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Eduard von Keyserling

Wellen

Roman

Eduard von Keyserling

Wellen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: S. Fischer, Berlin, 1920 (253 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-34-2

null-papier.de/605

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

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Vous êtes tous les deux téné­breux et dis­crets:
Hom­me, nul n’a son­dé le fond de tes abî­mes,
O mer, nul ne con­naît tes ri­ches­ses in­ti­mes,
Tant vous êtes ja­loux de gar­der vos se­crets.

Bau­de­lai­re

Erstes Kapitel

Die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow und Fräu­lein Mal­wi­ne Bork, ihre lang­jäh­ri­ge Ge­sell­schaf­te­rin und Freun­din, ka­men in das Wohn­zim­mer. Sie woll­ten sich ein we­nig er­ho­len. Die Ge­ne­ra­lin setz­te sich auf das Sofa, das frisch mit ei­nem blan­ken, schwarz und ro­ten Kat­tun be­zo­gen war. Sie war sehr er­hitzt und lös­te die Hau­ben­bän­der un­term Kinn. Das lila Som­mer­kleid knis­ter­te leicht, die wei­ßen Haar­ku­chen an den Schlä­fen wa­ren ver­scho­ben und sie at­me­te stark. Sie schwieg eine Wei­le und schau­te mit den ein we­nig her­vor­ste­hen­den grell­blau­en Au­gen kri­tisch im Zim­mer um­her. Das Zim­mer war weiß ge­tüncht, we­nig schwe­re Mö­bel stan­den an den Wän­den um­her und über die Bret­ter des Fuß­bo­dens war Sand ge­streut, der in der Abend­son­ne glit­zer­te. Es roch hier nach Kalk und See­moos.

»Hart«, sag­te die Ge­ne­ra­lin und leg­te ihre Hand auf das Sofa.

Fräu­lein Bork neig­te den Kopf mit dem leicht er­grau­ten Haar auf die lin­ke Schul­ter, blick­te schief durch die Glä­ser ih­res Knei­fers auf die Ge­ne­ra­lin, und das bräun­li­che Ge­sicht, das aus­sah wie das Ge­sicht ei­nes klu­gen äl­te­ren Herrn, lä­chel­te ein nach­denk­li­ches, ver­zei­hen­des Lä­cheln. »Das Sofa«, sag­te sie, »na­tür­lich, aber man kann es nicht an­ders ver­lan­gen. Für die Ver­hält­nis­se ist es doch sehr gut.«

»Lie­be Mal­wi­ne«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »Sie ha­ben die An­ge­wohn­heit, al­les ge­gen mich zu ver­tei­di­gen. Ich grei­fe das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, das wird man doch noch dür­fen.«

Fräu­lein Bork er­wi­der­te dar­auf nichts, sie lä­chel­te ihr ver­zei­hen­des Lä­cheln und schau­te schief durch ih­ren Knei­fer jetzt zum Fens­ter hin­aus auf den klei­nen Gar­ten, der da­vor lag. Salat und Kohl wuch­sen dort recht küm­mer­lich, Son­nen­blu­men stan­den da mit großen schwar­zen Her­zen und über al­le­dem lag ein leich­ter blon­der Staub­schlei­er. Da­hin­ter der Strand grell oran­ge in der Abend­son­ne, end­lich das Meer un­deut­lich von all dem un­ru­hi­gen Glan­ze, der auf ihm schwamm, von den zwei re­gel­mä­ßi­gen wei­ßen Stri­chen der Bran­dungs­wel­len um­säumt. Und ein Rau­schen kam her­über ein­tö­nig, wie von ei­nem schläf­ri­gen Takt­stock ge­lei­tet.

Die Ge­ne­ra­lin hat­te den Bul­len­krug für den Som­mer ge­mie­tet, um hier an der See ihre Fa­mi­lie um sich zu ver­sam­meln. Vor drei Ta­gen war sie mit Fräu­lein Bork, Frau Klin­ke, der Mam­sell,1 und Er­nes­ti­ne, dem klei­nen Dienst­mäd­chen, hier an­ge­langt, um al­les ein­zu­rich­ten. Es er­for­der­te Ar­beit und Nach­den­ken ge­nug, für alle die­se Men­schen Platz zu schaf­fen und nicht nur Platz, »denn«, pfleg­te die Ge­ne­ra­lin zu sa­gen, »ich ken­ne mei­ne Kin­der, bei al­lem, was ich gebe, sind sie kri­tisch wie ein Thea­ter­pu­bli­kum.« Heu­te nun war die Toch­ter der Ge­ne­ra­lin, die Baro­nin von Butt­lär, mit den Kin­dern, den bei­den eben er­wach­se­nen Mäd­chen Lolo und Nini und dem fünf­zehn­jäh­ri­gen We­dig, an­ge­langt. Der Baron Butt­lär soll­te nach­kom­men, so­bald die Heu­ern­te be­en­det war, und Lo­los Bräu­ti­gam Hil­mar von dem Hamm, Leut­nant bei den Braun­schwei­ger Husa­ren, wur­de auch er­war­tet.

