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Über dieses Buch:

Als Karen von einem Händler in Mali eine Perlenkette für ihre Tochter kauft, ahnt sie nicht, was für ein besonderes Abenteuer damit für sie beginnt. Jede der Perlen ist anders – und jede scheint ein Geheimnis in sich zu bergen. Sie erzählen von Liebe und Macht, von Sklaverei, Piraterie und Magie: die blaue Glasperle aus dem fernen Böhmen, die einst wertvoller als ein Menschenleben war; die Sternenperle aus Murano, eines Königs würdig; die Perle, gefertigt aus dem schillernden Haus einer Kaurischnecke, einst eine mächtige Währung … Je mehr Geschichten Karen hört, desto faszinierter ist sie von Afrika, verliert sich immer mehr in der wechselvollen Geschichte und bunten Kultur des Kontinents. Doch sie ist nicht die Einzige, die den Wert der Kette kennt …

Entdecken Sie den schwarzen Kontinent auf ganz besondere Art: »Sigrid Heuck versteht es auf unnachahmliche Weise, Geschichten zu erzählen, die sowohl modern als auch märchenhaft sind.« Der Tagesspiegel

Über die Autorin:

Sigrid Heuck (1932–2014) war eine deutsche Illustratorin und Autorin. Sie schrieb Romane und Reiseerzählungen und wurde besonders durch ihre gefeierten Kinder- und Jugendbücher bekannt, für die sie unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis und dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet wurde. Sigrid Heuck liebte es, zu reisen und dabei Land und Leute unabhängig von touristischen Sehenswürdigkeiten kennenzulernen. Ihre Romane und Erzählungen beschreiben auf authentische Weise die Orte, die sie bereiste.

Bei dotbooks erscheint auch:

»Das Leuchten der Muskatblüten«

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eBook-Neuausgabe März 2018, 2021

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel »Die Perlenschnur« im Weitbrecht Verlag und 2018 unter dem Titel »Das Mädchen mit den Perlen« bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 1995 by Weitbrecht Verlag in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart und Wien.

Copyright © der Neuausgabe 2018, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / ViChizh / Simon Dannhauer / Milosz_G sowie © pixabay / Leandri95

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-148-4

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Sigrid Heuck

Im Land der Kapokbäume

Roman

dotbooks.

Die Autorin bedankt sich herzlich bei Wolfgang Wisgickl, Hudson's Bay Indian Trading Post, München, dessen wertvolle Fachkenntnisse ihr sehr geholfen haben, die geheimnisvolle Welt der alten Glas- und Steinperlen zu erkunden.

Kapitel 1

In den Mittagsstunden wurde die Hitze fast unerträglich. Ein Schleier aus feinem Staub verwandelte die Felsentürme hinter der Siedlung Hombori in riesige Schattengestalten, die das kleine Dorf und die vor ihm liegende Wüste zu beherrschen schienen.

Die Straße, die südlich des großen Niger-Flusses Westafrika durchquert und die Hauptstädte Malis und Nigers miteinander verbindet, war kaum mehr als eine sandige, mit unzähligen Rinnen und Schlaglöchern übersäte Piste. Staubstürme, tropische Regengüsse und viele, oft überladene Containerlastzüge hatten ihre Betondecke fast völlig zerstört. »Die Felsen heißen ›Hand der Fatima‹«, erklärte der Mann am Steuer des Rover seiner Frau und seiner Tochter, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Über ihre Entstehung erzählt man sich hier viele Geschichten.«

Thomas Bender hatte geschäftlich in Timbuktu zu tun gehabt, und weil er sich den Umweg über Gao ersparen wollte, hatte er bei Gourma die Fähre über den Niger benutzt und eine Abkürzung genommen. Diese Abkürzung war eine von Autos nur selten benützte Wüstenpiste. Auf der mehr als hundert Kilometer langen Strecke bis Gossi war ihnen nur ein Kamelreiter mit seinem Kind begegnet.

»Ich hab Durst, Mama!« seufzte das auf der Rückbank des Rover kauernde Mädchen, als sich das Auto Hombori näherte.

