Wie eine Spur im Sand

Wie eine Spur im Sand

Kerry Greine

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

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Über den Autor

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1

Umzugschaos


Was mache ich hier eigentlich? Diese Frage stelle ich mir bereits zum hundertsten, nein, wohl eher zum tausendsten Mal, während ich mich in meiner Wohnung umsehe. Oder besser gesagt in dem, was einmal meine Wohnung war. Jetzt gerade herrscht hier nämlich das pure Chaos …

An den Wänden des ehemaligen Wohnzimmers stapeln sich Umzugskartons, sorgsam beschriftet. Mein Sideboard liegt in Einzelteile zerlegt davor, die restlichen Möbel sind beiseitegeschoben, damit ich in dieser Unordnung nicht auch noch darüber stolpere – ich kenne mich ja …

Durch die Räume wandernd packe ich hier und da noch letzte Kleinigkeiten in die Kisten.

In der Küche bleibe ich stehen und sehe mich um. Auch hier ist bereits alles verpackt. Ein einsamer Teller und ein Glas stehen noch neben der Spüle. Auf der dunklen Arbeitsfläche liegen alte Zeitungen. Man kann sich kaum um sich selbst drehen, Kisten … ich sehe nur noch Kisten …

Ein wenig hilflos hebe ich die Arme und vergrabe meine Hände in meinen langen, dunklen Haaren. Verzweiflung droht mich zu übermannen, als ich an den Neuanfang denke, den ich ab morgen wage.

Ist es wirklich ein Neuanfang? Nicht vielmehr eine Flucht vor der Realität? Hier in Berlin lasse ich alles zurück, was mein Leben in den letzten fünf Jahren bestimmt hat. Obwohl … was war eigentlich mein Leben hier? Ist es das wert, ihm nachzutrauern? Oder liegt es an der panischen Angst, in meine Heimatstadt Hamburg zurückzukehren? Ich bin damals ja schließlich nicht grundlos weggezogen. Auch wenn keiner in meiner Familie den wahren Grund meines damaligen Umzugs kennt. Und ich werde einen Teufel tun, ihnen zu verraten, wie es tatsächlich in mir aussieht, was mich zu diesem Schritt bewogen hat.

Unliebsame Gedanken an die Vergangenheit schleichen sich in meinen Kopf, während ich hier stehe. Ich spüre, wie meine Brust eng wird und das Atmen mir schwerer fällt. Panik droht mich zu überwältigen. Ich muss hier raus.

Hektisch stürme ich ins ehemalige Schlafzimmer. Das eiserne Gestell meines Bettes, in Einzelteilen an der Wand lehnend, scheint mich zu verhöhnen. Mein Verstand weiß, dass das nicht so ist, es ist schließlich nur ein Bett, aber dennoch kommt es mir so vor.

Die Panik in meiner Brust nimmt zu. Mit zittrigen Fingern krame ich in der großen Reisetasche, in der meine nötigsten Klamotten lagern, nach meinen Sportsachen. Leggings, T-Shirt, Laufschuhe. Anziehen und nichts wie raus hier, bevor ich durchdrehe.

Kaum aus der Tür gebe ich Gas. Laufen, nein, rennen trifft es wohl eher, die Straße hinunter, an der großen Kreuzung rechts ab und immer weiter. Joggen ist das Einzige, was mir in solchen Situationen hilft. In Situationen, in denen mir alles zu viel wird.

Nach wenigen Metern habe ich meinen Rhythmus gefunden, schnell und gleichmäßig, und bald darauf spüre ich, wie der Druck auf meiner Brust abnimmt und ich wieder freier atmen kann. Erleichtert erlaube ich mir, meine Gedanken schweifen zu lassen. Ich weiß, solange ich laufe, wird mich die Angst nicht wieder vereinnahmen.

Seit fünf Jahren jogge ich; kaum, dass ich damals in Berlin angekommen bin, habe ich damit angefangen. Mehr oder weniger ungeplant …

Damals hatte ich noch regelmäßig diese Panikattacken, und irgendwann passierte es einfach so, mitten auf der Straße. Ich wollte mir selbst die Peinlichkeit ersparen, in der Einkaufsmeile zusammenzubrechen, und habe nur noch zugesehen, dass ich wegkomme. Ich bin losgerannt, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. An den Gesichtern der bummelnden Touristen und Berliner konnte ich erkennen, dass mein Anblick wohl bestenfalls unter merkwürdig einzustufen war, aber es hat mich nicht interessiert. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich damals blind durch die Straßen gerannt bin, aber irgendwann merkte ich, dass der Druck in meiner Brust abnahm.

Verwundert, schweißgebadet und völlig außer Atmen bin ich einfach stehen geblieben. Ich war irgendwo in der Nähe des Potsdamer Platzes gelandet und die drohende Panikattacke war verschwunden.

Seitdem laufe ich.

Mit den Jahren sind die Strecken immer länger geworden und jetzt renne ich schon fünfzehn Kilometer – beinahe jeden Tag. Darauf freue ich mich, wenn ich wieder in Hamburg bin. Es gibt dort ganz wunderbare Laufstrecken. Rund um die Alster oder an der Elbe entlang. Ein kleiner Lichtblick in meinem Umzugschaos.

Der Frühling streckt bereits seine Fühler aus. Jetzt, Mitte März, ist es noch kalt, aber die ersten Narzissen zeigen schon ihre quietschgelben Blüten. Ich liebe Narzissen. Sie strahlen immer irgendwie Hoffnung und Lebensfreude aus. Kann ich gerade gut gebrauchen … Ich meine, es ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, was auf mich zukommt. Ich habe mich schließlich bewusst dafür entschieden, nach Hamburg zurückzukehren und mein Leben in Berlin hinter mir zu lassen.

Es wird sich sicherlich auch alles finden; aber bis dahin liegt noch ein riesiger Berg Arbeit vor mir, der mich in regelmäßigen Abständen unter sich zu begraben droht.

Heute ist mein letzter Abend hier. Ab morgen fängt die Zukunft an.

