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Moritz Liebtreu

Nichtsnutz

R O M A N


Ein beschädigtes Leben ist immer mit Folgen verbunden. In der Art, wie etwas getan oder gedacht wird, weicht es möglicherweise stärker von dem ab, was die meisten tun, eckt an und führt nicht selten zu ungewöhnlichen positiven oder negativen Ergebnissen. Wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass das Bessere mit dem Schlechteren zusammentrifft und manchmal gleichzeitig in einem Menschen auftritt, sei es in Form von Kunst oder Missetaten.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

N i c h t s n u t z

 

 

 

 

M o r i t z  L i e b t r e u

 

 

 R o m a n

 

 

 

 

 

 

 

 

Mail: moritz.liebtreu@web.de

©Alle Rechte vorbehalten, Eigenverlag

 

 

 

1. Tumult in der Schulklasse

 

Die Szene in der Klasse nahm turbulente Ausmaße an. Frau Kleinerüschkamp war der Verzweiflung nahe: „Ich bitte doch endlich um Ruhe. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.“ In der sechsten Klasse Religion und dies ausgerechnet in der fünften Stunde, wo die meisten sich kaum noch konzentrieren konnten, das war die Hölle.

„Ich stelle das Thema zur Diskussion, wenn das für heute zu schwierig ist“, machte sie erneut einen Fehler.

„Ja, wenn die schon nicht weiß, was sie will.“

Und immer wieder die gleichen völlig unsachlichen Bemerkungen dazwischen. Einer machte sich den Spaß, auf jede Aussage mit dem Standartsatz zu fragen: „Was hat das denn mit Afrika zu tun?“, konnte sich selbst dabei nicht mehr halten vor Lachen.“

„Die Stunde ist gleich vorbei und wir haben noch nicht einmal begonnen.“

„Aber was hat das denn mit Afrika zu tun?“ und so weiter. Einige taten so, als sei die Lehrerin überhaupt nicht da, das war fast noch schlimmer. Sie schauten völlig stumm und teilnahmslos durch sie hindurch, egal was die sagte. Das schien wieder eine neue Masche zu sein, brachte auch andere Kollegen inzwischen zur Verzweiflung. Kleinerüschkamps Kehlkopf bibberte rauf und runter, rote Flecken bildeten sich an ihrem Hals. Aber Kinder in diesem Alter von elf bis zwölf Jahren kennen da kein Mitleid. Hier erholten sich einige von der anstrengenden Mathestunde zuvor, hatten das Gefühl sich einmal gehen lassen zu können, rächten sich vielleicht an dieser Lehrerin sogar für in anderen Stunden erfahrenes Leid und verletzten Stolz. Konnten die sich denn noch vorstellen, wie das war, wenn man nach intensiver Paukerei, mit Unterstützung von Nachhilfestunden vielleicht noch, wieder mit einem Fünfer oder Sechser dastand, damit nach Hause gehen musste. War es nicht schon schlimm genug, dass die Eltern sich ständig stritten, der Vater schon längst das Weite gesucht hatte oder einer der Eltern arbeitslos war, das Geld vorne und hinten nicht reichte?

Und zum x-ten Male: „Wenn ihr kein Interesse an Religion habt, könnt ihr euch doch abmelden. Ich stelle zur Wahl, wir können über ‘Werbung im Fernsehen’ sprechen. Außerdem haben mir einige gesagt, dass sie sich gerne mal über Sekten auseinandersetzen möchten. Mehr im Bereich Moral und Ethik ...“ gibt sie den Kampf noch nicht auf, obwohl ihre Stimme fast versagt. Irgendwann muss der Widerstand brechen, was soll sie ins Klassenbuch schreiben? Aber diese eisigen Minen in der ersten Reihe lockerten sich nicht auf, brachten sie zur Verzweiflung. Die bravsten Mädchen sitzen da und schauen durch sie hindurch, ausdrucks- und bewegungslos wie Puppen. Wenn das stärker um sich greift? Nur an den Mündern sieht man kleine Falten, ist zu erkennen, dass es ihnen Kraft kostet, sich so zu verschließen.

Plötzlich in einen stillen Augenblick hinein, wie eine Peitsche trifft sie die Frage: „Glauben Sie denn an Gott?“ Und alle starren sie gespannt an.

