Luise Reddemann

Schluss-
stücke

Gedanken über
Vergänglichkeit und Tod

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Weiß/Freiburg

unter Verwendung eines Fotos von © Alenavlad/Fotolia.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96242-0

E-Book: ISBN 978-3-608-11042-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20377-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Gunde, Hartel und Marese
in Dankbarkeit für Euer Da-Sein

Dank

Die textliche Grundlage dieses Buches beruht auf einer Vorlesungsreihe, die ich während der »Lindauer Psychotherapiewochen« 2017 gehalten habe. Hierfür möchte ich Inge Seiffge-Krenke als Sprecherin des Wissenschaftlichen Beirats, von der die Initiative dazu ausging, danken. Ich danke auch der Wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen, Verena Kast, Manfred Cierpka und Peter Henningsen, für die Einladung. Vor allem aber danke ich allen, die über zwanzig Jahre zu meinen Vorlesungen gekommen sind und mir immer wieder ermutigendes Feedback gaben. Bei der Vorbereitung für die Vorlesung wurde mir bewusst, dass sie für mich ein gutes Ende in Lindau mit sich bringen werde, und so ist es gekommen. Die Vorlesung war auch ein Abschiednehmen.

Dass ich die Einladung zu der Vorlesung annehmen konnte und jetzt Freude empfinde, diesen Text zu schreiben, verdanke ich sehr vielen Menschen: Lebenden, die mir Vorbild und GefährtInnen auf dem Lebensweg sind oder waren, und natürlich meinen PatientInnen sowie vielen, die heute und in vergangener Zeit über das Thema nachgedacht und geschrieben haben.

Im Laufe der Monate nach der Vorlesung ist noch vieles dazugekommen, denn das Thema lässt mich nicht los. Manches wurde auch weggelassen, das in der Vorlesung zu hören war. Lao Tses Satz »Das einzig Unveränderliche ist die Veränderung« ist für mich ein Lebensmotto, und ich danke ihm dafür. Wie all den vielen, die mich in dieser Sicht auf die Welt unterstützt und mich als ständig Suchende freundlich ertragen haben. Vielleicht deshalb fürchte ich mich relativ wenig vor dem »Hinübergehen«. Dies war der Titel eines Buches von Joachim Ernst Behrendt, in dem er sich mit Musik befasste, die kurz vor dem Tod der jeweiligen Komponisten entstanden ist. Behrendt hat mich über Jahrzehnte bis zu seinem Tod und darüber hinaus inspiriert, nicht zuletzt in einem Workshop, in dem er uns einlud, zum langsamen Satz aus Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 488 zu tanzen. Übrigens kann man auch zu den anderen Sätzen sehr gut tanzen, wie überhaupt zu beinahe aller klassischen Musik!

In diesem Buch spielt die Musik eine besondere Rolle, und ich fühle mich allen KomponistInnen und MusikerInnen, deren Werke und Interpretationen ich im Laufe meines Lebens hören durfte, zu Dank verpflichtet. Es sind so viele, dass ich sie hier nicht einzeln nennen kann. Im Anhang des Buches nenne ich einige Werke und InterpretInnen, die mich schon lange intensiv begleiten und von denen ich mir vorstellen kann, sie könnten bis zuletzt mit mir sein. Mit dem Brauch, sich eine Musik für die Beerdigung zu wünschen, kann ich heute nicht mehr viel anfangen. Ich möchte das lieber denen überlassen, die mich gehen lassen müssen.

Allen, die mir bei der Entstehung des Manuskriptes beigestanden haben, fühle ich mich zu großem Dank verpflichtet: meinen Schwestern Gunde Hartmann und Marese Hoffmann sowie meinen KollegInnen Ulla Baurhenn und Isabelle Rentsch, die wichtige Änderungsvorschläge gemacht haben. Frank Schulz-Kindermann, Oliver Brauer, Wolfgang Loth und Stephan Potting haben mich ermutigt, das Buch nicht aufzugeben, und mir ausdrücklich vermittelt, dass es sinnvoll ist. Ermutigung zu erfahren ist ein großes Geschenk, wofür ich dankbar bin.

Und wie immer gilt mein großer Dank Dr. Christine Treml, meiner wunderbar geduldigen Lektorin bei Klett-Cotta, die meine Texte behutsam durchsieht und stets inspirierende Änderungsvorschläge macht. Und Dank an alle vom Verlag, die das Projekt unterstützen.

