Klappentext

Max Stirners Werk der ›Einzige und sein Eigentum‹ kann als eines der wirkmächtigsten politisch-philosophischen Bücher des 19. Jahrhunderts gewertet werden. Nicht in der offiziellen wissenschaftlichen Rezeption; dafür umso mehr als Inspirationsquelle für andere große Denker jener Epoche, angefangen von Karl Marx (der eine umfangreiche Replik auf Stirners Werk schrieb), über Nietzsche, bis hin zu Sigmund Freud und Wilhelm Reich.

Stirner sieht die Kräfte der Aufklärung, die in Europa im 17. Jahrhundert begonnen hatte, an ihr Ende gekommen. Seine fortschrittlichen Zeitgenossen (meist bezieht sich Stirner auf den Philosophen Ludwig Feuerbach) seien inzwischen selbst gefangen in impliziten Mechanismen des Konservatismus, beginnend schon bei der Erziehung. Stirner ironisch: »Unsere Atheisten sind fromme Leute«.

Nur der ›Einzige‹ oder ›Eigner‹ (später ähnlich bei Nietzsche als ›Übermensch‹ wiederkehrend) sei frei, weil er kompromisslos und ohne Schranken die Fesseln der Konventionen abwerfe, und sich keiner Konfession, keiner Partei und keinem politischen Lager verpflichtet fühle. Den so geprägten Menschen nennt Stirner den ›Eigner von Allem‹, inklusive seiner selbst. Das ›Eigentum‹, das der Autor im Titel benennt, ist also kein materielles, sondern das Eigentum des Denkens. Ein späterer Rezensent: »Es ist das extremste [Buch], das wir überhaupt kennen!«

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Über den Autor: Max Stirner (Pseudonym für Johann Caspar Schmidt, 1806–1856) war ein deutscher Philosoph und Journalist. Er stammte aus bürgerlichen Verhältnissen und studierte von 1826 bis 1828 in Berlin bei Hegel, Schleiermacher und anderen. Ab 1841 verkehrte er bei den ›Freien‹, einem Debattierzirkel sozialistischer Akademiker und Publizisten, dem unter anderen kurzzeitig auch Friedrich Engels angehörte. In diesem Umfeld entstand Stirners Hauptwerk ›Der Einzige und sein Eigentum‹. Nachdem seine erste Eherau im Kindbett gestorben war, heiratete Stirner 1843 Marie Dähnhardt, die Tochter eines Apothekers, die ebenfalls bei den ›Freien‹ verkehrte. Ihre Hochzeitsfeier gestalteten die Brautleute als eine formvollendete Satire auf das kirchliche Eheschließungszeremoniell. Stirner starb 1856, im Alter von nur 50 Jahren, infolge einer Infektion, verursacht durch einen Insektenstich.

© Redaktion eClassica, 2018

 

 


Impressum

Max Stirner: Der einzige und sein eigentum

eBook Originalausgabe | © 2/2018 by eClassica

Für die eBook-Ausgabe neu überarbeitet und in aktualisierter Rechtschreibung

Lektorat: Richard Steinheimer

Endlektorat und Umschlaggestaltung: textkompetenz.net

Herausgeber: eClassica

Alle Rechte für diese redigierte und kommentierte Fassung,
sowie für Vorwort, Covergestaltung und eBook-Design liegen bei
eClassica | AuraBooks.de

 

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Vorbemerkung: Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt

Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache meines Volkes, meines Fürsten, meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur meine Sache soll niemals meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«

Sehen Wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache machen, für deren Sache wir arbeiten, uns hingeben und begeistern sollen.

