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Dieter Boden

Georgien

Ein Länderporträt

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Für Georgi Melikischwili, den lieben georgischen Freund, der allzu früh verstarb, und für seine Familie.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Mai 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom Mai 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Cover: Stephanie Raubach, Berlin, unter Verwendung eines Fotos mit Blick auf die Hauptstadt Tbilissi, Georgien (thinkstock)

Karte: Peter Palm, Berlin

eISBN 978-3-86284-414-2

Inhalt

Einführung

Georgien im Umbruch

Das Land nach der Unabhängigkeit von 1991

Der »wilde Kaukasus« und einige Fakten zum heutigen Georgien

Ein Blick zurück in die Geschichte

Eine Leidenschronik an Niederlagen

Russland kommt als Eroberer – der Anfang einer traumatischen Erfahrung

Der russische Georgien-Mythos

Georgien unter der Sowjetmacht

Stalin – immer noch lebendig?

Georgien in jüngerer Zeit

Das Land unter Schewardnadse

Die »Rosenrevolution« Saakaschwilis und ihre Folgen

Der neue starke Mann der georgischen Politik: Bidsina Iwanischwili

Die Sezessionskonflikte um Abchasien und Südossetien

Die Wurzeln des Problems

Die Konfliktregelungsbemühungen der internationalen Gemeinschaft – ein andauerndes Dilemma

Abchasien und Südossetien in der Isolation

Die Hauptstadt Tbilissi – Metropole mit westlichem Lebensstil

Die verschiedenen Gesichter der Stadt

Kirchen, Museen und der Rustaweli-Prospekt als Flaniermeile

Von der Vielfalt der Regionen

Unterwegs in Georgien

Das christliche Erbe – Kirchen und Klöster

Auf den Höhen des Kaukasus – die Große Grusinische Heerstraße

Relikte der sowjetischen Vergangenheit

Kachetien und Swanetien – neue Schwerpunkte des Tourismus

Die alte Kolchis in neuem Gewand: Batumi und die georgische Schwarzmeerküste

Georgiens Wirtschaft

Der schwierige Neuanfang nach der Sowjetzeit

Der Energiesektor als Zukunftsversprechen

Kultur und Religion

Georgien als kulturelle Macht

Die georgisch-orthodoxe Kirche – höchste Autorität im Land

Lebensart und Mentalität

Die georgische Küche

Tischsitten und die Rolle des Tamada

Georgien als Wiege des Weins

Über die georgische Mentalität

Deutsch-georgische Begegnungen

Anhang

Literatur

Schlüsselereignisse der georgischen Geschichte

Karte

Basisdaten

Über den Autor

Einführung

O sing, Du Schöne, sing mir nicht,

Georgiens wehmutsvolle Lieder.

Sie wecken wie ein Traumgesicht mir

fernes Land und Leben wieder.

Alexander Puschkin, russischer Schriftsteller, 1828

Georgier erzählen mit Vorliebe folgende Legende: Nachdem Gott die Erde erschaffen hatte, verteilte er das Land an die verschiedenen Völker. Dabei fehlten allerdings die Georgier; sie erschienen erst, als die Verteilung schon beendet war. Fröhlich begannen sie zu singen und zu tanzen. Da hatte Gott ein Einsehen und gab den Georgiern jenes Stück Land, das er eigentlich für sich selbst zurückbehalten hatte.

Hier drücken sich die Mentalität und das Selbstverständnis der Georgier aus: ein Gefühl des Auserwähltseins, Stolz auf die einzigartige Schönheit des Landes, das Kokettieren mit den eigenen Schwächen. All dies ist mir immer wieder begegnet, seit ich 1969 zum ersten Mal in das Land kam und dort später über mehrere Jahre lebte, um im Auftrag internationaler Organisationen bei der Regelung von Sezessionskonflikten mitzuhelfen. Bis heute beeindrucken mich der außerordentliche Charme Georgiens, seine einzigartige Natur, die Lebensart seiner Einwohner und ihr Selbstbehauptungswille in den vielen Wechselfällen der Geschichte, der Reichtum ihrer Kultur. Dabei blicke ich auch dankbar zurück auf eine Fülle an menschlichen Begegnungen.

Georgiens Kultur wurzelt zutiefst in europäischen Traditionen. Hier wurde Prometheus dem Mythos nach für ewig an einen Kaukasusfelsen geschmiedet, weil er den Menschen das Feuer gebracht hatte. Jason und die Argonauten sollen das Goldene Vlies aus dem westgeorgischen Königreich Kolchis geraubt haben, um es nach Griechenland zu entführen. Bereits im 4. Jahrhundert nahm Georgien das Christentum an – damit gehört die georgische Orthodoxie neben der armenischen zu den ältesten christlichen Konfessionen überhaupt. Bis heute leiten viele Georgier daraus den Anspruch ab, die »ersten Europäer« gewesen zu sein. Als das römische Weltreich zusammenbrach, war Georgien jedenfalls ein integraler Bestandteil Europas in seiner griechischen Ausprägung und blieb dies auch während der anschließenden Epoche, die zunächst von byzantinischer Herrschaft bestimmt war.