Mein Dank gilt allen, mit denen ich mich geschwisterlich verbunden fühlen darf, und besonders meinen leiblichen Geschwistern, denen ich dieses Buch widme. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie mich ein ganzes Leben lang begleitet und unterstützt, ja getragen haben. Und das können ja nur Geschwister, zumal wenn sie einem altersmäßig sehr nahe sind.

Geschwisterlichkeit scheint mir das, was wir am meisten benötigen, um mit den Herausforderungen des Lebens umgehen zu können, eben auch mit Tod und Vergänglichkeit.

Köln, im Oktober 2017

Einleitung

Vor vielleicht 2400 Jahren – oder etwas später – entstand ein Text, den Martin Luther jemandem zuschrieb, den er »Prediger« nannte. Dieses Buch ist eine Festrolle für das Laubhüttenfest, in dem die Freude am Leben gefeiert wird. Sprache und Thematik verweisen auch auf das Buch Hiob (auf das ich später zurückkomme). Eine zentrale Aussage des Buches ist, dass der Weise genauso stirbt wie der Tor, der Tod macht uns alle gleich. Das hebräische Wort lebeh, hæbæl, wird seltsamerweise meist mit »eitel, nichtig« übersetzt, obwohl es wörtlich übersetzt Windhauch oder auch Atemzug bedeutet1.

Wenn wir uns auf unseren Atem konzentrieren, können wir Vergänglichkeit leiblich erfahren: Wir atmen ein, das geht vorbei, wir atmen aus, auch das geht vorbei. Wir können jedoch genau dadurch ebenso unsere Lebendigkeit erfahren und uns daran erfreuen. Sie können auch, wenn Sie wollen, versuchen, das Ein-bzw. Ausatmen zu verhindern. Wie lange schaffen Sie das?

Am Leben sein heißt eben immer auch vergehen, sich wandeln. Und dieses Wissen und diese Erfahrung teilen wir mit unendlich vielen Menschen seit Jahrtausenden, schon allein dadurch sind wir miteinander verbunden.

Mich begleitet seit mindestens 50 Jahren der Text Prediger 3: Ein jegliches hat seine Zeit. Und er bedeutet mir immer wieder Unterschiedliches. Es ist für mich einer der schönsten und wichtigsten Texte zur Vergänglichkeit, die ich kenne:

»3. 1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;

4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;

6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;

7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;

8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.«

Ein nüchtern und realistisch daherkommender Text! Ein Text, der weisen Rat geben kann, und als solchen lese ich ihn auch immer wieder. Ich erlebe diesen Text als Anstoß, als etwas, das mich erinnert: Das, was jetzt ist, wird vergehen, und wenn etwas vergangen ist, fordert er mich auf zur Einsicht: Ja, so ist es, und dieses, was war und was mir vielleicht lieb und teuer war, ist vergangen, weil das zum Leben dazugehört. Bei Lao Tse heißt es ähnlich: »Das einzig Unveränderliche ist die Veränderung.« Manchmal gelingt es mir, das gelassen zu akzeptieren, manchmal empöre ich mich. Und auch das geht vorbei . . .

Manchen PsychotherapeutInnen fällt es nicht leicht, das Prinzip Vergänglichkeit zu akzeptieren, wenn das, was in der Therapie geschieht, nicht den eigenen Vorstellungen entspricht; das könnte daran liegen, dass es zwar in vielen Therapien um »Strategien« der Veränderung oder auch um Verstehen, oft um beides, geht. So mag der Eindruck entstehen, wenn ich nur genug verstehe oder genügend verändere, dann werden die Dinge so, wie ich will. Einverstanden sein z. B. damit, dass manche PatientInnen so gut wie nichts verändern wollen oder können, kann manchmal eine große Herausforderung sein. Hier scheint es also um beinahe Gegensätzliches zu gehen: Veränderung zu akzeptieren und Geduld aufzubringen, wenn sie nicht in dem Tempo geschieht, wie wir uns das vorstellen. Manche Interventionen zeigen erst nach Jahren Wirkung! Dann nämlich, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Thomas Mann hat sich zur Vergänglichkeit so geäußert:

»Sie werden überrascht sein, mich auf Ihre Frage, woran ich glaube oder was ich am höchsten stelle, antworten zu hören: es ist die Vergänglichkeit. – Aber die Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie antworten. – Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, sie ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit – und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste, nutzbarste Gabe.«

Dass Vergänglichkeit Zeit schafft, kann man natürlich bezweifeln. Thomas Mann spricht aber auf seine Weise im Sinn des Prediger-Textes. Mir scheint, das Prinzip Vergänglichkeit kann uns Struktur, wenn es bejaht wird, vielleicht sogar Halt geben2.