Frau Kleinerüschkamps Gesichtsfarbe ändert sich von rötlichgrau zu kalkweiß. Ihr Gesicht ist verzehrt als sie hervorstößt: „Das ist ja eine Unverschämtheit, jemanden so einfach mit einer solchen Frage zu überfallen. Eine unglaubliche Frechheit ist das. Da ist die erste Eintragung in das Klassenbuch fällig. So jetzt hört der Spaß aber auf, meine Damen und Herren, jetzt wird’s ernst!“

Die lassen sich aber heute nicht einschüchtern und erste Kommentare dringen nach vorne, aber wieder so, als sei sie gar nicht anwesend: „Wenn die das nicht mal selbst beantworten kann. Was sollen wir dann hier und spielt sich auf, ist doch unmöglich. Ich habe schon bald Kopfschmerzen von der ihrem Gebrülle. Das werde ich meiner Mutter sagen, was hier heute wieder los war und dabei sitzen wir ganz ruhig da. Müssen uns hier ständig anmeckern lassen.“

Da hinten, ist das die Rettung? Obwohl sie bei dem besonders vorsichtig ist, weil der meistens die spitzesten Bemerkungen macht. Kleinerüschkamp schaut zu Klaus hin, der im Gegensatz zu den anderen das Religionsbuch aufgeschlagen hat und konzentriert, um nicht zu sagen angestrengt versucht, etwas aufs Papier zu bringen. Zu mindestens ist das eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, denn ihre Beine fangen schon an zu wanken und nicht einmal die Hälfte der Schulstunde ist bisher herum.

Sie geht ein paar Schritte tiefer in den Klassenraum hinein, das hebt das Gefühl der Konfrontation etwas auf. Daran hätte sie schon eher denken sollen, schöpft sie neue Hoffnung. Jetzt bloß einen kühlen Kopf bewahren. Die Klasse scheint ihrer Blickänderung zu folgen. Tatsächlich hat Klaus das Religionsbuch vor sich liegen, kaut dabei sogar nervös an seiner Unterlippe herum, scheint an einem ernsthaften Problem zu tüfteln, in einer ganz anderen Welt zu sein. Und wenn der nur ein religiöses Motiv zeichnet, mit malen verbringt er oft seine Zeit, ließe sich wunderbar daran anknüpfen. Ihre Erwartungen steigen hoch. Vielleicht noch ein paar Minuten was Sinnvolles aus der Stunde machen. Vorsichtig nähert sie sich dem kleinen Grübler und sieht, wie er dabei ist einen kleinen Text zu verfassen, dabei immer wieder prüfend ins Buch schaut. Alle sind stumm, starren auf die Lehrerin und ihr neues Opfer.

„Hier scheint es doch noch eine Ausnahme zu geben“, brüllt sie auf einmal los, hat sich ihre geschundene Stimme noch nicht an die plötzliche Stille gewöhnt.

Der kleine Klaus Fischer schreckt mit hoch und sieht sie auf sich zustürmen und nach dem Blatt greifen: „Es gibt wohl doch jemanden, der sich mit religiösen Fragen auseinandersetzt. Darf ich mal sehen, was dich da so interessiert beschäftigt?“ Im Letzen Augenblick kann er das Papier noch greifen, hat er es ihr gerade noch wegschnappen können. Die Klasse hält die Luft an. Sie will aber noch nicht aufgeben, schnappt nochmals nach dem Blatt. Da zerreißt er es schnell vor aller Augen, legt die Schnipsel lächelnd vor sich hin.

„Das hättest du dir so gedacht“, ist sie da aber wieder ganz in ihrem Element und grapscht blitzschnell nach den Fetzen.

„So das wollen wir doch mal sehen, ob hier jeder machen kann was er will. Das wird ein Nachspiel haben. Darauf kannst du dich verlassen. Ihr schreibt alle die Seiten ... bis ... ab und mucksmäuschenstill - bitte ich mir aus.“

Sie nimmt den kleinen Haufen Schnipsel vorsichtig mit zu ihrer großen prall gefüllten Aktentasche, holt kriminalistisch einen Umschlag heraus und tut sie hinein. Klaus hat dafür nur ein spöttisches Grinsen übrig. Er kann nicht ahnen, was da auf ihn zukommt.