Seit dem frühen Mittelalter jedoch versank Georgien in Kriegen und Anarchie, die verschiedene Eroberer über das Land brachten. Jahrhundertelang war es abgeschlossen von Europa und kämpfte, wesentlich auf sich allein gestellt, um die Erhaltung seiner Identität. Erst die Eingliederung in das Zarenreich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bewirkte eine gewisse Wiedereröffnung von Verbindungen nach Westen. Einen erneuten Rückschlag brachte die Sowjetzeit, in der Georgien fast vollständig nach Westen hin abriegelt wurde. Das Land war auf dem Luftwege damals nur über Moskau zu erreichen, daneben allenfalls noch mit sowjetischen Ferienschiffen über das Schwarze Meer.

Mit seiner Unabhängigkeit, die am 9. April 1991 proklamiert wurde, kehrte Georgien nach Europa zurück. Nach einem Bürgerkrieg und Kriegen um die abgefallenen Landesteile Abchasien und Südossetien vermittelt es dem Besucher heute den Eindruck eines stabilen Staatswesens. In der internationalen Gemeinschaft wird es als ein dem friedlichen Zusammenleben verpflichtetes, kooperationsbereites Land wahrgenommen. Auf zahlreichen Verkehrswegen ist es frei zugänglich, aus Deutschland gibt es unter anderem von Memmingen, München, Dortmund, Frankfurt und Berlin aus Direktflüge. Die Wirtschaft ist auf einem guten Wege voran, wenngleich Strukturprobleme bestehen bleiben. Außenpolitisch verfolgt Georgien einen Kurs, der konsequent auf die Integration in die Europäische Union gerichtet ist. Außer den baltischen Staaten hat wohl kein anderer Nachfolgestaat der Sowjetunion sein Schicksal so konsequent mit dem Europas verbunden wie Georgien.

Auch bei uns wächst mittlerweile das Interesse an Georgien. Das zeigt sich zum Beispiel in der über die letzten Jahre stetig ansteigenden Zahl an deutschen Touristen, die es dorthin zieht, auch im immer intensiver werdenden kulturellen Austausch, durch den wir in den letzten Jahren mit herausragenden georgischen Künstlern vor allem aus der Musik und der Literatur bekannt geworden sind. Aber unsere Kenntnisse über das Land sind immer noch diffus. Sie speisen sich vielfach aus Quellen, die in die Vergangenheit führen, etwa die Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommenen Naturidyllen vom »wilden Kaukasus« und nicht selten sogar die antike Mythenwelt. Wenn die moderne Geschichte überhaupt eine Rolle spielt, so ist dies meistens zwei aus Georgien stammenden Akteuren von weltpolitischer Bedeutung zu verdanken: Josef Stalin und Eduard Schewardnadse.

Hinzu kommt, dass Georgien bei uns noch nicht überall als unabhängiger Staat wahrgenommen wird; zäh hält sich die Vorstellung, es sei lediglich ein Teil Russlands. Besonders bei denjenigen, die das Georgien der Sowjetunion noch erlebt haben, ist das Bild von der »fröhlichsten Baracke im Lager der Sowjetrepubliken« lebendig, die oftmals auf Ferienaufenthalte am Schwarzen Meer gründet.

Der Informationsbedarf über das nachsowjetische Georgien ist also ganz offensichtlich. Dies betrifft zunächst die politische Geschichte seit der Unabhängigkeit, wobei vor allem die bis heute ungelösten Konflikte um die Sezessionsstaaten Abchasien und Südossetien für ein Verständnis des Landes von Bedeutung sind. Es betrifft aber auch seine reichen kulturellen Traditionen, seine kirchliche Sonderentwicklung, seine ethnische Vielfalt, die Alltagsprobleme und die Mentalität seiner Bewohner, die Georgien auch im neuen europäischen Rahmen unverwechselbar machten.

Nicht übergangen werden sollen dabei die besonderen Beziehungen, die Georgien insbesondere seit dem 19. Jahrhundert mit Deutschland verbinden. Bereits in den 1810er Jahren ließen sich deutsche Siedler in Georgien nieder, später wandten sich die kulturellen und geistigen Eliten Georgiens engagiert Deutschland zu. Selbst in der Sowjetunion wurde wohl nirgends so intensiv Deutsch gelernt wie in Georgien; die Germanistische Fakultät an der Staatsuniversität von Tbilissi genoss einen exzellenten Ruf, der weit über die Grenzen der georgischen Sowjetrepublik hinausreichte. Trotz der tiefen Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg wirkt diese Tradition bis in unsere Zeit fort.

Noch eine Bemerkung zu georgischen Eigennamen und Ortsbezeichnungen: Sie werden in diesem Buch gemäß der bei uns gepflegten Praxis ins Deutsche transkribiert. Für die georgische Hauptstadt wird allerdings anstelle der in amtlicher deutscher Sprache immer noch gebräuchlichen Bezeichnung »Tiflis« das international übliche »Tbilissi« verwendet.

Georgien im Umbruch

We probably all love this country.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow
über Georgien, 2016

Wir Georgier sind zu große Träumer.

Wir wollen immer alles schnell erreichen.

