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Karl Plepelits

Zwei Liebende im Wunderland

Phantastischer Roman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Einführung

Aber die übrigen Götter saßen gemütlich

in ihren eignen Gemächern, wo einem jeden

schöne Paläste waren erbaut in Olympos’ Gebirge.

 

So lesen wir es bei Homer in der Ilias, der „Bibel“ der „heidnischen“ Griechen. An die olympischen Götter glauben wir Heutigen natürlich längst nicht mehr. Wer hingegen an sie glaubte, das war der Apostel Paulus. Dieser schreibt im 1. Brief an die Korinther (8,5): Mag es nämlich sogenannte Götter entweder im Himmel oder auf Erden geben – und es gibt tatsächliche viele Götter ...

Paulus verehrte sie natürlich nicht. Aber von ihrer Existenz war er offenkundig überzeugt.

Wer das Bayerische Nationalmuseum in München besichtigt, wird sicherlich nicht versäumen, dessen ältestes Exponat, die Reidersche Tafel, zu bewundern. So nennt sich ein großes Elfenbeinrelief aus dem frühen Christentum mit einer herrlichen Darstellung der Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Nur schwebt Jesus hier nicht zum Himmel empor, sondern besteigt, rüstig ausschreitend, einen Berg. In der linken Hand hält er eine Schriftrolle, offenbar das Evangelium. Aus einer Wolke ragt Gottvaters Hand, umfasst Jesu rechte Hand und hilft ihm so, den steilen Berghang zu erklimmen.

Welcher Berg mag das wohl sein? Na, zweifellos der Olymp, der berühmte Götterberg, das Wunderland der Himmlischen. In ihm sind also auch Gottvater und Jesus und alle Heiligen daheim, friedlich (oder auch weniger friedlich) vereint mit allen übrigen Göttern und Göttinnen. Das frühe Christentum musste es ja noch wissen. Schließlich standen sie dem historischen Ereignis selbst ungleich näher als wir heute. Oder etwa nicht?

 

1

„Du? Gregor? Mäuschen?“, flötete Sibylle, meine Arbeitskollegin an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften – na gut, seit kurzer Zeit für mich mehr als nur Arbeitskollegin. Bedeutend mehr. Und ich war eben seither ihr „Mäuschen“. (Außer wenn einmal der sogenannte Haussegen schief hing. Aber das kam zu Glück nur höchst selten vor.)

Also, noch einmal von vorn: „Du? Gregor? Mäuschen?“, flötete Sibylle. „Weißt du, was für mich ein Traum wäre?“

Wir hatten soeben die Besteigung der Benediktenwand über den Klettersteig mit einem feinen Gipfelbussi gefeiert. Und statt diesem ein zweites Gipfelbussi folgen zu lassen, begann meine Liebste mit Engelszungen von irgend so einem Traum zu sprechen, der ihr offenbar vorschwebte. Na, und wenn die Engelszungen das mir so wohlbekannte Liedchen „Du? Gregor? Mäuschen?“ singen, dann weiß ich schon, wie viel es geschlagen hat.

„Aha, Madame gibt sich süßen Träumen hin“, scherzte ich. „Und das auf dem Gipfel eines 1800 Meter hohen Berges und zwei Meter vor dem Abgrund.“

„Sehr witzig. Aber du würdest mir nie glauben, wie lang ich diesen geheimen Traum schon hab. Nur, wie du zu dieser Idee stehen würdest, das weiß ich halt nicht. Drum hab ich sie noch nie erwähnt. Aber nachdem wir jetzt gerade diesen Klettersteig ...“

„Jetzt sag schon. Mach’s nicht so spannend.“

Sibylle machte es aber spannend. Schweigend schaute sie mich ein Weilchen an und sagte dann leise wie ein Kind, das sich fast nicht traut, seinem Papi einen Herzenswunsch zu verraten: „Den Olymp.“

„Oho“, rief ich überrascht aus. „Du meinst nicht zufällig, du würdest gern den Olymp besteigen, um dort dem Göttervater Zeus zu begegnen? Wenn das schon lange ein geheimer Traum von dir ist. Oder nein, der Zeus wäre dir bestimmt zu alt. Lieber einen jugendlichen Gott, gell? Zum Beispiel den Apollon? Oder den Dionysos? Würde ja auch viel besser zu dir passen.“

Sibylle machte eine säuerliche Miene. „Geht denn schon wieder deine Eifersucht mit dir durch, ha, Mäuschen? Du weißt doch eh ... Aber ja, der Olymp – weißt du, das ist ein uralter Traum von mir. Und warum ich ausgerechnet hier auf der Benediktenwand von ihm spreche? Weil auch der Olymp ein bissl eine Kraxelei erfordert. Na, was meinst du? Würdest du ...“

„Ob ich da mittäte? Aber sicher. Sofort. Erstens bin ich einer netten olympischen Kraxelei durchaus nicht abgeneigt. Zweitens bin ich der gleiche Griechennarr wie du. Und drittens freue ich mich schon auf eine knusprige jugendliche Göttin. Nein, im Ernst. Mit dieser Idee rennst du bei mir offene Türen ein, muss ich gestehen. Hättest du mir schon längst verraten können.“

Und für dieses „offenherzige“ Geständnis wurde ich stürmisch geküsst.