Ihr wisst von Gott viel Gründliches zu verkünden und habt Jahrtausende lang »die Tiefen der Gottheit erforscht« und ihr ins Herz geschaut, so dass ihr uns wohl sagen könnt, wie Gott die »Sache Gottes«, der wir zu dienen berufen sind, selber betreibt. Und ihr verhehlt es auch nicht, das Treiben des Herrn. Was ist nun seine Sache? Hat er, wie es uns zugemutet wird, eine fremde Sache, hat er die Sache der Wahrheit, der Liebe zur seinigen gemacht? Euch empört dies Missverständnis und ihr belehrt uns, dass Gottes Sache allerdings die Sache der Wahrheit und Liebe sei, dass aber diese Sache keine ihm fremde genannt werden könne, weil Gott ja selbst die Wahrheit und Liebe sei; euch empört die Annahme, dass Gott uns armen Würmern gleichen könnte, indem er eine fremde Sache als eigene beförderte. »Gott sollte der Sache der Wahrheit sich annehmen, wenn er nicht selbst die Wahrheit wäre?« Er sorgt nur für seine Sache, aber weil er Alles in Allem ist, darum ist auch alles seine Sache; Wir aber, wir sind nicht Alles in Allem, und unsere Sache ist gar klein und verächtlich; darum müssen wir einer »höheren Sache dienen«. – Nun, es ist klar, Gott bekümmert sich nur um’s Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat sich im Auge; wehe Allem, was ihm nicht wohlgefällig ist. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur sich. Seine Sache ist eine – rein egoistische Sache.

Wie steht es mit der Menschheit, deren Sache wir zur unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa die eines Andern und dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache. Damit sie sich entwickle, lässt sie Völker und Individuen in ihrem Dienste sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache der Menschheit nicht eine – rein egoistische Sache?

Ich brauche gar nicht an jedem, der seine Sache uns zuschieben möchte, zu zeigen, dass es ihm nur um sich, nicht um uns, nur um sein Wohl, nicht um das Unsere zu tun ist. Seht euch die Übrigen nur an. Begehrt die Wahrheit, die Freiheit, die Humanität, die Gerechtigkeit etwas anderes, als dass ihr euch enthusiasmiert und ihnen dient?

Sie stehen sich alle ausnehmend gut dabei, wenn ihnen pflichteifrigst gehuldigt wird. Betrachtet einmal das Volk, das von ergebenen Patrioten geschützt wird. Die Patrioten fallen im blutigen Kampfe oder im Kampfe mit Hunger und Not; was fragt das Volk danach? Das Volk wird durch den Dünger ihrer Leichen ein »blühendes Volk«! Die Individuen sind »für die große Sache des Volkes« gestorben, und das Volk schickt ihnen einige Worte des Dankes nach und – hat den Profit davon. Das nenn’ ich mir einen einträglichen Egoismus.

Aber seht doch jenen Sultan an, der für »die Seinen« so liebreich sorgt. Ist er nicht die pure Uneigennützigkeit selber und opfert er sich nicht stündlich für die Seinen? Jawohl, für »die Seinen«. Versuch’ es einmal und zeige dich nicht als der Seine, sondern als der Deine: du wirst dafür, dass du seinem Egoismus dich entzogst, in den Kerker wandern. Der Sultan hat seine Sache auf Nichts, als auf sich gestellt: er ist sich Alles in Allem, ist sich der einzige und duldet keinen, der es wagte, nicht einer der »Seinen« zu sein.

Und an diesen glänzenden Beispielen wollt ihr nicht lernen, dass der Egoist am besten fährt? Ich meinesteils nehme mir eine Lehre daran und will, statt jenen großen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein.

Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf Sich. Stelle ich denn meine Sache gleichfalls auf mich, der ich so gut wie Gott das Nichts von allem andern, der ich mein Alles, der ich der Einzige bin.

Hat Gott, hat die Menschheit, wie ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich Alles in Allem zu sein: so spüre ich, dass es mir noch weit weniger daran fehlen wird, und dass ich über meine »Leerheit« keine Klage zu führen haben werde. Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.

Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint, meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie ich einzig bin.

Mir geht nichts über mich!

 

 


ERSTE ABTEILUNG: Der Mensch

Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen, sagt Feuerbach.

Der Mensch ist nun erst gefunden, sagt Bruno Bauer.

Sehen wir uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an.

 

 

I. Ein Menschenleben

Von dem Augenblicke an, wo er das Licht der Welt erblickt, sucht ein Mensch aus ihrem Wirrwarr, in welchem auch er mit allem andern bunt durcheinander herumgewürfelt wird, sich herauszufinden und sich zu gewinnen.

Doch wehrt sich wiederum alles, was mit dem Kinde in Berührung kommt, gegen dessen Eingriffe und behauptet sein eigenes Bestehen.

Mithin ist, weil Jegliches auf sich hält, und zugleich mit Anderem in stete Kollision gerät, der Kampf der Selbstbehauptung unvermeidlich.

