Von der Kindheit
bis zum Mauerfall

Melissa May

Roman

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www.net-verlag.de
Erste Auflage 2014
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
© net-Verlag, 39517 Tangerhütte
© Coverbild: Jenny Schneider
Covergestaltung: net-Verlag
Lektorat: Miriam Steinröhder
ISBN 978 - 3-944284 - 82-8

Dieses Buch widme ich allen ehemaligen DDR-Bürgern, die den Zerfall dieses Landes selbst miterlebt haben und deren heile Welt auch zerbrochen ist.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Der Schulwechsel

Zerplatzte Berufsträume

Markolf und das Stasi-Verhör

Ost-West-Treffen in der Tschechei

Berufs- und Studienwahl in der DDR

Vom Kinderferienlager zur Erdbeerernte

Das Studium in Leipzig

Einblick in die Arbeitswelt

Ausbildung zur Finanzkauffrau

Silvester 1987

Geheimnisvoller Besuch

Eine »anspruchsvolle Tätigkeit«

Maresas Strohwitwenzeit

Aufrührerische Aktivitäten

Die Wende

Über die Autorin

Buchempfehlungen

Der Schulwechsel

Schönes, sonniges Wetter unterstrich den schicksalsreichen Maitag des Jahres 1976, der für ein kleines Mädchen namens Maresa zur Lebensweiche, zum bestimmenden Moment seiner weiteren Entwicklung ernannt wurde, da an diesem Tage seine Eltern ein entscheidendes Gespräch mit der Lehrerin, Frau Helbe, führten.

Maresa besuchte gerade die zweite Klasse einer ganz normalen Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule in Karl-Marx-Stadt. Das Lernen fiel ihr leicht, was sich auch am Notendurchschnitt widerspiegelte: Sie hatte fast alles Einsen auf ihrem Zeugnis.

Maresa war ein kleines Mädchen, das noch nicht ahnte, in welchem Land es lebte und unter welchen Strukturen: Maresa hatte noch eine heile Welt vor Augen wie alle Kinder dieses Alters der damaligen Zeit.

Politik ist auch etwas, was Kinder nicht verstehen. Wozu auch? Sie haben ihre Familie, Freunde; die Schule ist auch selbstverständlich. Ihnen will keiner etwas tun, und die Gedanken der Erwachsenen können sie (zum Glück!) nicht lesen.

Und nun war das Mädchen von Frau Helbe dazu auserkoren worden, ab der dritten Klasse eine Schule mit erweitertem Russischunterricht zu besuchen. Das war eine enorme Auszeichnung für Maresa, da nur die Besten aus der ganzen Stadt dafür in Betracht gezogen und zu einer Klasse zusammengefasst wurden.

Maresa war äußerlich ein eher unscheinbares Mädchen mit glatten, braunen Haaren und musste seit Beginn der ersten Klasse eine Brille tragen, was sie mit sichtbarem Stolz erfüllte. Eine Brille war etwas, das nicht jeder hatte. So dachte Maresa zumindest. Und es war etwas, das sie sich eigenartigerweise gewünscht hatte. Also kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nur etwas ganz sehr zu wünschen brauchte, und es ginge dann auch irgendwann einmal in Erfüllung. Wie in einem Märchen. Und Kinder leben nun einmal in einer eigenen Welt, manchmal eben in einer Traumwelt.

Im jetzigen Klassenteam – oder wie man das damals eher gesagt hätte: im Klassenkollektiv – hatte sich Maresa sehr gut eingefügt, war unter ihren Mitschülern sehr beliebt und stand oft im Mittelpunkt des Geschehens, was ihr sehr behagte.

Ihre Cousine Elenor, welche einige Monate jünger war als Maresa, war ebenfalls in ihrer Klasse. Elenor war ein niedliches, kleines Mädchen mit listigen Gesichtszügen. Maresa beneidete sie manchmal wegen ihres Aussehens und wollte, wenn sie einmal groß wäre, schöner und klüger sein als Elenor oder andere.