»Die Flasche liegt hinten, Jessy«, erwiderte die Frau, ohne sich umzudrehen.

»Die warme Brühe schmeckt so scheußlich. Gibt's dort vorne etwas zum Trinken?« In der schattenlosen Landschaft waren ein paar armselige Lehmhütten zu erkennen.

»Ich weiß nicht.« Karen Bender zögerte und sah zu ihrem Mann hinüber, der das hin und her schlagende Steuerrad krampfhaft festzuhalten versuchte.

»Wegen mir ...«, sagte er müde. »Versuchen können wir's ja. Mir tut schon der Rücken weh von der Rüttelei.« Die Dächer der Hütten bestanden aus losen, mit Felsbrocken beschwerten Wellblechplatten. Vor einem der Gebäude steckte ein Schild im Sand: Restaurant & Buvette chez Barbra Moro.

»Hier!« schrie Jessica ihrem Vater in den Nacken. »Hier kriegt man sicher 'ne Cola!« Karen lachte.

»Warum lachst du?« fragte ihre Tochter, weil sie sich nicht erklären konnte, was ihre Mutter so lustig daran fand.

»Fällt euch nicht auf, wie man hier das Wort ›Buffet‹ schreibt?« sagte Karen.

»Es ist die afrikanische Version dieses Wortes«, erklärte ihr Thomas. »Das wird dir noch öfters begegnen.« Er stellte den Rover hinter einem schweren Lastzug am Straßenrand ab und wartete, bis Karen und Jessica den Wagen verlassen hatten. Bevor er ihnen folgte, prüfte er, ob alle Türen verschlossen waren.

In dem fensterlosen Raum standen mehrere einfache Tische und Bänke und an der Rückwand so etwas Ähnliches wie eine Theke. Unter den Tischen suchten ein paar zerrupfte Hühner nach Brotkrumen. Nur ein Plakat, das für Michelin-Reifen warb, gab dem Raum Farbe.

»Haben Sie gekühlte Cola?« fragte das Mädchen die dicke Wirtin. Sie nickte. »Eine für mich bitte!«

»Für mich Tee«, sagte Karen und fügte mit einem Blick auf ihren Mann hinzu: »M'sieur möchte gern ein Bier!«

»Cola, Tee, Bier«, wiederholte die Wirtin. »Was zu essen, Ma'am?«

»Merci, nein.«

An der Theke hockten zwei Afrikaner. Den leeren Flaschen nach, die vor ihnen standen, waren sie schon länger hier. Neugierig musterten sie die drei Weißen. Offenbar kehrten hier nur selten Touristen ein. Doch Karen störte das nicht weiter. Seitdem sie nach Afrika gekommen war, hatte sie sich daran gewöhnt, angestarrt zu werden.

»Fahren wir heute noch bis Bamako?« fragte sie.

»Nein, nur nach Mopti. Ich hab dort noch etwas zu erledigen.«

»Wie weit ist es noch?«

»Etwa dreihundert Kilometer.« Thomas Bender war müde. Er widerstand dem Drang, sein verschwitztes Hemd auszuziehen. Um sich wach zu halten, bestellte er noch eine Tasse Kaffee.

Gerade als die Wirtin den Kaffee brachte, erschien in der Türöffnung ein Mann. Gegen das grelle Sonnenlicht war seine Gestalt nur als Schattenriß erkennbar. Erst als er näher kam, erkannte Karen, wie schrecklich mager und alt er war. Arbeit und schlechte Ernährung hatten seinen Rücken gekrümmt, seine Haare grau gefärbt und in seine Gesichtshaut Risse gegraben. Sein bis zum Boden reichendes Hemd hatte die Sonne gebleicht und die Zeit verschlissen. Er trug eine Brille, deren eines Glas zersprungen war. Mit schlurfenden Schritten durchquerte der Alte den Raum und blieb vor den drei Weißen stehen. Er zog etwas aus seiner Tasche und hielt es über den Tisch.