 

 

2. Das geht zum Schulleiter

 

Es schien höchste Gefahr in Verzug. Nur mit knappen Worten hatte der Rektor Klaus Fischers Mutter gebeten, ihn dringend noch am gleichen Nachmittag zu einer Besprechung aufzusuchen. Sie musste ohne Vorbereitung hingehen, da ihr Sohn, falls er früher Schulschluss hatte als sie, die Direktorin an einer Realschule war, meistens zu seiner Tante ging, dort aß und manchmal schon mit den Schularbeiten begann. Ihre kinderlose Schwester machte das gerne, hing sehr an ihrem Neffen und Frau Fischer war froh, dass diese Möglichkeit der Betreuung existierte und so gut wie nie Engpässe auftraten, auch wenn sie nachmittags längere Konferenzen hatte. Trotz der Beunruhigung, was würde es jetzt nützen, mit dem Sohn zu telefonieren oder bei der Schwester vorbeizufahren, der konnte ihr ja das Blaue vom Himmel erzählen und die Schwester wurde besser nicht hineingezogen. Die beschwerte sich ohnehin über ihren strengen Erziehungsstil: „Was du immer hast, lass doch den Jungen mal. Wie du mit ihm umgehst“, waren ihre häufigsten Worte. Die konnte gut reden, hatte ja nicht die Verantwortung.

Mit schnellen Schritten betrat sie das imponierende Gebäude des altsprachlichen Gymnasiums. Zu ihrer Zeit war dies noch eine reine Jungenschule. Erst seit einigen Jahren wurden an beiden höheren Schulen der Stadt Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet. Breite, hohe Flure empfingen sie und nur vereinzelt waren da noch Schüler. Eine ältere Person, die nur als Lehrer zu identifizieren war, kam ihr entgegen und konnte bestimmt Auskunft nach dem Sekretariat erteilen.

„Sie stehen schon fast davor. Gleich links die zweite Tür“, machte der sich eilig davon. Sie wunderte sich, dass der Rektor sie um diese Zeit noch sprechen wollte. Es musste bestimmt etwas dringendes sein, sonst würde der sich jetzt nicht mehr in der Schule aufhalten.

Nervös öffnete sie die Tür zum Sekretariat. In dem Vorzimmer war niemand mehr, aber die Tür zum Rektorenzimmer stand einen Handbreit offen, und es waren scharrende Geräusche zu hören, als ob jemand einen Stuhl zur Seite rückte. Da tauchte schon das bekannte Gesicht des Schulleiters in der Tür auf. Gleichzeitig warf er einen Blick auf die Uhr: „Sie müssen Frau Fischer sein. Schön, dass sie gleich gekommen sind“, sagte er aber ohne jede Freundlichkeit. „Sehr unangenehme Sache. Bitte setzen Sie sich. Mir fehlen wirklich die Worte. Frau Kleinerüschkamp hat in der Religionsstunde ihrem Sohn diesen Zettel abgenommen. Ich hoffe, sie ersparen mir dazu jeden Kommentar, und es wäre wohl für alle Beteiligten besser, darüber völliges Stillschweigen zu bewahren. Sie werden Verständnis dafür haben, Frau Kollegin, wenn Sie dieses Schriftstück gelesen haben, dass ich Sie ganz dringend bitten möchte, ihren Sohn von unserer Schule zu nehmen. Sie wissen, dass wir als Stiftungsschule einen ganz besonderen Auftrag haben, was die Bewahrung abendländischer kultureller und religiöser Werte angeht.“

Mit diesen Worten übergab er ihr ein wie ein Puzzle zusammengesetztes Stück Papier. Auf der Rückseite wurden die Einzelteile mit Tesafilm zusammengehalten, was unschwer zu fühlen war. Die Situation für Frau Fischer war so unangenehm, dass sie sich kaum auf das Schriftstück konzentrieren konnte. Was konnte da von einem elfjährigen Kind geschrieben stehen, dass eine solche Konsequenz haben sollte, wie der Rektor sie in einer derartigen Bestimmtheit forderte. Nicht einmal einen Kommentar wollte er dazu abgeben. „Es tut mir leid, aber ich habe noch einen Termin außerhalb der Schule. Verzeihen Sie, dass ich mir nicht mehr Zeit nehmen kann“, unterstrich er sein Vorhaben, sich auf keine Diskussion einzulassen.