Doch beide waren gut miteinander befreundet und heckten so allerlei Sachen gemeinsam aus. Wie zum Beispiel einmal, als Elenor einen Eintrag ins Hausaufgabenheft bekommen hatte, und Maresa, um ihr zu helfen, die Unterschrift von ihrem Onkel gefälscht hatte, weil sie der Meinung war, es würde nicht auffallen. Diese schlimme Tat war natürlich aufgeflogen, was zur Folge hatte, dass sich Maresa geschworen hatte, nie wieder etwas Unrechtes zu tun. Sie hatte schließlich ihrer Cousine nur helfen wollen und war dadurch selbst in Schwierigkeiten geraten.

Da beide, Maresa und Elenor, unzertrennlich waren, schlug die Lehrerin natürlich vor, Elenor ebenfalls auf die Russischschule (wie sie im Volksmunde genannt wurde) zu schicken. Deren Eltern waren natürlich begeistert von dieser Tatsache, wogegen Maresas Eltern Zweifel hegten, ob das denn eine gute Entscheidung wäre. Es ging hauptsächlich um den weiten Schulweg, den die Kinder dann täglich zu bewältigen hätten. Diese Spezialschule war nämlich am anderen Ende der Stadt.

Weil Elenor aber nur gleichzeitig mit Maresa die Schule wechseln konnte, weil sie im Notendurchschnitt etwas schlechter war, setzten sich Elenors Eltern für ihre Tochter ein und überredeten Maresas Eltern, dem Schulwechsel im Interesse ihrer beider Kinder zuzustimmen.

Und jetzt war es so weit: Die zwei Elternpaare saßen zusammen mit Frau Helbe, der netten Lehrerin, und besprachen alle Einzelheiten, die mit einem Schulwechsel auf sie zukamen.

Am letzten Schultag, es war Ende Juni im Jahre 1976, versammelten sich alle Schüler und Lehrer zu einem Abschlussappell auf dem Schulhof, wo unter anderem auch Maresa und Elenor offiziell verabschiedet wurden. Übrigens war ein Appell in der damaligen Zeit ein wöchentliches Muss. Dazu versammelten sich alle Schüler der Schule – von klein bis groß – auf dem Schulhof und hörten sich die Neuigkeiten und Anweisungen des Direktors und anderer Lehrer an. Traditionell in weißen Blusen und dunkelblauen Röcken oder Hosen marschierten die Jungpioniere in Dreierreihen im Gleichschritt auf. Die blauen Halstücher, im Pionierknoten gebunden (Das war eine spezielle Bindeweise; eine andere war nicht erlaubt!), wehten im lauen Frühsommerwind.

Die größeren Klassen, ab dem vierten Schuljahr, durften sich bereits rote Tücher um den Hals binden und sich Thälmann-Pioniere nennen. Jeder Schüler am Ende der dritten Klasse war froh, dass er ab dem nächsten Schuljahr nicht mehr das blaue Tuch tragen musste, das die Kleinen auszeichnete. Als Thälmann-Pionier gehörte man schließlich schon zu den Senioren unter den Pionieren. Am Anfang machte es immer Spaß zu demonstrieren, dass man zu den Größeren gehörte. Doch schon einige Zeit später wurden die roten Fetzen nur noch zu den Pflichtveranstaltungen umgebunden. Ansonsten wurden sie ganz unsanft in den Schultaschen deponiert. Es war nicht mehr in, diese Dinger offen zur Schau zu stellen.

Ganz anders sah es dann schon wieder aus, wenn man in die achte Klasse kam. Das weiße Hemd oder die weiße Bluse, die die Schüler seit der ersten Klasse begleitet hatten, waren nun tabu. Endlich weg mit diesen hässlichen, schmutzanfälligen Uniformen! Immerhin gehörte man jetzt der Freien Deutschen Jugend an. Das war doch was! Ganz stolz präsentierten die Jugendlichen der achten Klassen ihren neuen Ausweis, der sie als Jugendliche deklarierte. Doch wie zuvor mit den roten Halstüchern bekam man auch diese Art der gezwungenen Aufmachung, der allgemeinen Angleichung und der Demonstration des Sozialismus satt. Fanden Veranstaltungen statt, wo die dunkelblaue Uniform Pflicht war, kam man morgens im T-Shirt zur Schule und holte dann am Nachmittag die inzwischen zerknitterte Uniform aus der Schultasche, um zumindest bei der angesetzten Veranstaltung nicht negativ aufzufallen.