»Ma'am?« murmelte er leise in fragendem Ton und sah dabei Karen an.

»Oh!« rief Jessica entzückt, als sie eine bunte Perlenschnur erkannte. »Ist die aber schön!« Die meisten Perlen schienen aus Glas zu sein. Ein paar von ihnen waren mit Punkten, Spiralen oder kleinen Blättchen verziert, zwischen ihnen befanden sich einige Schneckenhäuser. Eine fiel durch ihre Größe auf. Sie sah aus wie eine Samenkapsel.

»Was soll sie kosten?« fragte Karen den Mann, denn es war offensichtlich, daß er ihr die Kette zum Kauf anbot. Doch anstatt einen Preis zu nennen, zuckte der Alte nur mit den Schultern und sah sich ein wenig ratlos um. »Er kann sie nicht verstehen, Ma'am«, mischte sich die Wirtin ein. »Er ist ein Songhai, und von denen sprechen die wenigsten französisch.«

Einer der Männer vom Nebentisch bot sich als Übersetzer an. Er erklärte ihnen, daß der Mann dreitausend Malifrancs für die Kette haben wollte.

»Wieviel ist das?« fragte Karen ihren Mann.

»Ungefähr fünfzehn Mark. Vielleicht kann man ihn noch herunterhandeln.«

»Nicht handeln!« sagte Karen. »Schau ihn an! Vielleicht hat er Hunger.«

Doch offensichtlich litt der Mann nicht nur unter Hunger. Die Augen waren entzündet, und auf seinem Handrücken waren offene, eiternde Stellen zu sehen.

»Vielleicht braucht er Geld für eine Medizin, Mama?« flüsterte Jessica ihrer Mutter ins Ohr, während ihr Vater bereits ein paar abgegriffene Scheine aus der Brusttasche seines Hemdes zog, dreitausend Franc abzählte und sie auf den Tisch legte. Daß ihn die Wirtin und die beiden anderen Gäste für einen dummen Touristen hielten, der nicht wußte, daß man in Afrika feilschen muß, nahm er gelassen hin.

Mit einer langsamen, fast zärtlichen Bewegung, die Karen so vorkam, als ob ihm die Trennung schwerfiel, legte der Alte die Glasperlenkette auf den Tisch und griff nach den Scheinen. Er nickte, ohne zu lächeln, drehte sich um und verließ den Raum. Karen sah ihm nach, bis seine Gestalt im grellen Licht der Türöffnung verschwunden war.

»Darf ich sie haben?« bettelte Jessica.

»Wegen mir, aber laß sie mich zuerst waschen, bevor du sie anziehst«, erwiderte ihre Mutter.

»Waschen? Wozu?«

»Weil man nicht weiß, ob sie vielleicht jemand getragen hat, der krank war«, erklärte Karen. Während ihr Mann die Getränke bezahlte, suchte sie eine kleine Plastiktüte aus ihrer Umhängetasche, in der sie die Kette verpackte. Enttäuscht sah ihr Jessica dabei zu. Sie hätte sie gern sofort angezogen.

»Es ist besser so«, erklärte ihr Karen. »Heute abend im Hotel wasche ich sie. Dann kannst du sie morgen tragen.«

Kapitel 2

Karen war das erste Mal in Afrika. Als ihr Mann ihr mitgeteilt hatte, daß ihn seine Firma für mehrere Monate nach Mali schicken würde, um einige Brunnenbohrungen zu beaufsichtigen, hatte sie entsetzt reagiert. In ihrer Vorstellung war Afrika ein wildes, gefährliches Land, das aus Steppen, Urwäldern und Wüsten bestand, allenfalls noch aus einigen schmutzigen Städten, in denen man sich schreckliche Seuchen holen konnte. Sie hatte ihn gleich gebeten, die Firmenleitung zu überreden, jemand anderen mit diesem Auftrag dorthin zu schicken. Doch dann mußte sie feststellen, daß sich Thomas auf diese Arbeit freute. Erst als er ihr mitteilte, daß die Firma ihr und Jessica die Flugtickets bezahlen würde, damit sie ihn besuchen könnten, hatte sie sich in das Unvermeidliche gefügt und der bevorstehenden Trennung das Beste abzugewinnen versucht. Ganz im Gegensatz zu ihr hatte sich Jessica von Anfang an auf diese Reise gefreut. Thomas war der Meinung gewesen, mit ihren dreizehneinhalb Jahren sei sie alt genug, um die Eindrücke einer solchen Reise aufnehmen und verarbeiten zu können. Er hatte eine Weile gebraucht, um Karen davon zu überzeugen, und erst als er betonte, wie hilfreich es seiner Meinung nach für Jessicas Französischkenntnisse sein würde, durch ein Land zu reisen, in dem nur französisch gesprochen wurde, hatte sie eingewilligt.

