ISBN: 9783961187683

 

Hans Fallada

 

 

Im Blinzeln der großen Katze

 

Impressum

Covergestaltung: Olga Repp / Gunter Pirntke

Digitalisierung und Druckvorbereitung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke

Mail: brokatbook@aol.com

Gunter Pirntke, Altenberger Str. 47

01277 Dresden, Ruf: +49 (0)15901959485

2018

 


Inhalt

Impressum

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1

An die Schmalseite des Hauses stößt der Garten. Zwischen zwei Weidenbäumen ist die Lattentür; durch sie trete ich, und nun bin ich im Garten, einem bäuerlichen Garten, in dessen buchsgesäumten Beeten allerlei Gemüse wächst: Spinat, Kohlrabi, Erbsen, Bohnen, und da und dort ist der Salat schon geschossen. Haselsträucher, das Summen eines Bienenstandes.

Der Weg wird enger zwischen Flieder, Jasmin, Jelängerjelieber; hier sind Blumenbeete gewesen, aber die Rosen sind erfroren, und Tulpen wie Vergissmeinnicht sind von Majoran und Dill verdrängt. Kein aufregender Garten, nichts Liebliches, nein, ein Nutzgarten, in dem der Bauer abends noch eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen sitzt.

Ich sitze dort nicht: es ist nur ein Schritt, ein Schritt vom Wege durch die Büsche hindurch.

Und ich bin auf einer Parkwiese, auf der verwunschenen Wiese eines verzauberten Parks. Der unbeschnittene Weißdorn wuchert wild in den Himmel hinein, die Bäume sind mit dem Gebüsch ein wenig zurückgetreten, um dem Gras Platz zu machen, in dem Tausendschönchen und Tulpen und Rittersporn und die blaue Iris wurzeln. Hier – ruhest du – singt die Sonne, die Bienen summen viel lauter, und die durchs Geäst schlüpfenden Vögel sehen dich mit ihren Augen blank an und frei.

Dies ist der andere Garten, der Blühegarten, der Duftgarten mit Zauberei, einen Schritt vom Wege ab. In dem Bauerngarten habe ich lange gelebt, ewige Jahre, im Garten des Rauschs einen Tag.

Gut, dort habe ich geschlafen und geträumt, einen Tag. Bereuen? Und wenn ich es mit dem Tode bezahlen muss, wie sie sagen, bereuen?

Kerlchen, ich sage dir: ein lebenslänglich Verurteilter lag in dunkler Zelle, viele Jahre lang. Das Wasser tropfte auf seine Hand, die er nicht sah, das war die Interpunktion seiner Zeit; die Schlüssel des Wärters klirrten einmal und dann in endloser Schwärze lange nicht, das war der Sabbat seines Ohrs.

Dieser Gefangene erhob sich eines Tages und erschlug den Wärter. Er ging durch seine Tür und einen Gang, und er tat eine andere Tür auf, und der blühende Sommer sprang ihm ins Gesicht und auf seine Brust.

Der Gefangene fiel auf seine Knie, und er segnete die Sonne und das Himmelsblau, die flatternden Flügel der kleinen Vögel segnete er und die nickenden Blütenkelche.

Dort ergriffen sie ihn, den auf den Knien Segnenden, sie taten ihn wieder in seine Zelle und setzten ein Gericht über ihn, das ihn vom Leben sprach. Er saß im Dunkeln, das Tropfen des Wassers hörte er nicht, nun kühlte der goldschimmernde Fittich des großen Sommervogels im Streifen seine Stirn; das Klirren des Schlüssels fiel nicht in sein Ohr, in ihm wohnte der leise Laut, mit dem sich eine Knospe erschließt.

Als sie ihn zum Richtblock bereiteten, wusste er, er würde wiedersehen, nun. Er sollte sich nach seiner Zelle sehnen?

Er sollte bereuen?

