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Thomas Renggli – ROBERTO · RICARDO · FRANCISCO RODRIGUEZ | Drei Brüder – eine Familie – WÖRTERSEH

 

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2018 Wörterseh, Gockhausen

Lektorat: René Staubli, Zollikon
Korrektorat: Brigitte Matern, Konstanz, und Claudia Bislin, Zürich
Projektleitung: Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Fotos Umschlag: Valeriano Di Domenico, Zürich
Fotos Bildteil: Valeriano Di Domenico, Zürich; andere sind gekennzeichnet
Bildbearbeitung Bildteil: Michael C. Thumm, Blaubeuren
Layout und Satz: Rolf Schöner, Aarau
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-097-6
E-Book ISBN 978-3-03763-751-7

www.woerterseh.ch

 

Als dieses Buch im Mai 2018 in Druck ging, spielten die Rodriguez-Brüder bei folgenden Vereinen:
 
Roberto, der Älteste, beim FC Zürich
Ricardo, der Mittlere, bei der AC Milan
Francisco, der Jüngste, beim FC Luzern

 

Für Marcela und José

 

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Zu diesem Buch

Auzelg – eine geschützte kleine Welt

Ricardo, das Sorgenkind

Roberto, der Fußballnomade

Francisco, die Nachwuchshoffnung

Ricardo im Kolosseum der Moderne

Milan und Inter – die ewigen Rivalen

Aus dem Schatten von Ludovic Magnin

U-17-Weltmeister in Nigeria

Die Power der Secondos

In Wolfsburg mit den Canepas

Hitzfeld, Ricardos wichtiger Förderer

Mit Petkovic in den EM-Achtelfinal

Murat Yakin und der »vierte Bruder«

Reifeprüfung in Wolfsburg

Die Familie – der Schlüssel zum Glück

Der traurigste Tag

»Pyros und Choreos erzeugen Gänsehaut«

Zurück zu den Wurzeln

Brüdertrios: Ajeti, Götze, Pogba, Touré

Der Fußball baut Brücken

Ricardo: »In Russland ist alles möglich«

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Nachwort

Die Karrieren der Rodriguez-Brüder

 

Über den Autor

Thomas Renggli
© Valeriano Di Domenico

THOMAS RENGGLI, geb. 1972, brachte die schulischen Pflichten in Ebmatingen und Zürich hinter sich. Danach widmete er sich den Sprach- und Lebensstudien in Nizza und Texas. Dank dem Umstand, dass er dabei die angestrebte Karriere als Profifußballer aus den Augen verlor, fand er zum Schreiben. Als (Sport-)Journalist arbeitete er unter anderem für die »Sportinformation«, die »Neue Zürcher Zeitung«, den »Blick« sowie die »Schweizer Illustrierte«. Daneben schrieb er diverse Bücher, darunter die Bestseller »Schwingen – Vom Hosenlupf zum Spitzensport«, »Der Wetterschmöcker« (beide Faro-Verlag) sowie die aktuelle Biografie über Sepp Blatter »Mission & Passion Fußball« (Werd-Verlag). Thomas Renggli lebt zusammen mit seiner Familie hoch über dem Greifensee.

 

