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Peter Willbrandt

HairyDad4HornyBoys

Sieben Tage im Juli

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Das Internet denkt nicht.

(David Gelernter)

 

 

Das Wichtigste unseres Allerpersönlichsten verstecken wir. Unsere erste Reaktion wird immer sein, es zu verbergen. Und selbst wenn wir einmal etwas aus uns herausholen, dann nur mit Mühe, oft unter Schmerzen. Meist nehmen wir unser Geheimnis mit ins Grab. Daher liegen in der Friedhofserde nicht nur die Toten begraben, sondern auch unsere größten, tiefsten und oft auch schrecklichsten Geheimnisse.

(Ryszard Kapuscinski)

 

 

Für Jan

Sieben Tage

1.
 
Daniel

Vor einer Woche war ich in dieser alten deutschen Universitätsstadt angekommen. Der junge Taxifahrer, der mich und mein Gepäck vom Bahnhof in die Oberstadt hinauffuhr, erzählte mir, vor kurzem hätten Werbefuzzis der Stadt einen flotten Slogan verpasst: Andere Städte haben eine Universität. Diese Stadt ist eine! Allerdings sei die Stadtregierung jetzt in Bedrängnis geraten, nachdem die Summe bekannt geworden ist, welche die Werbeagentur für die zwei knappen Sätze kassiert hatte. Und während er so aufgekratzt weiterredete, als habe er lange keinen Fahrgast gehabt, sah ich vom Rücksitz des Autos aus, wie zutreffend der Werbespruch doch war: Die weitgehend autofreie Oberstadt war eine Stadt der Studierenden, und der offensichtlich nicht sehr geübte Fahrer hatte alle Mühe, sich einen Weg zu bahnen durch das Gewimmel junger Leute, die im Licht des späten Nachmittags aus den Universitätsinstituten strömten. Er musste es sogar hinnehmen, dass einer der Studenten ärgerlich mit der flachen Hand auf die Motorhaube klatschte. Als der Fahrer hinauffahren wollte zu der Straße und Hausnummer, die ich angegeben hatte, kapitulierte sein Navi. Die steil ansteigende, sehr schmale Gasse ist nicht wirklich öffentlich und nicht einmal gekennzeichnet durch ein Straßenschild. Hineinfahren darf man trotzdem, wie ich von früheren Besuchen her wusste und wie ich dem zögernden Fahrer nun versichern konnte, denn es ist der einzige Weg zu dem Haus, in dem ich erwartet wurde.

In dem schönen alten Fachwerkhaus am äußersten Rand der Oberstadt lebte meine Schwester Erika, die an der Uni Neuere und Neueste Geschichte lehrte. Letzten Samstag hatte sie ihren fünfundsechzigsten Geburtstag mit einem großen Fest gefeiert. Die meisten ihrer Professorenkollegen, Doktoranden, Studentinnen und Studenten waren gekommen, auch Kollegen von anderen Universitäten, vor allem von russischen, mit denen sie rege Kontakte pflegte. Die Russen hatte sie in ihrem Haus einquartiert, was mich nicht störte, solange ich mein eigenes Zimmer hatte. Doch in diesem Haus war es sechs Tage lang zugegangen wie in einem Taubenschlag. Immerzu kamen und gingen Leute, immerzu wurde geredet, gegessen und getrunken. Und immer wieder waren wir unterwegs.

Nun aber waren die Russen weg. Vor wenigen Minuten hatte sich Erika ans Steuer eines gemieteten Kleinbusses gesetzt, um die Russen zum Frankfurter Flughafen zu bringen. Ich wartete noch, bis der Bus an der nächsten Straßenecke verschwunden war, dann ging ich ins Haus zurück. Wenig später war ich gerade dabei, ein Bier zu öffnen, als an der Haustür das Geräusch eines Schlüsselbunds zu hören war, und als ich hörte, dass aufgeschlossen wurde, lief ich in die Diele. Da stand ich einer großen, hageren Frau gegenüber, die mich aus feindseligen Augen ansah. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, brummte sie: „Frau Professor hat mir nicht gesagt, dass jemand hier ist.“ Damit verschwand sie in der Küche, wo sie wütend herumzuwirtschaften begann. Ich verstand, dass ich nicht hierbleiben konnte, steckte mein Handy in die Tasche und ging aus dem Haus.