Langsam drossele ich mein Tempo und gehe die letzten Schritte bis zur Haustür. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass ich die 17,4 Kilometer in nicht mal einer Stunde geschafft habe. Schöne Zeit! Und es geht mir wieder gut.

Entspannt gehe ich unter die Dusche und fläze mich danach mit einem abgepackten Sandwich aus dem Supermarkt auf die Matratze, die im Schlafzimmer auf dem Boden liegt. Ein Bett habe ich ja wie gesagt nicht mehr.

Wieder einmal gleitet mein Blick durch den Raum, diesmal allerdings nicht voller Angst vor der Zukunft, sondern um zu kontrollieren, ob ich auch nichts vergessen habe einzupacken. Morgen früh kommen meine Schwester Leo und ihr Freund Lukas mit zwei weiteren Freunden der beiden, um mir beim Umzug zu helfen.

Ich bin müde, wie so oft in den letzten Wochen. Dieses Jahr, noch nicht mal drei Monate alt, hat mich ausgelaugt – ein Grund mehr für meinen Neuanfang. Seufzend rolle ich mich auf die Seite und ziehe mit letzter Kraft die Decke über mich. Ich schließe die Augen und hoffe noch, dass mich in dieser Nacht keine bösen Träume verfolgen, ich brauche morgen alle Kraft, die ich aufbieten kann, dann sinke ich in einen tiefen Schlaf.


Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich tatsächlich ausgeruht und gut gelaunt. Ich habe tief und traumlos durchgeschlafen. Erleichtert rappele ich mich auf. Acht Uhr, noch ungefähr eine Stunde, dann kommen meine Umzugshelfer. Genug Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken und die Maschine danach zu verpacken.

Pünktlich um neun klingelt es an meiner Wohnungstür.

Vermutlich das letzte Mal, dass ich diesen schrillen Ton höre, schießt es mir durch den Kopf, als ich den Summer drücke, und ich werde ein bisschen wehmütig. Allerdings nur für eine Sekunde, denn dann höre ich schon meine Schwester im Hausflur schimpfen.

„Verdammt, Janne, sei froh, dass du hier ausziehst! Vierter Stock ohne Fahrstuhl … Wie kann man sich so was freiwillig antun?“, brüllt sie mir entgegen, noch bevor ich sie sehen kann. Ein gutmütiges männliches Lachen begleitet ihre Tirade.

„Siehst du, Zwerg, es geht noch schlimmer als in meiner Wohnung. Wenn du dich das nächste Mal über meine drei Etagen beschwerst, werde ich dich dran erinnern.“

Oh, das muss Lukas sein. Leos Freund. Ich habe ihn noch nicht kennengelernt – die beiden sind erst seit knapp drei Monaten ein Paar –, aber meine Schwester hatte erzählt, dass er sie immer Zwerg nennt. Irgendwie süß. Mal was anderes als das übliche ‚Schatz‘ oder wie auch sonst Paare sich normalerweise nennen. Ich habe da nicht so die große Erfahrung. Beziehungen sind mir viel zu anstrengend.

Da taucht auch schon ihr Wuschelkopf jenseits meines Treppenabsatzes auf. Leos Wangen sind leicht gerötet, und sie wirkt ein wenig kurzatmig, als sie die letzten Stufen erklimmt. Dabei hat sie durchaus eine Kondition, die sich sehen lassen kann, bedingt durch ihr jahrelanges Tanztraining.

„So, wo ist jetzt meine liebste Schwester?“, fragt sie strahlend und kommt auf mich zu. „Lass dich knuddeln, Große.“ Bevor ich mich wehren kann, hängt sie schon an meinem Hals. Okay, Lukas hat nicht ganz unrecht mit dem ‚Zwerg'. Sie ist wirklich klein und zart, das hatte ich fast schon vergessen; wir haben uns seit … Ich muss ernsthaft nachdenken, aber ich glaube, es ist ungefähr anderthalb Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen haben.

Sanft schiebe ich sie ein Stückchen von mir.

„Wie geht’s dir, Süße?“, frage ich und mustere sie.

Leona wirkt glücklich, das freut mich. Besonders wenn ich daran denke, was sie im letzten Jahr alles durchgemacht hat. Sie bestätigt meinen Eindruck, als sie strahlend einen schnellen Blick über ihre Schulter wirft, zu dem mir unbekannten Mann, der geduldig auf dem Treppenabsatz wartet.

„Es geht mir großartig! Könnte grad nicht besser sein. Und ich freue mich so wahnsinnig, dass ich dich bald wieder in der Nähe habe. Endlich können wir shoppen gehen oder uns treffen ohne lange Terminplanung vorher. Oh Mann, Janne! Ich hab dich so vermisst.“ Sie sieht mich an, und ihre Augen glänzen leicht, als würde sie gleich vor Rührung in Tränen ausbrechen. Mir ist die Situation ein wenig unangenehm. Ich bin es nicht gewohnt, dass Leute mir so nahekommen. Also, ich meine nicht körperlich, damit habe ich keine Probleme, aber emotional …

„Hallo, du musst Lukas sein. Ich bin Janne“, entschärfe ich das Ganze, gehe auf den Unbekannten zu und strecke ihm die Hand hin. Er erwidert meinen kräftigen Händedruck und mustert mich freundlich.

„Hi, ja, genau. Schön, dich kennenzulernen.“

„Ja, Mick und Thomas kommen gleich. Die suchen noch einen Parkplatz. Wir hatten Glück. Wir stehen mit dem Transporter fast vor der Haustür, da ist gerade was frei geworden, als wir ankamen“, erklärt Leo.

„Okay, wollt ihr dann schon mal reinkommen? Ich glaube, es ist alles so weit verpackt, wir müssen nur noch sortieren, was in welchen Wagen kommt, und einladen.“ Ich gehe voran in meine chaotische Noch-Wohnung, und die zwei folgen mir.