Über das Buch

In diesem Buch erzählen die Rodriguez-Brüder die bewegende Geschichte ihrer Familie. Die Geschichte ihrer Eltern Marcela und José – die Mutter kam bereits als Kind aus Chile in die Schweiz, der Vater als junger Gastarbeiter aus Spanien. Die Geschichte ihres Aufwachsens an der Peripherie von Zürich, im Auzelg-Quartier. Und – sie erzählen ihre Erfolgsgeschichte: Roberto, der Älteste, spielt im Mittelfeld des FCZ eine tragende Rolle. Ricardo, der Zweitgeborene, spielt bei AC Milan, gilt als einer der besten linken Außenverteidiger und schoss die Schweizer Fußball-Nati 2017 an die Weltmeisterschaft. Und Francisco, der Jüngste, ist beim FC Luzern im zentralen Mittelfeld aufgestellt und dort der Mann für spezielle Momente. Das sportliche Glück spiegelt aber nur die eine Seite der Familie. Denn immer wieder schlug das Schicksal zu: Der Vater war zwei Jahre lang arbeitslos, Roberto kam mit einem geschädigten Gehör zur Welt, und Ricardo schwebte als Kind mehrmals zwischen Leben und Tod. Das schwerste Unglück aber traf die Familie, als Marcela 2015 ihren Kampf gegen den Krebs verlor. In Erinnerung an ihre Mutter tragen alle drei Brüder dieselbe Rückennummer – die 68, Marcelas Jahrgang. Die Rodriguez – eine Geschichte zwischen rauem Vorstadtcharme und Scheinwerferlicht. Eine Geschichte von perfekter Integration. Vor allem aber die Geschichte vom Glück, eine Familie zu haben, deren Bande unerschütterlich fest sind. Erzählt in einer Ehrlichkeit und Offenheit, die auch vor den Kabinentüren der Fußballwelt nicht haltmacht.

»Die Schweiz ist so stark, weil sie es schafft, viele Kulturen zusammenzubringen. Das Multikulturelle ist der vielleicht größte Trumpf der Schweiz überhaupt. Und der Fußball ist dafür ein wunderbares Vorbild.«

Ottmar Hitzfeld, ehemaliger Nationaltrainer

 

Zu diesem Buch

Als Journalist erlebt man Spitzensportler oft in der Hektik des Tagesgeschäfts, zwischen Spielfeld und Garderobe, in der Mixed Zone oder im Interviewraum. Die Primavistaberichterstattung lässt kaum Spielraum für einen Blick hinter die Kulissen und das Beschreiben von privaten Geschichten und persönlichen Schicksalen. Für mich war es allein aus diesem Grund eine großartige Chance, das Leben der drei Brüder Roberto, Ricardo und Francisco Rodriguez in Buchform festzuhalten. Denn der spannendste Teil ihrer Geschichte beginnt dort, wo der Fußballplatz endet. Roberto (FC Zürich), Ricardo (AC Milan) und Francisco (FC Luzern) stehen jedes Wochenende im Scheinwerferlicht. Was hinter ihrem Aufstieg in den Profifußball steckt, wissen aber nur die wenigsten. Als wir uns zu diesem Projekt entschieden, standen für mich zwei Fragen im Vordergrund: Würden mir die Fußballprofis einen vertieften Blick in ihre Berufswelt erlauben? Und wären sie bereit, auch über Privates und Persönliches zu sprechen?

Bei einer ganzen Reihe von Treffen erzählten und reflektierten die Rodriguez-Brüder dann ihr Leben mit einer berührenden Offenheit. Wir konnten über alles miteinander reden, auch über ihre größten Enttäuschungen und Dramen. Selbst Ricardo, der Mittlere, der gern im Hintergrund bleibt, gewährte Einblicke, die man von einem Spitzensportler ganz selten erhält. Er führte mich in Mailand bis in die Garderobe der AC Milan und auf den Rasen des Giuseppe-Meazza-Stadions. Zum Fotoshooting für das Titelbild fuhr er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eigens von Mailand nach Zürich.

Francisco, der Jüngste, überraschte mich mit seiner Bescheidenheit. Er war immer da, wenn man ihn brauchte, fand jedoch, es sei gut, wenn ich mich auf »die beiden Größeren« konzentriere.

Roberto, der Älteste, war meine wichtigste Ansprechperson. Er begleitete mich zu Ricardo nach Mailand, organisierte ein Treffen mit José, seinem Vater, dessen Worte er für mich aus dem Spanischen übersetzte. Er war es, der mir die Familiengeschichte erzählte, die privaten Fotoalben zeigte und mein Herz berührte, als er vom viel zu frühen Tod der Mutter berichtete. Marcela Rodriguez starb im November 2015 im Alter von nur 47 Jahren an einem heimtückischen Krebsleiden. Ihre drei Söhne waren damals 25, 23 und 20.