Inzwischen hatte sie festgestellt, daß diese Reise für ihre Tochter ein großes Abenteuer bedeutete, und sie gab sich große Mühe, es ebenso anzusehen. Mit eigenen Augen etwas zu sehen, mit eigenen Ohren zu hören, mit der eigenen Nase die fremden Gerüche in sich aufzunehmen und die Hitze auf der Haut zu spüren war eine andere Sache, als darüber nur erzählt zu bekommen. Allmählich vergaß sie, wie sehr sie dagegen gewesen war. Jeder Tag steckte voller Erlebnisse und neuer Erfahrungen. Die Nächte in der Wüste, der ruhig dahinfließende Niger, die riesigen Baobab-Bäume, das alles hatte sie sehr beeindruckt. Nur die Menschen blieben ihr fremd. Sie waren für sie noch wie die Abbildungen in einem schönen Bildband, deren Fremdartigkeit man bestaunte und bewunderte. Sie hätte gern gewußt, was in ihnen vorging, was sie dachten und fühlten und wie sie lebten, und daher war sie ziemlich enttäuscht, daß sie so wenig Kontakt mit ihnen bekam. Als sie sich mit Jessica darüber unterhielt, erfuhr sie, daß es ihr so ähnlich erging.

»Wahrscheinlich geht das nicht so schnell«, versuchte Jessica sie zu trösten.

»Vielleicht sind wir auch zu ungeduldig und würden die Menschen hier erst besser kennenlernen, wenn wir einige Zeit mit ihnen zusammenleben könnten«, erwiderte Karen. Doch mit dieser Antwort war das Mädchen nicht zufrieden gewesen.

Am Morgen nach ihrer Ankunft in Mopti trug Jessica zum erstenmal die neue Halskette. Karen hatte die Perlen am Abend zuvor gewaschen. Dabei hatte sie sie gezählt: »... neunundachtzig, neunzig, einundneunzig. Mit der Samenperle sind es einundneunzig«, sagte sie laut.

»Einundneunzig was?« fragte Jessica zerstreut, die gerade ihre Reisetasche auspackte.

»Die Kette besteht aus einundneunzig Perlen«, wiederholte Karen.

»Ach so!«

Während sie zählte, hatte sie eine Perle nach der anderen ein Stück zur Seite geschoben, wobei ihr aufgefallen war, daß sich unter ihnen auch eine Perle aus Holz und eine aus einem bräunlichen Stein befand. Wieder eine andere sah aus, als habe sie jemand aus einem Kristall geschlagen. Sie hielt die Perlenschnur vor ihre Nachttischlampe. Erstaunt beobachteten Jessica und sie, daß einzelne Perlen im Licht aufleuchteten und andere nicht. Eine einfache blaue, röhrenförmige, die sie vorher nicht beachtet hatten, schimmerte plötzlich meergrün, eine runde, schwarze glühte rubinrot, und eine ovale, die sie für undurchsichtig gehalten hatten, wurde durchsichtig violett. Das alles kam ihnen wie Zauberei vor.

»Sie ist bunt wie ein Regenbogen!« rief Jessica entzückt.

Sie nahm ihrer Mutter die Kette aus der Hand und schüttelte sie hin und her. Dabei vernahmen sie ein merkwürdiges Geräusch, das aus der Samenperle kam. Es hörte sich an, als ob sich in ihrem Inneren winzige Tropfen bewegten.