Siegen oder Unterliegen, – zwischen beiden Wechselfällen schwankt das Kampfgeschick. Der Sieger wird der Herr, der Unterliegende der Untertan: jener übt die Hoheit und »Hoheitsrechte«, dieser erfüllt in Ehrfurcht und Respekt die »Untertanenpflichten«.

Aber Feinde bleiben beide und liegen immer auf der Lauer: sie lauern einer auf die Schwäche des andern, Kinder auf die der Eltern, und Eltern auf die der Kinder (z.B. ihre Furcht), der Stock überwindet entweder den Menschen oder der Mensch überwindet den Stock.

Im Kindheitsalter nimmt die Befreiung den Verlauf, dass wir auf den Grund der Dinge oder »hinter die Dinge« zu kommen suchen: daher lauschen wir allen ihre Schwächen ab, wofür bekanntlich Kinder einen sichern Instinkt haben, daher zerbrechen wir gerne, durchstöbern gern verborgene Winkel, spähen nach dem Verhüllten und Entzogenen, und versuchen uns an allem. Sind wir erst dahinter gekommen, so wissen wir uns sicher; sind wir z.B. dahinter gekommen, dass die Rute zu schwach ist gegen unsern Trotz, so fürchten wir sie nicht mehr, »sind ihr entwachsen«. Hinter der Rute steht, mächtiger als sie, unser – Trotz, unser trotziger Mut. Wir kommen gemach hinter alles, was uns unheimlich und nicht geheuer war, hinter die unheimlich gefürchtete Macht der Rute, die strenge Miene des Vaters usw., und hinter allem finden wir unsere – Ataraxie1, d. h. Unerschütterlichkeit, Unerschrockenheit, unsere Gegengewalt, Übermacht, Unbezwingbarkeit. Was uns erst Furcht und Respekt einflößte, davor ziehen wir uns nicht mehr scheu zurück, sondern fassen Mut. Hinter allem finden wir unsern Mut, unsere Überlegenheit; hinter dem barschen Befehl der Vorgesetzten und Eltern steht doch unser mutiges Belieben oder unsere überlistende Klugheit. Und je mehr wir uns fühlen, desto kleiner erscheint, was zuvor unüberwindlich dünkte. Und was ist unsere List, Klugheit, Mut, Trotz? Was sonst als – Geist!

Eine geraume Zeit hindurch bleiben wir mit einem Kampfe, der später uns so sehr in Atem setzt, verschont, mit dem Kampfe gegen die Vernunft. Die schönste Kindheit geht vorüber, ohne dass wir nötig hätten, uns mit der Vernunft herumzuschlagen. Wir kümmern uns gar nicht um sie, lassen uns mit ihr nicht ein, nehmen keine Vernunft an. Durch Überzeugung bringt man uns zu nichts, und gegen die guten Gründe, Grundsätze usw. sind wir taub; Liebkosungen, Züchtigungen und Ähnlichem widerstehen wir dagegen schwer.

Dieser saure Lebenskampf mit der Vernunft tritt erst später auf, und beginnt eine neue Phase: in der Kindheit tummeln wir uns, ohne viel zu grübeln.

Geist heißt die erste Selbstfindung, die erste Entgötterung des Göttlichen, d. h. des Unheimlichen, des Spuks, der »oberen Mächte«. Unserem frischen Jugendgefühl, diesem Selbstgefühl, imponiert nun nichts mehr: die Welt ist in Verruf erklärt, denn wir sind über ihr, sind Geist.

Jetzt erst sehen wir, dass wir die Welt bisher gar nicht mit Geist angeschaut haben, sondern nur angestiert.

An Naturgewalten üben wir unsere ersten Kräfte. Eltern imponieren uns als Naturgewalt; später heißt es: Vater und Mutter sei zu verlassen, alle Naturgewalt für gesprengt zu erachten. Sie sind überwunden. Für den Vernünftigen, d. h. »Geistigen Menschen«, gibt es keine Familie als Naturgewalt: es zeigt sich eine Absagung von Eltern, Geschwistern usw. Werden diese als geistige, vernünftige Gewalten »wiedergeboren«, so sind sie durchaus nicht mehr das, was sie vorher waren.

Und nicht bloß die Eltern, sondern die Menschen überhaupt werden von dem jungen Menschen besiegt: sie sind ihm kein Hindernis, und werden nicht berücksichtigt: denn, heißt es nun: Man muss Gott mehr gehorchen, als den Menschen.