Er segnete, Kerlchen, noch das Sandkorn segnete er, das sein Fuß trat, und den erschlagenen Wärter segnete er, dessen Tod ihn reich gemacht hatte, über jedes Hoffen.

Einen Tag, vierundzwanzig Stunden, bin ich in dem andern Garten gewesen … und von Reue reden nur die, die ihn nie betraten.

 

2

Die Fülle des Lebens ist verrauscht, aus der Ferne höre ich sie noch wie sickern, doch verrauscht ist sie. Eingetan bin ich nun zwischen den weißgekalkten Wänden einer Zelle, die braunrot gesprenkelt sind von Blutsaft zerdrückter Wanzen, eingetan, sieben Schritt auf, sieben Schritt ab, und wenn ich hervorgehen werde, wird es nur sein einmal, um den Spruch über mich zu hören, das andere Mal, ihn zu vollenden. Das Leben ist vorbei. Da ziemt es sich, zu bedenken, wie alles kam, noch einmal das Lockende sich zu zeigen und den Rausch, die einsame Stunde, da das Purpurzelt des Blutes über mir aufgeschlagen war mit seiner zähe tropfenden Stille, noch einmal sich alles aufzuweisen – und dann das rasche Dahin, das nicht schmerzhafter sein kann als die Lösung, die der Frost dem Baumblatt zufügt vom Ast.

Als ich hier eintrat, war das Leben aus. Ist dies noch Leben? Ich esse und gehe, ich bette auf und bette ab, ich wische den Boden, wenn die Wanzen mich beißen, töte ich sie, nun flüstert mein Nachbar endlos durch die Tür: »Du, zweiunddreißig!«

Und wieder: »Du, zweiunddreißig.«

Und noch einmal: »Du, zweiunddreißig.«

Endlos.

Ich entschließe mich. Ich gehe an die Ritze und flüstere: »Ja?«

»Schläfst du schon?«

»Nein.«

Das ist alles. Nun ist es still. Es wird Abend. Man hat mir Feder und Papier gegeben, man ist nicht schlecht zu mir, ich darf schreiben. Freilich weiß ich nicht, ob der Untersuchungsrichter mein Geschreibsel revidiert oder nicht; ich werde jedenfalls vorsichtig sein. Nein, ich werde nicht vorsichtig sein.

Nun schreibe ich dir, mein Bruder Etz, dem ich so Übles tat, die Beichte meines Herzens. Du hast alles durch mich verloren: Stellung und Geliebte, Freiheit und den Bruder, Leid tragen musst du für mich; soll ich dir nicht sagen dürfen, wie alles geschah?

Vielleicht kann ich dir den einen Trost doch geben, dass du nicht wirst hassen müssen oder gar verachten, du Opfer wie ich, ich nicht Treiber, nein, getrieben Wild wie du.

Höre mich, Bruder Etz.

 

3

Ich bin ein ängstlicher Mensch. Als ich am Fahrkartenschalter Bahnhof Zoo anstand und mein schweifendes Auge auf das rotgeränderte Plakat fiel mit seinem verwischten Foto, als ich noch nichts wusste, da ahnte mein Herz schon, und es zitterte.

Nicht den Mörder, sie hatten die Ermordete fotografiert. Ich fühlte schmerzhaft, wie sich dieses banale, verpuderte Kokottengesicht aus meinem Erinnern löste, ich sehe den trüben, haftenden Blick, den sie mir beim Fortgehen gesandt –: dieses Bild schwellte eine als belanglos fast schon Vergessene in mir an; sie hatte erlebt, ihr war Ungewöhnliches geschehen, das schien ihr recht zu geben auf ungewöhnliche Stelle in meinem Erinnern. Der verwischt schwarze Fleck auf der Kimmung der Oberlippe, dieser Kuchen geronnenes Blut: von meinem Kuss konnte er sein wie von der Hand des Mörders.