Früher dachte und empfand ich eher, Vergänglichkeit sei ein schwieriges, schmerzhaftes Thema. Je länger ich mich damit befasse, desto mehr entdecke ich, ja, natürlich gibt es viele schmerzhafte Aspekte, denn Vergänglichkeit bedeutet ja zunächst, dass etwas vergeht, wir eingeschlossen und unsere Wünsche und Sehnsüchte und vieles mehr. Doch es wird mir auch bewusst, dass Vergänglichkeit den Aspekt hat, dass immer wieder Neues entstehen kann, genau dadurch, dass Raum geschaffen wird und wir uns mit Zeithaben, begrenzte Zeit haben, befassen können, ja sollten. Vergänglichkeit hat gewiss mit Endgültigkeit und Tod zu tun, aber eben nicht nur. Inzwischen erlebe ich intensiv beides: Die Verluste, das Nicht-festhalten-Können, Flüchtigkeit und auch Aufbruch zu neuen Ufern.

Die erste der Vorlesungen zu »Tod und Vergänglichkeit« fand am Ostermontag statt, ein Fest des Frühlings in früheren Zeiten, und auch jetzt noch, und ein Fest der Auferstehung im christlichen Kontext. Auferstehung wäre nicht möglich ohne Sterben, ohne Karfreitag.

Schmerzhafte Vergänglichkeit hat Kontrapunkte! Wie ja fast alles im Leben Kontrapunkte hat. Aufbruch zu neuen Ufern ist ein Aspekt, Dankbarkeit, Freude, kleine und große Veränderungen, dies alles und noch mehr gehört für mich zum Erfahren von Vergänglichkeit dazu. Und all diese Aspekte verbinde ich psychologisch mit dem meist eher spirituell gemeinten Begriff der Auferstehung.

Ich möchte Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch immer wieder dazu einladen innezuhalten und dem, was Sie lesen, nachzuspüren; vielleicht sogar in Austausch mit anderen zu treten. Das Thema der Vergänglichkeit und unserer Sterblichkeit kann bewegen und berühren, vielleicht sogar schmerzlich, und kann uns miteinander verbinden. Wir sind alle Reisende auf einem manchmal schwankenden Schiff. Wir können sogar in Stürme und Untiefen geraten, wenn wir nicht behutsam sind. Wir können so alle unsere Fragilität und Verletzlichkeit erfahren und doch auch gemeinsam Freude erleben über unser Menschsein.

Ich beziehe mich auf Psychologie und Psychotherapie sowie auf einige Anregungen aus Philosophie und Texte mit spirituellem Hintergrund. Gedanken von Sterbenskranken und von Menschen, die sich dem Tod nahe wissen bzw. wussten, werde ich einfügen. Ich werde Texte bekannter und unbekannter Menschen, die sich mit Tod und Vergänglichkeit auseinandersetzen, zurate ziehen, um die große Vielfalt der Gedanken dazu zu verdeutlichen.

Jedoch geht es mir nicht darum, »wie Alter geht, wie Sterben geht, wie man mit der Sterblichkeit umgeht«, denn wir wissen wenig und sollten bescheiden sein. Wenn ich auf meine eigenen Erfahrungen mit dem Thema in Profession und eigenem Leben zurückgreife, so nicht, weil ich weiß, wie die Dinge sind, sondern ausschließlich, um Sie einzuladen, Ihr Eigenes zu entdecken!

Schließlich erzähle ich von Musik aus verschiedenen Jahrhunderten, die nach meinem Verständnis direkt oder auch indirekt mit Vergänglichkeit und Endlichkeit zu tun hat. Musik ist in meinem Leben eine der größten Kraftquellen. Und die Biographien der KomponistInnen werde ich teilweise auch beleuchten, denn auch sie sagen mir etwas über den unterschiedlichen Umgang von Menschen mit Tod und Vergänglichkeit.