Bidsina Iwanischwili,
georgischer Premierminister, 2013

Das Land nach der Unabhängigkeit von 1991

Mitte der 1990er Jahre versuchte ich in den USA einmal, ein Telefongespräch nach »Georgia« zu bestellen. Die Stimme in der Leitung erkundigte sich daraufhin, ob ich mit Atlanta oder einem anderen Ort im US-Bundesstaat Georgia verbunden werden wolle. Kein Einzelfall. Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro fragte der Gouverneur des US-Bundesstaates Alabama empört, warum man Georgien, aber nicht seinen Bundesstaat teilnehmen lasse.

Diese Missverständnisse haben natürlich einen US-spezifischen Hintergrund, doch Vergleichbares habe ich auch an anderen Orten erlebt. Zugegeben: Auch ich gehöre zu denjenigen, denen die Existenz Georgiens erst relativ spät bewusst geworden ist. Ausgangspunkt dafür war meine Versetzung an die Moskauer Botschaft der Bundesrepublik im Frühjahr 1969. Unter den Diplomaten in der sowjetischen Hauptstadt hieß es damals, wer der russischen Küche überdrüssig geworden sei, für den seien Restaurants in Georgien ein Geheimtipp. Dort gebe es nicht nur kulinarische Delikatessen zu entdecken, sondern auch manche Besonderheiten der lokalen Kultur, vor allem die vielstimmigen Gesänge oder die Tischsitten mit den Ansprachen der regieführenden Tamadas. Es klang nach wunderbaren Orten, um der sowjetischen Wirklichkeit jener Zeit zu entfliehen, und sie inspirierten mich zu einer Reise in den Kaukasus.

Am beeindruckendsten ist es, wenn man sich Georgien auf dem Luftweg von Norden her nähert. Nach fast dreistündigem Flug aus Moskau ragt plötzlich das Massiv des Hochkaukasus wie eine unüberwindbare Mauer in den Himmel. Im Westen erhebt sich der mehr als 5000 Meter hohe Elbrus, im Zentrum der Bergkette der Kasbek, beide Gipfel sind von ewigem Schnee bedeckt. Der bis dahin träge Charakter der Landschaft mit den endlosen Ebenen Russlands wechselt auf dramatische Weise. Bald tauchen tiefeingeschnittene Bergtäler auf; bis zur Landung in Tbilissi dauert es dann nicht mehr lange. Erst später wird offenbar, dass man nicht nur eine geografische Grenze, sondern auch eine Grenze der Zivilisationen hinter sich gelassen hat.

Es war diese Route, die mich bei meiner ersten Reise im Spätsommer 1969 nach Georgien führte. Damals schien das Land ein fester Bestandteil des Sowjetstaates zu sein, und nichts deutete darauf hin, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern sollte. In Moskau hatten Freunde immer wieder von der Einzigartigkeit der Region geschwärmt, und ich verstand bald, warum. Georgien – das waren die Farben des Südens, das war eine Lebensart von fast mediterraner Leichtigkeit, die sich spürbar von der sowjetisch-russischen Schwerfälligkeit abhob. Dies alles spiegelte sich auf dem zentralen Boulevard von Tbilissi, dem Rustaweli-Prospekt, der zu allen Tageszeiten belebt war von Flaneuren, darunter ganzen Familienverbänden, in denen die Frauen sich zumeist schwarz gewandet präsentierten. Allerdings fehlten Straßencafés, Hotels und Restaurants, auch Läden einer gehobenen Kategorie. Inzwischen ist das auch schon wieder Geschichte.

Vom Westen kaum wahrgenommen, lag Georgien für Jahrhunderte an der Peripherie Europas und zugleich an einer strategischen Schnittstelle zwischen Orient und Okzident. Es war zu klein und machtlos, um sein Schicksal selbst zu bestimmen. Das epochale Ereignis des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums und über 25 Jahre staatlicher Unabhängigkeit haben Georgien in neuester Zeit ein eigenes Gesicht zurückgegeben, das es in den Jahrhunderten der Fremdbestimmtheit fast verloren hätte. Es zeigte sich, dass 70 Jahre Sowjetzeit den Charakter des Landes nicht dauerhaft ändern konnten. Auch dies wird nirgends so deutlich wie in Tbilissi. Äußerlich bleibt die Hauptstadt zwar in mancher Beziehung geprägt durch Relikte der Sowjetzeit. Die georgische Gesellschaft jedoch befindet sich heute in einem tiefgreifenden Umbruchsprozess.

Ausgelöst wurde er durch eine politische Weichenstellung: In bewusster Distanzierung gegenüber Russland hat sich Georgien entschlossen auf den Weg nach Westen begeben und betrachtet heute die Staaten der euroatlantischen Gemeinschaft als seine engsten Partner. Über Jahrhunderte hat sich das Land nach Byzanz orientiert, anschließend nach Russland. Heute blickt es politisch nach Brüssel und Washington.