Aber – und nun wandte ich mich rasch fort, drängte unter die Menge, wogte mit ihr aus dem Tor auf die Straße –, aber jenes halbkreisförmig Verfärbte unter dem linken Auge: das hatte ich nicht gesehen, das hatte ich nicht getan. War es seine Faust, war es der Absatz seines Schuhs? Ah, hatte er sie erst bei kleinem gemartert, ehe er das Große tat und sie ganz leer machte von Leben? Welche Lust …

Ich möchte das Zimmer sehen. Und das Bett. Es muss endlos süß sein, die ersten Minuten danach dort zu sitzen, die Vorhänge, die Sessel, das zerwühlte Bett, sie alle wissen von der Tat, sie beschützen sie durch ihr Schweigen, durch ihr abschließendes Hängen, sie machen kein Aufhebens. Sie sind weiter da, und auch du bist weiter da, du merkst es schon an dem sachten Gang deines Herzens, der köstlich gelösten Ruhe der Glieder. Du bist weiter da, doch nun bist du Gott, denn du schufest, als du zerstörtest.

Habe ich etwa zu lange vor dem Plakat gestanden?

Man liest solche Plakate nicht in der Großstadt, man überfliegt sie. Man zuckt die Achsel: so ist das Leben. Man geht weiter. Nein, ich habe. an den Text so gut wie gar keine Erinnerung. Gewiss: »Die, welche in der Nacht vom 10. zum 11. … zweckdienliche Angaben … hohe Belohnung …« Nein, der Text haftete nicht, aber dieses Gesicht …

Ah, ich erinnere, ich erinnere! Als ich, schon die Klapptür des Wartesaals in der Hand, morgens um drei Uhr noch einmal auf sie zurücksah, die dort hinter geleerten Gläsern, beschmutzten Tassen saß, traf mich jener gleichgültige, so wesenloser Verachtung volle Blick, der mich erschauern ließ.

Leugnete sie bereits alles gemeinsam Erlebte, die schwatzvertrauten, schnellen Gespräche, den Kopf an der Schulter, die geschwellte Kuhle, den Griff ins Haar?

Sie ließ ihn auf mir ruhen, lange, sie nahm ihn mir nicht ab und machte ihn in nichts leichter, aber so, wie sie es, gleichgültig genug, ganz bei mir stehen ließ, ob ich ihn durchfühlen wollte oder nicht, so hatte sie auch jene Nachtstunde mit mir verbracht, erfüllt von einem anonymen Gefühl, das nicht mir galt und keinem.

Und nun ging der Blick über mich hin, als sei ich nie gewesen. Nun fing er sich den trinkerischen Kellner mit dem weißen vollen Gesicht hinter dem Buffet, fing ihn sich, bettelnd, schien’s, zum Zechenerlass zweifelsohne. Der Dicke blickte zu mir, lächelte böse – und die Tür fiel zu, und sie war fort aus meinem Leben.

Nun ist sie zurückgekehrt, mit dem unerhörten Schaugepränge einer Ermordeten hat sie sich Einlass in mein Sein verschafft, sie füllt mich ganz und alles Geschehene und alles, was kommt, es war um ihretwillen, wird um jener willen sein, die dort irgendwo liegt, in einem beschmutzten Zimmer.

Das Zimmer – oh! Das Zimmer! Was gäbe ich darum, wenn ich dort hätte sitzen können, danach, in der plötzlich eingefallenen Stille, die sich noch vertieft in dem langsamen Tropfen des Blutes, das seine prachtvollen scharlachenen Muster immer weiter ausbreitet. Ich hätte mich neben sie gekniet, ich hätte jeden Nerv nachgezeichnet mit der lustzitternden Spitze des Fingers, angestarrt hätte ich das Gesicht und angestarrt, bis ich es gewusst hätte, immer in der tiefsten Tiefe meiner Seele: du bist allein, und ich bin allein.

Oder …

Es ist vorbei. Sie sind alle dort gewesen, die Nachbarn, die Polizei, die Gleichgültigen sämtlich, die nie etwas zu lernen haben gegen die Trägheit ihres Herzens. So ist das Leben? Gar nicht! Immer anders ist es.