Alles »Irdische« weicht unter diesem hohen Standpunkte in verächtliche Ferne zurück: denn der Standpunkt ist der – himmlische.

Die Haltung hat sich nun durchaus umgekehrt, der Jüngling nimmt ein geistiges Verhalten an, während der Knabe, der sich noch nicht als Geist fühlte, in einem geistlosen Lernen aufwuchs. Jener sucht nicht der Dinge habhaft zu werden, z.B. nicht die Geschichtsdata in seinen Kopf zu bringen, sondern der Gedanken, die in den Dingen verborgen liegen, also z.B. des Geistes der Geschichte; der Knabe hingegen versteht wohl Zusammenhänge, aber nicht Ideen, den Geist; daher reiht er Lernbares an Lernbares, ohne apriorisch und theoretisch zu verfahren, d. h. ohne nach Ideen zu suchen.

Hatte man in der Kindheit den Widerstand der Weltgesetze zu bewältigen, so stößt man nun bei allem, was man vorhat, auf eine Einrede des Geistes, der Vernunft, des eigenen Gewissens. »Das ist unvernünftig, unchristlich, unpatriotisch« u. dergl., ruft uns das Gewissen zu, und – schreckt uns davon ab. – Nicht die Macht der rächenden Eumeniden, nicht den Zorn des Poseidon, nicht den Gott, so fern er auch das Verborgene sieht, nicht die Strafrute des Vaters fürchten wir, sondern das – Gewissen.

Wir »hängen nun unsern Gedanken nach« und folgen ebenso ihren Geboten, wie wir vorher den elterlichen, menschlichen folgten. Unsere Taten richten sich nach unseren Gedanken (Ideen, Vorstellungen, Glauben), wie in der Kindheit nach den Befehlen der Eltern.

Indes gedacht haben wir auch schon als Kinder, und waren unsere Gedanken keine fleischlosen abstrakten, absoluten, d. h. nichts als Gedanken, ein Himmel für sich, eine reine Gedankenwelt, logische Gedanken.

Im Gegenteil waren es nur Gedanken gewesen, die wir uns über eine Sache machten: wir dachten uns das Ding so oder so. Wir dachten also wohl: die Welt, die wir da sehen, hat Gott gemacht; aber wir dachten (»erforschten«) nicht die »Tiefen der Gottheit selber«; Wir dachten wohl: »das ist das Wahre an der Sache«, aber wir dachten nicht das Wahre oder die Wahrheit selbst, und verbanden nicht zu einem Satze »Gott ist die Wahrheit«. Die »Tiefen der Gottheit, welche die Wahrheit ist«, berührten wir nicht. Bei solchen rein logischen, d. h. theologischen Fragen: »Was ist Wahrheit« hält sich Pilatus nicht auf, wenngleich er im einzelnen Falle darum nicht zweifelt, zu ermitteln, »was Wahres an der Sache ist«, d. h. ob die Sache wahr ist.

Jeder an eine Sache gebundene Gedanke ist noch nicht nichts als Gedanke, absoluter Gedanke.

Den reinen Gedanken zu Tage zu fördern, oder ihm anzuhängen, das ist Jugendlust, und alle Lichtgestalten der Gedankenwelt, wie Wahrheit, Freiheit, Menschentum, der Mensch usw. erleuchten und begeistern die jugendliche Seele.

Ist aber der Geist als das Wesentliche erkannt, so macht es doch einen Unterschied, ob der Geist arm oder reich ist, und man sucht deshalb reich an Geist zu werden: es will der Geist sich ausbreiten, sein Reich zu gründen, ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, der eben überwundenen. So sehnt er sich denn Alles in Allem zu werden, d. h. obgleich ich Geist bin, bin ich doch nicht vollendeter Geist, und muss den vollkommenen Geist erst suchen.

Damit verliere ich aber, der ich mich soeben als Geist gefunden hatte, sogleich mich wieder, indem ich vor dem vollkommenen Geiste, als einem mir nicht eigenen, sondern jenseitigen, mich beuge und meine Leerheit fühle.