»Von nun an werde ich die Kette jeden Tag tragen«, teilte Jessica ihrer Mutter mit. Die Perlen gefielen ihr. Ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen machten sie geheimnisvoll.

An diesem ersten Morgen besichtigten Karen und ihre Tochter allein die Stadt. Thomas konnte sie nicht begleiten. Er verhandelte mit den örtlichen Behörden, weil seine Firma den Auftrag erhalten hatte, hier eine Wasserleitung zu verlegen.

Mopti lag an der Mündung des Bani-Flusses in den Niger. Ihr Hafen war das östliche Tor zum Binnendelta, das südliche war Djenné und das nördliche Timbuktu. Fast alle Häuser waren aus Lehm erbaut. Sie hatten höchstens zwei Stockwerke und ein flaches Dach. Karen und Jessica besuchten die ebenfalls aus Lehm erbaute Moschee. Sie liefen durch die engen Gassen, aßen in einem kleinen Fischrestaurant am Hafen zu Mittag und kehrten, als es ihnen zu heiß wurde, in ihr Hotel zurück, um ein paar Stunden zu schlafen. Als sie von dem Hotelbesitzer erfuhren, daß am übernächsten Tag der berühmte Wochenmarkt stattfinden sollte, beschlossen sie, Thomas zu überreden, noch so lange hierzubleiben. Daß sich ihre Bitte erübrigte, weil ihn seine Arbeit noch mindestens zwei Tage hier festhielt, erfuhren sie am Abend.

Wie ihnen der Hotelbesitzer noch erzählte, wurde eigentlich jeden Tag ein kleiner Markt in Mopti abgehalten, doch donnerstags trafen sich dort mehr Leute als an den anderen Wochentagen, um Waren zu kaufen, zu verkaufen oder einzutauschen.

Am Donnerstag morgen stakten dann von allen Seiten Bauern und Fischer mit ihren schmalen Pirogen über die Wasser des Niger und des Bani nach Mopti. Nur wenige Boote waren mit Außenbordmotoren ausgestattet. Bald stauten sie sich Bordwand an Bordwand im Hafenbecken.

»Findest du nicht, daß sie Ähnlichkeit mit venezianischen Gondeln haben, Jessy«, fragte Karen. »Es fehlt ihnen nur der aufgewölbte Bug.« Gemächlich schlenderten sie an den Ständen der Fischhändler vorbei und an denen der Metzger, auf deren Waren dicke, grünliche Schmeißfliegen hockten.

»Da käme bei uns gleich das städtische Gesundheitsamt!« stellte Jessica mit einem Blick auf die Fliegen fest.

»Hier nimmt man das offensichtlich nicht so genau«, sagte Karen, und als ihr einfiel, daß sie vor zwei Tagen wahrscheinlich so einen Fisch gegessen hatten, schüttelte sie sich vor Ekel.

Sie blieben bei den Frauen stehen, die ihre Feldfrüchte in kleinen Pyramiden auf dem Boden ausgelegt hatten, und bei jenen, die winzige Reiskugeln in schwimmendem Öl ausbrieten. Männer mit großen Zuckerrohrbündeln auf dem Kopf drängelten sich durch die Menge der Marktbesucher, wobei sie sorgfältig darauf achteten, keinen der auf dem Boden ausgestellten Tonkrüge umzustoßen. Karen staunte über die Frauen, die ihr ebenso dick und reif erschienen wie die Melonen, die sie auf dem Kopf trugen. Sie hatten sich ihre selig im Schlaf lächelnden oder zufrieden um sich blickenden Babys auf den Rücken gebunden. Vornehmer aussehende Damen trugen zum Zeichen ihrer Würde kunstvoll um ihre Köpfe geschlungene Tücher, die fast immer aus demselben Stoff wie ihre Gewänder geschnitten waren. Bei der einen türmte sich das Tuch wie ein Turban auf, während bei einer anderen die Enden wie ein Schleier über den Rücken herabhingen. Kleine Mädchen ließen sich von älteren Frauen die kurzen Kraushaare in winzig kleine Zöpfchen flechten, und Jessica stellte mit großem Erstaunen fest, wie viele verschiedene Möglichkeiten von Zopffrisuren es gab.