Frau Fischer erkannte sofort die Schrift des Sohnes, las nur die erste Zeile genauer und überflog völlig entsetzt den Rest. Damit hatte sie nicht gerechnet, das übertraf ihre schlimmsten Erwartungen. Tonlos sprach sie den ersten Satz in sich hinein: „Du sollst auch andere Götter neben mir haben.“ Einige andere Veränderungen waren an den zehn Geboten vorgenommen worden. An einer Stelle stockte sie beinah atemlos: „Du sollst die Schwächsten und die Kinder achten, auf das ...“

Der Rektor sah tief berührt an ihr vorbei. Sprachlos stand sie auf. „Vielleicht hat es damit zu tun, dass er ohne Vater aufgewachsen ist“, sagte sie mit schwacher Stimme. Ihre Blicke flehten den Mann um Entschuldigung an.

Der zeigte keinerlei Mitleid: „Ja ohne Vater aufgewachsen“, kam dies eher als Vorwurf zurück, als ob er sagen wollte, sind ja schöne Zustände.

„Es waren sehr schwere Umstände ...“, flüsterte sie nur noch und hätte beinahe ihr bestgehütetes Geheimnis über die Geburt ihres unehelichen Sohnes preisgegeben.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Stimme versagte endgültig und ohne ein weiteres Wort zu sagen verließ sie den Raum.

 

3. Klaus Mutter ist verzweifelt

 

Die Haustür klappte zu. Endlich kam er herein. Meistens kam zur Begrüßung der Satz: „Wo kommst du denn jetzt erst her“, und es folgte die fast immer gleiche Antwort, dass er doch bei der Tante gewesen sei, Schularbeiten gemacht, dem Onkel in der Werkstatt geholfen habe oder sonst etwas Wichtiges da passiert sei. Misstrauisch sah er sie an, als nicht das übliche Ritual ablief. Den Zettel hatte er längst vergessen. Stumm hielt sie ihm das Papier hin: „Kannst du mir erklären was das soll. Ich musste zum Rektor kommen und soll dich von der Schule nehmen.“

Ihre ganze Art und vor allem der bedrohliche Ton ihrer Worte erschreckten ihn zutiefst, so dass er augenblicklich zu weinen anfing. „Du erklärst mir jetzt, was du dir dabei gedacht hast“, zerrt sie an seinem Arm.

Kaum hörbar: „Das war doch nur ein Spaß. Ich habe es ja zerrissen, damit es keiner liest. Gib es mir zurück, es gehört mir. Hätte ich nur einen Vater“, sagt er dann mit Trotz in der Stimme, weiß, wie er sie treffen kann.

Da verlor sie völlig die Beherrschung: „Jetzt wird er auch noch unverschämt. Was glaubst du wer du bist? Sofort entschuldigst du dich für diese unglaubliche Schmiererei.“

„Das gehört mir. Das geht dich gar nichts an, was auf diesem Papier steht.“ Seine Tränen sind verschwunden. Rasend vor Zorn steht sie auf: „Dir werde ich es zeigen, auch noch frech zu werden. Plötzlich steht sie mit dem Besenstiel in der Hand vor ihm, hat ihn umgedreht und schlägt zu, immer wieder, wie besinnungslos prügelt sie auf ihn ein. Das Antlitz ist völlig entstellt, Tränen überströmen ihr Gesicht, und sie hört nicht auf mit den Hieben. Verzweifelt schützt er seinen Kopf mit den Armen, treffen die Prügel seinen ganzen Körper, stürzt er zu Boden, ohne dass sie einhält.

„Dir werde ich es zeigen, was glaubst du, wer du bist, du, du ...“, Teufel wollte sie sagen, dass war in ihren grimassenhaften Gesichtszügen zu lesen.

 

 

4. Dienstwechsel in einer Klinik

Nur ein dünner Lichtschein drang aus dem kleinen Dienstzimmer hinter dem Tresen in der großen Eingangshalle der Klinik. Erste Patienten kamen von ihrem Abendausgang zurück, trugen sich zuerst in den Ausgangsbüchern als ‘wieder anwesend’ ein, stöhnten unter der Last ihrer schweren Einkaufstüten oder nur unter der des vergangenen Tages und schimpften laut über das beginnende Herbstwetter: „So eine Patsche, nach ein paar Schritten schon klitschnass und dabei war das kein richtiger Sommer, nicht so wie in den Jahren zuvor und nun schon wieder diese Dunkelheit, da fehlt die Sonne, soll man nicht trübe werden, bei so einem Wetter.“

Und sie schütteln sich ab, stampfen mit den Füßen, frösteln, klopfen die tropfende Nässe aus ihren Kleidern, den Haaren. Schemenhaft bilden sich immer mehr Gestalten in dem großen Spiegel gegen über dem Tresen ab, tanzen bunte Flecke der Regenkleidung auf ihm in der schummerigen Notbeleuchtung der Halle. Feuchtigkeit bildet sich auf dem Glas und das Stimmengewirr und Gemurmel muss jetzt auch ins Dienstzimmer dringen.