Da ich nicht wusste, wo ich hingehen sollte, ließ ich mich einfach den langen, gewundenen Weg zum Fluss hinuntertreiben. Auf der Uferböschung legte ich mich ins Gras und sah auf das grüne träge fließende Wasser, in dem lange Fahnen von Trauerweiden trieben. Schwäne segelten vorbei, und in der Ferne schlug eine Uhr. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie still es war. Hier würde ich den Nachmittag verbringen, nach dem Wahnsinn der vergangenen Tage nichts mehr reden, nichts mehr denken. Ich drehte mich auf die Seite und wünschte, immer so liegen bleiben zu können.

Bilder der vergangenen Tage wirbelten mir im Kopf herum, immer wieder auch Erinnerungsfetzen vom Besäufnis des gestrigen Abends, auf dem ich gelernt hatte, dass „Na sdorowje“ nicht das russische „Prost“ ist. Seltsam war, dass ich keine Kopfschmerzen hatte. Doch seit heute Morgen quälte mich Durst, und jetzt hatte ich nichts zu trinken dabei. Dann sah ich auf Google Maps, dass es ganz in der Nähe einen dieser Beach Clubs gab, ein „balneario nr 6“. Auweia, dachte ich, Ballermann 6 auf Hessisch. Ich blieb noch eine Weile liegen. Dann machte ich mich auf den Weg.

 

Als der junge Kerl hinter der Bartheke mich auf sich zukommen sah, sagte er: „Na, Mister, was treibt Sie denn zu uns?“

„Ein frischgezapftes Bier“, sagte ich, nachdem ich die enorme Zapfanlage auf dem Tresen gesehen hatte.

„Kann Ihnen heute leider nur ne Flasche anbieten.“

„Na, dann eine Flasche. Aber schön kalt bitte.“

„Wird gemacht“, sagte er grinsend.

Während er das Bier holte, die Flasche öffnete und das Geld kassierte, starrte ich auf die große Tafel über der Bar. „Lecken, schlucken, beißen. We love Tequila“, stand da. Ich versuchte mir vorzustellen, was das heißen sollte. Es gelang mir nicht.

Ein paar Minuten später saß ich auf der Terrasse unter einem dunkelgrünen Sonnenschirm, und während ich mein Bier trank, hatte ich die halbnackten jungen Männer im Blick, die auf einer staubigen Sandfläche mit einem Ball herumtobten. Auf einmal zuckte ich zusammen. Ich sah einen wilden Wirbel strampelnder Beine, die im aufgewühlten Sand Halt suchten. Einer der Volleyballspieler hatte einem anderen eine Handvoll Sand ins Gesicht geschleudert, und jetzt presste ein am ganzen Körper dunkel behaarter Stämmiger den Kopf eines viel Jüngeren mit seinen kräftigen Armen so lange in den Sand, dass ich glaubte, der Junge könnte ersticken. Ich wollte schon losschreien, um den brutalen Burschen zur Räson zu bringen, da gab er sein Opfer frei, und mir kam es vor, als hätte ich das alles schon einmal erlebt. Vielleicht aber war es nur die Erinnerung an eine Filmszene oder einen Fetzen Literatur. Ich kam nicht darauf, zumindest nicht in diesem Moment und schon gar nicht in meinem Zustand, denn das Erlebnis mit den beiden jungen Männern im Sand steckte mir immer noch in den Knochen. Aber nun hatte es sich in meinen Augen völlig verändert. Jetzt kam es mir vor, als hätte ich zwei Jungs bei einem grausamen Liebesspiel beobachtet.