Wichtige Weggefährten empfingen mich bereitwillig, wenn ich ihnen sagte, worum es ging. Ottmar Hitzfeld, der erfolgreichste Trainer mit Schweizer Bezug, und der gegenwärtige Nationalcoach Vladimir Petkovic schilderten mir ihre Eindrücke von Ricardo. Das Ehepaar Canepa vom FC Zürich (FCZ) sowie die Trainer Ludovic Magnin vom FCZ und Murat Yakin von den Grasshoppers (GC) sprachen in unüblicher Offenheit über ihre persönlichen Erlebnisse mit den drei Fußballern – und ließen intime Blicke hinter die Kulissen des Geschäfts zu.

Mit zunehmender Arbeit am Buch kristallisierte sich heraus, wie groß die integrative Kraft des Fußballs für Menschen ist, die ohne ihn kaum einen Platz an der Sonne bekommen hätten. Ein Schlüsselerlebnis war für mich der Besuch der Schule Auzelg an der nördlichen Peripherie Zürichs – dem Ort, wo die Rodriguez-Brüder ihren ersten Bällen nachjagten. Wer hier aufwächst, startet kaum mit einem Bonus ins Leben. Die umliegende Siedlung wird von der Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien verwaltet. Der Ausländeranteil beträgt rund neunzig Prozent, die Lehrer sagen offen: »Von hier aus schafft es normalerweise niemand ans Gymnasium.«

Roberto, Ricardo und Francisco Rodriguez haben den sozialen Aufstieg dank dem Fußball geschafft. Alle drei besitzen nebst dem spanischen und dem chilenischen auch den Schweizer Pass. Sie sind stolz auf ihre Wurzeln und stehen gleichzeitig für eine Schweiz, von der Ottmar Hitzfeld sagt: »Ein wichtiger Grund für den Erfolg dieses Landes ist, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft am gleichen Strick ziehen.«

Die Geschichte der Gebrüder Rodriguez ist die Geschichte von Teamgeist, Solidarität, Respekt und Demut – und das in einem Geschäft, in dem die Helden von heute oft die Verlierer von morgen sind und die Menschlichkeit oft von astronomischen Geldsummen unterspült wird. Roberto, Ricardo und Francisco beweisen, dass es auch anders geht, dass der Fußball Menschen aller Ethnien, Kulturen und Schichten verbinden, Brücken auf- und Vorurteile abbauen kann. Wenn dieses Buch dazu beiträgt, dass das so bleibt oder sich noch verstärkt, wäre das schön.

Thomas Renggli, im Mai 2018

 

Auzelg – eine geschützte kleine Welt

Kosovo, Mazedonien, Somalia, Ghana, Kroatien, Türkei, Sri Lanka. Die Kinder, die im Hort der Schule Auzelg miteinander spielen, kommen aus allen Himmelsrichtungen. Von den derzeit 230 Schülerinnen und Schülern der Primarschule sind über achtzig Prozent fremdsprachig. »Als wir klein waren, gab es noch den einen oder anderen gebürtigen Schweizer, heute kann man das praktisch ausschließen«, erzählt Roberto, der mich vor Weihnachten 2017 zusammen mit Francisco hierherbegleitet.

Wir betreten das Schulhaus und stehen wenig später im großen Aufenthaltsraum des Hortes. Uns fallen sofort die vielen Zeitungsartikel mit Fotos der Rodriguez-Brüder auf, die an den Türen eines Schranks kleben; obendrauf stehen Pokale. Den größten habe er mit seiner damaligen Mannschaft in einem Quartierturnier gewonnen, erzählt Francisco.

Dann geht die Tür auf, und Roberto ruft erfreut: »Hoi, Domi!« Dominique Okouo, wie Domi mit vollem Namen heißt, steht für die Vielschichtigkeit dieses speziellen Ortes. Seine Wurzeln hat er im Kongo, lesen und schreiben lernte er in Schwamendingen an der Schule Auzelg, heute arbeitet er als Kleinkindbetreuer im Hort, der ihm einst selber Geborgenheit gab. Daneben hat er es als DJ Jesaya zu nationaler Bekanntheit gebracht. »Er legt in verschiedenen Klubs auf«, sagt Francisco nicht ohne Bewunderung. Sein erstes Album trägt den Titel »Operation Hope«.