Aber von dort ist nichts zu hören und zu sehen. Meistens steht einer von denen um diese Zeit am Tresen, überwacht die Eintragungen, macht sporadisch Taschenkontrollen und lässt sogar mal jemanden pusten, um zu überprüfen, dass niemand Alkohol getrunken hat.

„War nicht Dienstwechsel“, wundern sich einige.

„Schwer festzustellen wer da dran ist, wie die immer eingeteilt sind - weiß man doch nie genau.“

So unbeliebt die Kontrollen sind, aber so ganz ohne? Könnte sich doch jemand von einem anderen eintragen lassen, nach der Rückmeldung wieder rausgehen, die Nacht dann woanders verbringen oder Unerlaubtes in die Klinik einschleppen. Aber es waren nur wenige, fast immer die gleichen, die darauf mit größerer Unsicherheit oder gar Unmut reagierten. Einige meckerten halt immer, wenn ihnen etwas zu streng vorkam genauso. Fast alle waren sich sicher, dass hier Vertrauen gegen Vertrauen stehen würde und Kontrollen? Wenn es jemand wirklich darauf anlegen würde, war doch nichts zu machen, zu viele Möglichkeiten gab es da. Schließlich war man nach ein paar Monaten Suchtbehandlung wieder aus der Klinik entlassen und musste dann ohnehin wieder auf eigenen Füßen stehen und je früher man damit anfing ..., dachte doch die Mehrheit.

Die ersten verschwinden in ihren Zimmern, begleitet vom leisen Zischen, Auf- und Zuklappen des Fahrstuhls. Einige verweilen in der gelblich abgenutzten Sesselgruppe, suchen noch die Geselligkeit, fürchten sich vielleicht vor der Stille des Zweibettzimmers oder vor der Nähe des Mitpatienten, den sie sich nicht aussuchen konnten, mit dem sie sich mehr oder weniger gut verstehen. Hier kann man sich aufwärmen, findet noch ein offenes Ohr für Erlebnisse in der Stadt, erfährt die neuesten Klinikinterna, kann dem wichtigen menschlichen Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch nachkommen. Die Schuhe können hier ruhig abtropfen, auf dem dunklen Marmorboden, besser als auf dem Teppichboden, der in den Fluren und Zimmern ausgelegt ist.

„Soll doch der Pfleger Habicht geäußert haben“, alle lauschen gespannt, die Patienten hätten es doch gut, sie müssten keinen Alkohol trinken, während er selbst offensichtlich unter den Folgen einer feuchtfröhlichen Geburtstagsfeier zu leiden hatte.

Gelächter. „Der sieht ohnehin ständig bleich aus, feiert doch dauernd krank. Wann ist der überhaupt mal da?“

„Wenn der so viel Alkohol trinken muss, der Ärmste“, wieder Gelächter, „was haben wir es da gut.“

„In der Gruppenstunde, vor allen Leuten, hat die Sozialarbeiterin Großekathöfer geäußert, sie müsse erst einen trinken, bevor sie etwas mit einem Mann haben könne. Dann hat sie ernsthaft die Frage an uns gerichtet, wie das denn käme. Als ob wir das beantworten könnten.“

„Ich habe schon öfter gedacht, dass die vielleicht nichts mit Männern im Sinn hat“, tuschelt jetzt einer. Aber so weit will keiner gehen, dafür haben sie zu viel Ehrfurcht vor ihren Therapeuten.

„Das geht uns doch nichts an“, sagt eine grauhaarige Dame.

Ab und zu wandern die Blicke zum Dienstzimmer, in dem es völlig ruhig zu sein scheint. Vielleicht lässt sich ja doch einer von denen blicken. Bis dreiundzwanzig Uhr müsste noch der junge Jörg Pagel da sein, der hier nach seinem Abi den Ersatzdienst ableistet. Zunächst hatte man über den häufig gelästert: „Dem kann man ja beim Gehen die Schuhe zubinden, wenn ich schon sehe wie der sich bewegt, aussieht; was der wohl mal werden will, trübe Tasse irgendwie; hat denn einer noch so lange Haare, ist doch gar nicht mehr modern und wie der sich anzieht - von gestern alles; schlaffer Typ.“