Auf Geist kommt zwar alles an, aber ist auch jeder Geist der »rechte« Geist? Der rechte und wahre Geist ist das Ideal des Geistes, der »heilige Geist«. Er ist nicht mein oder dein Geist, sondern eben ein – idealer, jenseitiger, er ist »Gott«. »Gott ist Geist«. Und dieser jenseitige »Vater im Himmel gibt ihn denen, die ihn bitten«.

Den Mann scheidet es vom Jünglinge, dass er die Welt nimmt, wie sie ist, statt sie überall im Argen zu wähnen und verbessern, d. h. nach seinem Ideale modeln zu wollen; in ihm befestigt sich die Ansicht, dass man mit der Welt nach seinem Interesse verfahren müsse, nicht nach seinen Idealen.

Solange man sich nur als Geist weiß, und all seinen Wert darin legt, Geist zu sein (dem Jünglinge wird es leicht, sein Leben, das »leibliche«, für ein Nichts hinzugeben, für die albernste Ehrenkränkung), solange hat man auch nur Gedanken, Ideen, die man einst, wenn man einen Wirkungskreis gefunden, verwirklichen zu können hofft; man hat also einstweilen nur Ideale, unvollzogene Ideen oder Gedanken.

Erst dann, wenn man sich leibhaftig liebgewonnen, und an sich, wie man leibt und lebt, eine Lust hat – so aber findet sich’s im reifen Alter, beim Manne – erst dann hat man ein persönliches oder egoistisches Interesse, d. h. ein Interesse nicht etwa nur unseres Geistes, sondern totaler Befriedigung, Befriedigung des ganzen Kerls, ein eigennütziges Interesse. Vergleicht doch einmal einen Mann mit einem Jüngling, ob er euch nicht härter, ungroßmütiger, eigennütziger erscheinen wird. Ist er darum schlechter? Ihr sagt Nein, er sei nur bestimmter, oder, wie ihr’s auch nennt, »praktischer« geworden. Hauptsache jedoch ist dies, dass er sich mehr zum Mittelpunkt macht, als der Jüngling, der für anderes, z.B. Gott, Vaterland und dergl. »schwärmt«.

Darum zeigt der Mann eine zweite Selbstfindung. Der Jüngling fand sich als Geist und verlor sich wieder an den allgemeinen Geist, den vollkommenen, heiligen Geist, den Menschen, die Menschheit, kurz alle Ideale; der Mann findet sich als leibhaftigen Geist.

Knaben hatten nur ungeistige, d. h. gedankenlose und ideenlose, Jünglinge nur geistige Interessen; der Mann hat leibhaftige, persönliche, egoistische Interessen.

Wenn das Kind nicht einen Gegenstand hat, mit welchem es sich beschäftigen kann, so fühlt es Langeweile: denn mit sich weiß es sich noch nicht zu beschäftigen. Umgekehrt wirft der Jüngling den Gegenstand auf die Seite, weil ihm Gedanken aus dem Gegenstande aufgingen: er beschäftigt sich mit seinen Gedanken, seinen Träumen, beschäftigt sich geistig oder »sein Geist ist beschäftigt«.

Alles nicht Geistige befasst der junge Mensch unter dem verächtlichen Namen der »Äußerlichkeiten«. Wenn er gleichwohl an den kleinlichsten Äußerlichkeiten haftet (z.B. burschikosen und andern Formalitäten), so geschieht es, weil und wenn er in ihnen Geist entdeckt, d. h. wenn sie ihm Symbole sind.

Wie ich mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muss ich mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme ich sie in die Meinige zurück und sage: ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme ich die Welt als das, was sie mir ist, als die Meinige, als mein Eigentum: ich beziehe alles auf mich.

Stieß ich als Geist die Welt zurück in tiefster Weltverachtung, so stoße ich als Eigner die Geister oder Ideen zurück in ihre »Eitelkeit«. Sie haben keine Macht mehr über mich, wie über den Geist keine »Gewalt der Erde« eine Macht hat.

Das Kind war realistisch, in den Dingen dieser Welt befangen, bis ihm nach und nach hinter eben diese Dinge zu kommen gelang; der Jüngling war idealistisch, von Gedanken begeistert, bis er sich zum Manne hinaufarbeitete, dem egoistischen, der mit den Dingen und Gedanken nach Herzenslust gebahrt und sein persönliches Interesse über alles setzt. Endlich der Greis? Wenn ich einer werde, so ist noch Zeit genug, davon zu sprechen.