»Wer­den sie auch heu­te Abend alle satt wer­den?« be­gann die Ge­ne­ra­lin wie­der. »Die Rei­se macht hung­rig.« – »Ich den­ke«, er­wi­der­te Fräu­lein Bork, »da sind die Fi­sche, die Kar­tof­feln, die Erd­bee­ren, und We­dig hat sein Beefs­teak.«

»So, so«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »üb­ri­gens der Jun­ge wird es im Le­ben nicht leicht ha­ben, wenn er im­mer sein Beefs­teak ha­ben muss.«

Fräu­lein Bork zuck­te mit den Ach­seln und sag­te ent­schul­di­gend: »Er ist so zart.« Aber das är­ger­te die Ge­ne­ra­lin: »Ge­wiss, ich gön­ne ihm sein Beefs­teak, Sie brau­chen ihn nicht zu ver­tei­di­gen. Nur fin­de ich, lie­be Mal­wi­ne, dass Sie kei­nen rech­ten Sinn ha­ben für das, was man all­ge­mei­ne Be­mer­kun­gen nennt.« Dann schwie­gen die bei­den Da­men wie­der.

Drau­ßen von der Holz­ve­ran­da tön­te Lärm her­über, Teller­ge­klap­per und hohe Stim­men. Er­nes­ti­ne deck­te dort den Tisch für das Abendes­sen und stritt da­bei mit We­dig. Auch Lolo und Nini wa­ren er­schie­nen, sie lehn­ten an der Holz­brüs­tung der Ve­ran­da schmal und schlank in ih­ren blau­en Som­mer­klei­dern. Der See­wind fuhr ih­nen in das leich­te rote Haar und ließ es hübsch um die Ge­sich­ter mit den fast krank­haft fei­nen Zü­gen flat­tern. Die Mäd­chen zo­gen ein we­nig die Au­gen­brau­en zu­sam­men und schau­ten mit den blan­ken braun­ro­ten Au­gen un­ver­wandt auf das Meer und öff­ne­ten die Lip­pen, als woll­ten sie lä­cheln, aber das große be­weg­te Leuch­ten vor ih­nen mach­te sie schwin­de­lig. Auch We­dig hat­te sich nun zu ih­nen ge­sellt und schau­te auch schwei­gend hin­aus. Das kränk­li­che Kna­ben­ge­sicht ver­zog sich, als täte all die­ses Licht ihm weh.

»So«, sag­te die Ge­ne­ra­lin drin­nen zu Fräu­lein Bork, »das war ein an­ge­neh­mer stil­ler Au­gen­blick. Ich höre, mei­ne Toch­ter kommt die Trep­pe her­un­ter, nun kann es wie­der los­ge­hen.«

Frau von Butt­lär hat­te ein we­nig ge­schla­fen, trug ih­ren Mor­gen­rock und hüll­te sich frös­telnd in ein wol­le­nes Tuch. Sie moch­te frü­her das hüb­sche überz­ar­te Ge­sicht ih­rer Töch­ter ge­habt ha­ben, jetzt wa­ren die Wan­gen ein­ge­fal­len und die Haut leicht ver­gilbt. Auf­ge­braucht von Mut­ter­schaft und Haus­frau­en­tum war sie sich ih­res Rech­tes be­wusst, kränk­lich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äu­ße­res zu ge­ben.

Man setz­te sich auf der Ve­ran­da zur Abend­mahl­zeit nie­der an den Tisch, über den das rote Abend­licht hin­flu­te­te und der See­wind an dem Tisch­tuch und den Ser­vi­et­ten zerr­te. Das mach­te die Ge­sell­schaft schweig­sam, so das Meer vor sich, war es, als sei man nicht al­lein, nicht un­ter sich.

»Ich habe mir das Meer grö­ßer ge­dacht«, er­klär­te We­dig end­lich.

»Na­tür­lich, mein Sohn«, mein­te die Ge­ne­ra­lin. »Du willst wohl für dich ein Ex­tra-Meer.«

Frau von Butt­lär lä­chel­te ge­rührt und sag­te lei­se: »Er hat so viel Fan­ta­sie.« Fräu­lein Bork sah We­dig schief durch ih­ren Knei­fer an und mein­te: »An die Fan­ta­sie des Kin­des reicht selbst das Welt­meer nicht hin­an.«

Nun be­gann Frau von Butt­lär mit ih­rer Mut­ter ein Ge­spräch über Re­pe­now, ihr Gut, über Din­ge, die sie an­zu­ord­nen ver­ges­sen hat­te, von Ge­mü­sen, die ein­ge­macht wer­den soll­ten, und Dienst­bo­ten, die un­zu­ver­läs­sig wa­ren, lau­ter Sa­chen, die selt­sam fremd und un­pas­send in das Rau­schen des Mee­res hin­ein­klan­gen, dach­te Lolo. Aber un­ten am Tisch war ein Streit ent­stan­den zwi­schen We­dig und Er­nes­ti­ne. »Er­nes­ti­ne«, sag­te Fräu­lein Bork streng, »wie oft habe ich es dir nicht ge­sagt, du darfst beim Ser­vie­ren nicht spre­chen. Oh! Cet­te en­fant!«2 setz­te sie hin­zu und seufz­te. Die Ge­ne­ra­lin lach­te. »Ja, un­se­re Bork hat es mit Er­nes­ti­nes Er­zie­hung schwer, denkt euch, heu­te Mit­tag ent­schließt sich das Mäd­chen zu ba­den. Sie geht ins Meer nackt wie ein Fin­ger, am hel­len Mit­tag.« – »Aber Mama!« flüs­ter­te Frau von Butt­lär, die Mäd­chen beug­ten sich auf ihre Tel­ler nie­der, wäh­rend We­dig nach­denk­lich Er­nes­ti­ne nach­schau­te, die ki­chernd ver­schwand.