Sie haben das Wissen ausgelöscht, es ist fortgetragen, es ist nicht mehr zu erreichen. Und wer denn hätte den Mut, dies auf eigene Rechnung zu versuchen, da er solchen Fingerzeig empfing?

Ich nicht … ein ängstlicher Mensch.

 

4

Hier ist eine Bank. Ich will mich still hinsetzen auf sie und überlegen, was zu tun. Plötzlich bin ich geheimnisvoll verstrickt, und es ist mir, als läsen die Vorübergehenden auf meinem Gesicht; ihre betroffenen Blicke oder ihre wissenden Lächeln scheinen mich immer tiefer hinein zu treiben in einen irren Zaubergarten, in dem alles unwahr ist, doch mit Blüte und Frucht sich greifbar vor mich stellt.

Aber das wirkliche Wasser treibt so einlullend vorüber, die tief hängenden Zweige fächeln leise mit ihren Blättern, kaum, dass einmal, dort hinten, auf dem Hauptwege, der Kies unter dem Schuh eines Passanten knirscht.

Es ist keine Viertelstunde, dass ich jenes Plakat las, noch ist es nicht zu spät, meine Schritte seitdem und vorher nachzuprüfen, ob ich einen Fehler beging. Jetzt wäre er noch zu korrigieren. Dies ist das erste Stadium, nichts Unwiderrufliches geschah. Ein kleiner Fehler etwa – nun, er wird sich gutmachen lassen, jetzt noch.

Mit dem Plakat begann es. Habe ich einen Ausruf getan, eine rasche Geste gemacht, als ich es sah? Mag sein, ich bin ein wenig hastig aus der Schlange vor dem Schalter getreten, ich vergaß dann auch, meinen Platz wieder einzunehmen, die Karte zu lösen – doch wer hatte Zeit, darauf zu achten? Sie wollten ihre Züge erreichen, sie hasteten, es war ihnen einen Augenblick angenehm, dass ich meinen Platz ziemlich vorn opferte, dann war ich vergessen.

Von dieser Seite ist nichts zu befürchten, hier werfe ich mir keinen Fehler vor.

Doch! Doch!!

Ich vergaß ja dann, die Karte zu lösen, ließ den Zug fahren, lief sinnlos fort. Was wird es im Geschäft heißen, wo man mich schon auf dem Wege nach Amsterdam glaubt? Es braucht mich nur einer hier zu sehen, es gäbe Worte, Fragen; ich müsste erklären und könnte doch nicht … Denn wie begreiflich machen, dass ich geflohen bin vor einem Plakat, dass ich heute Nacht mit einer Frau zusammen war, die ermordet wurde heute Nacht … ich nicht der Mörder und doch in Flucht … unschuldig in irrer Angst, über jeden Einwand hinaus beschuldigt zu werden?

Nun geschah, wovor ich mich oft gefürchtet. Eng zog ich meines Lebens Kreis, bedachte lange etwaigen Ausgang eines jeden meiner Vorhaben … Wie ist es denn? Jeder kann mich beschuldigen, jede Minute! Wie Einwendungen machen? Wie sich verteidigen? Wie beweisen, dass man es nicht war?

Und ich will sprechen: die Zunge versagt mir; ich will ihn beschwören, doch der heisere Laut aus meinem Munde ist eher das Geständnis eines Ertappten als der Aufschrei der Unschuld. Ich werde fortgeführt. Verkettet.

Hundertmal habe ich dies ausgemalt, die Angst ging vorüber; dass nichts geschah, war Rettung. Nun bricht es herein, aus dem Hinterhalt, an meine kleinsten Geheimnisse knüpft es – kein Ausweg.

Sie werden mir nichts glauben. Sie werden mich anhören mit jenem Lächeln auf der äußersten Haut ihres Gesichtes, das der ungeduldig bewahrte Rest ihrer Lebensart ist, dann werden sie winken und fort … Der Richter wird fragen, und:

Ja, ich kenne sie.