So funktionierte die offizielle Darstellung des sozialistischen Staates. Keiner stand dazu, und doch getraute sich fast keiner, generell gegen den Sozialismus mit seinen Traditionen anzugehen. Nur vereinzelte Schüler – bei Maresa war es einer in ihrer Klasse – wurden von ihren Eltern von dieser Pflicht befreit. Diejenigen, die so rigoros ihre Einstellung kundtaten, waren meist offizielle Anhänger der Kirche oder Ausreisewillige, denen die Konsequenzen sowieso egal waren.

Das Thema Kirche war für Maresa auch so eine unliebsame Angelegenheit. Von Haus aus war sie katholisch. Das heißt eigentlich, dass ihre Großeltern noch richtig gläubig waren und regelmäßig in die Kirche gingen. Die Eltern Maresas gingen bloß noch zu Weihnachten und zu Ostern zur Kirche, nur um der Tradition willen.

Maresa wurde in der sozialistischen Epoche groß, wo die Kirche in den Schulen verpönt war, und diejenigen, die gläubig waren, von den Mitschülern gehänselt wurden. Maresa glaubte auch nicht an das, was in der Kirche gepredigt wurde. In eben diesen Zwiespalt geriet Maresa, da ihre Großmutter darauf gepocht hatte, dass Maresa den Religionsunterricht besuchen sollte, der direkt von den Kirchen veranstaltet wurde. Sie konnte die zwei verschiedenen Meinungen, welche sie zu hören bekam, nicht miteinander vereinbaren: Die Kirche predigte das eine, im Unterricht wurden den Kindern völlig entgegengesetzte Ansichten eingetrichtert. Diese Tatsache machte Maresa ziemlich zu schaffen. Daher konnte sie sich aus Gewissensgründen nicht zweiteilen und entschied sich für die Philosophie der Schule; mit den kirchlichen Ansichten konnte sie sich nicht identifizieren. Die Schule trug aber auch genügend dazu bei, die Kinder von den eigenen Ansichten zu überzeugen.

Es begann damit, dass Maresa nicht mehr zum Religionsunterricht ging, der nur nachmittags in der Kirche stattfand. Ihrer Oma gegenüber erwähnte sie das zunächst nicht, da sie sich den Auseinandersetzungen nicht stellen wollte. Sie wollte einfach nicht mehr in die Kirche gehen! Bereits nach ihrer Erstkommunion nicht. Erst danach fühlte sie sich wieder wohl und erleichtert. Kirche – nein, danke! Das war einfach nichts für sie. Der Sozialismus hatte gewonnen.

Elenor, Maresas Cousine, war da anders. Ihr machte es in der Kirche Spaß, sie ging darin auf und besuchte ihren Unterricht regelmäßig weiter. Maresa konnte das nicht verstehen, wie man gleichzeitig die antikirchliche, sozialistische Meinung in der Schule und die antisozialistische Meinung in der Kirche vertreten konnte. Doch Elenor machte das, wie gesagt, nichts aus. Sie war das Sprachrohr beider Weltanschauungen und konnte das anscheinend besser als Maresa miteinander verbinden.

Anfang des neuen Schuljahres wechselten die beiden Mädchen dann wie geplant auf die neue Schule. Es war für Maresa damals ein einmaliges Ereignis, eine unter wenigen zu sein, die diese Schule besuchen durften.

Es war zunächst alles ganz aufregend. Doch eines änderte sich vom ersten Schultag an in der neuen Schule: Maresa war nicht mehr herausragend und die Beste.

Für Elenor war alles noch schlimmer. Sie zog mit ihren Eltern zu dieser Zeit in das Neubaugebiet Fritz Heckert, das ziemlich außerhalb gelegen war, und musste jeden Morgen mit dem Bus eine lange Strecke bis ins Stadtzentrum fahren, um da noch einmal in die Straßenbahn umzusteigen, welche sie dann endgültig zur Schule brachte. Dabei passierte es ihr immer öfter, dass sie während der Busfahrt einschlief und so die Haltestelle verpasste, an der sie aussteigen musste.