Das Abend­licht leg­te sich jetzt plötz­lich ganz grell­rot und un­wahr­schein­lich über den Tisch und Fräu­lein Bork schrie auf: »Seht doch!« Alle fuh­ren mit den Köp­fen her­um. An dem blass­blau­en Him­mel stan­den rie­si­ge kup­fer­ro­te Wol­ken und auf dem dun­kel­wer­den­den Meer schwamm es wie große Stücke rot­glän­zen­den Me­talls, wäh­rend die am Ufer zer­ge­hen­den Wel­len den Sand wie mit rosa Mus­selin­tü­chern über­deck­ten. We­dig blin­zel­te mit den ro­ten Wim­pern und ver­zog wie­der sein Ge­sicht, als schmerz­te es ihn. »Das ist al­ler­dings rot«, mein­te er. Die Ge­ne­ra­lin je­doch war un­zu­frie­den: »Sie ha­ben mich er­schreckt, Mal­wi­ne, Sie ha­ben eine Art, auf Na­tur­schön­hei­ten auf­merk­sam zu ma­chen, dass man je­des Mal zu­sam­men­fährt und glaubt, eine We­s­pe sit­ze ei­nem ir­gend­wo im Ge­sicht.«

Die Mahl­zeit war zu Ende, die Mäd­chen und We­dig stell­ten sich an die Ve­randa­brüs­tung, um auf das Meer zu star­ren. Frau von Butt­lär hüll­te sich fes­ter in ihr Tuch und sprach mit lei­ser, be­sorg­ter Stim­me von ih­ren häus­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten.

Die ge­walt­sa­men Far­ben am Him­mel er­lo­schen jäh. Die farb­lo­se Durch­sich­tig­keit der Som­mer­däm­me­rung leg­te sich über das Land und das Meer, jetzt licht­los, schi­en plötz­lich un­end­lich groß und fremd. Auch das Rau­schen war nicht mehr so ge­ord­net ein­tö­nig und takt­mä­ßig; es war, als lie­ßen sich die ein­zel­nen Wel­len­stim­men un­ter­schei­den, wie sie ein­an­der rie­fen und sich in das Wort fie­len. Klein und dun­kel hock­ten die Fi­scher­häu­ser auf den fah­len Dü­nen, hie und da er­wach­te in ih­nen ein gel­bes Licht­pünkt­chen, das kurz­sich­tig in die auf­stei­gen­de Nacht hin­ein­blin­zel­te. Auf der Ve­ran­da war es still ge­wor­den. Das selt­sa­me Ge­fühl, ganz win­zig in­mit­ten ei­ner Unend­lich­keit zu ste­hen, gab ei­nem je­den für einen Au­gen­blick einen leich­ten Schwin­del und ließ ihn stil­le­hal­ten, wie Men­schen, die zu fal­len fürch­ten.

»Wer wohnt denn dort?« be­gann Frau von Butt­lär end­lich und wies auf ei­nes der Licht­pünkt­chen am Stran­de.

»Das dort«, er­wi­der­te die Ge­ne­ra­lin, »das ist das Haus des Strand­wäch­ters. Eine ver­wach­se­ne Ex­zel­lenz hat sich bei ihm ein­ge­mie­tet. Du kennst ihn auch, den Ge­heim­rat Knos­pe­li­us, er ist bei der Reichs­bank et­was, er un­ter­schreibt, glau­be ich, das Pa­pier­geld.«

Ja, Frau von Butt­lär er­in­ner­te sich sei­ner: »So ein Klei­ner mit ei­nem Bu­ckel. Recht un­heim­lich.«

»Aber so in­ter­essant«, mein­te Fräu­lein Bork.

»Und die an­de­ren Häu­ser?« frag­te Frau von Butt­lär wei­ter.

»Das sind Fi­scher­häu­ser«, er­klär­te Fräu­lein Bork, »das größ­te dort ist das An­we­sen des Fi­schers War­dein und dort, ja, dort wohnt sie doch.«

»Sie?« frag­te Frau von Butt­lär, be­un­ru­higt da­von, dass Fräu­lein Bork ihre Stim­me so ge­heim­nis­voll dämpf­te.

»Nun ja«, flüs­ter­te Fräu­lein Bork, »sie, die Grä­fin Dora­li­ce, Dora­li­ce Köh­ne-Jas­ky, die wohnt dort mit – nun ja, sa­gen wir mit ih­rem Man­ne.« Frau von Butt­lär ver­stand noch nicht ganz.