„Ich würde euch ja ’nen Kaffee anbieten, aber die Maschine ist auch schon in einem der Kartons verschwunden.“

„Ach, Quatsch, wir sind ja nicht zum Kaffeetrinken hier. Das nette Beisammensein verschieben wir, bis du dich in Hamburg eingelebt hast“, sagt Lukas und winkt ab.

Er scheint wirklich nett zu sein.

Allein, wenn ich die Blicke sehe, die er meiner Schwester zuwirft, könnte ich fast ins Grübeln kommen. Sollte ich es vielleicht doch mal mit so etwas wie einer Beziehung probieren? Ich kann die rosaroten Wolken quasi unter ihren Füßen schweben sehen und die Herzchen springen ihnen bei jedem noch so zufälligen Kontakt aus den Augen.

Aufmerksam sieht Lukas sich um, und ich kann ihm regelrecht ansehen, dass er in seinem Kopf schon Umzugs-Tetris spielt. Welche Kiste passt neben welchen Schrank? Wie stapelt man die Stühle möglichst platzsparend ineinander?

Noch einmal das schrille Klingeln an der Tür.

„Ich geh schon. Das sind Mick und Thomas!“, ruft Leo und öffnet den beiden. Noch zwei Unbekannte … Mick und Thomas kenne ich bisher auch nur aus Leos Erzählungen. Einer der beiden ist wohl ein Kollege von Lukas bei der Kripo und der andere sein Lebensgefährte. Aber wer jetzt wer ist … Ich hoffe mal, das werde ich in den nächsten Stunden herausfinden.

Es ist mir ja ein wenig unangenehm, auf die Hilfe von mir fremden Menschen angewiesen zu sein, aber ich kenne hier in Berlin auch nach fünf Jahren niemanden so gut oder bin gar so eng mit ihm befreundet, dass ich ihn an einem Freitagmorgen zum Möbelschleppen bitten könnte. Eigentlich hat Leona meinen Umzug organisiert. Zumindest das Logistische. Als ich ihr erzählt habe, dass ich zurück nach Hamburg komme, war sie so begeistert, dass sie sich durch nichts mehr stoppen ließ.

Auf einmal wird es laut im Flur. Unter großem Hallo kommen die beiden weiteren Helfer herein, und ehe ich michs versehe, liege ich schon in den Armen des einen und werde herzhaft an eine breite Brust gedrückt.

„Hi, ich bin Thomas, und das hier ist Mick“, stellt sich der Fremde strahlend vor und reicht mich an seinen Freund weiter, der mich auch erst mal knuddelt.

„Ich hab gehört, wir sind demnächst Nachbarn?“, fragt Mick … oder war es Thomas? Verdammt, mein Namensgedächtnis ist nicht unbedingt das Beste …

„Öhm …“, erwidere ich wenig geistreich und sehe meine Schwester fragend an.

„Ja, Mick und Thomas wohnen in derselben Straße, nur zwei Häuser weiter als du. Als ich erzählt hab, dass du in die Nachbarschaft ziehst, wollten sie es sich nicht nehmen lassen, beim Umzug zu helfen.“

„Na, das bietet sich doch auch quasi an, und außerdem gehört es sich so unter Nachbarn, dass man sich gegenseitig hilft, finde ich.“ Diesmal ist es Thomas, der spricht. Ich bin mir fast sicher.

„So.“ Lukas klatscht auffordernd in die Hände. „Dann lasst uns mal loslegen. Janne, was kommt alles in die neue Wohnung? Und was wird erst mal bei eurer Ma eingelagert?“

Ich gehe mit den Männern durch die einzelnen Räume und erkläre ihnen, was wo hingehört. Die Wohnung, in die ich ziehe, ist noch nicht renoviert. Deshalb kommt der Großteil meiner Sachen erst einmal zu meiner Mutter. Die wohnt auf einem umgebauten Resthof außerhalb Hamburgs und hat dort einen ehemaligen Stall als Lagerraum zur Verfügung.


Zwei Stunden später ist die Wohnung leer und der Transporter, den Leo und Lukas mitgebracht haben, ist voll. Ebenso der Passat von Mick und Thomas. Die drei Männer haben geschuftet wie die Tiere, während Leo und ich gerade mal leichtere Kisten tragen durften. Typisch Mann eben …

Die vier fahren schon mal los und bringen meine Sachen zu meiner Ma. Ich kann noch nicht mit, weil ich erst auf meine Vermieterin warten muss, um die Wohnung zu übergeben. Zum Glück brauche ich hier nicht auch noch zu renovieren. Da hätte ich nicht gewusst, wie ich das alles hätte schaffen sollen. Um mir die Wartezeit zu vertreiben, wandere ich durch die leeren Räume und lasse noch einmal die letzten Jahre Revue passieren. Fünf Jahre … eine lange Zeit. Fünf Jahre lang habe ich mich hier verkrochen. Ja, verkrochen trifft es wohl ganz gut. Ich hatte wenig Kontakt zu meiner Mutter und meiner Schwester. Das konnte ich einfach nicht. Ich habe es nicht ertragen.

Stattdessen habe ich hier in Berlin mein Leben gelebt. Na ja, gelebt … Viel zu viel gearbeitet habe ich und meine Freizeit mit Laufen verbracht. Beinahe jedes Wochenende bin ich rausgegangen, feiern, saufen, Party machen und flirten.

Ich habe mir die Selbstbestätigung geholt, die ich brauchte, Typen kennengelernt und mit ihnen die Nächte verbracht. Auf der Tanzfläche und auch im Bett. Aber niemals wollte ich mehr als das. Es war wie ein innerer Drang.

Ja, ich war eine Schlampe. Bis vor ein paar Monaten … Meine Hand wandert auf meinen Bauch und Tränen steigen mir in die Augen. Vor gut drei Monaten, kurz vor Weihnachten, hat sich alles geändert. Ich brauchte noch zwei weitere Monate, bis ich endlich aufgewacht bin. Bis ich bereit war, mich dem zu stellen, was ich immer verdrängt hatte. Bis ich bereit war, mein Leben zu ändern und nicht mehr davonzulaufen. Und dennoch habe ich oft genug Angst vor meiner eigenen Courage. So wie gestern Abend, als mich die Panik zu überwältigen drohte.