Ich zog mein iPhone aus der Tasche und loggte mich ein bei SPLASH! Nachdem ich einige Profile angeklickt hatte, wurde mir klar, dass ich auf den rosa Seiten dieses Datingportals nicht finden würde, was ich suchte. Was konnte ich an einem Donnerstagnachmittag in einer so kleinen Stadt auch erwarten, und besonders jetzt, da ein Teil der Studenten schon in den Ferien war? Nicht, dass es an Angeboten gefehlt hätte. Aber die kamen meist von älteren Männern, denen ich jedes Mal schrieb, dass es leider „nicht ganz“ passte. Da mich deren seltsame Antworten amüsierten, fühlte ich mich bald auf die lockerste Weise entspannt. Doch auf einmal änderte sich alles. Ein User mit dem Nickname body_connection war auf meiner Seite aufgetaucht, und der Service des Datingportals sagte mir, dass dieser Mann nur vierhundert Meter von meinem Platz unter diesem Sonnenschirm entfernt war.

Mit einem Klick sprang die Seite eines zweiundzwanzigjährigen Studenten auf, der einen Fuckbuddy ab vierzig suchte, und ehe ich mich versah, hatte ich schon eine Nachricht.

„WOW geiles profil hammergeiler dad geile behaarung.“

Ich musste nicht lange überlegen, was ich antworten sollte. „Hey, Danke. Wollte dir auch gerade schreiben. Total sexy deine Fotos! Sehe geile Sixpacks und einen saugeilen Arsch!“

„freut mich, dass dir mein arsch gefällt ;)“

„Könnte mir einiges vorstellen mit deinem Arsch!“

„machst mich total horny jetzt. könnten bestimmt viel spaß haben. hast du nachher zeit?“

„Ja, hab ich und ich habe Lust auf dich und deinen geilen Arsch.“

„Cool! kannst du auch geil küssen? steh total da drauf. finde küssen fast so geil wie ficken“

„Denke schon.“

„Dann lass uns treffen. kann heute aber erst ab 5. hab dann sturmfrei“

„17.00 Uhr ist okay. Ich habe ungefähr bis sieben Zeit. Wo muss ich hin? Sehe, dass du in der Nähe bist.“

Ein paar Minuten später hatte ich Namen und Adresse. „Danke. Werde ich finden. Bin kurz nach fünf bei dir.“

„freu mich“

„Freu mich auf dich und unsere body_connection.“

„hahaha. ja. du hast es erfasst ;-))“

Was für ein Timing!, dachte ich. Dieser Junge mit dem verheißungsvollen Usernamen war genau zum richtigen Zeitpunkt auf meiner Seite aufgetaucht. Eben noch war ich müde und kaputt gewesen, kein Wunder nach den durchzechten Nächten mit den Russen und erst recht kein Wunder nach drei aufreibenden Wochen in Rom. Jetzt aber, da ich auf der Satellitenkarte bei Google Maps sah, wo der Junge wohnte, fühlte ich mich auf eine verrückte Weise emporgehoben, fast so, als seien mir Flügel gewachsen. Die vierhundert Meter bis zur Eisenbahnstraße 21 würde ich allerdings auch ohne Flügel in fünf Minuten schaffen, das war mir klar, und gleich danach würde es zur Sache gehen. Was auch immer body_connection heißen konnte, ich würde alles mitmachen, selbst wenn es die schlimmsten Sauereien wären. Das Verrückteste aber war, dass ich gerade so etwas wie Genugtuung empfand, fast ein wenig Stolz darauf, dass ich mich eine Woche lang aufgespart hatte für diesen Jungen. Dabei musste mir doch klar sein, dass meine Enthaltsamkeit keineswegs freiwillig war, denn unsere russischen Hausgenossen waren so besitzergreifend, so gierig auf Freundschaft, dass man ihnen kaum entkam. Der eigentliche Grund aber war mein Verhältnis zu Erika. Ich hätte es peinlich gefunden, ihr zu sagen, dass ich an einem Abend einmal weg musste. Dabei kannte sie mich. Sie wusste, dass ich Sex mit Männern hatte, und sie hatte überhaupt nichts dagegen. Sie war eine kluge Frau, ohne jedes Vorurteil, von seltener Offenheit. Ein dunkles Geheimnis blieb aber, warum diese, wie ich fand, immer noch schöne Frau nie eine Liebesbeziehung eingegangen war. Und aus eben diesem Grund glaubte ich, ihr nicht alles sagen zu können. Eine sicherlich überflüssige, trotzdem reale Scheu.