»Dora­li­ce Köh­ne, die Frau des Ge­sand­ten, das ist doch die, die mit dem Ma­ler – die wohnt hier, das ist ja aber schreck­lich, man kennt sich doch.«

Doch die Ge­ne­ra­lin är­ger­te sich: »Was ist da­bei Schreck­li­ches, man hat sich ge­kannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit ge­nug, um an­ein­an­der vor­über­zu­ge­hen, eine frem­de Frau Grill, nichts wei­ter. Ihr Ma­ler heißt ja­wohl Hans Grill.«

»Sind sie we­nigs­tens ver­hei­ra­tet?« klag­te Frau von Butt­lär.

»Ja, sie sa­gen, ich weiß es nicht«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht un­rein ma­chen, wenn sie dar­in ba­det. Es ist kein Grund, lie­be Bel­la, ein Ge­sicht zu ma­chen, als sei­est du und dei­ne Kin­der nun ver­lo­ren.«

»Und er ist ein ganz ge­wöhn­li­cher Mensch«, jam­mer­te Frau von Butt­lär wei­ter.

»Ja«, sag­te Fräu­lein Bork, sie sprach noch im­mer lei­se, aber ihre Stim­me nahm einen zärt­li­chen, fei­er­li­chen Klang an, als re­zi­tie­re sie ein Ge­dicht: »es ist trau­rig und doch wie­der in sei­ner Art schön, wie der alte Graf das Ta­lent des ar­men Schul­meis­ter­soh­nes ent­deckt, er ihn aus­bil­den lässt, wie er ihn auf das Schloss be­ruft, da­mit er die jun­ge Grä­fin malt, ja und dort – müs­sen sie sich eben lie­ben, was kön­nen sie da­für. Aber sie wol­len nicht die Heim­lich­keit und den Be­trug. Sie tre­ten zu­sam­men vor den al­ten Gra­fen hin und sa­gen: Wir lie­ben uns, wir kön­nen nicht an­ders, gib uns frei, und er, der edle Greis …«

»Der alte Narr«, un­ter­brach sie die Ge­ne­ra­lin. »Wer sagt Ih­nen denn, dass es so ge­we­sen ist, wer ist denn da­bei ge­we­sen? Wahr­schein­lich sind nicht die bei­den zu dem Al­ten ge­kom­men, son­dern der Alte ist zu den bei­den her­ein­ge­kom­men, das sieht denn an­ders aus. Köh­ne war im­mer ein Narr. Wenn man drei­ßig Jah­re äl­ter als sei­ne Frau ist, lässt man sei­ne Frau nicht ma­len und spielt man nicht den Kunst­freund. Und die­se Dora­li­ce, ich habe ihre Mut­ter ge­kannt, eine dum­me Gans, die nichts zu tun hat­te im Le­ben, als Mi­grä­ne zu ha­ben und zu sa­gen: ›Mei­ne Dora­li­ce ist so ei­gen­tüm­lich!‹ Ja, ei­gen­tüm­lich ist sie ge­wor­den, gleich­viel, da ist nichts, um die Au­gen gen Him­mel zu schla­gen und zu sa­gen: Wie schön! Las­sen Sie die Grill Grill sein, lie­be Mal­wi­ne, wenn Sie sie mit Ihren Fan­tasi­en zur Hel­din des Stran­des ma­chen, ver­dre­hen Sie den Kin­dern den Kopf. Er­nes­ti­ne läuft oh­ne­hin alle Au­gen­bli­cke zum Stran­de hin­un­ter, um die fort­ge­lau­fe­ne Grä­fin zu se­hen, das ver­bit­te ich mir. Sei­en Sie so gut und hal­ten Sie mit Ih­rer Poe­sie an sich.«

»Schreck­lich, schreck­lich«, seufz­te Frau von Butt­lär. Fräu­lein Bork aber schi­en das Schel­ten der Ge­ne­ra­lin nicht zu hö­ren, ver­träumt schau­te sie in die Däm­me­rung hin­ein, sah, wie die Däm­me­rung sich sach­te auf­hell­te, der Mond war auf­ge­gan­gen, Sil­ber misch­te sich in das Dun­kel der Wel­len und der Strand lag hell be­leuch­tet da.

»Da sind sie!« schrie Fräu­lein Bork auf.

Er­schro­cken fuh­ren alle her­um. Am Ran­de der Düne zeich­ne­ten sich ge­gen den hel­len Him­mel deut­lich die Fi­gu­ren ei­nes großen Man­nes und ei­ner Frau ganz nahe bei­ein­an­der ab. »Dort ste­hen sie je­den Abend«, flüs­ter­te Fräu­lein Bork ge­heim­nis­voll.