Die Türklingel schrillt und reißt mich aus meinen Gedanken. Die Vermieterin.


Dreieinhalb Stunden später parke ich vor meinem Wohnblock. Die Übergabe der alten Wohnung war schnell und recht formlos. Ich hoffe, hier wird es gleich ebenso gehen, denn obwohl ich nicht so wahnsinnig viel zu schleppen hatte, bin ich doch schon wieder müde. Und ich weiß ja, der Tag ist noch nicht zu Ende. Die anderen vier haben meine Möbel bei Ma eingelagert und kommen gleich mit dem Rest an, der nicht mehr in meinen kleinen Fiesta gepasst hat. Dann heißt es raufschleppen und, wie es die Höflichkeit erfordert, eine Runde Pizza für alle bestellen. Wenigstens das kann ich als kleines Dankeschön ja wohl anbieten.

Seufzend steige ich aus dem Auto und bleibe unschlüssig auf dem Bürgersteig stehen. Ich sehe an der alten Fassade hinauf und kann es noch nicht so recht glauben, dass ich jetzt wirklich hier bin. Es fühlt sich so unwirklich an. Ein nett aussehender Mann, ungefähr in meinem Alter, kommt auf mich zu und lächelt mich freundlich an. Automatisch erwidere ich das Lächeln. Ja, in Berlin auf der Tanzfläche hätte ich sicher den einen oder anderen weiteren Blick riskiert. Er ist wirklich nett anzusehen. Blonde, kurze Haare, schlank, gute einsfünfundachtzig. Entspricht schon meinem Beuteschema. Aber das ist Vergangenheit, rufe ich mich selbst zur Ordnung und tausche das Flirtlächeln auf meinen Lippen gegen ein geschäftsmäßiges.

„Hallo, Frau Reimers?“, fragt der Mann und gibt sich damit als der Makler zu erkennen, auf den ich warte. Bei der Wohnungsbesichtigung vor drei Wochen hatte ich nur seine Urlaubsvertretung kennengelernt.

„Ja, genau. Und Sie sind Herr Schneemann?“ Sein Blick wandert ebenso unprofessionell über mich wie meiner eben noch über ihn. Nur schwer kann ich ein wissendes Grinsen unterdrücken. Ja, wenn ich wollte … Aber ich will nicht!

„Gut erkannt. Wollen wir hochgehen? Ich hoffe, die Wohnung gefällt Ihnen“, sagt er und geht voran in den Hausflur. Ich folge ihm, während wir uns weiter unterhalten.

„Ach, da bin ich mir sicher. Solange Sie nicht seit der Besichtigung alles olivgrün gestrichen haben, wird es schon passen“, scherze ich und ernte dafür ein herzhaftes Lachen.

„Nein, die Wohnung ist seitdem unverändert. Na ja, fast. Das Bad und die Küche sind mittlerweile fertig gefliest und die Einbauküche ist auch drin. Sie können also heute noch kochen.“

Ich lache auf. „Na, heute wird wohl eher der Lieferservice ausprobiert. Aber gut zu wissen, dann kann ich morgen noch Großeinkauf machen.“

Herr Schneemann schließt die Wohnungstür, vor der wir mittlerweile stehen, auf und geht einen Schritt beiseite, um mir den Vortritt zu lassen. Ja, wie angekündigt. Meine neuen drei Zimmer sind unverändert. Auf dem Boden nur der blanke Estrich, die Wände weder tapeziert noch gestrichen. Das muss ich in den nächsten Wochen in Angriff nehmen. Viel Arbeit. Vor allem, da ich vorhabe, wirklich alles allein zu machen.

Nachdem ich so lange weg war, kenne ich hier in Hamburg niemanden mehr, außer meinen fleißigen Umzugshelfern, doch die möchte ich nicht noch mehr behelligen.

Aber ich habe ja Zeit. Keiner drängt mich.

Meine Wohnung gehört mir ganz allein und ich werde mich ganz sicher nicht mit der Renovierung stressen. Davon hatte ich in den letzten Monaten wahrlich genug.

Zum ersten April habe ich einen neuen Job, bis dahin habe ich noch zwei Wochen rund um die Uhr Zeit, da wird es wohl machbar sein, die Räume herzurichten, ohne sich zu überarbeiten. Sollte ich nicht fertig werden bis dahin, arbeite ich halt nach Feierabend oder an meinen freien Tagen weiter daran.

In Berlin habe ich nach meinem BWL-Studium in einer Bank gearbeitet. Als Beraterin für Kapitalanlagen, aber ob ich wieder so einen Bürojob möchte, ist mir noch nicht so ganz klar.

Während des Studiums habe ich mir mein Geld mit Kellnern verdient, das hat mir damals gut gefallen, und so habe ich mir erst einmal wieder einen Job in der Gastronomie gesucht. Ein kleines schmuckes Restaurant direkt am Elbstrand mit großartigem Essen und wunderschöner Aussicht ist mein neuer Arbeitsplatz, und ich freue mich schon sehr darauf, dort anzufangen.


„So, Frau Reimers. Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“, fragt Herr Schneemann nach dem üblichen Rundgang durch alle Räume. Seine Frage ist ebenso zweideutig wie sein Blick.

Nein, Janne. Er ist tabu!

Ich muss mich selbst zur Ordnung rufen, damit ich nicht doch noch in alte Verhaltensmuster verfalle. Ich weiß genau, wie schnell aus einem kleinen Flirt ein One-Night-Stand werden kann.

Zum Glück klingelt es in diesem Moment an der Tür. Das können doch nur meine fleißigen Helfer sein, die mich gerade retten. Schnell unterschreibe ich das Übergabeprotokoll, während Herr Schneemann die anderen schon einmal hereinlässt.

„Ha, erster Stock. Danke, liebste Schwester, du rettest mir gerade den Tag!“, sagt Leo freudig, als sie nur Sekunden später durch die Tür stürmt, gefolgt von Mick, Thomas und Lukas, die schon mit den ersten Kartons beladen sind.