Aber das stille und sehr freundliche, um nicht zu sagen sanfte, immer gut gelaunte oder zu mindestens nie mürrische Wesen hatte sich aber schnell gegen alle Vorbehalte behauptet und es gab kaum jemanden, bei dem er nicht beliebt war und Neuankömmlinge wurden alsbald aufgeklärt: „Lass den mal, der ist völlig in Ordnung, tut dir jeden Gefallen, kannste immer hinkommen, so einen findest du hier nicht so leicht wieder.“

Niemand störte sich mehr daran, wenn er wieder einen abgegriffenen, vergilbten Schmöker in der Hand hatte - irgendwas von Hesse, Böll oder Adorno las, so als ob er ständig in einer Traumwelt schwebte: „Na Herr Pagel, wieder was Neues zu lesen“, sprachen ihn vor allem die Patienten an, verwickelten ihn in ein kleines Gespräch.

Und bereitwillig gab der Auskunft, war ganz auf Bescheidenheit bedacht. Schon das Wort ‘neu’ bereitete ihm Unbehagen: „Nur geliehen, können sie gerne haben, wenn ich durch bin. Hat der ... wohl nichts dagegen, wenn ich es weitergebe. Sehr interessant, besonders diese eine Stelle, soll ich ihnen die kurz vorlesen?“

Mal war er so engagiert, ohne die Zustimmung des Fragers abzuwarten und legte gleich los: „Geliebt wirst du nur da, wo schwach du dich zeigen kannst, ohne Stärke zu provozieren (Adorno: „Minima moralia“).“ Blickte dann sein Gegenüber gespannt an und nicht selten war jemand angetan.

„Finde ich gut, schreibe ich mir doch glatt auf. Hat was, der Spruch.“

Immer hatte der sich da eine Stelle gemerkt und fand sie sogar wieder.

„Aber lassen Sie mal Herr Pagel, ich will Sie doch nicht länger stören.“

Und mit seinem sanften Lächeln vertiefte sich der junge Mann dann wieder in seine Lektüre. So sah man ihn im Bus, in dem Café in der alten Weberei, einem Szenetreff, wo einige Mitarbeiter und vor allem jüngeren Patienten verkehrten. Er schien das Lesen jeder anderen Tätigkeit vorzuziehen, war so das, was man sich vielleicht unter einem „Bücherwurm“ vorstellte.

„Eine Freundin hat der wohl nicht“, machten sich einige interessiert Sorgen: „Kann ich mir bei dem gar nicht vorstellen, so hilflos wie der wirkt.“

Die Zurückhaltung im Dienstzimmer sprach dafür, dass der Klaus Fischer die Nachtschicht von neunzehn bis sieben Uhr morgens für den Pflegedienst übernommen hatte. Da der nur eine halbe Stelle besetzte, war dies nur alle vierzehn Tage für jeweils eine Woche der Fall. Selbst wenn die sich unterhielten, war wenig von ihnen zu hören. Beide sprachen überwiegend gedämpft, flüsterten häufig sogar, als wollten sie niemanden in der Klinik stören. Die Zwei waren alles andere als forsch und zackig, ergänzten sich auf merkwürdige Weise. Wenn sich schon mal einer von denen in der Halle blicken ließ, grüßten die nur freundlich, verhielten sich fast etwas schüchtern, hatten für jeden ein Lächeln, sprachen Einzelne sogar mit dem Namen an: „Na Herr Hanke, kräftig eingekauft, ist ja kaum zu schleppen“, dachten nicht daran, zur Kontrolle in die Taschen hineinzublicken. Vielleicht weil sie zu viel Respekt vor den Leuten hatten, sich nicht trauten oder sie vertrauten ihnen halt. Die ganze Atmosphäre war anders, wenn die im Dienst waren. Fischer, Anfang dreißig, war gut zehn Jahre älter als Pagel, wirkte viel abgeklärter, wenn er auch die gleiche Freundlichkeit und Ruhe ausstrahlte, ging etwas geheimnisvolles von ihm aus, war er doch schwerer einzuschätzen und man wusste nicht so genau, was wirklich in ihm vorging oder lag es nur an seinem Status als ‘Beinah-Arzt’. Die dunklen Haare trug der, ebenfalls nicht besonders modisch, halb lang, seitlich gescheitelt und sie fielen ihm ständig in die Stirn, so dass er schon an der Handbewegung zu erkennen war, mit der er sie aus dem Gesicht strich.