 

Während ich mir ein zweites Bier holte, sah ich, dass dieser Beach Club nichts anderes war als ein großer Biergarten mit langen Tischen und Bänken auf dem abgewetzten Rasen. An diesem Nachmittag saßen hier nur zwei junge Frauen, die ab und zu an ihren dunkelroten Getränken nippten, sonst aber mit ihren Handys beschäftigt waren. Doch in den Abendstunden und am Wochenende würde es in dieser Bierschwemme hoch hergehen, alles, was ich sehen konnte, deutete darauf hin, und seltsam, wieder fiel mir Erika ein. Sie musste sich nicht verbiegen, wenn sie sich hier mit ihren Studenten zu einem Bierabend traf. Wie oft schon hatte ich erlebt, dass sie Dinge tat, die andere Frauen in ihrer Stellung nicht taten, wie auch ihre Umgangsformen und ihre Sprache ungezwungen, frei von Konventionen waren, und in allem, was sie tat, war sie immer sie selbst, in jeder Hinsicht authentisch.

Ich war nicht wie sie. Seitdem mir bewusst war, dass ich etwas zu verbergen hatte, war ich in jeder neuen Situation ein anderer. Vielleicht war ich sogar ein einziger Widerspruch, im Großen wie im Kleinen. Hin- und hergerissen zwischen Intellekt und Gier nach Sex. Und wo mein wahres Ich versteckt war, würde mir immer ein Rätsel bleiben. Zuweilen dachte ich, dass ich nur beim Sex ganz ich selbst war, vor allem in seiner animalischen, sprachlosen Form. Alles andere, was ich trieb, war Komödie, mein bürgerliches Leben ebenso wie die Wissenschaft, in der ich erfolgreich gewesen war. Nichts weniger als Komödie war mein Leben auf SPLASH! Da war ich dieser HairyDad4HornyBoys, und wunderte mich kaum noch über die seltsame Sprache, die ich mir zugelegt hatte. Das war eine Mischung aus dem Jargon junger, hipper Schwuler und Pornosprache, eine Sprache, in der das Wort „geil“ inflationär in den wahnsinnigsten Kombinationen herumwucherte. Und längst hatte ich begriffen, dass auf den rosa Seiten von SPLASH! „geile Sau“, „geile Drecksau“ oder besser noch „saugeile Drecksau“ das höchste Lob war, das man vergeben oder erhalten konnte.

 

Inzwischen spielten die Jungs wieder Volleyball, friedlich, wie es schien, jetzt mit erstaunlich anmutigen Bewegungen. (Seltsam, dass ich immer Jungs sagte, wenn ich junge Männer meinte.) Ich checkte meine E-Mails, schrieb ein paar SMS. Irgendwann sah ich, dass Nino ein kleines Video geschickt hatte. Das Video, schrieb er, habe er heute, den 10. Juli 2014, mitten in Rom nach einem Wolkenbruch aufgenommen. Es zeigte eine vollgelaufene Piazza, auf der ein PKW bis zur Höhe der Scheinwerfer im Wasser stand. Über dem Video stand: COLPA DI MERKEL. Ich schickte Nino ein Lachen zurück. Dass ein Auto in Rom einen vielleicht irreparablen Wasserschaden hatte, war also die SCHULD VON ANGELA MERKEL. Von Nino wusste ich, dass es etliche seiner Landsleute gab, die der deutschen Bundeskanzlerin nicht nur die Schuld an der italienischen Wirtschaftskrise gaben, sondern auch am angeblich immer schlechteren Wetter. Er hielt einen Großteil seiner Landsleute ohnehin für unzurechnungsfähig, für „abitanti di Creta,“, Einwohner von Kreta, wie er immer wieder sagte, für „Cretini“, und das hieß im Italienischen so viel wie Kretins oder Idioten.