„Schön, dass du dich an meiner Wohnung erfreust“, erwidere ich ironisch und zeige den Männern, wo sie ihre Fracht abstellen dürfen.

„Ich sehe schon, hier gibt es noch reichlich Arbeit heut Nachmittag. Dann werde ich Sie mal nicht länger aufhalten.“ Herr Schneemann gibt mir zum Abschied noch einmal die Hand. Einen Tick zu lange für eine geschäftliche Verabschiedung behält er meine Hand in seiner und sieht mir dabei unverwandt in die Augen. Ein dunkles Braun, wie Kaffee mit einem kleinen Schuss Milch. Ja, Beuteschema, durchaus … Ein wenig wehmütig verabschiede ich ihn an der Wohnungstür und sehe ihm nach, wie er durch das Treppenhaus verschwindet. Und so ein netter Hintern …

2

Erste Eindrücke


Am nächsten Morgen erwache ich leicht verkatert. Völlig übermüdet brauche ich einen Moment, um mich zu orientieren, bevor ich mich von der Matratze rolle, die im Moment noch meine Schlafstätte ist. Nach einem Umweg über die Küche, wo ich die Kaffeemaschine starte, schlurfe ich ins Bad. Erst mal Zähne putzen und diesen ekelhaft pelzigen Geschmack von der Zunge schrubben.

Ein Blick in den Spiegel lässt mich aufstöhnen, ich sehe wirklich scheiße aus, als hätte ich die ganze Nacht gesoffen. Okay, so ähnlich war es ja auch … Nachdem wir alles in mein neues Domizil geschafft haben, hat meine liebste Schwester noch eine Kühlbox mit ein paar Flaschen Sekt und Bier aus dem Auto hervorgezaubert. Dazu haben wir Pizza bestellt, wie ich geplant hatte, und uns einen gemütlichen Abend gemacht. Bis weit nach Mitternacht haben wir zusammengesessen und gequatscht, und das nach der ganzen Plackerei.

Mick und Thomas sind wirklich nett, und ich freue mich, dass sie fast nebenan wohnen. Ich habe zwar nicht vor, auf die von ihnen angebotene Renovierungshilfe zurückzukommen, aber sollten doch alle Stricke reißen, weiß ich, die beiden sind nur zwei Türen weiter und im Notfall da.

Nach zwei großen Bechern Kaffee, einer Aspirin und einer ausgiebigen Dusche geht es mir ein wenig besser. Zum Glück, denn ich habe ja noch so einiges vor.

Heute ist erst einmal Großeinkauf im Baumarkt angesagt. Tapeten, Wandfarbe und diverse andere Sachen stehen auf der Einkaufsliste, die ich schon in Berlin angelegt habe. Außerdem sollte ich wohl meinen Kühlschrank ordentlich bestücken.


Am frühen Nachmittag parke ich meinen Wagen wieder vor dem Wohnblock. Ich habe das Gefühl, der kleine Fiesta muss hinten deutlich tiefer liegen als vorne, so voll, wie der Kofferraum und die Rückbank sind. Die Einkäufe aus dem Supermarkt musste ich schon auf dem Beifahrersitz stapeln, weil hinten einfach kein Platz mehr war. Na gut, mein Kleinwagen ist vielleicht nicht ganz das richtige Transportmittel für solche Großeinkäufe …

Seufzend steige ich aus dem Auto. Jetzt muss der ganze Kram nur noch hoch in meine Wohnung. Kurz bin ich versucht, doch bei Mick und Thomas zu klingeln und um Schlepphilfe zu bitten, aber das lässt mein Stolz nicht zu. Also, ran an die Arbeit.

Ich öffne die Kofferraumklappe und lasse meinen Blick über die Farbeimer, Rollen, Folien und sonstigen Einkäufe gleiten. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der nette Verkäufer im Baumarkt mir deutlich mehr aufgeschwatzt hat, als ich eigentlich benötige.

Ich meine, eine zwei Meter lange Wasserwaage? Brauche ich die wirklich? Ich habe keine Ahnung, aber ich werde es wohl in den nächsten Wochen herausfinden.

Ich schnappe mir die ersten beiden Farbeimer und bringe sie hoch in meine Wohnung. Als ich wieder vor dem Auto stehe, ist nicht ersichtlich, dass überhaupt schon etwas fehlt. Wenn ich also nicht noch zwanzigmal gehen will, sollte ich alle Kraft zusammennehmen und mich etwas mehr beladen. Außerdem sollte ich vielleicht mit den Lebensmitteln anfangen, nicht dass meine Tiefkühlware gleich aufgetaut ist – das hier scheint sich ja etwas länger hinzuziehen.

Okay, Janne. Du musst deutlich organisierter werden, ansonsten wird das hier nie etwas.

Ich schnappe mir die drei großen Tüten vom Beifahrersitz, klemme mir die Packung Klopapier unter den Arm und steuere wieder die Haustür an. Zum Glück war ich so schlau, beim Türschloss den Schnappverschluss einzurasten.

Mit Schwung werfe ich mich gegen das Türblatt, ich höre das Klicken, als sie sich öffnet, und plötzlich ist da … nichts.

„Waaah!“, schreie ich auf und stolpere in den Hausflur. Die Packung Klopapier rutscht und fällt mir direkt vor die Füße, ich kann ihr nicht ausweichen.

„Schei…!“ Mit einem Krachen landen die Tüten und ich auf dem harten Fliesenboden. „Was ist denn jetzt …? Verdammt, das tat weh!“, fluche ich und reibe mir meinen lädierten Hintern. Verwirrt sehe ich auf, als ich ein leises Lachen höre.