An der Bushaltestelle im Stadtzentrum, wo sich alle Kinder morgens immer trafen, begannen auch die Hänseleien gegenüber Elenor. Kinder können grausam sein, besonders, wenn sie sich aufgrund ihrer Herkunft für etwas Besseres halten. Bereits da machten sich die Klassenunterschiede bemerkbar. Elenors Eltern gehörten der Arbeiterklasse an, und dafür wurde Elenor bestraft.

Für Elenor war die Umstellung auf diese neue Schule einfach nicht zu bewältigen. Sie verschlechterte sich zusehends in fast allen Fächern, sodass ihre Eltern bereits nach der dritten Klasse erwogen, sie wieder in eine normale Schule unweit von ihrem neuen Wohnort zu schicken. Das setzten sie dann auch durch, obwohl es gar nicht so einfach war, da die Lehrer der Schule mit erweitertem Russischunterricht solche Vorgänge nicht gewohnt waren und nicht sofort ihre Zustimmung gaben.

Auch Maresa bekam Komplexe und Hemmungen in ihrer neuen Klasse, wurde zurückhaltender, wenn sie sah, was die anderen für einen Lerneifer an den Tag legten und wie schnell sie alles begriffen. Maresa erhielt bei dem immer schwieriger werdenden Lehrstoff und dem schneller werdenden Tempo dabei den eindeutigen Beweis dafür, dass viele ihrer Mitschüler einfach genial waren. Und sie selbst fand sich auf einmal so richtig mittelmäßig. Maresa landete im Notendurchschnitt mehr im hinteren Mittelfeld, was an und für sich immer noch eine gute Leistung war, denn ihr Notendurchschnitt lag immer bei Gut, auch wenn das Gut langsam zum Befriedigend tendierte. Doch in dieser Klasse war Gut eben nicht gut genug!

Es war einerseits eine positive Sache, dass Maresa in solch einer Schule lernen durfte, da sie das Gefühl hatte, mit den Besten mithalten zu müssen, und sich während ihrer ganzen, weiteren Schulzeit enorm anstrengte, um mit dem ziemlich schnellen Lerntempo Schritt halten zu können.

Andererseits war – und das hat Maresa selbst allerdings erst später erkannt – der Druck zu groß für sie. Ihre Aufnahmefähigkeit litt, und andere, wichtigere Komponenten wie Kreativität und ungehemmte Mitarbeit während der Unterrichtsstunden oder komplexeres Denken blieben auf der Strecke, obwohl sie tief in ihrem Inneren vorhanden waren.

Es war tatsächlich so, dass Maresa absolute Hemmungen aufbaute, wenn es um die Mitarbeit im Unterricht ging. Sie wusste des Öfteren die richtige Antwort auf gestellte Fragen, konnte sich aber aus Angst, etwas Falsches zu sagen, nicht dazu überwinden, einfach die Hand zu heben und eine Antwort zu geben. War dann Maresas gedachte Antwort tatsächlich richtig, dann ärgerte sie sich stets darüber, dass sie sich nicht gemeldet hatte.

Ging es um komplexere Antworten, wie zum Beispiel um eine Kurzzusammenfassung einer Erzählung, dann war es um den Mut Maresas ganz geschehen. So etwas war für sie der blanke Horror. Es blieb einfach nichts in ihren Gehirnwindungen haften, das so einer Zusammenfassung gleichen könnte. Ob es nun die Aufregung war oder die generelle Angst, vor anderen zu sprechen, das konnte Maresa nicht richtig definieren. Sie wusste nur, dass sie das nicht konnte. Nein – Maresa meinte nur, dass sie das nicht könnte 

Ein anderer bedrückender Gesichtspunkt war, dass auch Maresa durch ihre Mitschüler so langsam zu spüren begann, dass eine gewisse Kluft zwischen denjenigen bestand, deren Eltern der sogenannten Intelligenzschicht angehörten, und den anderen, deren Eltern einfache Arbeiter waren. Und zu den Letzteren gehörte Maresa.