Ja, ich bin bei ihr gewesen, in dieser Nacht.

Ja, ich kenne das Zimmer.

Ja, ich bin nicht ganz normal veranlagt.

Nein, ich habe mich um drei von ihr getrennt.

Nein, das kann ich nicht beweisen.

Und sie werden zu Ria kommen, meiner schönen, meiner stillen Frau, sie werden der Ahnungslosen Fragen stellen, die in ihr Gesicht Schamröte treiben, sie wird das Geheimnis von meiner Geschlechtsnot hören, sie, die Reinheit selbst, der ich all dies verbarg, mühsamst. Am Ende werde ich selber es ihr sagen müssen, ins Gesicht, auf dem Termin; sie wird meine heimlichen Gänge zu den Weibern der Straße erfahren, unsere entweihte Ehe, ihr zerbrochenes Glück. Beschmutzt ihr Leib und das Bett, das erwartete Kind, die Räume, in denen sie glücklich war, das Kleid, das sie trug …

Unser ganzes Leben zu zweien … wie viele Gesichter plötzlich zwischen uns, auseinanderdrängend, entfernend.

Ich will dich umarmen, an meiner Brust will ich dich bergen vor dem Einbruch des Ekels, doch unser Schatten an der Wand: er macht die obszönen Gebärden der andern. Du reißt dich los, du willst fliehen. Aber ihre Taten stehen um dich, sie werden zu deinen, das schöne Antlitz der Vergangenheit entdämmert, und jener eilige Hände leuchten mit Fackeln in ekle Winkel.

Das war dein Glück, dass dein junges Jauchzen.

O meine Ria! O entblößte Vergangenheit!

Ich kann nicht! Ich kann nicht!

Ach, glaubten sie mir schließlich, fände sich selbst der wahre Mörder – alles wäre zerbrochen, nichts würde wieder gut. Nach so viel ausgestandener Qual müsste doch Flucht sein, in einem Weltwinkel mein Gesicht zu verbergen. Und dort noch, aus dem Gedränge der Bäume, träte immer von neuem ihre zermürbte Gestalt, wie ich sie zuletzt auf der Bank des Zeugnisses sah. Sie riefe mich, sie klagte, sie klagte an …

(Ach, dass man je einmal geliebt hat! Immer sind die Wunden das Ende, immer der Schmerz.)

Ich kann nicht!

Lieber sofort fliehen. Ich bin bereit, der Paß ist in meiner Tasche, von Amsterdam komme ich leicht nach Rio oder Veracruz. Soweit reicht auch das Geld. Und dort werde ich ein neues Leben aufbauen, der den Liebgewordenen Gestorbene wird noch einmal von neuem beginnen, nahe Reinheit in den wüsten Zirkel seines Lebens zu beschwören, die Gestalten hier werden blasser werden und blass …

Es ist nicht wahr! Es ist ja nicht wahr! Ich träume doch nur!

Sitze ich hier im Park, eines Mordes verdächtig, meine Hand gegen alle Welt, aller Welt Hand gegen mich?

Wie kann so Unerhörtes geschehen sein? Gestern noch …

Der nicht erfolglose Beamte einer Bank, habe ich mit Mühe meinen Weg aufwärts gemacht, gegen hässliche Triebe in mir unermüdlich gekämpft, drängte sie fort in den finstersten, fernsten, unbeachtetsten Winkel meines Seins, ich habe mir ein reines Glück gerettet, trotz und trotz … und alles soll umsonst gewesen sein? So viel Kampf für nichts gekämpft? Wie der erstbeste Schwächling liege ich hier, zitternd vor jeder Uniform, fluchtbereit, mordverdächtig, ein zertrümmertes Leben – es kann ja nicht sein! Es ist so!

Die große Katze hat mich angesprungen, sie hat ihre Krallen in mein Fleisch geschlagen, ich blute, alles schmerzt.

