgaben. Hier war nur wenig zerstört worden. Shoshanna blieb plötzlich stehen und drehte sich nach Ruben um.

»Hast du das gehört? Da schreit doch ein Esel! Vielleicht ist es …«

Ruben blieb stehen und lauschte auf das klägliche Rufen ganz in ihrer Nähe.

»Vielleicht ist es ja unser Esel«, beendete er den Satz. »Lass uns dem Geschrei folgen.«

Sie entdeckten das Grautier vor einer Synagoge, aus deren Innerem lautes Wehklagen nach außen drang. Beide Flügel der schweren Holztür hingen schief in den Angeln, und ein fingerdicker Riss durchzog eine der Wände, doch sonst war das Gebetshaus kaum beschädigt. Der Esel samt Karren stand davor, so wie sie ihn zwei Stunden zuvor in der Obhut von Joels Bruder zurückgelassen hatten. Von Benjamin allerdings war nichts zu sehen.

Ruben setzte Joel vorsichtig auf dem Karren ab. Der Junge sah sich besorgt nach allen Seiten um. »Wo ist Benjamin?« Er versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben.

Shoshanna trat neben den Karren und strich dem Jungen das dunkle Haar aus der verschmutzten Stirn.

»Das kann ich dir auch nicht sagen«, sagte sie müde. »Ich dachte, du weißt, wo er hingelaufen sein könnte.«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Wir haben ja niemanden. Unsere Eltern sind seit zwei Jahren tot, seitdem leben wir bei einem Onkel, der sich kaum um uns kümmert. Wenn wir Benjamin nicht wiederfinden, dann …« Er zögerte. »… dann bin ich ganz allein.«

Shoshanna blickte ihren Bruder an. Er verstand sie auch ohne Worte und nickte.