Jetzt war von Nino zurückgekommen „und wie ist das wetter bei euch?“

„Schön und heiß. Sommer eben“, schrieb ich.

„dachte immer, deutschland liegt am nordpol. ihr koennt der merkel danken. bei euch zaubert sie sommer, bei uns wolkenbrueche. und was machst du?“

Wieder die unerklärliche Scheu, mit Nino über mein Sexleben zu sprechen. Warum konnte ich ihm nicht sagen, dass ich gleich ein Date hatte? Es war verrückt, dass ich es nicht sagen konnte. „Bin froh, dass die Russen weg sind nach sechs anstrengenden Tagen“, schrieb ich ihm. „Sitze in der Sonne, faulenze ein bisschen. Erika ist nach Frankfurt gefahren. Sie bringt die Russen zum Flughafen. Und was machst du?“

„telefoniere herum. suche einen handwerker, der den boden der terrasse repariert. noch ein solcher regen und das ganze haus steht unter wasser.“

Ja, Ninos Dachterrasse. Wie oft schon hatte ich mit Nino und anderen Freunden auf dieser Dachterrasse gesessen, die ein richtiger Garten war über dem vierten Stock eines Hauses auf dem Aventin, einem der sieben Hügel des alten Rom. Von hier aus sah man die Dächer, Kuppeln und Türme der Altstadt, über der sich ganz im Hintergrund der weiße Palazzo und die dunklen Pinien der Villa Medici erhoben. Nino konnte sich den Luxus dieser Wohngegend leisten. Er war in der Hierarchie des italienischen Außenministeriums aufgestiegen, nicht zuletzt wegen seiner Deutschkenntnisse, und längst war er Teil eines Systems, das er verspottete und doch für seine Zwecke nutzte.

 

Mitte Juni war ich wieder einmal nach Rom geflogen, auch diesmal im Auftrag meines Kölner Verlags, der seit Anfang des Jahres eine Reihe kleiner, aber spektakulär aufgemachter Reiseführer herausbrachte. „Verborgene Orte in …“ waren die immer gleichbleibenden Titel, und die „Verborgenen Orte in Rom“ hatte die Verlagsleitung mir überlassen, diesem Rom-Verrückten, der sieben Jahre in der Ewigen Stadt gelebt hatte. Die Reihe richtete sich an Bildungsreisende, also an Leute, die sich sorgfältig vorbereiten, alles Sehenswerte schon kannten, darüber hinaus noch mehr sehen wollten, vor allem Objekte, die sie aus der Literatur kannten, die aber aus unterschiedlichen Gründen normalerweise nicht zugänglich waren. Diese Rombesucher standen im krassen Gegensatz zu den Massen, die im Zeitalter der billigen Flüge nach Rom kamen, oft genug angelockt von Werbeformeln wie „Europe in ten days, Pope included“. Die allermeisten von ihnen hatten kaum noch eine Ahnung, was Rom in seiner Geschichte gewesen war und welche Bedeutung all die Dinge hatten, die Antike und Christentum hier im Übermaß angehäuft hatten. Wenn ich diese Leute beobachtete, hatte ich den Eindruck, sie suchten einfach nur Motive für ihre Handykameras, und wenn sie etwas wiedererkannten, dann allenfalls noch Bilder aus der Werbung, wie die beiden sich fast berührenden Hände an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Ich war der letzte, der sich darüber lustig machte. Im Laufe meines Lebens hatte ich gelernt, dass alles sich veränderte und verändern musste, Lebensformen wie Wahrnehmungsweisen.