Als schmerzlichste Hypothek aus der Sowjetzeit bleiben ungelöste ethnopolitische Konflikte: Nahezu 20 Prozent des Territoriums sind georgischer Jurisdiktion entzogen, seitdem in Abchasien und in Südossetien mit nachdrücklicher russischer Unterstützung Separatstaaten entstanden. Umso beachtlicher sind die großen Fortschritte, die Georgien unter den Präsidenten Eduard Schewardnadse, Micheil Saakaschwili und Giorgi Margwelaschwili erreicht hat.

Als ich im Sommer 1995 für eineinhalb Jahre nach Tbilissi zurückkehrte, um für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Leitung einer Friedensmission zu übernehmen, hatte das Land gerade einen Bürgerkrieg überstanden und fing an, sich wiederaufzurichten. Dass die Sicherheitslage weiterhin prekär blieb, zeigte im August ein Attentat auf den damaligen Präsidenten Schewardnadse, der nur knapp mit dem Leben davonkam. Zwar waren die Sperrstunden aufgehoben, die monatelang die Rückkehr zu einem normalen Lebensrhythmus behindert hatten, aber geblieben waren Stromausfälle, mit denen jeden Augenblick zu rechnen war. Im Zentrum der Hauptstadt standen ausgebrannte Häuser wie das ehemalige Luxushotel »Tbilissi«. Schräg gegenüber war das Parlamentsgebäude von den Kämpfen gezeichnet. Bei Reisen durch das Land sah man überall verfallende Gebäude und zerstörte Verkehrswege. Außerdem fielen riesige, vor sich hin rostende Industriekomplexe ins Auge, etwa in der südöstlich von Tbilissi gelegenen Großstadt Rustawi, wo seit den 1950er Jahren eine der imposantesten Metallurgie- und Chemiefabriken der Sowjetunion entstanden war. Bei Autofahrten außerhalb der Städte war man gut beraten, stoßsichere Geländewagen zu benutzen, um den mit unzähligen Schlaglöchern übersäten Straßen standzuhalten.

Das Tbilissi von heute ist eine sich dynamisch entwickelnde Millionenstadt, die einen westlichen Lebensrhythmus angenommen hat, und mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung folgen auch die ländlichen Regionen dieser Orientierung. Neuerdings wächst der Tourismus aus westlichen Ländern jährlich um zweistellige Prozentzahlen. Namhafte Presseorgane bei uns wie auch im Ausland, darunter die Vogue und die New York Times oder die Reiseführerreihe Lonely Planet, empfehlen Georgien als Top-Reiseziel. Auf die Verbindungen zum Westen gründet auch die mühsam errungene Stabilität des Landes. Die geografische Nähe zum Orient – die Türkei und der Iran sind Nachbarstaaten – ist hingegen kaum wahrnehmbar.

Gewandelt haben sich vor allem die Menschen, und hier insbesondere die junge Generation, die allenfalls noch blasse Erinnerungen an die Sowjetzeit hat. Eine wachsende Zahl unter ihnen hat den Westen aus eigener Anschauung durch Jahre der Ausbildung in Westeuropa oder Nordamerika kennengelernt, während die Väter ihre berufliche Qualifikation noch an Hochschulen der Sowjetunion erhalten hatten. Symptomatisch für diesen Prozess ist die Verdrängung der russischen Sprache durch das Englische. Noch bis in die 2000er Jahre hinein beherrschten die Georgier, insbesondere Vertreter der städtischen Eliten, das Russische wie eine zweite Muttersprache. Ein unter Präsident Saakaschwili 2010 verordnetes Dekret, das das Englische von der ersten Schulklasse an als erste Fremdsprache vorschreibt, änderte dies radikal: Der jungen Generation ist das Russische kaum noch geläufig. Von den Auswirkungen sind nicht nur Bildung und Kultur, sondern auch bisherige politische Denkgewohnheiten nachhaltig betroffen.

Von den im georgischen Parlament vertretenen Parteien ist allenfalls noch eine, die Allianz der Patrioten, dem Denken aus alten sowjetsozialistischen Zeiten zugewandt. Die ganz überwiegende Mehrheit der Gesellschaft geht inzwischen andere Wege. Manche mögen bestimmte Deformationen, wie die immer noch virulente Korruption, beklagen, aber zurück in die sowjetische Vergangenheit möchten nur ganz wenige. Die Jugend, insbesondere jene in Tbilissi und anderen Großstädten, pflegt einen westlichen Lebensstil, der überkommene Traditionen radikal in Frage stellt und auf neue, demokratische Denkweisen ausgerichtet ist.

Der »wilde Kaukasus« und einige Fakten zum heutigen Georgien

Die Vorstellung vom »wilden Kaukasus« ist in Europa Ende des 18. Jahrhunderts geläufig geworden. Sie hat seither die Phantasien in vielfältiger Weise beflügelt. Begründet wurde sie durch Reiseberichte und eine Abenteuerliteratur, für die Alexandre Dumas’ Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus 1858 – 1859 repräsentativ ist. Das Buch ist auch in Deutschland viel gelesen worden. Zu Dumas Zeit wurde bei uns der Schriftsteller Friedrich von Bodenstedt mit pittoresken Schilderungen aus dem Kaukasus und insbesondere Georgien populär. Geschickt machte er sich eine zuvor von Herder, Goethe und Rückert geweckte Neugier für Orientalisches zunutze. 1849/50 veröffentlichte Bodenstedt Tausend und ein Tag im Orient, 1851 folgten Die Lieder des Mirza Schaffy, die bis 1881 100 Auflagen erlebten und zu einer der großen literarischen Erfolgsgeschichten dieser Epoche wurden. In den Dichtungen, einer Mischung aus Reisebildern und epigonaler Lyrik, wurden orientalische Lebensweisheit und Lebensgenuss gepriesen; Wein, Weib und Gesang standen dabei im Mittelpunkt.