„Entschuldigung! Das wollte ich nicht. Ich wusste nicht, dass du vor der Tür stehst. Komm, ich helfe dir auf.“

Noch immer habe ich nicht begriffen, wieso ich auf einmal im Hausflur auf dem Hosenboden sitze. Ich sehe eine Hand, die mir auffordernd hingehalten wird, und lasse meinen Blick langsam nach oben wandern. Vor mir steht ein Mann, den ich auf den ersten Blick schon in eine Schublade stecke. Diese kleinen fiesen Dinger, die fast jeder in seinem Kopf hat, auch wenn es die wenigsten zugeben. Ich habe sie auch, und auf einigen steht sogar ein großes Warnschild. So auch auf dieser hier. Surferboy!

Dunkelbraune, etwas längere Haare, ein wenig gelockt und mit von der Sonne gebleichten Strähnchen drin. Der Pony hängt schräg über seine Stirn, so dass man nur einen Teil der Augenbrauen sehen kann, die sich gerade leicht nach oben heben. Die Haut ist gebräunt, allerdings sieht es nicht nach Urlaubsbräune aus, sondern wirkt eher etwas exotisch auf mich. Ist er Spanier? Italiener? Irgendwie südländisch jedenfalls. Egal …

Mein Blick wandert weiter über das schöne Gesicht des Fremden, bis ich in zwei silbergraue Augen sehe. Wow, diese Augen sind unglaublich. Umrahmt von schwarzen langen Wimpern, auf die jede Frau neidisch werden dürfte, blitzen sie mich belustigt an.

„Na, hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragt er und grinst. Ein kleines Grübchen erscheint auf seinem Wangenknochen, direkt unter dem Auge. In seiner tiefen Stimme klingt ganz leicht ein Akzent mit, aber ich kann nicht zuordnen, woher der kommen könnte. Vielleicht englisch? Oder doch eher amerikanisch?

Mensch, Janne. Jetzt reiß dich mal zusammen, bevor du hier anfängst zu sabbern. Dieser Typ ist nichts für dich! Er ist ein Surferboy!

Die Jeans, die schon leicht abgetragen wirkt und viel zu tief auf seinen schmalen Hüften sitzt, das Trägershirt, das seine gebräunte Haut und seine kräftigen Oberarme betont, obwohl es dafür viel zu kalt draußen ist. Das Lausbubengrinsen, mit dem er mich betrachtet. Ich kenne diesen Typ Mann zur Genüge. So wie er aussieht, nimmt er das Leben nicht ernst. Vermutlich ist er ein Dauerstudent, der seine Zeit lieber mit Partys verbringt, als zu lernen. Verantwortungsbewusstsein gleich null und am besten jede Woche eine andere Frau flachlegen.

„Äh … nein. Ich … kann schon noch reden.“

Na super! Was für eine grandiose Antwort, Janne!

Er bestätigt mir meine Blödheit auch gleich durch ein lautes Lachen. „Oh, das ist gut. Wäre auch schade, wenn nicht. Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan.“

„Ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht mal ganz sicher, wie ich hier auf dem Boden gelandet bin“, gebe ich zu. Zeitgleich wird mir bewusst, dass ich noch immer vor ihm sitze. Schnell rappele ich mich auf. Ein Zischen entfährt mir, als mir der Schmerz durch den Hintern bis ins Kreuz schießt.

„Geht’s dir gut? Hast du dir doch wehgetan?“, fragt er und greift nach meinem Oberarm.

„Nein, geht schon. Danke!“ Schnell trete ich einen Schritt zurück aus seiner Reichweite.

„Okay …“ Zweifelnd sieht er mich an, wie ich vor ihm stehe und mir abwechselnd den Hintern und das Kreuz reibe. „Ich wollte das echt nicht. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich ausgerechnet in dem Moment gegen die Tür schmeißt, wenn ich sie von innen aufmache.“ Er sieht mich zerknirscht an und verzieht die Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln.

„Macht nichts. Es ist ja nichts passiert. Woher solltest du das auch wissen? Oder kannst du durch Holz sehen?“, versuche ich, ihn zu beruhigen. So allmählich würde ich gern hier weg. Ich weiß nicht warum, aber dieser Typ hier vor mir macht mich nervös. Außerdem habe ich heute noch mehr als genug zu tun.

„So, ich werde dann auch mal weitermachen“, verabschiede ich mich und sammele meine heruntergefallenen Einkäufe wieder ein.

„Hey, warte! Ich hab dich hier noch nie gesehen, hast du die Wohnung von der alten Frau Hinze bekommen?“

„Keine Ahnung, wer Frau Hinze ist, aber ich wohne seit gestern hier, falls du das meinst. Im ersten Stock, die Wohnung rechts ist meine.“

„Oh cool, dann werden wir uns sicher häufiger sehen. Ich hab die direkt unter dir, Erdgeschoss rechts. Herzlich willkommen hier im Haus! Ich bin übrigens Callen – oder einfach Cal.“

„Ich bin Janne, und wenn ich ehrlich bin, muss ich langsam loslegen, ich hab noch wahnsinnig viel zu tun heute.“

Okay, die Ansage war wohl deutlich, wenn auch grenzwertig unhöflich, aber ich werde in seiner Gegenwart von Sekunde zu Sekunde kribbeliger.

Callen scheint es allerdings nicht zu stören, denn er strahlt mich nur freundlich an. Ein wahrer Sonnenschein, den nichts so schnell verschrecken kann.

„Ja, ich wollte dich nicht aufhalten. Brauchst du vielleicht Hilfe? Ich wollte nur grad zum Bäcker, aber das hat auch noch Zeit.“ Er sieht auf die Taschen und das Klopapier in meinen Armen, die langsam ziemlich schwer werden.

„Nein, danke! Ist nicht mehr viel. Ich schaff das schon“, weise ich ihn ab und wende mich zur Treppe. Wenn ich die Sachen nicht bald abstelle, kann ich mir im aufrechten Gang die Füße kratzen, so lang werden meine Arme.

„Oder soll ich dir was mitbringen? Brötchen? Kuchen? Die machen da die besten Schokomuffins der Stadt. Wenn du den Kaffee kochst, bring ich die Muffins mit“, versucht er es noch mal, grinst mich an und wackelt mit den Augenbrauen. Was soll das denn jetzt werden? Kaffee trinken mit dem neuen Nachbarn? Nein danke und vor allem nicht in meiner chaotischen Wohnung …

„Sorry, keine Zeit. Man sieht sich sicher die Tage. Bis dann, Callen!“, rufe ich noch über die Schulter zurück und verschwinde nach oben.