„Du weißt ja“, sagte Sibylle freudestrahlend, „der Olymp ist nicht nur der Wohnsitz von Zeus, Apollon und Dionysos, sondern zugleich ein Wander- und Bergsteigerparadies wie aus dem Bilderbuch.“

„Ach so? Das wusste ich nicht.“

Na gut, jetzt wusste ich‘s. Und sobald wir in München zurück waren, setzte ich mich an meinen Computer und begann unsere Reise nach Griechenland zu planen und zu organisieren. Wir beantragten für beide zum gleichen Termin Urlaub. Und als es so weit war, flogen wir also nach Thessaloniki und fuhren von dort mit der Bahn in das Städtchen Litochoron. Dieses gilt als bester Ausgangspunkt für Touren im Olympmassiv. Der Olymp ist ja kein Einzelberg wie zum Beispiel die Benediktenwand, sondern ein vierzig Kilometer langer und dreißig Kilometer breiter Gebirgsstock mit zahlreichen Gipfeln. Unser Ziel war natürlich deren höchster, der Mýtikas („Nase“, wegen seiner Gestalt), in der Antike Pantheon („Ort aller Götter“) genannt, weil auf ihm die Versammlungen der Götter stattfanden. Mit seinen 2918 Metern ist er der Zugspitze (und übrigens auch dem Dachstein) fast ebenbürtig oder genauer sogar überlegen. Denn im Gegensatz zu den genannten Alpengipfeln liegt der Fuß des Olymps auf Meeresniveau.

Also gut. Das Vergnügen konnte losgehen. Das Abenteuer konnte beginnen.

Abenteuer? Aber nein. So, wie es aussieht, gestaltet sich die Wanderung nur vergnüglich, überhaupt nicht abenteuerlich. Hoffen wir, dass es so bleibt.

Wir waren in unserer vergnüglichen Wanderung schon ziemlich hoch, jedenfalls deutlich jenseits der Zweitausend-Meter-Marke, da überraschte uns gewissermaßen aus heiterem Himmel ein heftiges Gewitter. Homer hätte es wohl so formuliert: Der Wolkensammler Zeus sammelte gar plötzlich die schwarzen Wolken und entsandte, gewaltig donnernd, den flammenden Blitzstrahl und ließ seinen Regen in Strömen herniederprasseln. Heute würde man vielleicht so sagen: Über uns brach unvermittelt der Weltuntergang herein. Und so war mit einem Schlag aus einem Vergnügen doch ein kleines Abenteuer geworden.

Was bleibt den armen Menschenkindern da anderes übrig, als ergeben ihr Haupt zu senken und sich ganz schnell einen geeigneten Unterstand zu suchen?

Genau das taten wir und stießen durch Zufall (oder wer weiß, vielleicht durch eine höhere Macht) sogleich auf den Eingang zu einer Höhle. Sie gewährte uns nicht nur den denkbar besten Schutz vor dem Wüten der Elemente, sondern verlockte uns, die schweren Rucksäcke abzunehmen und uns mithilfe unserer Taschenlampen ein wenig umzusehen. Höhlen haben uns schon immer fasziniert.

Während wir, anfangs mit gebührender Vorsicht und allmählich immer übermütiger werdend, den steilen, glitschigen Hang hinabstiegen, passierte es. Wir rutschten unversehens aus und stürzten hilflos in den Abgrund, und ich dachte ans Sterben und zuletzt an gar nichts mehr.

 

2

Na, gottlob, sterben musste ich nicht (oder noch nicht). Ich war offenbar nur ohnmächtig geworden. Irgendwann wachte ich aus meiner Ohnmacht wieder auf. Und da war mein erster Gedanke: Hurra, ich lebe noch. Und zu meiner unsagbaren Erleichterung spürte ich gleichzeitig Sibylles warmen und weichen Körper hinter mir, eng an mich gepresst, die Arme um meinen Bauch geschlungen – auch sie anscheinend höchst lebendig. Denn sie zitterte an allen Gliedern.

Als Nächstes wurde mir bewusst, dass mir ein heftiger Wind um die Ohren blies und dass ein beängstigendes Rauschen wie von großen Flügeln zu hören war.

Nun erst öffnete ich die Augen und erkannte zu meinem Entsetzen, dass wir uns in schwindelerregender Höhe durch den Luftraum bewegten. Diesmal nicht bequem, und vor dem Fahrtwind geschützt, in einem Flugzeug, sondern auf dem Rücken einer riesenhaften geflügelten Gestalt. Und ihre Flügel waren so groß wie ... ich weiß nicht, sagen wir, wie die des Quetzalcoatlus, eines der größten bisher bekannten Riesenflugsaurier. Sie schlugen wie die Flügel eines Vogels unentwegt auf und ab und erzeugten eben dadurch jenes unheimliche, beängstigende Rauschen.

Da erfasste mich ein jäher Schwindel, und ich begann genauso zu zittern wie Sibylle, ja sogar zu taumeln, und glaubte im nächsten Moment wie ein Stein in die Tiefe zu plumpsen. So lange, bis mir auffiel, dass noch ein dritter Arm um mich, um meine Brust, geschlungen war und mich mit eisernem Griff festhielt.

Das empfand ich natürlich als großen Trost. Andererseits jagte es mir erneut Entsetzen ein. Denn dieser dritte Arm gehörte definitiv nicht zu Sibylle. Erstens wusste ich ja von ihr mit Bestimmtheit, dass sie nur zwei Arme hat. Zweitens war dieser dritte Arm nackt, steckte also nicht wie Sibylles Arme in den Ärmeln einer Bergjacke, und sah obendrein außerordentlich männlich aus. Drittens und vor allem: Seine Haut war blau. Die Haut des Arms und ebenso der Hand. Tiefblau wie die Ägäis. Als ob in Tinte getaucht. Oder mit Indigo gefärbt.

Wem gehörte dieser mysteriöse blaue Arm? Ich wagte nicht, mich umzublicken, so sehr es mich auch danach drängte. Aber die Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu plumpsen, war viel zu groß.