Aber letzten Endes schlug sie sich gut durch, fand auch einige Freundinnen in der Klasse und gewöhnte sich daran, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt stand und nicht mehr spitze war. Maresa war stets fleißig und gab ihrer Meinung nach das Beste, was aus ihr in dieser Situation und unter diesen schwierigen Bedingungen he-rauszuholen war.

Während der Zeit in der neuen Schule kristallisierten sich immer mehr Maresas Neigungen heraus. In ihrer Freizeit beschäftigte sie sich fast ausschließlich mit ihren Hobbys: dem Tanzen und dem Zeichnen. Außerdem musizierte Maresa; sie spielte Akkordeon.

Doch mit dem Zeichnen war das noch so eine Sache. Lange Zeit hatte Maresa nur zu Hause für sich allein in den für sie am besten geeigneten Techniken gezeichnet: Grafiken oder Pastellbilder. Das war das, was ihr lag; doch in der Schule war generell die Wasserfarbentechnik vorgeschrieben, die sie nicht mochte und derer sie nicht mächtig war, sodass Maresa ihrer Zeichenlehrerin anfangs durch die mittelmäßigen Bilder, die sie in diesem Malstil zustande brachte, nicht aufgefallen war.

Erst, als Frau Wildner, die extravagante Zeichenlehrerin dieser Schule, es ihren Schülern eines Tages selbst überließ, in welcher Technik sie ihr Kunstwerk angehen wollten, und Maresa sich für eine Pastellzeichnung entschied, kam der Stein ins Rollen.

Zunächst einmal war Frau Wildner, die das Wesen und auch das Äußere einer Künstlerin besaß, so verblüfft über Maresas Wahl der Technik, dass sie direkt sagte: »Das ist aber eine schwierige Technik, die du dir da ausgesucht hast, Maresa. Aber mir soll es egal sein. Versuche ruhig dein Glück!«

Und so stürzte sich Maresa voller Elan und Schaffenskraft in die Arbeit, schon um Frau Wildner zu beweisen, dass ihr diese Technik lag und was sie damit zu schaffen vermochte. Das Mädchen brachte dabei ein Bild zustande, das Frau Wildners Einstellung ihr gegenüber von einem Tag auf den anderen total veränderte.

Sie sagte zu Maresa vor der versammelten Klasse: »Ich bin wirklich überrascht, Maresa. Es ist eine hervorragende Leistung, die du dieses Mal vollbracht hast. Das hatte ich dir, ehrlich gesagt, nicht zugetraut. Ab jetzt darfst du immer in dieser Technik malen. Und wenn du möchtest, dann kannst du mit in meine Kunst-AG kommen. Da können wir dein Talent fördern.«

Und das tat Maresa nur allzu gerne. Sie war so stolz über die anerkennenden Worte, dass diese Tatsache allein ihr Selbstbewusstsein enorm steigerte, welches sich ansonsten in der neuen Klasse bisher im Hintergrund gehalten hatte.

Von da an widmete sich Maresa intensiv dem Zeichnen, das ihr unheimlich viel Spaß bereitete und bei dem sie durch das ihr beigebrachte Grundwissen immer besser wurde.

Zu dieser Zeit reifte in Maresa der Wunsch, eines Tages die Kunstfachschule in Schneeberg besuchen zu dürfen, um einen künstlerischen Beruf, wie zum Beispiel Grafikerin oder Gestalterin, erlernen zu können.

Parallel dazu begann sie, sich immer mehr für das Tanzen zu begeistern, das ihr bereits im Blut lag. Ihre Freundin Melanie animierte sie, dem Schultanzclub beizutreten, der in der Hinsicht förderlich war, dass Maresa ihre Hemmungen, sich vor anderen tänzerisch zu bewegen, ablegen konnte. Diese Tatsache tat Maresas Gesamtentwicklung ziemlich gut. Ein hemmungsloseres Bewegen auf der Tanzfläche hatte auch unzweifelhaft zur Folge, dass Maresas Zurückgezogenheit in ihrer Klasse etwas abnahm. Sie versuchte, sich immer mehr und intensiver in das Klassenkollektiv einzuordnen. Doch so hundertprozentig wollte es ihr nicht gelingen, so sehr sie sich auch anstrengte.