Einige Erscheinungen im heutigen Rom aber konnte selbst ich nicht ertragen. Zum Beispiel den Gegensatz zwischen denjenigen, die hier willkommen waren und denen, die man hier nicht haben wollte. Jeden Mittag strömten Scharen reicher Chinesinnen in die Luxusläden unweit der Spanischen Treppe. Die unter ihrem weißen Mundschutz nicht immer nur lächelnden Chinesinnen waren gern gesehene, hofierte Gäste. Andere Gäste Roms, aus Krisengebieten Geflüchtete, drängten tagsüber auch ins Stadtzentrum, versuchten ein bisschen Geld zu verdienen, indem sie billige Sonnenbrillen und Feuerzeuge vor sich auf dem Boden ausbreiteten. Dann kam regelmäßig die Polizei und machte Jagd auf diese armen Menschen, bis sie irgendwo im Labyrinth der Altstadtstraßen verschwanden. Trotzdem war das Elend der Flüchtlinge nicht zu übersehen. Nino und ich waren an einem Abend mit dem letzten Zug aus den Albaner Bergen gekommen. Eine Stunde zuvor hatten wir noch auf der Terrasse eines Restaurants hoch über dem fast kreisrunden Kratersee gesessen. Demgegenüber wirkte wie ein Schock, was wir kurz vor Mitternacht auf der Stazione Termini mitansehen mussten. In den abgelegenen Bereichen des römischen Hauptbahnhofs lagen unzählige Menschen unter schäbigen Decken, Plastikfolie, Kartonpappe. Und über allem hing ein beißender Uringestank. Ich hatte dem Verlagsteam in Köln einmal vorgeschlagen, die Stazione Termini bei Nacht mit in den Führer „Verborgene Orte in Rom“ aufzunehmen. Das war halb Scherz, halb Ernst gewesen. Allen Ernstes aber hatte einer der Lektoren gesagt: „Wir sind kein Verlag für Elendstourismus. Das können andere machen.“

War es ein Wunder, dass ich das Elend verdrängte, wie alle es verdrängten, die hierherkamen, um das „Ewige Rom“ zu sehen? Hauptsächlich aber verdrängte ich es, weil ich immer auf der Jagd war nach jungen Männern. Ja, buchstäblich immer, auch dann, wenn ich mit Nino zusammen war oder mit meinen Recherchen für das Reisebuch beschäftigt war. Das iPhone machte es möglich. Und diese Jagd war erfolgreicher als je zuvor, denn seit dem letzten Jahr hatte die Anzahl römischer Schwuler, die sich bei SPLASH! angemeldet hatten, immer noch zugenommen, und jetzt, im Sommer des Jahres 2014, fand man hier sogar schon Achtzehn-, Neunzehnjährige, die sich selbstbewusst und hemmungslos mit rotzfrechen Profiltexten und unverschämten Fotos vorstellten.

 