Das Auzelg-Quartier macht den Eindruck einer in sich abgeschlossenen Welt – umgeben von den dampfenden Kaminen der Kehrichtverbrennungsanlage Hagenholz und des Heizkraftwerkes Aubrugg, dem EWZ-Unterwerk Oerlikon und einem breiten Schrebergarten-Gürtel. Die Autobahn und die Eisenbahn haben die globale Enklave am Rande Zürichs scheinbar im Würgegriff. Der für Fußgänger und Velofahrer direkte Weg ins übrige Stadtgebiet führt über zwei Brücken, zuerst eine metallene, unter der die Züge durchfahren, dann eine hölzerne über die Glatt. Automobilisten müssen den Umweg über Opfiker Gemeindegebiet nehmen.

Die Rodriguez-Brüder haben nicht vergessen, wo sie herkommen. Mindestens einmal pro Jahr kehren sie in den Hort und in die Schule zurück, wo sie nicht nur das Alphabet, sondern auch das Fußball-Abc gelernt haben. Werner Schacher, Leiter Betreuung in der Schule Auzelg, ist für sie noch immer eine wichtige Bezugsperson. »Wir werden nie vergessen, was er für uns getan hat, und dass er für dieses Buch ein Nachwort schrieb, freut uns alle drei sehr«, sagt Roberto.

»Adventskalender« – so heißt die jährliche Aktion der Schule vor Weihnachten, die den Kindern jeden Tag eine Überraschung bietet. Bis zur Bescherung müssen sie noch zwölfmal schlafen. Doch für die Kinder ist schon heute Heiligabend, Ostern und Geburtstag zusammen, denn es hat sich herumgesprochen: Zwei Rodriguez-Brüder sind zu Besuch! Die Co-Schulleiterin Domenica Frigg führt uns in den »Mehrzweckraum«, wo die Schüler bereits warten. Dass Ricardo nicht dabei ist, können sie nachvollziehen. Sie wissen, dass er jetzt in Mailand spielt. Das »Rodriguez-Fieber« mindert das in keiner Weise.

Roberto und Francisco begrüßen die Kinder mit einem fröhlichen »Hoi zäme«, setzen sich vorn auf die Bühne und lassen die Beine lässig baumeln. Der Co-Schulleiter und Heilpädagoge Claudio Tamò, ein großer FCZ-Fan und Fußballkenner, fordert die Kinder auf, Fragen zu stellen. Das muss er ihnen nicht zweimal sagen:

Wie viele Pokale habt ihr schon gewonnen?

Roberto: Als wir noch bei den Junioren tschuteten, eine ganze Vitrine voll. Aber seit wir Profifußballer sind, ist es natürlich nicht mehr so einfach.

Was ist euer Lieblingsessen?

Francisco und Roberto zwinkern sich zu – dann sagt der Jüngere: Alles, was unsere Großmutter kocht. Bei ihr zu essen, ist das Beste.

Wie viele Gegner habt ihr schon ausgedribbelt?

Roberto überlegt lange und schmunzelt: Das weiß ich nicht mehr so genau. Aber sicher ist: Wir sind auch selber schon oft ausgedribbelt worden.

Wie viele Rote Karten habt ihr schon bekommen?

Francisco lacht: Ich noch keine einzige, und du? Roberto zieht eine Grimasse: Ich drei – zwei bei den Junioren und eine bei den Profis, als wir 2014 mit dem FC St. Gallen gegen Vaduz spielten. Wir lagen 1:3 im Rückstand. In der 85. Minute verwandelte ich einen Penalty zum 2:3. In der 90. Minute erhielt ich für eine Notbremse die direkte Rote Karte. Die erste und bis heute einzige Rote Karte übrigens. In der 92. Minute schossen meine Kollegen noch den Ausgleich.

Was macht ihr nach der Karriere?