Einen Entschluss gibt es, und er heißt Flucht. Ich gehe fort. Ich will nicht Verachtung in den Gesichtern derer sehen, die mich liebten. (Nein, ich habe Angst vor ihnen; sie sind imstande, sie trauen mir zu …)

Ich lösche mich aus. Friedrich Lütt ist nicht mehr. Ein anderer löst die Karte nach Amsterdam, ein anderer holt den Handkoffer aus dem Wartesaal, der dort viel zu lange schon unter den Augen des Kellners stand.

Des Kellners!

Aber da ist ja der Beweis! Da ist ja der Zeuge! Er hat gesehen, dass ich mich heute Nacht um drei Uhr von ihr trennte.

Er muss sich meiner Erinnern, erinnere ich mich doch so gut seines weißen vollen Gesichtes! Er wird es bezeugen. Ich werde mit ihm reden, und er wird es bezeugen!

Ich bin gerettet.

 

5

Ich weiß noch, wie leicht mir war, als ich von der Bank aufstand. Die kleinen Zickzackblätter an den Zweigen wehten plötzlich ganz froh. Auf dem trägen Wasser des Kanals glänzten bunte Reflexe von Öl, ich dachte an den Glanz südlicher Perlmuttermuscheln, ich sagte zu mir: Dorthin werde ich nun nicht kommen.

In dieser leichten Stimmung tat ich etwas Unbesonnenes, etwas ganz und gar Verkehrtes, das mir nun zeigt, wie die Angst, von der ich mich schon frei glaubte, tief in mir saß, dass sie mein Hirn, meine Fähigkeit zu denken, mich vorzusehen, schon zersetzte. Ich war gar nicht mehr Herr meiner Entschließungen, »es« tat aus mir, ich wurde völlig überrascht, höchstens sah ich mit einem dumpfen Staunen zu, wie geschickt und sicher dies Fremde in mir handelte, sich benahm. Aber mit dem Denken war es vorbei.

Ich war an einer Anschlagsäule stehengeblieben, zum zweiten Male überflog ich das Plakat, das auch hier, frisch aufgeklebt, prangte. Ich sah das Gesicht.

Dann streckte sich meine Hand aus, die Finger bogen eine Ecke des Plakates um, es ging ganz leicht. Vorsichtig ziehend und hebend löste ich Rand um Rand. Da der Kleister noch frisch war, gelang es, den Zettel unbeschädigt von seiner Unterlage loszumachen.

Ich habe dabei keinen Augenblick an Beobachtung durch Passanten gedacht. Nicht ein bisschen nahm ich mich in acht. Ich stand da wie das fernste Kind der Natur, das von keinem Verbot was weiß, und faltete meinen Raub, als ein Polizist mich am Arm fasste. »Sie, was tun Sie da! So was ist verboten, Sie! Zeigen Sie mal her.«

Plötzlich war alles Leichte aus mir fort, ich fühlte wieder die Angst, die mich hetzte, in den Knien, im irrsinnigen Schlagen des Herzens, im Blut, das zu Kopf drängte und trieb.

Meine Finger knitterten am Plakat. Zuerst kam das Gesicht.

»Was heißt denn das? Wozu haben Sie …?«

Da, in der äußersten Gefahr, als ich sein leeres, räumiges Gesicht schon hintasten sah auf einen Verdacht zwischen Zettel und mir, lächelte ich ihn an, sanft, als merkte ich seine Strenge nicht. »Ich sammele, Herr Oberwachtmeister, ich sammele Mordplakate. Was wollen Sie? Jeder hat seinen Fimmel, der sammelt Münzen, der Liebigbilder oder Briefmarken oder Versteinerungen. Ich sammele Mordplakate. Sie sammeln vielleicht auch?«

Er beharrte. »Wo es doch verboten ist!«

»Ich weiß das natürlich. Ich weiß. Dieses Abreißen … Aber die Leidenschaft! Als Junge hatte ich einen Lehrer, solch ordentlicher Mensch! Und wie Gott den Schaden besieht, sammelt er Zöpfe, schneidet den kleinen Mädchen auf der Straße die Zöpfe ab.