In meiner Wohnung schenke ich mir erst einmal etwas zu trinken ein.

Oh Mann, was war das denn gerade? Seit wann werde ich denn bei einem Mann nervös? Das hatte ich ja noch nie. Okay, lag bestimmt nur an der Peinlichkeit, ihm quasi vor die Füße gefallen zu sein.

Während ich über die merkwürdige, peinliche und irgendwie kribbelig machende Begegnung nachdenke, verstaue ich schnell die Einkäufe.

Bin ich froh, dass Leo mich gestern Abend noch dazu gedrängt hat, nicht nur den Sekt mit ihr zu trinken, sondern nebenbei schon mal die Küchenschränke zu schrubben und die Kartons mit Geschirr und Kochutensilien auszupacken. Somit ist die Küche als erster Raum fast schon wohnlich. Ein kleiner Tisch und die zwei Stühle stehen auch bereits an der Wand. Na gut, es fehlt noch eine Lampe, aber erst einmal komme ich wohl mit der kleinen Glühbirne an der Dunstabzugshaube klar. Das heißt, ich kann mir heute Abend schon etwas Schönes kochen. Vielleicht Schweinefilet in Gorgonzolasoße? Und dazu Nudeln? Das geht schnell, ist aber wahnsinnig lecker. Während ich noch überlege, gehe ich langsam wieder hinunter zu meinem Auto. Jetzt kommen noch die ganzen Renovierungssachen und dann kann es losgehen. Vielleicht schaffe ich es, heute wenigstens noch das Schlafzimmer zu tapezieren. So lange kann das ja wohl nicht dauern …


Kaum aus der Haustür fällt mein Blick auf Callen, der lässig an meinem Kotflügel lehnt. Großartig! Ich habe noch nicht mal die Begegnung von eben verarbeitet, und jetzt ist er schon wieder da.

„Ich hab dir ’nen Muffin mitgebracht. Als kleine Entschuldigung für deinen Sturz eben. Ich hoffe, du magst Schokolade? Und das mit dem Kaffee eben … Das war nicht wirklich ernst gemeint. Ich kann mir schon denken, dass du am Tag nach dem Einzug anderes zu tun hast, als ein gemütliches Kaffeekränzchen abzuhalten.“ Er schenkt mir ein wirklich süßes Lächeln, das ich automatisch erwidere.

Einen Moment lang sehen wir uns nur an, seine silbrigen Augen funkeln, und ich merke, dass ich schon wieder unruhig werde. Ich habe das Gefühl, er sieht mehr, tiefer in mich, als es eigentlich sein kann. Wir kennen uns nicht, und ich habe auch nicht vor, das zu ändern. Ich will doch nur meine Ruhe haben …

„Nimmst du ihn oder soll ich ihn noch länger festhalten?“, fragt er irgendwann augenzwinkernd. Meine Verwirrung muss mir anzusehen sein, denn er schiebt ein „Den Muffin mein ich“ hinterher und drückt mir eine Bäckertüte in die Hand.

„Oh … ich … Danke! Und ja, ich liebe Schokolade.“ Ein wenig verspätet fällt mir seine Frage wieder ein, die ich noch nicht beantwortet habe.

„Hey, sag mal, willst du das alles hier heute noch raufschleppen? Allein?“, fragt er und deutet durch die Heckscheibe in meinen Wagen. Die Hutablage musste ich ausbauen, ansonsten hätte ich erst recht nicht alles hineinbekommen. Somit hat er einen perfekten Ausblick auf meine gesamten Renovierungsutensilien.

„Ja, hatte ich eigentlich vor.“ Seufzend sehe auch ich auf den riesigen Berg, der sich da auftürmt.

„Na gut, dann solltest du doch Kaffee kochen. Ich pack mit an, und wenn wir alles oben haben, essen wir unsere Muffins. Ich hab auch einen“, erklärt er und zeigt auf eine weitere Tüte, die er noch in den Händen hält. „Und ich will jetzt keine Widerrede hören. Schließ den Wagen auf und dann geht’s los.“

Ein wenig sprachlos betätige ich den Türöffner und Callen greift gleich vier der schweren Farbeimer, immer zwei in jeder Hand. Ich selbst bin froh, wenn ich zwei hochgehoben kriege … Schnell schnappe ich mir ein paar Tüten und folge ihm, als er schon die Haustür ansteuert. Diesmal habe ich sie lieber ganz offen stehen gelassen, mein Rücken tut nach dem Sturz eben noch immer etwas weh.

Es dauert nicht mal eine halbe Stunde, bis wir gemeinsam alles in meine Wohnung geschafft haben. Jetzt ist mein zukünftiges Wohnzimmer zwar kaum noch zu betreten, aber ich hoffe ja, dass sich das bald wieder ändert. Mit dem versprochenen Kaffee und unseren Muffins setzen wir uns an den Küchentisch.

„Na, hier hast du dir ja noch einiges vorgenommen. Die Wohnung ist ja ein Rohbau. Das war mir gar nicht klar“, sagt Callen.

„Ja, sie mussten wohl, als die Vormieterin ausgezogen ist, alles rausreißen, weil es so verwohnt war. Und da ich nicht die Zeit hatte, auf die Renovierung zu warten, mache ich sie halt selbst. Macht aber auch nichts; wichtig ist nur, dass ich eine funktionierende Küche und ein Bad habe, der Rest hat Zeit. Und dafür darf ich die ersten zwei Wochen mietfrei hier wohnen.“

„Na ja, stimmt wohl. Aber trotzdem, viel Arbeit für eine Frau.“

Wie bitte? Ich glaube, ich höre nicht recht! Was ist das denn für ein Machospruch?!

„Willst du damit sagen, dass ich als kleines schwaches Frauchen es nicht schaffe, ein paar Wände zu streichen und Möbel aufzubauen und hinzustellen?“, frage ich genervt.