Einige Zeit später hatten Maresa und Melanie dann die Möglichkeit, sich einem Tanzensemble anzuschließen, welches Auftritte in überregionalem Stil organisierte, wie zum Beispiel bei Jugendfestivals oder anderen zentralen Großveranstaltungen, die regelmäßig in der DDR stattfanden. Das war etwas, was den Freundinnen Spaß machte und sie dadurch auch immer mehr zusammenschweißte.

So vergingen die Jahre, in denen weder privat noch politisch etwas Außergewöhnliches geschah.

Zerplatzte Berufsträume

Erst als Maresa in der siebten Klasse war, begann es, in ihrem Umfeld in politischer Hinsicht lebhafter zu werden. Erst da begann auch Maresa, sich über bestimmte Dinge Gedanken zu machen.

In dieser Zeit ereignete sich an Maresas Schule etwas, das für alle Beteiligten und Außenstehenden ein Beispiel für das menschenverachtende Vorgehen des Regimes war, was sicherlich in abgeänderter Form in der damaligen DDR zigtausend Mal vorgekommen ist.

In der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule, in der Maresa seit der dritten Klasse einer Klasse mit erweitertem Russischunterricht angehörte, in der nur die Besten der Stadt zusammengefasst wurden, hatten sie einen unheimlich netten, menschlichen Direktor, Herrn Werthaus, welcher für alle Schüler stets ein offenes Ohr hatte und sich auch ihrer Probleme annahm. Des Weiteren brachte er eine großzügige Toleranz zutage, wenn es um politische Fragen ging, was von einem Mann in seiner Stellung normalerweise gar nicht zu erwarten war und was ihm, wie es leider passierte, sehr schlecht bekam.

Als Maresa in der siebten Klasse war, feierte der Bruder von Gundula, eine ihrer Mitschülerinnen, seinen Abschluss der zehnten Klasse, wobei seine Klasse eine Abschlusszeitung entwarf, wie es auch sonst üblich war. So eine Zeitung durfte jedoch erst in der Klasse veröffentlicht werden, wenn der Direktor die darin enthaltenen Artikel gelesen und freigegeben hatte. Sozusagen abgesegnet. Welch Unterdrückung der Meinungsfreiheit! Aber das waren noch die harmlosen Dinge des Alltags.

Herr Werthaus gab also der Form halber seine obligatorische Zustimmung für diesen Abschlussgag, den er als solchen verstand, und belächelte diverse Anspielungen auf Lehrer und auch auf seine eigene Person. Die Zeitung wurde vervielfältigt und jedem Schüler der betreffenden Klasse zur Abschlussfeier ausgehändigt. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sich etwas anbahnte, das keiner verstand und billigte, aber trotzdem zur bitteren Wahrheit wurde.

Der Vater von Gundula, welcher selbst Lehrer war, bekam durch seinen Sohn diese Zeitung zu Gesicht und zeigte den von allen so hoch geschätzten Herrn Werthaus beim obersten Bildungsminister der DDR wegen Beihilfe zur Verleumdung aller Lehrer und des Lehrerberufes generell an. Er forderte seine sofortige Entlassung aus dem Schuldienst, da Herr Werthaus angeblich durch die Gegenzeichnung der umstrittenen Abschlusszeitung sein Okay auch für systemfeindliche Aktionen gegeben hätte, die damit begründet waren, dass der Lehrer in der DDR stets ein Vertreter und Sprachrohr des Machtstaates zu sein hatte.

Das muss man sich mal vorstellen! Das waren Stasi-Methoden. Eindeutig! Da musste sich wieder mal jemand profilieren! Armer, armer Staat! Hatte er das nötig?

Maresa begann in diesem Moment, an dem vermeintlichen Rechtsstaat zu zweifeln. Die sozialistischen Ansichten wurden tagtäglich vermittelt; absolute Gehirnwäsche bei den Kleinsten war angesagt. Musste denn das sein?!