Das Herz des Marktes bestand aus einem Geviert aus Buden, die sich von den übrigen Marktständen dadurch unterschieden, daß man die Gänge zwischen ihnen mit Bambusmatten überdacht hatte. Die Stände gehörten Gewürz-, Teppich- und Altwarenhändlern und solchen, die einfaches Kunstgewerbe, Schmuck oder Plastikgeschirr verkauften. In den schmalen Gassen herrschte Dämmerlicht, das ab und zu durch einen schräg einfallenden Sonnenstrahl unterbrochen wurde.

Karen entdeckte einen Deckenhändler, der handgewebte Decken in traditionellen Mustern anbot. Weber aus dem Bambara-Stamm hatten sie auf ihren Webstühlen angefertigt und bei den fliegenden Händlern, die flußauf- und flußabwärts die Dörfer besuchen, gegen Salz oder Tee getauscht. Sie hätte gern eine der Decken gekauft, doch ihre Tochter drängte sie weiterzugehen, weil sie wissen wollte, ob es hier Perlenketten zu kaufen gäbe, die so aussahen wie ihre.

Unter den Bambusmatten staute sich die Hitze. Es roch nach Schweiß, nach ranzigem Fett, nach Hundekot und faulem Gemüse. Karen hatte die Hitze bisher wenig ausgemacht, doch hier klebten ihr die Kleider auf der Haut, und der Schweiß lief ihr in die Augen. Das Schwatzen der Marktbesucher vermischte sich mit den Klängen aus mehreren Kassettenrecordern zu einem Summen und Rauschen. Längst hatte Karen die schwermütige westafrikanische Musik lieben gelernt. Hier, im Halbdunkel des Marktes und zusammen mit all den anderen Geräuschen, hatte sie eine betäubende Wirkung. Sie spürte, daß sie auf einmal schläfrig wurde und ihre Umgebung nicht mehr genau wahrnahm.

»Nicht so schnell!« rief sie, als sie entdeckte, daß der Abstand zwischen Jessica und ihr immer größer wurde. Kurz darauf verlor sie sie ganz aus den Augen, weil sich andere Marktbesucher zwischen sie drängten. Erst als die Frauen vor ihr stehenblieben, schreckte sie hoch und sah sich um. Dabei begegnete sie kurz den Augen eines Mannes, der sie von einem Seitengang aus beobachtete. Der Mann trug eine Brille. Als ein Lichtstrahl die Gläser traf, blitzten sie auf, und Karen sah, daß eines der Gläser zerbrochen war. Blitzartig wurde ihr bewußt, daß der Mann der alte Songhai sein mußte, der ihnen während der Rast in Hombori die Perlenschnur verkauft hatte. An seine gekrümmte Gestalt, die grauen Haare und das ausgebleichte, verschlissene Gewand konnte sie sich noch gut erinnern. Er winkte ihr, und seine Lippen bewegten sich. Dann drehte er sich um und ging davon, und es schien, als ob er sich völlig sicher wäre, daß sie ihm folgen würde. Doch Karen widerstand der Aufforderung und wandte sich ab. Viel mehr interessierte es sie, warum ihr die Frauen den Weg versperrten. Als sie sich noch einmal kurz nach dem Mann umdrehte, war er verschwunden, als habe er sich in Luft aufgelöst. Im selben Augenblick hörte sie Jessica rufen:

»Nein, nicht! Lassen Sie mich gehen!«, und der verzweifelte Ton in ihrer Stimme gab ihr die Kraft, zwei Frauen ein wenig zur Seite zu drücken, um zu erkennen, was vor ihr geschah. Sie sah, daß ihre Tochter von einer auf dem Boden kauernden Greisin festgehalten wurde. Die Frau hatte nur ein Auge. Dort, wo das andere sein sollte, schien das Lid nur ein Loch zu bedecken. Das gesunde Auge war schwarz wie ein Kohlestück.