Da hörte ich hinter mir eine tiefe, sonore Stimme, die mich an die berühmter Opernsänger wie Walter Berry oder Erwin Schrott erinnerte. Sie klang ausgesprochen wohltönend, direkt beruhigend. Aber von dem, was sie uns da vorsang, verstand ich kein Wort.

Mit der Zeit beruhigte ich mich wirklich ein wenig. Auch Sibylles Zittern wurde zusehends schwächer. Und da wurde ich wieder klarer im Kopf und erkannte, dass wir mit sagenhafter Geschwindigkeit über eine phantastische Gebirgslandschaft dahinschwebten. Doch ehe ich mich’s versah, befanden wir uns auch schon im Sinkflug und landeten schließlich sanft auf einer Bergwiese vor einer Ansammlung höchst merkwürdiger Gestalten.

Während ich noch erleichtert aufatmete, dass wir nun wenigstens den Absturz in der Höhle und auch dieses Flugabenteuer schadlos überstanden hatten, hob mich der blaue Arm, der mich immer noch umschlungen hielt, vom Rücken des Riesenvogels herunter.

Nun erst konnte ich dessen Gesicht erkennen und stellte zu meiner Verblüffung und zu meiner Bestürzung fest, dass er an Stelle einer Nase einen gefährlich anmutenden Schnabel besaß, vorne gekrümmt wie bei einem Adler. Und überhaupt war nicht zu entscheiden, ob er das Gesicht eines Adlers oder eines Menschen mit einem Schnabel wie ein Adler hatte. Ebenso verblüffte mich die Erkenntnis, dass er eigentlich gar kein Riese war. Entweder hatte ich mich in meiner grenzenlosen Verwirrung getäuscht, oder er war, falls so etwas möglich ist, im selben Moment, wo er den Boden berührte, zu quasi normaler Größe geschrumpft.

Ich wandte mich um und erschrak erneut. Denn jetzt sah ich den, der hinter uns gesessen war, konnte feststellen, dass nicht nur seine Arme und Hände, sondern auch sein Gesicht und sogar seine nackten Füße blau waren. Auf seinem Kopf prangte eine Art goldener Tiara, so ähnlich, wie sie früher die Päpste getragen haben, bevor ihnen klar wurde, wie provokant oder zumindest lächerlich das wirken musste.

Übrigens war es nicht so sehr die blaue Hautfarbe, die mich in Schrecken versetzte. Auf die war ich immerhin schon gefasst. Es waren vor allem seine Arme. Er besaß nämlich deren vier. Tatsächlich, aus jeder Schulter wuchsen zwei Arme heraus. Was mich hingegen nicht in Schrecken versetzte, das war seine Miene. Sie wirkte total freundlich, gütig, wohlwollend. Jedenfalls alles andere als erschreckend. Ansonsten blieb er jetzt aber stumm.

Ja, zum Kuckuck, wo waren wir denn da hingeraten? Etwa ins Zauberland wie Harry Potter? Oder ins Wunderland wie die berühmte kleine Alice im Wunderland? Auch sie war ja (angeblich) in einen „sehr tiefen Brunnen“ gefallen, während sie einem Kaninchen nachsauste, und dann im Wunderland gelandet, ohne sich im Geringsten weh zu tun.

„In welchem Wunderland sind wir denn da gelandet, bitte?“, sagte ich, zuerst auf Griechisch und danach für alle Fälle auf Englisch. Und Sibylle wiederholte meine Frage auf Italienisch, Spanisch und Lateinisch.

Wie bereits erwähnt, empfing uns hier eine Versammlung von Gestalten wie aus einem Hollywood-Gruselschinken, die hier, offenbar als Begrüßungskomitee, steif und reglos vor uns standen wie die Figuren bei Madame Tussaud. Das Erste, was mir an ihnen auffiel, war der Umstand, dass alle oder zumindest die meisten ebenfalls so eine goldene Tiara oder Krone, oder wie ich dieses Ding nennen soll, trugen. Das glitzerte und leuchtete in der Sonne, dass es eine Freude war. Ob die extra hier auf uns gewartet hatten? So sah es jedenfalls aus.

„Ihr seid auf dem Olymp, junger Mann“, sagte eine freundliche Stimme.

Automatisch blickte ich in die Richtung, wo die Stimme herkam, und erschrak schon wieder. Der das gesagt hatte, war nämlich ein leibhaftiger Elefant – oder vielmehr, aber das bemerkte ich erst auf den zweiten Blick, ein Mann mit dem Kopf eines leibhaftigen Elefanten. Zu allem Überfluss nannte er ebenfalls vier Arme sein eigen. Nur war seine Haut nicht blau, sondern leuchtend rosarot oder, wie man heute gerne sagt, pink. Aber auch er wirkte irrsinnig gütig.

Während ich ihn noch verblüfft und erschrocken anstarrte, wurde mir bewusst, dass seine Worte wunderschönes Altgriechisch waren.

Aber schon im nächsten Augenblick hörte ich auf Englisch die Worte: „Ihr seid auf dem Kailash, junger Mann.“

Und der das sagte, war zu meiner Verblüffung kein anderer als der „Quetzalcoatlus“ mit dem Adlerschnabel, der uns durch die Lüfte getragen hatte.

Und dann sagte der Blaue, der uns während des Fluges festgehalten hatte, ebenfalls auf Englisch: „Fürchtet euch nicht! Ihr seid hier im Himalaja.“

„Ja, wo denn nun wirklich?“, rief Sibylle auf Englisch aus und schüttelte heftig den Kopf.