So was überschreitet natürlich die Grenze, ist schon mehr krankhaft. Aber solch Plakat. Wenn Sie mir freilich ein Mandat schicken müssen, hier ist mein Ausweis.«

Er nahm ihn nicht. »Ich sammele auch«, sprach er, »ich sammele Briefmarken.«

Er schaute bieder in mein Auge.

»Habe ich auch getan«, beeilte ich mich, »aber es kostet viel Geld, nicht wahr? Wenn man Familienvater ist … Als das Dritte kam, verkaufte ich meine Sammlung. Plakate kosten nichts. Höchstens mal ein Strafmandat.«

»Dieses nicht.« Er lächelte menschlich. »Es ist nicht, dass man seine Pflicht nicht tut. Aber hier draußen liest es doch keiner. Guten Morgen.«

»Die blaue Mauritius, was? Guten Morgen.«

Diese Stunde ist die Trennung von meinem früheren Leben. Es ist, als sei in ihr aller anerzogener, erworbener Respekt vor Obrigkeit, Gericht, Strafe, Polizei zusammengebrochen. Sie waren auch Menschen. Sie waren so sehr Menschen. Man konnte sie überlisten. Und es machte eine tiefe Freude, es war eine höchste Lust, sie zu überlisten. Dieser Kampf, in dem man selbst Einsatz war, beseligte, steigerte Leben ins Zehn-, ins Hundertfache.

Ich stand auf der Straße, ich sah ihm nach, grinste. »Doof bleibt doof«, sagte ich.

Hier bin ich nach den Begriffen von Moral und Bürgertum schlecht geworden. Ich hatte den einen Schritt vom Wege noch nicht getan, aber durch die dichten Zweige des Buschwerks sah ich den Glanz des anderen Gartens, ich roch seinen Duft.

 

6

Vielleicht ist es, dass man ein Gesicht sterben sah. In der düsteren Halle, so fahl im grauen Morgendämmern, überdonnert von eiligen Zügen, umhockt von dem Stumpfsinn verdrossener Schläfer, dort sprach ich ihn an: »Herr Ober, ich ließ hier einen Koffer …«

Und es geschah, dass sein Gesicht erstarb: welkend das Blühende, in graue Falten das Fette, auf der Flucht Auge, bebend die Hand. Zitternde Lippe lallt sinnlos: »Einen Koffer? Ja, einen Koffer …«

Sieh doch, da ist die Angst, die große Angst. Schon las er das Plakat, erinnerte sich meiner, und seine Phantasie schuf neu die Tat vergangener Nacht, beugte mich übers Bett jener, drückte das Messer in meine Hand. Sucht er den Glanz in meinem Auge, den Widerschein ihres letzten Leuchtens, wittert er nach dem bittern Aroma jener Küsse, die ein Mund empfing, den jäh der Tod verkalkte?

Er lehnt sich so weit zurück, ich sehe die Unterseite seines Kinns, noch die Schlaffheit seiner Hände fleht um Flucht vor dem Mörder. Und ich begreife, dass ich mein Spiel, den einzigen Zeugen schon halb verloren habe, ich muss mich aufs äußerste zusammennehmen … Und ich sehe ihn an, mit einer flehenden Demut im Blick.

Vielleicht tat es dieser Blick; er reißt sich zusammen, leidlich sicher spricht er: »Der Koffer? Ja, er ist hier. Sie können ihn haben.«

Und wieder wie irr: »Nur der Koffer?«

Ich verstehe, ich beginne, ihn zu verstehen. Und langsam greife ich in die Tasche meines Sakkos, ich fühle die Glätte des Papiers am Innern der Hand, ich ziehe es hervor, ich entfalte eine Ecke. Dann schlucke ich, räuspere die Kehle frei und flüstere mühsam: »Nicht bloß der Koffer …«