Frau von Butt­lär starr­te angst­voll zu dem Paa­re auf der Düne hin­über, dann rief sie er­regt: »Kin­der, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schla­fen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht«, und be­ru­hig­te sich erst, als die Kin­der fort wa­ren. Da sah sie sich noch ein­mal das Paar an da drü­ben, das jetzt eng an­ein­an­der ge­schmiegt den Strand ent­lang ging, seufz­te tief und sag­te kum­mer­voll:

»Das ist al­ler­dings un­er­war­tet, un­er­war­tet fa­tal. Wenn ich mich auf et­was freue, kommt im­mer so et­was da­zwi­schen. Schon der Kin­der we­gen ist es mir un­an­ge­nehm.«

»Ich weiß, ich weiß«, mein­te die Ge­ne­ra­lin. »Du musst im­mer et­was ha­ben, das dich quält, sonst ist dir nicht wohl. Schon als klei­nes Mäd­chen, wenn al­les sich auf einen Spa­zier­gang freu­te, sag­test du: was hilft es, es wer­den doch Stein­chen in die Schu­he kom­men. Un­se­re Mäd­chen! Die ha­ben ge­nug Dis­zi­plin im Lei­be. Sag’ ih­nen, da ist eine Frau Grill, die nicht ge­kannt wird, und ich sehe es, wie Lolo und Nini die Lip­pen zu­sam­men­knei­fen und ge­ra­de vor sich hin­se­hen, wenn sie an Ma­da­me Grill vor­über­ge­hen.«

»Ja und dann«, be­gann Frau von Butt­lär wie­der lei­se, »of­fen ge­stan­den, es ist auch we­gen Rolf. Die Per­son ist sehr hübsch, sol­che Per­so­nen sind im­mer hübsch und Rolf, du weißt …«

Die Ge­ne­ra­lin schlug mit der fla­chen Hand auf den Tisch: »Na­tür­lich, das muss­te kom­men, du bist jetzt schon auf Ma­da­me Grill ei­fer­süch­tig. Aber lie­be Bel­la, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, im­mer die eine alte Ge­schich­te mit der Gou­ver­nan­te, die könn­test du auch ver­ges­sen. Ab und zu mal im Früh­jahr regt sich in ihm noch der Küras­sier­of­fi­zier, das ist eine Art Heuschnup­fen. Aber ihr Frau­en bringt durch eure Ei­fer­sucht die Män­ner erst auf un­nüt­ze Ge­dan­ken. Nein, lie­be Bel­la, wozu ist man, was man ist, wozu hat man sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung und sei­nen al­ten Na­men, wenn man sich vor je­der fort­ge­lau­fe­nen klei­nen Frau fürch­ten soll­te. Du bist die Freifrau von Butt­lär, nicht wahr, und ich bin die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow, nun also, das heißt, wir bei­de sind zwei Fes­tun­gen, zu de­nen Leu­te, die nicht zu uns ge­hö­ren, kei­nen Zu­tritt ha­ben; so, nun wol­len wir ru­hig schla­fen ge­hen, als gäbe es kei­ne Ma­da­me Grill. Wir de­kre­tie­ren ein­fach, es gibt kei­ne Ma­da­me Grill.«

Alle er­ho­ben sich, um in das Haus zu ge­hen. Fräu­lein Bork warf noch einen Blick zum Meer hin­ab und sag­te in ih­rem mit­lei­dig sin­gen­den Ton: »Die Grä­fin Dora­li­ce war einst auch ein­mal solch eine arme klei­ne Fes­tung.«

Die Ge­ne­ra­lin wand­te sich in der Tür um: »Bit­te, Mal­wi­ne, mei­ne Ver­glei­che nicht mit Ih­rer Poe­sie zu um­spin­nen, dazu ma­che ich sie nicht. Und dann noch ei­nes, ich bit­te, fer­ner Ma­da­me Grill nicht zum Ge­gen­stand Ihres Ver­tei­di­gungs­ta­len­tes zu ma­chen, Ma­da­me Grill wird nicht ver­tei­digt.«

Oben in der Gie­bel­stu­be, Lo­los und Ni­nis Schlaf­zim­mer, stan­den die bei­den Mäd­chen noch am Fens­ter und schau­ten hin­aus. Das mond­be­glänz­te Meer, das Rau­schen und We­hen da drau­ßen ließ ih­nen kei­ne Ruhe, es er­reg­te sie fast schmerz­haft, und das Paar, das dort un­ten an den blan­ken Säu­len der bre­chen­den Wel­len hin­schritt, ge­hör­te mit zu dem Er­re­gen­den und Ge­heim­nis­vol­len da drau­ßen, das den bei­den Mäd­chen ein selt­sa­mes Fie­ber in das Blut leg­te.

Un­ten auf der Bank vor der Kü­che saß Frau Klin­ke und kühl­te im See­win­de ihre hei­ßen Kö­chin­nen­hän­de. Vor ihr stand Er­nes­ti­ne, wies zum Stran­de hin­un­ter und sag­te: »Nee, Frau Klin­ke, dass die bei­den ver­hei­ra­tet sind, das glau­be ich nicht.«

*

Hans Grill und Dora­li­ce gin­gen am Mee­res­ufer ent­lang. Es ging sich gut auf dem feuch­ten, von den Wel­len glatt­ge­stri­che­nen San­de. Zu­wei­len blie­ben sie ste­hen und schau­ten auf den brei­ten, sich sacht wie­gen­den Licht­weg hin­ab, den der Mond auf das Was­ser warf.

»Nichts, heu­te nichts«, sag­te Hans und mach­te eine Hand­be­we­gung, als woll­te er das Meer bei­sei­te schie­ben. »Es ziert sich heu­te, es macht sich klein und süß, um zu ge­fal­len.«

»So lass es doch«, bat Dora­li­ce.

»Ja, ja, ich las­se es ja«, er­wi­der­te Hans un­ge­dul­dig.