Georgien, das Kernland dieses »wilden Kaukasus« von einst, ist heute ein Staat vom territorialen Umfang Bayerns. Darin einbezogen sind die Gebiete der beiden Sezessionsstaaten Abchasien und Südossetien, deren Unabhängigkeit von der überwiegenden Mehrheit der internationalen Staatenwelt nicht anerkannt wird. Außergewöhnlich ist die Vielfalt an Natur- und Klimazonen auf diesem verhältnismäßig kleinen Raum. Sie reicht von subtropischen Regionen an der Schwarzmeerküste im Westen bis zu Halbwüsten im Südosten. Mitten durch das Land zieht sich in Nord-Süd-Richtung die Surami-Bergkette, die in der Antike als Zivilisationsgrenze zwischen Okzident und Orient galt und danach jahrhundertelang die Einflusssphären von Persern und Osmanen im Kaukasus trennte.

Nicht weniger faszinierend ist die bunte ethnische Vielfalt des Landes. Mingrelier, Gurier und Adscharer im Westen unterscheiden sich in ihren Traditionen, ihrer Sprache und Geschichte wesentlich von den Kachetiern im Osten und Kartliern im Landeszentrum. Hinzu kommen Reste von nicht-georgischen Völkern, vor allem Armenier, Aserbaidschaner, Griechen und Russen, aber auch Abchasen und Osseten, soweit sie nicht in den Sezessionskriegen der 1990er Jahre vertrieben wurden. Trotz dieser Zwangsmigrationen machen die ethnischen Minderheiten immer noch etwa 15 Prozent der Bevölkerung aus. Insgesamt haben die Westgeorgier den Ruf, spontaner und extrovertierter zu sein als die eher bedächtigen Kachetier. Die Osseten gelten als besonders ordnungsliebend; bis zum Beginn der Sezessionskriege im Jahre 1989 stellten sie etwa ein Fünftel der Polizeikräfte in Tbilissi. Eine ganz eigene Kategorie bilden die im Hochkaukasus siedelnden Völker wie die Swaneten, Tuscheten und Chewsureten, die seit jeher bestrebt waren, zu den Entwicklungen des Landeszentrums Abstand zu halten.

Georgien versteht sich als ein Land, das an der Wiege der Zivilisationen gestanden hat. Für viele seiner Einwohner besitzen die antiken Sagen und Mythen bis heute identitätsstiftende Kraft. Dass Georgien uralter Siedlungsgrund von Menschen ist, ist lange erwiesen. Als vor wenigen Jahren im Süden des Landes Schädel und Knochen ausgegraben wurden, deren Alter man auf 1,8 Millionen Jahre schätzte, machte unter georgischen Archäologen schnell das Wort die Runde, hier handele es sich um »den ersten Europäer«. Der Befund bleibt jedoch umstritten. Gesicherte Zeugnisse für alte Kulturen auf georgischem Territorium reichen bis zum 3. Jahrtausend v. Chr. zurück. In Gestalt meisterhafter Arbeiten aus Gold, Silber, Kupfer und Emaille sind sie heute vor allem im Georgischen Nationalmuseum von Tbilissi zu besichtigen, das neuerdings mit Geldern des Milliardärs und ehemaligen Premierministers Bidsina Iwanischwili großzügig renoviert worden ist.

Auch die christliche Religion gehört zu den fundamentalen identitätsstiftenden Elementen Georgiens. Schon der Name des Landes geht zurück auf die besondere Verehrung, die dessen Bewohner dem heiligen Georg entgegenbrachten. Die russische Bezeichnung für Georgien, das aus dem Persischen stammende »Grusien«, lässt diesen Zusammenhang nicht mehr erkennen, weshalb sie von den Georgiern zurückgewiesen wird. Sie beruht letztendlich auf einer Verballhornung des Wortes Giaur (»Ungläubiger«). Nachdem die Orthodoxie Mitte des 4. Jahrhunderts als Religion offiziell eingeführt worden war, dient seit dem 5. Jahrhundert das Georgische als Sprache der Liturgie. Die Religion hat danach eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer georgischen Nation gespielt.