Mir sind, wie erwähnt, jeweils auch die Kontrapunkte wichtig. Seien Sie bitte nicht irritiert, wenn es manchmal so aussieht, als ginge es nicht mehr um Vergänglichkeit und Tod. Für mich gehören alle Kontrapunkte dazu. Nicht zuletzt, weil es sonst unerträglich würde. Vielleicht mögen Sie mir folgen, wenn ich meine, dass es um die Fülle des Lebens mit allem, was dazugehört, geht. Und da sind die Hauptkomponenten Leid und Freude – oder Lebenslust. Leben und Tod.

Meine Anliegen

Mit meinen Überlegungen zu Tod und Vergänglichkeit schlage ich einen großen Bogen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und bis heute. Es gibt unzählige großartige Werke zu diesen Themen. Wozu also noch ein Buch? Eine Verbindung von Fragen zu Tod und Vergänglichkeit, die mich als Psychotherapeutin beschäftigen, und Musik sowie der Umgang von MusikerInnen mit der Herausforderung des Themas als Kraftquelle ist mir jedoch nicht bekannt.

Musikkundige werden viel Musik, der ebenso ein Platz gebührt hätte, vermissen. Psychotherapeutische KollegInnen vermutlich Bezugnahmen auf diverse Theorien. Jetzt, wo ich alt bin, bin ich weniger an Theorien und an Evidenz-basierten Forschungen interessiert. Theorien sind wichtig, aber sie sagen nicht viel über leidende Menschen, weil sich Leiden nicht gut dafür eignet, theoretisch beschrieben zu werden; und Evidenzbasierung sagt nichts über einzelne Menschen und was sie in einem gegebenen Moment brauchen, aus. Das spricht nicht gegen Theorie und nicht gegen Evidenzbasierung. Aber beides wäre meinen Themen, die von existentieller Art sind, nicht so angemessen, wie sie mir am Herzen liegen. Dieses Herz brennt jetzt im Alter noch genauso stark für das, wofür das Herz brannte, als es jung war. Damals kannte ich den Begriff des »guten Lebens« nicht. Den Wunsch nach Befreiung von Leid, nach Gerechtigkeit und Güte und daneben oft tiefe Verzweiflung kannte ich jedoch sehr gut. Heute gehören für mich zu diesem »guten Leben« neben den obigen Themen vor allem die Bemühung um Offenheit, Freundlichkeit und Mitgefühl. Oder auch, ähnlich wie es Yalom in einem Interview empfahl:

»Versuchen Sie, Ihr Leben so zu leben, dass Sie möglichst wenig Grund zur Reue haben.« Und: »Tun Sie viel, um enge Freundschaften aufzubauen und zu pflegen.« Das ist auch sein Hauptrezept gegen Todesangst: »Kostbare Beziehungen mäßigen den Schmerz der Vergänglichkeit.«3

Ich ergänze Yalom: Singen Sie viel, wenn möglich auch mit anderen, machen Sie Musik und hören Sie Musik, die Ihnen wohltut, sooft Sie mögen auch mit anderen.

So kann vieles so lebendig sein, dass die Fragen nach Vergänglichkeit und Tod bedeutsam sind, aber doch neben anderem Bedeutungsvollen.

Alle KünstlerInnen, die ich in diesem Text vorstelle, scheinen mir auf der Suche nach »dem Licht« zu sein. Für Momente ist es da, dann verschwindet es wieder für unsere Wahrnehmung; ich gehe davon aus, dass wir uns ihm jederzeit zuwenden können, wenn wir wollen. Machen können wir es nicht.

1. Werden – Vergehen – Werden

»Da es den Menschen nicht gelungen ist, den Tod abzuschaffen, haben sie beschlossen, nicht mehr an ihn zu denken«, meinte Blaise Pascal. Das hat mich überrascht, weil ich die Vorstellung hatte, Menschen zu Pascals Zeiten hätten eine höhere Akzeptanz ihrer Sterblichkeit gehabt. Er lebte von 1623 bis 1662, das heißt, er wurde nicht einmal 40 Jahre alt. Im Grunde genommen dürfte es uns erhebliche Anstrengung kosten, dass wir nicht an den Tod denken, denn er ist ja ständig präsent in uns. In unserem Körper und Geist ver-geht sehr vieles tagein, tagaus, wir machen es uns nur nicht bewusst, und dieses Ver-gehen macht immer auch Platz für Neues, anderes.