Beide zögern, Roberto sagt: Darüber habe ich mir noch keine konkreten Gedanken gemacht. Ich denke, dass ich als Spieler noch vier bis fünf gute Jahre vor mir habe, danach würde ich gern in einer anderen Funktion im Fußball bleiben. Francisco: Ich bin erst 22 Jahre alt. Im Moment will ich nur eines: Fußball spielen – und jeden Tag besser werden.

Habt ihr schon einmal einen Penalty verschossen?

Roberto: Zuletzt habe ich alle verwertet – aber an einen verschossenen Elfer kann ich mich genau erinnern: Das war auch in meiner St. Galler Zeit, und zwar im Mai 2015 gegen den FC Basel. Ich war eben erst eingewechselt worden – und scheiterte. Das tat weh. Francisco: Ich gehöre in Luzern nicht zu den vorbestimmten Penaltyschützen. Aber bei den Junioren bin ich gelegentlich zum Zug gekommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je einen Penalty verschossen hätte. Aber vielleicht hab ichs ja auch verdrängt … (lacht).

Seid ihr Fan von einem Klub?

Im Saal kommt Unruhe auf, Roberto antwortet zuerst: Ich bin Fan von Real Madrid (einige Kinder jubeln). Da kontert Francisco: Und ich bin Barcelona-Fan (jetzt jubeln die andern).

Was macht ihr, um bessere Freistöße zu schießen?

Roberto: Lustig. Ich habe meinem Bruder Rici diese Frage auch einmal gestellt. Er hat gesagt: »Robi, nimm nach jedem Training zwanzig Bälle und übe allein für dich – jeden Tag, nach jedem Training. Dann wirst du besser.«

Was habt ihr in eurer Kindheit am liebsten gemacht?

Roberto: Fußball gespielt – wenn möglich den ganzen Tag. Es war immer unser Traum, Profi zu werden. Aber die Schule – und jetzt hört genau hin –, die Schule sollte man trotzdem nicht vernachlässigen. Denn im Fußball schaffen es nur ganz wenige.

Die Kinder hören andächtig zu. Je länger die Fragestunde dauert, desto mehr legen sie ihre anfängliche Zurückhaltung ab und werden immer zutraulicher. Für Werner Schacher ist genau dies eines der Ziele der Veranstaltung: »Die Schüler sollen merken, dass man auch als erfolgreicher Sportler nicht abheben muss und wie wichtig es ist, seine Wurzeln nicht zu verleugnen. Und sie sollen realisieren, dass mit harter, konsequenter Arbeit jeder Erfolg haben kann – egal, ob im Sport, in der Schule oder im Beruf.«

Das Auzelg ist weit mehr als eine Schule. Da die meisten Kinder aus wenig privilegierten Familien stammen, übernehmen die Lehrpersonen und die Schulleitung auch Aufgaben, für die normalerweise Mütter und Väter zuständig sind. »Wir haben eine integrative Funktion und sehen uns als Ergänzung zu den Eltern«, erklärt Werner Schacher. Die sinnvolle Freizeitgestaltung sei ein zentrales Anliegen – um die Kinder von der Straße fernzuhalten. Das bedeutet, dass viele Schüler und Kindergärtler im Hort nicht nur zu Mittag essen, sondern – wenn beide Elternteile arbeiten – auch die freien Nachmittage hier verbringen.

Auch in den Ferien bietet die Schule attraktive und günstige Angebote. Beispielsweise das traditionelle Fußballlager im nationalen Jugendsportzentrum Tenero im Tessin. Dort waren früher auch die Rodriguez-Brüder Stammgäste. Heute unterstützen sie die Verantwortlichen mit Geld- und Materialspenden. Sie wollen etwas zurückgeben. »Wir hätten nie alle drei aufs Mal ins Lager gehen können, wenn Werner Schacher unseren Eltern nicht entgegengekommen wäre und sie den Unkostenbeitrag nicht in Raten hätten zahlen können«, erklärt Roberto. Auch Francisco ist Werner Schacher noch immer dankbar: »Ich weiß ja nicht genau, was damals alles lief. Aber wenn sich unsere Mutter bei Problemen mit Werner unterhielt, ergab sich immer eine Lösung.«