Identitätsstiftend war und ist für die Georgier schließlich auch ihre Sprache. Sie sei ihnen von Gott gegeben wie ein Sakrament, schrieb der Schriftsteller Ilia Tschawtschawadse im 19. Jahrhundert. 2016 ist sie von der UNESCO zu einem Bestandteil des Weltkulturerbes deklariert worden. Das Georgische verfügt über ein eigenes Alphabet aus 33 Buchstaben, das wesentlich auf das griechische zurückgeht, zusätzlich aber einige Schriftzeichen enthält, deren Herkunft bis heute nicht völlig entschlüsselt werden konnte. Erste literarische Denkmäler in georgischer Sprache sind aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. bekannt, jedoch ist die Sprache nach Einschätzung von Experten wahrscheinlich viel älter. In seiner Grammatik zeichnet sich das Georgische durch eine außerordentliche Komplexität aus, beispielsweise kennt es insgesamt sieben Fälle und elf verschiedene Zeitformen. Typologisch zählt es, wie etwa auch das Tschetschenische und das Abchasische, zu den sogenannten autochthonen Kaukasussprachen, die ähnlich dem Baskischen einer besonders alten vor-indogermanischen Gruppe angehören. Zur selben Sprachfamilie wie das Georgische gehören das Mingrelische und das im Hochgebirge gesprochene Swanische.

Das Thema Sprache bleibt hoch politisiert, da es nicht selten dazu benutzt worden ist, separatistische Bewegungen zu legitimieren. In jüngster Zeit deklarierten etwa die Abchasen die Mingrelier zu einem eigenen, von den Georgiern unabhängigen Kaukasusvolk und führen bis heute getrennte Statistiken für Sprecher des Mingrelischen und des Georgischen. Vor allem aber haben über Jahrhunderte verschiedenste Eroberer versucht, den Georgiern ihre Sprache zu nehmen, zuletzt in sowjetischer Zeit. Im Gefolge einer Verfassungsänderung setzte es sich die damalige sowjetische Zentralregierung zum Ziel, das Russische als alleinige Amtssprache zu sanktionieren. Dies traf auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung, der vom Chef der georgischen KP Eduard Schewardnadse angeführt wurde. Am 14. April 1978 demonstrierte eine große Menschenmenge in Tbilissi gegen eine Änderung des Sprachenstatuts. Tatsächlich brachte Schewardnadse die Pläne der Moskauer Parteiführung zum Scheitern. Die Sprache wurde hier zum Mittel, um eine befürchtete allgemeine Russifizierung abzuwenden. So widersprüchlich die Beurteilungen Schewardnadses in Georgien bis heute sind, wird ihm dies als überragende Leistung zur »Rettung des Vaterlandes« angerechnet. 1983 haben die Georgier ihrer Sprache an zentraler Stelle der Hauptstadt ein Denkmal errichtet, das von der Bevölkerung immer durch rote Rosen geschmückt wird. Es dürfte einer der wenigen Fälle sein, bei dem die nationale Sprache zum Objekt einer öffentlichen Verehrung geworden ist.

Besuchern Georgiens bot sich bis in die 1990er Jahre hinein ein verwirrender Anblick. In den Straßen Tbilissis trafen sie auf Hinweisschilder in drei Alphabeten: dem georgischen, dem russischen und, im Falle englischsprachiger Mitteilungen, auch dem lateinischen. Inzwischen ist insofern eine Vereinfachung eingetreten, als das Russische aus politischen Gründen im öffentlichen Leben systematisch ausgemerzt worden ist. Ich habe es oft erlebt, dass Georgier im Gespräch ihr holperiges Englisch bevorzugten, anstatt auf ihre immer noch blendenden Kenntnisse des Russischen zurückzugreifen. Gleichwohl ist das Russische auch heute noch die Lingua franca zwischen den Bewohnern der drei südkaukasischen Staaten. Gleiches gilt für die Kommunikation zwischen Georgiern, Osseten und Abchasen.

Sprache, Religion, Geschichtsbewusstsein – das waren Grundelemente nationaler Identität, auf die sich Georgien stützen konnte, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war. Mit der neuen Unabhängigkeit stellte sich die Aufgabe, möglichst umgehend eigene staatliche und gesellschaftliche Strukturen wiederherzustellen und die daniederliegende Wirtschaft wiederanzukurbeln. Dem ersten, im Mai 1991 gewählten Staatspräsidenten Swiad Gamsachurdia ist dies gründlich misslungen; unter ihm versank das Land im Chaos. Die wahre Macht im Lande übten paramilitärische Milizen aus, die keiner wirksamen Kontrolle unterstanden und den Rest an noch bestehenden Ordnungsstrukturen zerschlugen. Erst nachdem Gamsachurdia Anfang 1992 aus dem Amt gejagt worden und anschließend Schewardnadse aus seinem Moskauer Exil nach Tbilissi zurückgekommen war, konnte der Aufbau eines postsowjetischen Staatswesens ernsthaft in Angriff genommen werden. Er ist bis heute nicht vollständig abgeschlossen.

Von Beginn an war dabei unstrittig, dass sich das unabhängige Georgien am demokratisch-rechtsstaatlichen Modell Westeuropas orientieren sollte. Für die Wirtschaft sollten marktwirtschaftliche Prinzipien die Leitlinie bilden. Auf dieser Basis wurde im August 1995 unter dem kurz danach neu gewählten Präsidenten Schewardnadse eine Verfassung verabschiedet, die ein präsidiales Regierungssystem mit einem Parlament als Legislative vorsah. Es ist in jüngster Zeit immer mehr in Richtung einer parlamentarischen Demokratie umgestaltet worden. Den vorläufigen Schlusspunkt bildet eine revidierte und um 26 Zusätze erweiterte Verfassung, die am 26. September 2017 vom georgischen Parlament angenommen wurde. Ihr zufolge liegt die Exekutive heute entscheidend in den Händen eines Premierministers, der von einem aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlament bestimmt wird. Abgeschafft wurde die bisherige Direktwahl des Staatspräsidenten, der künftig durch ein Wahlkollegium von 300 Mitgliedern nominiert wird. Der gegenwärtige Amtsinhaber Margwelaschwili hatte sich dieser Neuregelung bis zuletzt widersetzt.