Daraufhin begann eine weitere Stimme zu sprechen. Oder vielmehr waren es, wenn man genauer hinhörte, mehrere Stimmen, die gleichzeitig und mit haargenau derselben Modulation und sogar in derselben Tonhöhe sprachen. Und sie sagten auf Englisch: „Damit hat es schon seine Richtigkeit, schöne junge Dame. Dies sind nur verschiedene Namen, mit denen die Sterblichen das Reich, oder wenn ihr so wollt, das Wunderland der Unsterblichen benennen. Euch beiden wurde also die seltene Ehre zuteil, dieses zu betreten.“

Ich blickte in die Runde, um zu erkennen, welche Personen da so exakt dasselbe sagten, dass man beinahe glauben konnte, es handle sich um eine einzige Person, und erlitt einen regelrechten Schock. Denn das war tatsächlich eine einzige Person, ein alter Herr. Er hatte nicht nur ebenfalls vier Arme, sondern auch noch, wie ich zunächst dachte, drei Gesichter, jeweils im Winkel von neunzig Grad zueinander, und dazu drei lange schlohweiße Bärte, die beim Reden synchron auf- und abwippten. Das wirkte, auf mich zumindest, im ersten Moment derart komisch, dass ich mich trotz des Schocks zusammennehmen musste, um nicht laut herauszuplatzen. Und natürlich thronte auf jedem der drei Köpfe eine goldene Tiara. Übrigens waren es doch nicht drei Köpfe, Bärte und Tiaren, sondern deren vier. Aber das vierte, nach hinten blickende Gesicht hatte ich zunächst nicht sehen können.

„Das Wunderland der Unsterblichen?“, wiederholte Sibylle. „Heißt das ... Soll das heißen, ihr seid unsterblich, also – Götter?“

Die drei oder vier Gesichter des Weißbärtigen lächelten milde und sagten: „Du sagst es, o schöne Sterbliche. Und ihr sollt auch unverzüglich unsere Namen erfahren. Denn ich sehe, ihr gehört nicht zu denen, die uns kennen und verehren. Also: Ich bin Gott Brahma. Dies hier“, und er zeigte auf den „Quetzalcoatlus“ mit dem Adlerschnabel, „ist Gott Garuda. Auf ihm reitet Gott Vishnu“, und er zeigte auf den Blauen. Hierauf zeigte er auf den Pinken mit dem Elefantenkopf und fuhr fort: „Und dies hier ist Gott Ganesha, euer Führer.“

„Führer? Ja, wohin denn?“

„Zu euren eigenen Göttern.“

„Zu unseren eigenen ...? Aber wir kennen doch nur einen Gott. Mehr noch, es gibt nur den einen Gott.“

Auf diese doch eher anzügliche Bemerkung hin bewahrte Gott Brahma heitere Gelassenheit. Er deutete auf den blumenübersäten Rasen und sagte: „Wollen wir uns nicht lieber setzen und etwas trinken? Ihr seid doch sicher müde und erschöpft. Da wird euch ein Becher Soma gut tun.“

Daraufhin ließen sich alle im Schneidersitz oder, um genau zu sein, im sogenannten Lotossitz auf den Boden nieder, und bildeten einen schönen Kreis. Nach einigem Zögern taten wir, Sibylle und ich, es ihnen nach, so gut wie es halt konnten. Den Schneidersitz waren wir ja überhaupt nicht gewohnt. Mein Hinterteil und meine Beine begannen jedenfalls sogleich heftig zu protestieren.

Zum Glück vergaß ich meine schmerzenden Glieder sehr rasch. Denn da kamen außergewöhnlich hübsche, noch dazu barbusige und überhaupt auffallend leichtbekleidete junge Mädchen herbeigeeilt und drückten jedem einen goldenen Becher mit einem verführerisch duftenden Getränk in die Hand. Dem Viergesichtigen drückten sie freundlicherweise sogar deren vier in die Hände.

Ja, so hübsch und so sexy waren diese Mädchen, dass ich richtiggehend Stielaugen bekam. Es gelang mir ungebührlich lange nicht, meine Blicke von ihnen abzuwenden. Ich konnte mich einfach nicht satt sehen und schenkte daher weder dem Getränk in meinem Becher noch Sibylle noch den übrigen mit uns zusammen im Kreise Sitzenden die gebührende Aufmerksamkeit – so lange, bis mir Sibylle mit dem Ellbogen einen reichlich unsanften Stoß in die Rippen versetzte. Und dazu zischte sie mir ins Ohr: „He, Mäuschen, verschau dich nicht.“

Daraufhin flüsterte mir mein anderer Nachbar, der Elefantenköpfige ... Wie hieß er schnell? Ach ja, Gott Ganesha. Also, der flüsterte mir in seinem wunderschönen Altgriechisch zu: „Oje, ist sie eifersüchtig, deine süße Gefährtin? Aber es stimmt. Die Schönheit der verführerischen Apsaras kann einem wirklich die Sinne verwirren.“

Und dazu kicherte er vergnügt. Ich aber nickte ihm dankbar zu und fühlte mich erst durch seine Bemerkung vom Bann, den die Mädchen auf mich ausübten, befreit.