„Na, damit ist es wohl nicht ganz getan“, erwidert er mit einem vielsagenden Blick in Richtung Estrich. „So krass hätte ich es jetzt nicht formuliert, aber ja, letztlich ist es doch so. Ich meine, sieh dich an. Du bist, wie groß? Vielleicht einsfünfundsechzig? Und wiegst doch grade mal 50 Kilo. Du bist ein halber Hahn, den ein Windstoß umpusten könnte. Wie willst du das hier alles schaffen?“ Er deutet auf das Chaos im Wohnzimmer, das man durch die offene Küchentür sehen kann. Jetzt bin ich richtig sauer. Ich stehe auf, stütze mich auf die Tischplatte und beuge mich zu ihm herunter.

„Weißt du was, Callen, es ist mir scheißegal, was du denkst. Wenn du meinst, ich schaffe das hier nicht, dann hast du dich aber geschnitten. Ich mag klein und leicht sein, okay. Aber nichtsdestotrotz bin ich durchaus trainiert. Ich kann vielleicht keine vierzig Kilo Hanteln stemmen, aber ich habe Biss, und wenn ich mir etwas vornehme, dann packe ich das auch!“, fahre ich ihn an. „Und jetzt, denke ich, ist unser Kaffeeklatsch hier beendet. Ich hab zu tun und solche Sprüche muss ich mir nicht geben. Erst recht nicht von einem Macho, wie du einer bist. So wie du aussiehst, hast du in deinem Leben vermutlich keinen Tag wirklich gearbeitet. Du bist doch nur ein Sonnyboy, der seine Tage verplempert. Und jetzt geh! Du weißt, wo die Tür ist, also bitte.“

Ein Grinsen zieht sich bei meinen Worten über sein Gesicht, aber es erreicht nicht seine Augen. Ein wenig spöttisch sieht er mich an und steht dann langsam auf.

„Sonnyboy, ja? Hm, vielleicht hast du recht. Ich sollte jetzt gehen, heute Abend steht tatsächlich noch eine Party an und dafür muss ich mich noch stylen.“ Lässig winkt er über die Schulter und verschwindet aus der Küche.

Sekunden später höre ich die Wohnungstür klappen. Luft entweicht zischend aus meinen Lungen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich sie angehalten habe. Ich bin so sauer! Mein erster Eindruck hat mich anscheinend nicht getrogen. Er ist wirklich der verantwortungslose Surfertyp, der nur in den Tag hinein lebt und von einer Party zur nächsten wackelt. Dabei hatte ich gerade angefangen, meine Meinung über ihn zu revidieren, als er mir so nett beim Schleppen geholfen hat.

Unruhig und wütend stapfe ich durch meine Wohnung. Von wegen, ich schaffe das nicht allein! Und was haben denn bitte meine Größe und mein Gewicht damit zu tun? Was maßt er sich eigentlich an? Dem werde ich es zeigen. Wenn alles fertig ist, sollte ich vielleicht eine Einweihungsparty schmeißen und Callen einladen, als Beweis sozusagen. Damit er es mit eigenen Augen sieht. Na, der wird staunen!

Langsam rege ich mich wieder ab und fange an, mir einen Plan zu machen. Okay, als Erstes das Schlafzimmer. Ich schnappe mir die Abdeckfolie und das Klebeband und fange an, den Boden abzudecken. Auch wenn es nur Beton ist bisher, muss ich den ja nicht total vollkleckern. Draußen wird es langsam dunkel, und ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon fast sechs ist. So ein Mist, ich dachte, ich wäre schneller. Da ich noch keine Lampen an der Decke besitze, sondern nur einen Standfluter, kann ich heute Abend wohl doch nicht mehr tapezieren.

Nachdem ich aber zumindest den Fußboden im Schlafzimmer schon mal abgedeckt habe, mache ich Feierabend und gehe in die Küche. Ich wollte ja noch kochen. Schon überkommt mich wieder die Müdigkeit. Meine Augenlider werden schwer, dabei ist es noch früh am Abend, und ich weiß, wenn ich jetzt schon schlafen gehe, bin ich mitten in der Nacht wieder wach. Ich muss also noch etwas durchhalten.

Gerade habe ich die Nudeln abgegossen, als mein Blick aus dem Küchenfenster hinter der Spüle wandert. Callen überquert in diesem Moment die Straße und geht auf einen recht neu aussehenden BMW zu. Anscheinend geht seine Party gleich los. Zumindest hat er sich umgezogen und sieht tatsächlich gestylt aus, wie ich im Licht der Straßenlaterne erkennen kann. Die lockigen Haare hat er mit Gel in Form gebracht, er trägt eine eng sitzende Jeans, die seinen Hintern wahnsinnig gut zur Geltung bringt, Sneakers und dazu eine dunkelbraune Lederjacke. Einzig die Jacke sieht aus, als hätte sie schon bessere Tage gesehen, aber ich bin ja auch der Meinung, Lederjacken müssen so aussehen.

Ich fühle, wie sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln verziehen. Ja, mir gefällt, was ich sehe. Als hätte er gespürt, dass ich ihn beobachte, dreht er sich in diesem Moment um und sieht zu mir hoch. Ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel, er hebt die Hand und winkt mir zu.

Abrupt wende ich mich ab und trete ein paar Schritte zurück, als mir seine blöden Sprüche von vorhin wieder einfallen. Wie konnte ich mich nur so vergessen und diesen Arsch auch noch anschmachten?

Verdammt, Janne! Jetzt reiß dich mal zusammen! Gestern der Makler und heute Callen. Ich will nichts mehr mit Männern anfangen, deshalb bin ich doch hergezogen.

Während ich esse, versuche ich mich mit Gedanken an die bevorstehende Arbeit abzulenken. Morgen muss ich ernsthaft loslegen, auch wenn Sonntag ist. Tapezieren macht ja zum Glück keinen Lärm, so dass sich wohl auch kein Nachbar beschweren wird, hoffe ich.