Als sie wei­ter schrit­ten, hing Dora­li­ce sich ganz fest in Han­sens Arm. Sie konn­te sich ja ge­hen las­sen, die­ser Arm war stark und sie dach­te flüch­tig an einen an­de­ren zer­brech­li­chen und ze­re­mo­ni­ösen Arm, der ihr fei­er­lich ge­reicht wor­den war und auf den sich zu stüt­zen sie nie ge­wagt hat­te.

»Du bist müde?« frag­te Hans.

»Ja«, er­wi­der­te sie nach­denk­lich, »die­se lan­gen hel­len Tage, glau­be ich, ma­chen müde.«

»Viel ha­ben wir an die­sen lan­gen hel­len Ta­gen nicht ge­tan«, be­merk­te Hans.

»Ge­tan«, fuhr Dora­li­ce fort, »nichts. Im San­de ge­le­gen und auf das Meer ge­se­hen. Aber gleich­viel, ich konn­te doch al­les Mög­li­che tun, Din­ge, die ich sonst nie ge­tan, un­er­hör­te Din­ge, nichts hin­dert mich. Auf der Rei­se war das an­ders, da tut man die Din­ge, die im Rei­se­buch vor­ge­schrie­ben sind, aber hier muss das Neue kom­men und das macht viel­leicht müde.«

»Ge­wiss, ge­wiss«, be­gann Hans in sei­ner eif­ri­gen Art, »Mög­lich­kei­ten, na­tür­lich Mög­lich­kei­ten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er et­was tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bin­det ihn, was er tut und nicht tut, tut er auf ei­ge­ne Verant­wor­tung, und das kann müde ma­chen, o ja, das kann müde ma­chen«, und Hans lach­te ein lau­tes Ha! Ha! auf das Meer hin­aus, »freie Men­schen, freie Lie­be, denn das ist ja gleich, ob ein al­ter Eng­län­der aus Lon­don uns durch die Nase et­was ge­sagt hat, was wir nicht ver­stan­den ha­ben, das bin­det nicht. Also freie Men­schen, freie Lie­be, freie …« Er hielt plötz­lich inne und frag­te: »Wa­rum lachst du?«

Dora­li­ce hat­te ih­ren Kopf zu­rück­ge­bo­gen, um zu Hans hin­auf­zu­se­hen, und sie lach­te. Die schma­len, sehr ro­ten Li­ni­en der Lip­pen öff­ne­ten sich ein we­nig, lie­ßen im Mond­schein für einen Au­gen­blick das Weiß der klei­nen Zäh­ne durch­schim­mern. So hell be­schie­nen war das Ge­sicht sehr hübsch mit sei­nem kind­li­chen Oval, den graublau­en Au­gen, in die das Mond­licht ein selt­sam far­bi­ges Schil­lern leg­te, und dem hell­blon­den Haar, an dem der Wind zaus­te. Ja, Dora­li­ce muss­te im­mer la­chen, wenn Hans sei­ne großen Wor­te her­sag­te, jene Wor­te, die klan­gen, als hät­ten sie in Zei­tun­gen oder lang­wei­li­gen Bü­chern ge­stan­den, aber wenn Hans sie aus­sprach, be­ka­men sie et­was Jun­ges, et­was Le­ben­di­ges, sie klan­gen, als schmeck­ten sie ihm gut, wenn er sie so zwi­schen sei­nen ge­sun­den wei­ßen Zäh­nen her­vor­zisch­te.

»O nichts«, sag­te Dora­li­ce, »sprich nur wei­ter von dei­nen frei­en Men­schen.« Al­lein Hans war emp­find­lich ge­wor­den: »Mei­ne frei­en Men­schen, da ist doch nichts zu la­chen«, dann schwieg er.

»Du hast ja ganz recht«, mein­te Dora­li­ce, um ihn zu ver­söh­nen, »viel­leicht macht das müde, wenn nichts einen bin­det. Bei uns auf dem Lan­de dort bei der Rog­ge­nern­te ge­hen hin­ter den Mä­hern Mäd­chen her, wel­che die Ähren zu Gar­ben bin­den. Das ist sehr an­stren­gend. Um we­ni­ger zu er­mü­den, bin­den sie sich Tü­cher ganz fest um die Tail­le. So war es viel­leicht dort, und jetzt, wo mich nichts fest­bin­det …«

»Un­sinn«, un­ter­brach sie Hans, »ich sehe nicht ein, warum du dei­ne Ver­glei­che von dort her­nimmst, von dort spre­chen wir doch nicht.«

»Nein, von dort spre­chen wir nicht«, wie­der­hol­te Dora­li­ce.