Viele Kinder, die heute den Hort im Auzelg besuchen, leben in der Wohnsiedlung Au, die zwischen 1952 und 1954 gebaut wurde und heute im Inventar der schützenswerten Bauten der Stadt Zürich aufgeführt ist. Die Siedlung wird von der 1924 gegründeten Stadtzürcher Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien verwaltet. 120 dunkelrote Reihenhäuschen bilden ein kleines Dorf, eine Mischung aus Pippi-Langstrumpf-Charme und englischer Vorstadt-Ordnung. In jedem Garten steht – wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit – ein Stewi-Wäscheständer. »Kinderreich« ist keine leere Worthülse. Mindestens drei Kinder unter achtzehn Jahren müssen zu jeder Familie gehören. Um eines der schmucken Eckhäuser bewohnen zu dürfen, sind sogar fünf Kinder Voraussetzung. Außerdem darf das jährliche Einkommen 58 300 Franken nicht übersteigen – das macht 4858 Franken pro Monat.

Weil einheimische Familien mit fünf Kindern in der Schweiz die Ausnahme sind, werden die Häuschen im Auzelg-Quartier überwiegend von Ausländern bewohnt – wobei sich auch hier die Verhältnisse verschoben haben. Werner Schacher hat das natürlich mitbekommen: »Früher stammten viele Bewohner unseres Quartiers aus Spanien oder südamerikanischen Ländern. In den Eckhäusern dominieren heute vor allem afrikanische Familien aus Ghana, Eritrea und Somalia.«

Zu Problemen führe die neue Durchmischung kaum – zumindest nicht an der Schule und im Hort. Schacher betont: »Die Kinder sind das Zusammenleben mit anderen Kulturen gewohnt. Da gibt es keine Berührungsängste oder Vorurteile.« Die Umgangssprache sei Schweizerdeutsch: »Die Kinder lernen das im wahrsten Sinne des Wortes spielend.«

Das galt auch für die Rodriguez-Brüder. Francisco erinnert sich mit einem verklärten Lächeln an seine Schulzeit: »Wir erlebten im Auzelg die perfekte Kindheit und hatten in der Siedlung an der Opfikonstraße 113 ein wunderbares Daheim. Wir waren umgeben von Familien mit einem ähnlichen Hintergrund. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war entsprechend groß. Alle Eltern mussten kämpfen. Sie taten alles, damit es ihren Kindern gut ging.« Dass er oft hierher zurückkehre, komme nicht von ungefähr: »Hier sind meine Wurzeln, hier fühle ich mich noch immer wie zu Hause. Das Auzelg ist für mich wie eine geschützte kleine Welt – sozusagen ein Paradies.«

Das hat nicht zuletzt mit Menschen wie Werner Schacher zu tun. Sie sorgen dafür, dass es den Kindern trotz gewissen Defiziten im eigenen Elternhaus an nichts fehlt. Der Leiter Betreuung erklärt: »Wenn die Eltern aus sprachlichen oder kulturellen Gründen ihre Verantwortung für die Kinder nicht in allen Lebensbereichen wahrnehmen können, helfen wir ihnen.« Das geht von Dolmetscherdiensten über die Kinderbetreuung bis hin zur Unterstützung im Verkehr mit Amtsstellen.

Bei der Familie Rodriguez war das nur bedingt nötig. Während Vater José noch heute nur wenig Deutsch spricht, hielt Mutter Marcela, die der Sprache mächtig war, die Zügel fest in den Händen und kümmerte sich um sämtliche Anliegen ihrer Familie. Im Auzelg-Quartier war sie lange bekannter als ihre Söhne. »Sie hatte immer etwas zu erzählen und überschüttete alle mit ihrer Herzlichkeit und Lebensfreude«, erinnert sich Werner Schacher. »Sie war eine wunderbare Frau, ein fester Bestandteil dieses Quartiers, sie kannte jeden und hatte für alle ein offenes Ohr.«