Drei Wochen also hatte ich in Rom verbracht, bevor ich nach Deutschland zurückflog, um Erika zu besuchen. Und jetzt, da die Feiern anlässlich ihres Geburtstags vorbei, die Russen abgereist waren, spürte ich, wie sehr mir Rom immer noch in den Gliedern steckte. Denn Rom im Sommer hieß: schlaflose Nächte. Wer hätte auch schlafen können nach einem dieser Abendessen, die um zweiundzwanzig Uhr begannen und sich meist über zwei Stunden hinzogen? Statt Nachtruhe war dann die Altstadt angesagt, oft bis in die frühen Morgenstunden hinein. Sich treiben lassen in den engen Gassen um den Campo dei Fiori herum, mehr als zweitausend Jahre Geschichte unter den Füßen. Hingucken, weggucken, Gelächter, Geschwätz, und mitten in einem immer größer werden Pulk von Freunden und Bekannten Nino und ich. Manchmal stellte ein Freund uns Leuten vor, die uns nicht kannten: „Qui vedete una copia da trent’ anni felice“, was heißen sollte, dass wir seit dreißig Jahren ein glückliches Paar waren. Die meisten hielten das für einen Witz und lachten. Dabei stimmte es. Nino und ich kannten uns seit 1983, als ich Deutschland verlassen hatte, um in Rom zu leben. 1991 ging ich nach Deutschland zurück, aber immer, wenn ich nach Rom kam, wohnte ich bei Nino, und das hieß, wir waren wieder das Paar, das wir immer gewesen waren. Wir schliefen sogar in einem Bett, wie immer und wie es auch in Hamburg war, wenn Nino mich besuchte. Über all die Jahre hinweg hatten wir uns unsere Zuneigung bewahrt, obwohl wir keinen Sex mehr hatten. Warum es so war, wussten wir nicht, wir sprachen ja nicht darüber. Es war einfach so. Dass Nino seine Dates hatte, konnte ich mir denken, denn oft genug hatte ich meine ja auch, viel zu oft sogar, und jedes Mal hatte ich hinterher ein schlechtes Gewissen, weil ich glaubte, er würde es mir ansehen. Ihm sah ich niemals etwas an.

Allerdings war das letzte Date vor meinem Rückflug nach Deutschland ein Flop gewesen. An diesem Tag war Nino im Auftrag seines Ministeriums zu einem Kongress nach Mailand geflogen, und gleich am Vormittag besuchte ich einen bärtigen jungen Kerl, den ich am frühen Morgen bei SPLASH! aufgerissen hatte. Ich hatte ihm alle meine Fotos geschickt, damit er sich ein Bild machen konnte. Als ich zu ihm kam, sah ich gleich an seinem Blick, dass es nichts werden würde. Auf meinen Fotos hätte ich jünger ausgesehen, sagte er. Na ja, so etwas kam vor. Auch ich hatte schon erlebt, dass ein Kerl zu mir kam, der nicht meinen Vorstellungen entsprach. Dann war es immer ein wenig peinlich, ihn mit einer Ausrede wieder loszuwerden. Dieser hier war so ehrlich zu sagen, was er dachte, und er war so höflich, mich nicht gleich hinauszuwerfen. Er lud mich sogar auf einen Drink ein, und so saßen wir noch eine Weile auf seinem riesigen weißen Ledersofa, machten Small Talk, bis ich mich verabschiedete.

 

Neben mir bewegte sich etwas. Ja … doch … ich war noch in diesem Beach Club. Jemand sagte: „Sorry“. Dann bückte sich der verschwitzte und verdreckte Volleyballspieler, klaubte einen Ball unter meinem Tisch hervor und verschwand. Ich war in Gedanken weit weg gewesen, hatte gedöst, vielleicht auch geschlafen, jedenfalls hatte ich nicht bemerkt, dass der Ball hierher gerollt war. Nun sah ich, dass es höchste Zeit war zu gehen, wenn ich den Burschen mit dem Nick body_connection noch treffen wollte.

Kurz nach 17.00 Uhr stieg ich die Treppe eines Hauses in der Eisenbahnstraße hinauf. Im zweiten Stock stand eine Wohnungstür einen Spaltbreit offen. Ich stieß die Tür auf, und als sie hinter mir ins Schloss fiel, war ich allein mit einem nackten raubtierhaften Blonden.

Er kam auf mich zu, nahm meinen Kopf mit beiden Händen in den Schraubstock. Mit einer Heftigkeit und Unbedingtheit, auf die ich nicht vorbereitet war, steckte er mir seine Zunge in den Mund. Hart stießen unsere Zähne aneinander, und von nun an schmeckten alle unsere Küsse nach Blut. Während er mich in ein Zimmer drängte, fuhr seine Zunge gierig an meinen Zähnen, meinem Gaumen entlang, als wolle er mir das Blut aus der Mundhöhle lecken. „Du schmeckst so gut“, sagte er, als wir aufs Bett fielen, wo er sein Spiel sofort wieder aufnahm. Ich aber wollte etwas anderes. Ich spürte eine nicht zu unterdrückende Lust auf seinen runden Arsch. Und von nun an war alles, was sich zwischen uns abspielte, ein Kampf, der kein Ende nehmen wollte.