Sie ka­men am Strand­wächt­er­häus­chen vor­über. Durch das ge­öff­ne­te Fens­ter scholl eine lau­te Män­ner­stim­me, und ihr ant­wor­te­te eine Frau­en­stim­me lei­den­schaft­lich und schel­tend. Un­ten am Stran­de stand der Ge­heim­rat Knos­pe­li­us, eine klei­ne, wun­der­lich ver­bo­ge­ne Ge­stalt, er stand so nah am Was­ser, dass sein un­förm­li­cher Schat­ten sich in den Wel­len ba­de­te. Als Hans und Dora­li­ce sich nä­her­ten, grüß­te er, zog sei­nen Pa­na­ma sehr tief ab, das graue Haar flat­ter­te im Win­de, er lä­chel­te und das re­gel­mä­ßi­ge, bart­lo­se Ge­sicht sah aus wie ein großes, blei­ches Kna­ben­ge­sicht. »Gu­ten Abend«, sag­te Hans. Der Ge­heim­rat lach­te laut­los in sich hin­ein und zeig­te mit ei­nem merk­wür­dig lan­gen, dün­nen Fin­ger zum Hau­se des Strand­wäch­ters hin­auf. »Die strei­ten wie­der«, be­merk­te Hans.

»Dort ist im­mer re­ger Be­trieb«, er­wi­der­te der Ge­heim­rat ge­heim­nis­voll, »die ar­bei­ten am Le­ben, bis ih­nen die Au­gen zu­fal­len. So was höre ich gern.«

»Ja, hm!« sag­te Hans, »gu­ten Abend«, und sie gin­gen wei­ter.

»Was sag­te er?« frag­te Dora­li­ce ängst­lich. Hans zuck­te die Ach­seln. »Ver­rückt wahr­schein­lich. Sol­che klei­nen Un­ge­tü­me sind ge­wöhn­lich ein we­nig ver­rückt. Kennst du ihn denn?«

Dora­li­ce dach­te nach. »Ge­wiss, ich ken­ne ihn. Ich er­in­ne­re mich, auf ei­ner großen Ge­sell­schaft war es, es war spät, alle wa­ren müde und war­te­ten auf die Wa­gen. Da saß plötz­lich die­ser klei­ne Mann ne­ben mir. Sei­ne Füße reich­ten nicht an den Fuß­bo­den, son­dern hin­gen wie bei Kin­dern frei vom Stuh­le her­un­ter. Er sah mir ganz frech in die Au­gen, wie man das sonst nicht tut, und sag­te: ›Es fällt mir auf, Frau Grä­fin, dass jetzt, wo alle schon schläf­rig sind, Ihre Au­gen noch so wach sind; die war­ten noch.‹ Ich mach­te wohl ein sehr dum­mes Ge­sicht und frag­te: ›Worauf?‹ Da lach­te er ganz so, wie er jetzt eben lach­te, und sag­te: ›Nun dar­auf, dass was ge­schieht, dass was kommt. O, die ge­ben nicht nach, die ste­hen auf ih­rem Pos­ten.‹ – Mir war das un­heim­lich, ich war froh, als in dem Au­gen­blick der Wa­gen ge­mel­det wur­de.«

»Ich weiß nicht, was du noch im­mer an al­len die­sen Erin­ne­run­gen hast, er­quick­lich sind sie nicht«, ver­setz­te Hans ver­stimmt.

»Was kann ich da­für«, ver­tei­dig­te sich Dora­li­ce, »ich habe doch noch kei­ne an­de­ren Erin­ne­run­gen, und dann, sie krie­chen ei­nem doch über­all nach. Da steht der Ge­heim­rat Knos­pe­li­us plötz­lich am Stran­de, drü­ben im Bul­len­krug zieht die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow und die Baro­nin Butt­lär ein, auf Schritt und Tritt das alte Le­ben. Weißt du, was ich möch­te? Dort drü­ben über dem Meer müss­te man eine Hän­ge­mat­te auf­hän­gen kön­nen, ge­ra­de so hoch, dass die Wel­len sie nicht er­rei­chen, aber doch so, dass, wenn ich die Hand her­ab­hän­gen las­se, ich den Wel­len in die wei­ßen Bär­te fas­sen kann, und so, siehst du, könn­ten, glau­be ich, kei­ne Erin­ne­run­gen kom­men und kei­ne Knos­pe­li­us und Pa­li­kows könn­ten ei­nem be­geg­nen.«

Hans blieb nach­denk­lich ste­hen: »Du«, sag­te er, »das wol­len wir ma­chen.« Er er­griff Dora­li­ce, leg­te sie auf sei­ne Arme: »Lieg«, rief er, »wie ein Kind auf den Ar­men des Pa­ten wäh­rend der Tau­fe«, und nun be­gann er lang­sam in das Meer hin­ein­zu­ge­hen. Re­gungs­los lag Dora­li­ce da und schau­te hin­auf in den Him­mel, der bleich von Mon­den­schein war. Das We­hen, das vom Mee­re kam, das Rau­schen un­ter ihr, das gol­de­ne Flie­ßen und Flim­mern rings­um­her, all das schi­en sie zu wie­gen und zu schau­keln, und dann war es ihr, als fie­le sie, fie­le sie in einen Ab­grund von Licht, das sie den­noch trug und hielt.