Eigentlich war das ein riesengroßer Fehler des Staates, denn die Kinder, die damals groß wurden, waren überzeugte Sozialisten. Das konnte man nicht anders sagen. Und daher hätte man diese harten Maßnahmen ruhig weglassen können und sollen. Aber die absolute Perfektion war vorrangig und machte nicht nur einige Kinder sehr, sehr misstrauisch. Geschweige denn die Erwachsenen.

Lebhafte Diskussionen in der Schule (allerdings hinter vorgehaltener Hand) und im Elternhaus (bei geschlossenem Fenster und mit halber Lautstärke) entbrannten.

Innerhalb weniger Tage war Herr Werthaus von der Bildfläche verschwunden, und es erschien eine siegesbewusste, stets lächelnde Frau als Direktorin, welche die Schwiegertochter des Bürgermeisters von Karl-Marx-Stadt war und bei der die Schüler dann nichts mehr zu lachen hatten. Da war die Richtige an die Macht gekommen. Absolut einwandfrei, rot im Inneren und lila im blonden Haar – ein richtiger sozialistischer Vamp auf Stöckelschuhen, der sogar Vertretung im Sportunterricht machte und dabei mit Rock und Stöckelschuhen den Hüftaufschwung praktizierte, dass den Kindern vor Staunen die Münder offen stehen blieben.

Alle Schüler dieser Schule, insbesondere die in Maresas Klasse, hatten eine unheimliche Wut auf denjenigen, der der Auslöser dieser ganzen Geschichte war und deren Tochter auch noch in ihrer Runde weilte. Doch da niemand etwas dagegen ausrichten konnte und wollte, da jeder natürlich auch aus Angst schwieg, geriet dieser Fall, wie so viele andere auch, mit der Zeit in Vergessenheit. Das Leben ging schließlich weiter in dieser vermeintlich heilen Welt, die aber langsam – zu langsam – zu bröckeln begann. Doch wie sagt man: Gut Ding braucht Weile.

Für Maresa und Melanie, welche immer noch leidenschaftlich gern tanzten, ergab sich nun eine neue Chance: Sie konnten dem Opernhausballett beitreten, wo beide zusätzlich eine Ballettausbildung erhielten und dort auch schnell bei Aufführungen im Opernhaus eingesetzt wurden.

Maresa und Melanie wuchsen sichtlich zu reifen, jungen Mädchen heran. Maresa, welche während ihrer Kinderzeit keine herausragende Schönheit gewesen war, entpuppte sich nun als ein reizvolles, junges Mädchen, das auf einmal eine Menge Verehrer vorweisen konnte. Der pubertäre Entwicklungsschub hatte ihr gut getan, und sie verstand es, sich gut zu frisieren, zu kleiden und ihr frisches, jugendliches Gesicht zu schminken, was ihr eine besondere Note verlieh. Aus dem hässlichen Entlein war ein stolzer Schwan geworden.

Maresa begann auch, ihrem Äußeren eine bewusst provokative Erscheinung zu verleihen, indem sie die schrillsten Frisuren mit ständig wechselnden Farben trug. Somit war sie in, was ihr recht gut gefiel. Sie hatte es geschafft, endlich ihre unbequeme, äußerliche Schale zu zersprengen und ein lebensfroher, etwas darstellender Mensch zu werden. Ihr innerer, eiserner Wille hatte ihr dazu verholfen, ein neuer Mensch zu werden. Sie glaubte also wieder mal ganz fest an eine Sache – und so wurde sie Wirklichkeit.

Auch Melanie war eine attraktive Erscheinung, obwohl es bei ihr nicht mit einem plötzlichen Entwicklungsschub zusammenhing. Melanie war schon Jahre zuvor ein graziöses, vornehmes, junges Mädchen gewesen, welches immer älter gewirkt hatte, als es tatsächlich war. Die Jungen aus Melanies Klasse sahen im Gegensatz zu ihr wie unreife, etliche Jahre jüngere Knaben aus.

Es begann damals die Zeit, die viele Jugendliche einmal durchmachen, da sie plötzlich entdecken, dass es noch mehr gibt außer Schule und Elternhaus.