Seiner territorialen Gliederung nach ist Georgien ein zentralistischer Einheitsstaat; die Provinzen werden durch Gouverneure regiert, die vom Premierminister ernannt sind. Im Einzelnen sollen die rechtlichen Strukturen allerdings erst dann geregelt werden, wenn die abgefallenen Landesteile wieder in den Staatsverband zurückgekehrt sind.

Den Übergang aus der sowjetischen Herrschaft in die Unabhängigkeit hat Georgien nicht ohne bittere Verluste überstanden. Die Bevölkerung schrumpfte von 5,4 Millionen Menschen im Jahr 1990 auf heute nur noch 3,7 Millionen. Grund dafür ist ein andauernder Exodus, der immer häufiger Westeuropa zum Ziel hat, bis vor wenigen Jahren aber hauptsächlich in Richtung Russland ging. Dort lebt seit langem eine Diaspora von circa 600 000 Georgiern. Die Zahlen schwanken, da es nicht nur Übersiedler gibt, die die russische Staatsangehörigkeit angenommen haben, sondern auch viele andere, die sich ohne behördliche Anmeldung niedergelassen haben. Nach wie vor bedeutend für die georgische Volkswirtschaft sind die Überweisungen, die diese in Russland lebenden Georgier ihren Angehörigen, Verwandten oder Freunden regelmäßig zukommen lassen. Sie zeigen allerdings abnehmende Tendenz, 2015 fielen sie um etwa ein Viertel auf 1,08 Milliarden US-Dollar. Damit trugen sie allerdings immer noch circa sieben Prozent zum Staatshaushalt bei.

Nach dem radikalen Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik hat das unabhängige Georgien auch in seinen Wirtschaftsbeziehungen einen Schwenk von Russland zum Westen vollzogen. Ein knappes Drittel seines Handelsaustauschs bestreitet es bereits mit westlichen Staaten. Trotzdem bleibt die Position Russlands stark. In den Bereichen Kultur und Bildung hat Georgien traditionelle Verbindungen zu Russland zugunsten neuer Beziehungen mit euroatlantischen Staaten gelöst.

Ein Blick zurück in die Geschichte

Ist es nicht eine Unverschämtheit, … uns überreden zu wollen, dass, wenn Russland seinen Eisesarm um den Nacken der Völker schlinge, so geschehe das blos aus christlicher Liebe und Barmherzigkeit, mit Hintansetzung aller irdischer Gelüste?

Friedrich von Bodenstedt, deutscher Schriftsteller, 1848

Eine Leidenschronik an Niederlagen

Georgische Geschichte besteht über weite Strecken aus einer Aneinanderreihung von Katastrophen. In der Regel war das Land Spielball von Großmächten und nur gelegentlich selbständig handelnder Akteur. Lange Zeit war es fremden Eroberern ausgesetzt: zunächst Griechen, Römern und Byzantinern, danach Arabern, Persern, Seldschuken, Mongolen, Osmanen, schließlich Russen. Immer wieder wurde Georgien verwüstet und besetzt, Zehntausende seiner Einwohner wurden dahingemetzelt, verschleppt oder gingen verzweifelt und entmutigt ins Exil. Dennoch hat das Land seine Religion, seine Kultur und eine eigenständige Lebensweise im Wesentlichen behaupten können.

Georgische Stämme siedelten seit geschichtlich fassbaren Zeiten im Raum zwischen der kolchischen Schwarzmeerküste und dem Oberlauf des Tigris, wurden aus dem Osten aber mit den Jahren in den zentralen Kaukasus abgedrängt. Während die Schwarzmeerregionen römischer Herrschaft unterstanden, bildete sich in Zentralgeorgien in einem Prozess ständiger kriegerischer Auseinandersetzungen mit den Persern ein unabhängiges Königtum Iberien heraus, das im zweiten nachchristlichen Jahrhundert erfolgreich die Einigung beider Landesteile betrieb. Im Jahre 337 führte es das Christentum ein.