Pascal hat einen Satz gesagt, der mich seit meiner Jugend begleitet: »Le cœur a des raisons que la raison ne connait point.« Dieses Wortspiel kann man nicht genau übersetzen. Pascal spricht nämlich davon, dass das Herz Gründe hat (auf Französisch »raisons«), die die Vernunft (was auch raison heißt) nicht kennt. Im ersten Fall ist raisons allerdings im Plural mit einem s, das man aber nicht hört. Ich glaube, unser Thema hat viel mit dem Herzen zu tun, aber ein wenig Vernunft kann dabei nicht schaden.

Philosophen weisen darauf hin, dass es gerade hierbei um das »gute Leben« geht, mehr als um die Vernunft. Vergänglichkeit erleben wir vor allem durch die Endlichkeit der Dinge und unseres Seins. So lernen wir z. B. mit der Zeit, dass Erfahrungen nicht wiederholbar sind, obwohl wir das manchmal annehmen. Denn, auch wenn sich Erfahrungen zu wiederholen scheinen, sind sie bei genauer Betrachtung niemals ganz gleich. In asiatischen Traditionen ist die Rede vom »Anfängergeist«, der uns daran erinnern kann, dass das scheinbar Gleiche doch immer wieder neu und anders ist.

Erkennen, dass unsere Lebensalter unumkehrbar sind, ist bedeutsam, sowie die Tatsache, dass wir einmal Geschehenes nicht rückgängig machen können. Wir können bedauern, wir können versuchen, wiedergutzumachen, aber rückgängig machen können wir nicht!

Viktor Frankl definiert das Leben als etwas Gegebenes und etwas Aufgegebenes. Er versteht Aufgabe im doppelten Sinn: die Aufgabe, das Leben zu gestalten und anzunehmen, und das Aufgeben, Sichfügen und Abschied nehmen müssen. Also auch hier eine doppelte Sicht auf Vergänglichkeit.

Frankl führt weiter aus, dass Vergänglichkeit nicht nur ein »Stoppelfeld« ist, sondern dass sie uns auch »mit vollen Scheunen« sein lässt4. Das Stoppelfeld finden wir nach der Ernte vor, und viele scheinen zu vergessen, dass die Ernte ja eingebracht ist, also die Scheune mehr oder weniger voll ist mit guten und nährenden Gaben.

Es kann uns auch, solange wir am Leben sind, niemand daran hindern, wieder zu säen, zu pflanzen und wachsen zu lassen. Und im geistigen Bereich geht das bis zuletzt! Bach zum Beispiel – und viele andere Musiker – hat als schwer kranker Mann noch bedeutende Werke geschaffen. Viele Spätwerke von Musikern scheinen auch wie Abschiedsgeschenke an die Nachwelt, selbst wenn sie bewusst so nicht beabsichtigt waren. So geht es z. B. in Mozarts letzter Oper »La Clemenza di Tito«, auf die ich zurückkommen werde, um eine Geschichte von Güte, Barmherzigkeit und Vergebung, wie sie Mozart zuvor niemals beschrieben hatte.

Auch angesichts der Vergänglichkeit sollten wir, wenn möglich, das Lachen nicht vergessen. Ich halte es für einen Irrtum, wenn Lachen in der Therapie ausschließlich als Abwehr gedeutet wird. Wenn es um existentielle Fragen geht, sind solche Annahmen und Deutungen oft wenig hilfreich! Dazu noch einmal in Anlehnung an Viktor Frankl, und ich erinnere daran, er hat die Hölle von Auschwitz überlebt:

Der Humor ist ein Potential der Seele, Selbstachtung zu bewahren, und eine seiner besten Gaben ist es, innere Distanz zu schaffen5.

Über Musik und Vergänglichkeit

Musik ist für mich die Kunstform, die mich am meisten mit Vergänglichkeit, mit Verschwinden und Vergehen konfrontiert, weshalb es mir sinnvoll erschien, als das Thema Tod und Vergänglichkeit im Raum stand, meine Erfahrungen mit Musik einzubeziehen. Ich bin keine Musikwissenschaftlerin6