Währenddessen nahm Brahma, zu Sibylle gewandt, das Gespräch wieder auf und begann: „Also, o schöne Sterbliche, du sagst, es gibt nur einen Gott, nicht wahr? Wie würdest du dann uns hier nennen?“

Und Sibylle? Sie blieb stumm. Sie machte ein verwirrtes Gesicht (oder, volkstümlich ausgedrückt, schaute blöd). Da erlaubte ich mir, einzuwerfen: „Ah, ich weiß schon. Ihr seid sicher die hinduistischen Götter. Richtig?“

Und Brahma: „Ja, so nennen uns die Sterblichen. Zwar befinden sich in unserer Runde als Gäste auch zwei buddhistische Gottheiten.“

Und dabei zeigte er auf eine reichlich merkwürdig aussehende und obendrein splitternackte und übrigens ebenfalls blaue Gestalt, die mir bisher gar nicht aufgefallen war. Und als ich genauer hinsah – zu anderen Zeiten hätte ich gesagt: fiel ich aus allen Wolken. Das passt jetzt vielleicht nicht ganz. Irgendwie befanden wir uns ja zurzeit im Himmel, nicht wahr? Also sagen wir so: Als ich genauer hinsah, blieb mir die Spucke weg. In Wirklichkeit waren es nämlich zwei nackte Gestalten, eine groß, männlich und blau und eine klein, weiblich und weiß, die männliche im Lotossitz und die weibliche – ja, also die weibliche war der männlichen zugewandt, saß in hingebungsvoller Haltung auf dem Schoß der männlichen und hielt sie mit Armen und Beinen umfasst. Und – ich glaubte zu träumen – die beiden waren tatsächlich, wie es bei Homer immer so schön heißt, in Liebe vereinigt, oder, etwas volkstümlicher formuliert: sie vögelten in aller Gemütsruhe inmitten aller ihrer Götterkollegen.

Na ja, mittlerweile wunderte mich gar nichts mehr.

Auf diese beiden also zeigte Brahma und sagte mit unveränderter Ernsthaftigkeit, und ohne mit der Wimper zu zucken: „Das sind Gott Samantabhadra und Göttin Samantabhadri.“ Und wieder zu Sibylle gewandt: „Glaube aber nicht, dass damit die Zahl der Götter voll ist.“

Da Sibylle, offenbar vor Verlegenheit, weiterhin stumm blieb, warf ich ein: „Wie? Und da lebt ihr gar nicht separat?“

„Separat?“, wiederholte Brahma und runzelte alle seine Stirnen. „Wie meinst du das?“

„Na ja, die hinduistischen für sich und die buddhistischen für sich, und so weiter.“

„Warum sollten wir? Wir verstehen uns ja bestens und besuchen einander regelmäßig. Ja freilich, die euren, die leben tatsächlich getrennt von allen anderen.“

„Die unseren?“, stieß Sibylle in sichtlicher Erregung hervor. „Wer soll denn das sein?“

„Aber, schöne Sterbliche, das weißt du doch selber am besten. Da ist zunächst einmal euer Hauptgott. Die Juden nennen ihn Jahwe, die Muslime Allah, und die Christen, glaube ich, Herrgott. Letztere lehren, dass ihr Herrgott aus Gottvater, Jesus Christus und dem Heiligen Geist besteht. Darum sprechen sie von der Heiligen Dreifaltigkeit. Oder sie sagen einfach Christus. Hinzu kommen seine Heiligen und himmlischen Heerscharen. Na ja, und von diesen getrennt leben nicht nur wir hier, sondern auch die von Jahwe-Allah-Christus verbannten Götter. Welche das sind, wirst du fragen? Natürlich, Zeus und seine Familie. Sie selber nennen sich Olympier. Sie leben schon seit geraumer Zeit in der Verbannung und damit getrennt von allen anderen. Christus hat ihren eigenen Willen gelähmt und ihnen seinen Willen aufgezwungen. Und ich verrate, glaube ich, kein Geheimnis, wenn ich euch sage, dass er uns allen dasselbe Schicksal zugedacht hat. Und jawohl, er hält sich abseits von uns allen und hätte es gern, dass alle Sterblichen nur noch ihn verehren und dass alle anderen Unsterblichen in der Verbannung schmachten. Noch lieber wäre es ihm zweifellos, sie würden sterben und aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Aber diese Freude werden sie ihm nicht machen. Schließlich sind sie allesamt unsterblich.“

Allgemeines zustimmendes Gemurmel.

„Und darum“, fuhr Gott Brahma fort, „seid ihr zwei unter allen Sterblichen auserwählt worden, um endlich quasi eine Renaissance, also eine Wendung zum Besseren einzuleiten.“

„Wir zwei?“, riefen Sibylle und ich wie aus einem Munde. „Wieso ausgerechnet wir zwei?“

„Das sollt ihr noch rechtzeitig erfahren. Fühlt ihr euch schon gestärkt, oder möchtet ihr noch einen Becher Soma?“

Wir erklärten übereinstimmend (und sehr erleichtert), wir seien wunderbar gestärkt. Denn unterdessen konnten wir wirklich nicht mehr richtig sitzen. Hinterteil und Beine protestierten immer heftiger, jedenfalls bei mir. Aber Sibylle erging es allem Anschein nach auch nicht besser. Ich sah ja, wie sie immer unruhiger wurde. Wie hielten das nur die lieben Gottheiten aus? Übrigens fiel mir jetzt erst auf, dass niemand in dieser Ansammlung merk-, nein, ehrwürdiger Gestalten rauchte. Und dass die Luft des Wunderlandes köstlich frisch war.

„Nun“, flötete Brahma, „dann will ich euch eurem Führer überlassen und wünsche euch gute Reise und viel Erfolg.“

Gute Reise und viel Erfolg?

Na hoffentlich. Wenn wir nur mit heilen Knochen wieder nach Hause kommen!

 

3

Mein Nachbar Ganesha erhob sich und verabschiedete sich von den anderen, indem er seine Hände, und zwar beide Paare, wie zum Gebet faltete und sich vors Gesicht hielt und sich dabei feierlich nach allen Seiten verbeugte. Wir taten es ihm nach und folgten ihm.