Irgendwann war er dann doch zu Ende. Wir kamen fast gleichzeitig, und fast gleichzeitig fingen wir an zu lachen. Wir lachten über die verbissene Anstrengung, die hinter uns lag, über die hechelnde, keuchende Atemlosigkeit, vor allem über das komische Gezappel der letzten Minuten. Während wir lachten, umarmten wir uns, rollten herum und konnten kaum fassen, wie leicht das Leben war nach dieser Schinderei.

Dann lagen wir einfach nur da. Einmal richtete er sich auf und sah mir ins Gesicht. Vielleicht nahm er erst in diesem Augenblick wahr, wie ich aussah. Er grinste, und er grinste noch, als er sich wieder auf den Rücken legte und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte. Es war also vorbei, dachte ich. Vermutlich war ihm jetzt schon lästig, neben einem Mann zu liegen, der so viel älter war als er. Ich sollte jetzt aufstehen, mich anziehen und gehen.

Doch es kam anders. „Hast du Durst?“, hörte ich ihn sagen. Eine Antwort wartete er nicht ab. Er sprang auf, rannte hinaus und kam mit einer geöffneten Bierflasche zurück. Noch im Stehen nahm er ein paar Züge, wobei ein Teil des Biers schäumend an seinem gebräunten Körper herunterlief. Bevor er sich wieder aufs Bett warf, gab er mir die Flasche und ich trank genauso hastig wie er. Als die Flasche leer war, beugte ich mich über ihn und ließ den Rest des Biers in seinen Mund laufen. Und so endete unser Date, wie es begonnen hatte, in einem langen Kuss. Weniger blutig, weniger gierig als am Anfang, beinahe zärtlich.

Dann war es genug. Ich legte mich neben ihn, und während er seinen Kopf fest gegen meinen drückte, glaubte ich so etwas wie Glück zu spüren.

Die Abendsonne fiel schräg ins Zimmer. Draußen in der Eisenbahnstraße ratterte ein Zug vorbei. Ich dachte an Erika, dachte, dass sie längst wieder zu Hause war und dass ich gehen musste.

Der Junge spielte an meinem Schwanz herum. „Musst du weg?“, fragte er.

„Ja, ich bin hier zu Besuch, werde zum Abendessen erwartet. Morgen früh muss ich nach Köln, und anschließend noch nach Hamburg.“

„Wohnst du in Hamburg?“

„Ja, ich bin aus Hamburg. Meine Schwester wohnt hier.“

Er sprang auf, um sein Handy zu holen. „Ich geb dir mal meine Nummer. Du kommst bestimmt wieder.“

Jetzt stand auch ich auf und holte mein Handy. Dann speicherten wir unsere Nummern. Und so erfuhr ich, dass der Junge Daniel hieß. Und Daniel erfuhr, dass mein Name Ben war.

 

Am Freitagvormittag stieg ich kurz vor zehn Uhr in den Zug nach Köln. Nachdem ich einen Platz gefunden hatte, tippte ich in mein Handy: „Fahre um 10.06 Uhr ab. Bin im letzten Wagen. LG Ben.“

Als der Zug an den Häusern in der Eisenbahnstraße vorbeifuhr, stand Daniel auf dem Balkon seines WG-Zimmers. Wahrscheinlich konnte er mich nicht sehen, denn die Fenster des Wagens waren nicht zu öffnen. Doch gerade in dem Moment, in dem der letzte Wagen vorbeifuhr, drehte er sich um, zog seine Adidas-Sporthose ein Stück herunter und zeigte mir noch einmal seinen runden Arsch.