»So, so, wei­ter, wei­ter, jetzt sind wir ganz bei ih­nen, mit­ten un­ter ih­nen, das dum­me Land ist fort.« Dora­li­ce sprach mit ei­ner Stim­me, wie Schla­fen­de es tun, lach­te ein lei­ses, ganz hel­les La­chen wie Kin­der, die auf ei­ner Schau­kel sit­zen. Sie ließ ihre Hand her­ab­hän­gen, griff in den Schaum der Wel­len, schnalz­te mit den Fin­gern, als woll­te sie klei­ne Hun­de sprin­gen las­sen. »Wie sie zu mir her­auf­wol­len«, rief sie, »kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.« Hans stand bis über die Knie im Was­ser und lä­chel­te, das Ge­sicht rot vor An­stren­gung. Aber all­mäh­lich wur­de er müde, es war nicht leicht, si­cher im Was­ser zu ste­hen, und lang­sam zog er sich an das Ufer zu­rück. Mit ei­nem be­frie­dig­ten: »So, das war eine Leis­tung«, setz­te er Dora­li­ce auf den Sand zu­rück. Sie schwank­te ein we­nig auf ih­ren Fü­ßen wie be­rauscht, sie leg­te die Hand auf die Au­gen, al­les um sie her schi­en noch sacht zu schwan­ken. Sie muss­te sich an Hans an­leh­nen. »Du siehst«, sag­te sie, »ich ver­tra­ge dies dum­me Land nicht mehr.«

»Das kommt noch«, mein­te er, »das Land wird uns jetzt sehr gut schme­cken. Eine war­me Stu­be und Rot­wein, ich bin nass und mich friert.« – »Ja, ge­hen wir«, sag­te Dora­li­ce klein­laut, »wir ge­hö­ren ja doch nicht zu de­nen dort. Aber wie stark du bist, dass du mich so hal­ten konn­test.«

»Nicht wahr«, er­wi­der­te Hans stolz, »und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich den­ke, das war ei­gent­lich sym­bo­lisch, mit­ten in den Wel­len, und ich hal­te dich.«

Aber Dora­li­ce sag­te müde: »Ach nein, lass es lie­ber nicht sym­bo­lisch sein.«

Hans schau­te sie ver­wun­dert an und mur­mel­te dann ein we­nig emp­find­lich: »Nun dann auch nicht.«

Um den Hof des War­de­in­schen An­we­sens stan­den die nied­ri­gen stroh­ge­deck­ten Häu­ser, der Schup­pen, der Stall, der Spei­cher, in dem jetzt die Fa­mi­lie des Fi­schers wohn­te, und das Wohn­haus, das Hans Grill ge­mie­tet hat­te. Hier schi­en die Hit­ze des Ta­ges noch ein­ge­schlos­sen zu sein, die Luft war schwer von den Gerü­chen des Strohs, der an Schnü­ren trock­nen­den Fi­sche und feuch­ter Net­ze. Man hör­te durch die klei­nen ge­öff­ne­ten Fens­ter den Atem schla­fen­der Men­schen, ir­gend­wo schlug ein Hahn auf sei­ner Stan­ge mit den Flü­geln und im Schup­pen grunz­te ein Schwein im Traum. Und hier fiel von Dora­li­ce der Rausch der Wei­te und des Lich­tes ab, ganz jäh, es schmerz­te fast kör­per­lich, und als sie durch die Tür tra­ten, die so nied­rig war, dass Hans sich tief bücken muss­te, sag­te Dora­li­ce kla­gend: »So schlüp­fen wir denn auch in un­ser Loch.« – »Ja, ja«, mein­te Hans eif­rig, »das wird gut tun.« In dem klei­nen Wohn­zim­mer brann­te eine Pe­tro­le­um­lam­pe auf dem Tisch, und es fiel Dora­li­ce auf, wie häss­lich un­rein die­ses Licht war, mit welch schläf­ri­ger All­täg­lich­keit es den weiß­ge­tünch­ten Raum füll­te. Hans war ganz ge­schäf­tig. »Köst­lich, köst­lich«, sag­te er, »setz’ du dich dort in den Korb­stuhl, ich bin gleich wie­der da.« Er ver­schwand, kam dann in wei­chen Filz­schu­hen zu­rück, ging ab und zu, hol­te Glä­ser, den Rot­wein, schenk­te die Glä­ser voll, setz­te sich end­lich Dora­li­ce ge­gen­über an den Tisch, rieb sich die Hän­de und lach­te über das gan­ze Ge­sicht. Er sah sehr jung aus, das Ge­sicht von der Luft ge­rötet und der Bart und das kurz­ge­lock­te Haar ho­nig­gelb, die brau­nen Au­gen blin­zel­ten blank vor Freund­lich­keit. »Köst­lich«, wie­der­hol­te er, »das nen­ne ich eine Le­bens­la­ge, man sitzt so bei­ein­an­der und die Lam­pe brennt, man hat sei­nen Rot­wein und dazu sein wun­der­schö­nes Weib.«

Dora­li­ce lehn­te sich in ih­ren Korb­stuhl zu­rück und schloss die Au­gen. »Ach«, sag­te sie müde, »nen­ne mich, bit­te, nicht Weib, das klingt so, ich weiß nicht, nach lo­sen blau­en Ja­cken mit wei­ßen Punk­ten und Kar­tof­fel­sup­pe.«

Hans er­rö­te­te: »Nein, nein«, sag­te er, »also nicht Weib. Weib ist ein schö­nes deut­sches Wort, aber wie du willst, bit­te.«

Sie schwie­gen bei­de eine Wei­le. Aus dem Ne­ben­zim­mer hör­te man deut­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­