Zögernd folgten wir ihm. Wir wussten ja nicht, wohin er uns jetzt führen wollte. Die Spannung stieg. Ebenso die Herzfrequenz. Ebenso die innere Hitze. Sicher auch bei Sibylle. Woran ich das merkte? Daran, dass sie sich bei mir einhängte und sich eng an mich drückte.

Wohin also führte uns Ganesha? Nun, als Erstes zu einer nahen Baumgruppe. Wo uns der nächste Schock erwartete. Dort hockte nämlich ein regelrechtes Monster: eine riesige Ratte, so groß wie eine ausgewachsene (und ausgefressene) Katze. Ganesha bemerkte unseren Schrecken und versuchte uns zu beruhigen, indem er, wiederum auf Griechisch, versicherte, das sei sein braves Reittier, und wir bräuchten überhaupt keine Angst zu haben. Es sei völlig harmlos, außerdem ungewöhnlich klug.

Na schön, das klang ja einigermaßen beruhigend. Woran Ganesha freilich nicht dachte, das war, uns auf den nächsten Schock vorzubereiten. Denn während ich mir noch überlegte, wie seine Trostworte zu verstehen sind und wie er das bewerkstelligen will, eine Ratte, und sei sie noch so groß, als Reittier zu verwenden, und vielleicht gar noch für alle drei, wuchs das Monster in Blitzesschnelle zu solcher Größe an, dass mir der Angstschweiß aus sämtlichen Poren brach. Sibylle schien sogar einer Ohnmacht nahe. Wenn uns die grausige Ratte schon vorher wie ein Monster vorgekommen war, was sollte man jetzt dazu sagen? Jetzt war sie groß wie ein Pony oder eher noch größer und grauenerregend wie ... ich weiß nicht, wie ein Riesenrattenmonster eben.

Und Ganesha? Ha, der Kerl, pardon, die ehrwürdige Gottheit lachte uns nur aus und rügte uns sogar wegen unserer „unangebrachten Feigheit“.

„Wenn ihr zwei Hübschen schon unter allen Sterblichen auserwählt seid, so kann ich mir doch wohl ein bisschen Mut erwarten, oder? Und im Übrigen habe ich euch doch schon erklärt, dass mein braves Reittier völlig harmlos ist.“

Und während er das sagte, tätschelte er mit allen vier Händen und zusätzlich mit seinem Elefantenrüssel den Kopf des Monsters. Als Nächstes legte er ihm den Rüssel auf den Rücken, worauf sich das Riesenrattenmonster auf den Boden legte. Dann packte er mich ohne viel Federlesens und hob mich auf dessen Rücken, deponierte auf die gleiche Weise Sibylle hinter mir, setzte sich selbst hinter Sibylle und legte das eine Paar seiner Hände um sie und das andere um mich, worauf sich das Monster zu unserem erneuten Schrecken ähnlich ruckartig wie ein Kamel erhob. Zwei unmittelbare Folgen waren zu verzeichnen: Erstens, laute Schreie des Entsetzens aus meinem und Sibylles Mund. Und zweitens, das Kamel, pardon, das Monster setzte sich unverzüglich in Bewegung.

Es fiel sogleich in einen ausgesprochen scharfen Trab, lief dabei aber so ruhig, dass ich mit der Zeit meinen Schrecken und meine Angst so ziemlich vergaß und mich schließlich dazu aufschwang zu beweisen, dass ich doch noch nicht vor Schreck mit Stummheit geschlagen war.

Ich rief zu Ganesha zurück (ich musste rufen, um den Fahrtwind zu übertönen): „Entschuldigung, aber wo geht’s jetzt eigentlich hin?“

Ganeshas Antwort, kurz gefasst: Zu den von Christus und dessen himmlischen Heerscharen gelähmten und verbannten Olympiern. Diese leben, abgesondert von allen übrigen Göttern, in einem von hohen Bergen umschlossenen Teil des Wunderlandes der Himmlischen, manche nennen ihn auch einfach nur Olymp, und niemand darf zu ihnen.

„Oho“, antwortete ich. „Und wir schon?“

„Na ja, an und für sich natürlich nicht. Aber wisst ihr, diese Berge enthalten jede Menge Höhlen und, von diesen ausgehend, unterirdische Spalten. Und von einer dieser Spalten aus war es für mein braves und kluges Reittier ein Leichtes, einen Verbindungsgang zu graben, der auf die andere Seite hinüberführt. Auf diese Weise kann ich bequem und vor allem unbemerkt zu den Eingeschlossenen vordringen, weil ich ebenso wie Garuda, der euch auf seinem Rücken zu uns gebracht hat, die wunderbare Fähigkeit besitze, meine Körpergröße nach Belieben zu verändern und, wie ihr gesehen habt, auch mein Reittier je nach Bedarf schrumpfen oder wachsen zu lassen. Unter den Olympiern habe ich nämlich einen lieben Freund. Es ist derselbe, der mir die griechische Sprache beigebracht hat. Er heißt Dionysos. Früher, als die Olympier noch frei und mächtig waren, hat er lange Zeit unter uns gelebt, ich meine, unter den hinduistischen und buddhistischen Gottheiten. Und dabei habe ich mich mit ihm angefreundet. Er ist es übrigens auch gewesen, der die Idee hatte, zwei Sterbliche auszuwählen.“

„Ja, aber warum ausgerechnet uns zwei, möchte ich endlich wissen“, rief Sibylle.