Das Festhalten der Georgier an ihrem Glauben ist seither ein Kennzeichen ihrer Geschichte. Dafür brachten sie unzählige Opfer; ein besonders grausames Beispiel ist die Enthauptung von 100 000 georgischen Christen durch den persischen Schah im Jahr 1226. Der Legende nach hat die später heiliggesprochene Nino das christliche Kreuz nach Georgien gebracht und dort für alle Zeiten fest verankert. Aus himmlischen Gefilden kommend, soll sie mit ihrem Kreuz die georgische Königin Nana von ihren Gebrechen geheilt und sie und ihren Gemahl König Mirian zur Annahme des Christentums überredet haben. Ninos »lebensspendendes Kreuz« wurde zu einem geflügelten Wort, das Weinrebenkreuz selbst zum Symbol der georgischen orthodoxen Kirche. In Devotionalien und Abbildungen, die von schwankender künstlerischer Qualität sind, bleibt es auch im heutigen Georgien überall präsent. Begraben ist die heilige Nino in einer Gruft im ostgeorgischen Frauenkloster von Bodbe. Hier liegt sie in einem Sarkophag aus weißem Marmor. Ein nicht abreißender Strom von Gläubigen und Verehrern würdigt ihr Gedenken.

Wer sich ein Bild von der Periode des frühen Christentums machen möchte, kann dies kaum irgendwo so gut wie in der alten georgischen Hauptstadt Mzcheta und ihrer Umgebung. Sie liegt westlich von Tbilissi und ist in nur halbstündiger Autofahrt erreichbar. Auf einer Felsnase über einer schroffen Gebirgswand am Zusammenfluss von Mtkwari (russ. Kura) und Aragwi erhebt sich zunächst spektakulär die Kreuz-(Dschwari-)Kirche vom Anfang des 7. Jahrhunderts. Sie ist der Prototyp eines georgischen Kreuzkuppelbaus, ein quadratischer Raum mit darüber aufragender Kuppel. Wenn man im Morgennebel auf Serpentinenwegen auf sie zufährt, wirkt sie wie ein himmlisches Bollwerk. Das Innere beeindruckt durch eine perfekte Raumharmonie.

Im Zentrum der nahegelegenen Kleinstadt Mzcheta befindet sich die großartige Kathedrale Swetizchoweli, so genannt nach der Legende über eine lebenspendende Säule aus Zedernholz, die den Kern der Kirche bilden soll. Sie geht in ihren Fundamenten bis auf das 4. Jahrhundert zurück und gilt als Mutter aller georgischen Kirchen. Später wurde sie zur Grabstätte der georgischen Könige. Nicht zufällig wählte Eduard Schewardnadse diesen Ort, um sich 1992 in einer Zeremonie mit vielem orthodoxen Gepränge vom Patriarchen Ilia II. taufen zu lassen. Wie durch ein Wunder haben diese Denkmäler in Mzcheta alle Verheerungen der Zeiten überstanden. Jedem Georgier ist dieses Stück Landschaft besonders teuer, verkörpert es doch ein Herzstück der Geschichte seines Landes.

In den Jahrhunderten nach Einführung des Christentums spielte für Georgien die Verbindung zu Byzanz eine bestimmende Rolle. Sie hat sich auch in dynastischen Verflechtungen zwischen den byzantinischen Kaisern und georgischen Königen niedergeschlagen. Damit einher ging die Prägung Georgiens durch die griechisch-orthodoxe Religion und Kultur, die sich später unter russischer Herrschaft fortsetzte. Allerdings neigte Byzanz dazu, den kaukasischen Nachbarn als Emporkömmling und selbstverständlichen Bestandteil des eigenen Reiches anzusehen.

Schlimmer jedoch waren die folgenden Wellen der Fremdherrschaft, die bereits im 7. Jahrhundert mit dem Einfall der Araber begannen. Georgien zerfiel in mehrere Königreiche und Fürstentümer, die den jeweiligen Eroberern tributpflichtig wurden. Das Land blutete aus: Lebten hier vor dem Mongolen-Einfall im 13. Jahrhundert noch vier bis fünf Millionen Menschen, so waren davon Ende des 18. Jahrhunderts lediglich etwa eine halbe Million übrig geblieben. Außerdem hatte der Fall von Konstantinopel im Jahre 1453, der das Ende des Byzantinischen Reiches bedeutete, eine einschneidende Wirkung: Zwischen Georgien und dem Rest Europas lag nun das Osmanische Reich, die Verbindungen waren mehr als 300 Jahre lang gekappt. Die in Westeuropa ablaufenden geistesgeschichtlichen und kulturellen Entwicklungen, seien es Renaissance, Reformation oder Aufklärung, hat Georgien daher nicht mitvollziehen können.

Doch die Geschichte teilt nicht nur Grausamkeiten aus. Gelegentlich gewährt sie auch Perioden der Blüte. Für Georgien lässt sich eine solche ziemlich präzise auf die Jahre zwischen 1089 und 1213 datieren, die bis heute als »Goldenes Zeitalter« gelten. Damals hatte das Land das Glück, mit Dawit, dem Erbauer, und der Königin Tamar zwei überragende Herrscherpersönlichkeiten hervorzubringen. Dawit befreite das Land von der Fremdherrschaft und sicherte ihm durch eine entschlossene Reformpolitik nach innen und eine geschickt austarierte Machtpolitik nach außen seine Unabhängigkeit. Seinen Ruhm begründete er mit einer Schlacht gegen die Seldschuken, bei der er 60 000 Georgier und Verbündete zum Sieg gegen 300 000 Gegner geführt haben soll. Das von ihm errichtete Reich mit Tbilissi als Hauptstadt erstreckte sich schließlich vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer und nach Süden weit hinein in die heutige Türkei.