Und ich: „Genau. Brahma hat ja ausdrücklich erklärt, das würden wir rechtzeitig erfahren.“

Und Ganesha, lachend: „Ja, aber nicht von mir. Ich weiß es nämlich nicht.“

Und Sibylle: „Jetzt habe ich geglaubt, die Götter sind allwissend?“

Und Ganesha, abermals lachend: „Ja, ja, ich weiß, das glauben die Menschen von uns Unsterblichen. Aber das glauben sie nur deshalb, weil wir ihnen an Wissen natürlich weit überlegen sind. Und daraus schließen sie eben, eine Gottheit ist automatisch allwissend. Das ist übrigens auch Christus nicht. Sonst müsste er ja von unserer Unternehmung wissen und hätte sie, wie ich ihn kenne, rechtzeitig zu verhindern gewusst. Habt also noch ein wenig Geduld.“

Unterdessen stürmte das Rattenmonster, pardon, unser braves Reittier mit unverminderter Geschwindigkeit durch eine immer gewaltiger werdende Gebirgslandschaft dahin. Wie lange waren wir nun eigentlich schon unterwegs, und wie viel Zeit war seit unserem fatalen Absturz in der Höhle vergangen? Keine Ahnung. Mir scheint, mir ist mein ganzes Zeitgefühl abhanden gekommen. Na ja, wozu hat der heutige Homo sapiens ein Smartphone und eine Armbanduhr?

Ha, o Schreck, meine Uhr ist weg!

Tatsächlich, meine Armbanduhr war weg, und wenn ich noch so intensiv auf mein Handgelenk starrte. Dasselbe Schicksal, stellte ich fest, hatte mein Smartphone ereilt.

Bestürzt und verärgert, teilte ich mein Missgeschick Sibylle mit und fragte sie im gleichen Atemzug, wie spät es ist. Ihre Antwort war mehr als schockierend, nicht nur in sprachlicher Hinsicht: „Scheiße, meins ist auch weg.“ (Sibylle gehört zu den Menschen, die gar keine Armbanduhr mehr tragen und sich mit der Zeitangabe des Handys begnügen, was übrigens den Vorteil hat, dass sich ihre Umarmungen stets besonders reizvoll anfühlen.)

Soll ich Gott Ganesha nach der Uhrzeit fragen?

Diesen Gedanken verwarf ich allerdings sehr schnell. Er hatte, vor allem nach dem, was er zuletzt gesagt hatte, garantiert keine Ahnung. Schließlich sind die Götter, laut Homer, die Glücklichen, und dem Glücklichen schlägt, laut Schiller, bekanntlich keine Stunde (oder, genauer: Die Uhr schlägt keinem Glücklichen).

Während ich noch solchen Gedanken nachhing, umfing uns unvermittelt die Dunkelheit einer Höhle, und ich dachte mit Bitternis daran, dass uns bei unserem Absturz in der früheren Höhle ja auch unsere Taschenlampen abhanden gekommen waren. Ganesha, der offenbar befürchtete, wir könnten uns neuerlich vor Angst in die Hosen machen, suchte unseren Mut zu stärken.

„Keine Angst, ihr zwei Hübschen! Wir können auch im Finstern sehen, ich und mein Reittier. Und noch etwas: Bitte schreckt euch nicht. Jetzt werden wir nämlich gleich anhalten und schrumpfen.“

„Schrumpfen?“, wiederholte ich erschrocken und verwirrt.

„Genau. Damit wir den Verbindungsgang passieren können.“

„Du meinst, kleiner werden?“

„Klar. Was sonst?“

„Um wie viel kleiner?“

„Nun ja, auf Daumengröße etwa.“

„Auf Daumengröße?“, schrie ich. Mich schauderte bei dem Gedanken. „Wie in dem Märchen vom kleinen Däumling?“

„Kopf hoch! Es tut nicht weh.“

Nun gut. Ich bemühte mich redlich, meinen Kopf hochzuhalten. Und siehe da, es tat wirklich nicht weh, das Schrumpfen, ja, ich spürte es nicht einmal. Das heißt, in einer Hinsicht spürte ich es doch: Meine Blase war mit einem Mal zum Platzen voll. Offenbar gelingt das Schrumpfen doch nicht bei allen Körperflüssigkeiten gleich gut.

Bei Sibylle war das, wie sich herausstellte, nicht anders. Die Schrumpfpause, wenn ich sie so nennen soll, war schon längst vorüber, da flüsterte sie mir ins Ohr: „Du, Mäuschen, ich muss ganz dringend aufs Klo. Was soll ich denn bloß tun?“

Und ihr Flüstern klang über die Maßen drängend.

Da überwand ich meine eigene Schüchternheit und bat Ganesha eindringlich, noch einmal haltzumachen und uns rasch Gelegenheit zu geben, uns zu erleichtern. Er erfüllte mir meinen Wunsch ohne weiteres, wenn auch nicht ohne homerisches Gelächter. Er veranlasste sein Reittiermonster, stehen zu bleiben und sich auf den Boden zu legen, damit wir absteigen können.

Oh, wie gut, dass niemand sieht, was wir jetzt tun, dachte ich, während wir einträchtig den Felsboden des Verbindungsganges hier bewässerten. Das dachte ich allerdings nur so lange, bis mir einfiel, was Ganesha kurz zuvor verkündet hatte: dass er auch im Finstern sehen kann. Und da hatte ich plötzlich nicht geringe Schwierigkeiten, mein Werk zu Ende zu bringen.

Nach diesem Intermezzo setzten wir unseren Weg durch das Dunkel und den Moder der Unterwelt des Berginnern fort. Und als ich schon dachte, dieser Tunnel endet nie, da begann vor uns ein Lichtlein aufzuleuchten. Und es war tatsächlich das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels.

Schließlich durchschritt unser Reittier gewissermaßen das Tor zur Oberwelt, und ich wurde unvermittelt von gleißendem Sonnenlicht geblendet und von überwältigendem Blütenduft berauscht.

Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder und erschrak schon wieder heftig. Wir waren nämlich von baumhohen Blumen umgeben, und auf diesen saßen monströse Bienen und Wespen, deren Flügel annähernd die gleichen Auswirkungen hatten wie die Rotorblätter eines Hubschraubers.

Wieder ertönte Ganeshas homerisches Gelächter. Offenbar empfand diese Frohnatur unseren Schrecken als wunderbaren Spaß. Doch während ich mich noch darüber ärgerte, merkte ich, wie Bienen, Wespen, Blumen rasant kleiner wurden und gewissermaßen in die Tiefe sanken. Und ehe ich mich’s versah, hatte alles wieder seine richtigen Proportionen, das Tor zur Unterwelt, aus dem wir soeben ans Licht hervorgekrochen waren, war kaum noch zu erkennen, und das Rauschen der Bienen- und Wespenflügel war fast unhörbar geworden. Dafür war leise, wie aus weiter Ferne, ein herzergreifender Gesang zu hören.

Dieser Gesang schien aus der Tiefe zu kommen. Aus der Tiefe? Ich sah mich um und stellte fest: Wir befanden uns hier in einer erschreckend steilen Felswand, und Hunderte Meter unter uns breitete sich in saftigem Grün ein weites Tal aus. Und darin eingebettet funkelten wie Juwelen kleine Seen.

Unterdessen hatte sich unser Reittier wieder in Bewegung gesetzt und stieg mit staunenswerter Trittsicherheit einen schwindelerregend steilen Pfad hinab. Ja, ja, als Bergsteiger war ich dergleichen zwar gewohnt. Trotzdem hatte ich anfangs durchaus mit Schwindel- und Angstgefühlen zu kämpfen. Auch Sibylle stieß wiederholt leise Entsetzensschreie aus und veranlasste Ganesha zu erneuten Lachsalven. Immerhin ist ein nicht zu unterschätzender Unterschied, ob man auf eigenen Beinen einen steilen Hang hinabsteigt, oder auf dem dabei notwendigerweise abschüssigen Rücken eines Reittieres sitzend. Zum Glück legte sich unsere Unsicherheit und damit unsere Aufregung langsam wieder, desgleichen Ganeshas unangebrachte Heiterkeit. Und da hatte ich endlich wieder die Muße, auf die großartige Aussicht zu achten.

„Ist dieses Tal da unter uns schon das Reich der Olympier?“, rief ich entzückt aus.

„Richtig geraten“, erwiderte Ganesha laut (und lachte leise).

„Ha, das Wunderland der Olympier“, sagte ich vor mich hin und erschauderte geradezu vor ungläubigem Staunen, vor Erregung, vor Ehrfurcht. Wer hätte das jemals gedacht, dass ich eines Tages den Olympiern von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten werde! Wer hätte auch gedacht, dass sie überhaupt noch existieren! Wer hätte gedacht, dass sie tatsächlich jemals existiert haben!

Und während der aus dem Tal heraufdringende, mit fröhlichem Gelächter abwechselnde Gesang immer deutlicher hörbar wurde, spürte ich, wie mich mehr und mehr eine nie gekannte Verzauberung ergriff. Und da wurde mir erst so richtig bewusst, dass uns unsere Bergtour nicht bloß auf den irdischen Olymp geführt hatte, sondern zugleich auf den himmlischen Olymp, ins Wunderland der Götter. Und dann kam mir eine bestimmte Stelle aus Homers Odyssee in den Sinn:

So sprach sie, die helläugige Athene, und begab sich zum Olymp, wo, wie man sagt, der niemals wankende Wohnsitz der Götter ist. Weder wird er von Winden gepeitscht noch jemals vom Regen benetzt, und auch kein Schnee kommt ihm nahe. Sondern ein vollkommen klarer, wolkenloser Himmel breitet sich über ihm aus, und weißer Glanz läuft über ihn hinweg. Auf diesem erfreuen sich die glücklichen Götter alle Tage.

O ja, man kann es deutlich hören. Sie erfreuen sich, die glücklichen Götter (... und Göttinnen, muss man heutzutage hinzufügen). Sie erfreuen sich sogar in der Verbannung. Sie amüsieren sich, sie lassen es sich gut gehen, sie genießen ihr Leben und ihre Unsterblichkeit. Und zu ihrem grenzenlosen Glück trägt eben ohne Zweifel auch das paradiesische Klima des Götterolymps bei. Homers Beschreibung ist, wie man sieht, absolut korrekt. Über dieser herrlichen Landschaft breitet sich ein wolkenloser Himmel aus. Die Luft ist klar wie das Wasser eines Gebirgsbaches und ermöglicht eine prachtvolle Fernsicht, die mein Herz höher schlagen lässt. Durch Sturm, Regen oder Schnee wird also das Glück der Götter niemals getrübt – und, so könnte man Homers Bericht ergänzen, wohl auch nicht durch Kälte oder unerträgliche Hitze. Denn obwohl wir uns hier zweifellos noch immer in enormer Seehöhe befinden, ist die Luft angenehm warm. Übrigens war mir auch zuvor nicht im Geringsten kalt, weder auf dem Rücken des adlerschnäbeligen Garuda noch auf dem von Ganeshas flinkem Reittiermonster. Und dies trotz stärksten Fahrtwindes. Höchstwahrscheinlich wird das Glück der Götter auch nie durch Erdbeben getrübt. Sonst hieße es nicht ausdrücklich: Der niemals wankende Wohnsitz der Götter.

Ich fasse es nicht. Der Wohnsitz der Götter! Das Wunderland der Olympier! Das sollen wir jetzt betreten?