Hastig, mit einem Gefühl zwischen Angst und Neugier, suchte Karen in ihrer Tasche nach einer Münze, mit der sie ihre Tochter von der Frau, die offensichtlich eine Bettlerin war, loskaufen könnte. Dabei hörte sie, wie die Alte mit heiserer Stimme zu reden begann, während sie auf Jessicas Halsschmuck deutete: »Du tragen schöne Perlenschnur«, brabbelte sie. »Alte Kette mit viele Perle. Perle erzählen von Leute, die sie gemacht aus Sand und Asche und Feuer. Dann gefädelt auf Schnur aus trockenem Gras. Perle und noch einmal Perle und noch und noch.« Gebannt starrte Jessica die Alte an, während sie versuchte, ihre Worte zu verstehen. »Geschichte von Leute, die vor viel, viel Zeit getauscht Perle gegen Sklave, Gold, Elfenbein oder Gewehr. Erzählen Geschichte von Händler und von Seeräuber, von Schmuggler, Medizinmann, auch von König und tapfere Krieger. Eine ist gewesen Träne von Frau, andere Tropfen von Regenbogen gefallen auf Erde, und noch einmal andere hat begleitet tote Mann auf letztes Reise als Geschenk für Geister. Doch in eine stecken Zauber, große, heilige Zauber. Du nicht wissen, was Zauber bedeuten. Mir geben Kette, bitte! Gehören hierher und nicht in Land von weiße Menschen!« Immer noch umklammerte die Alte Jessicas Bein.

»Bitte lassen Sie mich los!« Hilflos beobachtete Karen, wie ihre Tochter versuchte, die Hand abzuschütteln.

»Gib mir die Perlen! Ich brauchen. Du nicht. Gib, gib!« wiederholte die Greisin wieder und dabei versuchte sie, sich an Jessicas Hosenbein hochzuziehen, in der eindeutig erkennbaren Absicht, ihr die Schnur vom Hals zu reißen. Da stieß Karen mit all ihrer Kraft die gaffenden Frauen zur Seite, drängte sich durch die Lücke, packte ihre Tochter und zog sie mit sich. Die knochigen Finger der Alten öffneten sich, und das Mädchen war frei.

Sie verließen die engen Gänge so schnell es ihnen möglich war, drängelten sich durch die Masse der Marktbesucher, stießen Körbe zur Seite, schoben Kinder vor sich her, und Karen blieb nicht einmal stehen, als ein Baby auf dem Rücken seiner Mutter zu weinen begann, weil sie ihm im Vorbeihasten das Beinchen eingeklemmt hatte. Erst als sie das Dämmerlicht des gedeckten Marktes verlassen hatten und die von der grellen Sonne geblendeten Augen zusammenkneifen mußten, blieben sie aufatmend stehen.

»Was war das?« fragte Karen Jessica, die immer noch ein wenig zitterte.

»Die Alte wollte mir die Kette wegnehmen. Ich weiß auch nicht warum.«

»Verlangte sie kein Geld von dir?«

»Nein, nein. Sie wollte die Perlen. Nichts anderes.«

»Laß uns ins Hotel zurückkehren!« schlug Karen vor. Doch der Vorfall ließ beide so schnell nicht los. Während Jessica über die düsteren Worte der Greisin nachdachte, machte sich Karen Vorwürfe, ihre Tochter mit auf diese Reise genommen zu haben. Sie hatte sie unbekannten Gefahren ausgesetzt, Gefahren, vor denen sie niemand gewarnt hatte und vor denen sie ihr Kind nicht beschützen konnte. Sie selbst war in einer Welt aufgewachsen, die von Wissenschaft und Technik beherrscht wurde. Religiosität spielte nicht mehr die Rolle, die sie noch vor hundert Jahren gespielt hatte, und sie wußte nicht, ob sie das bedauerte oder nicht. Doch hier in Afrika schien das alles anders zu sein. Hier gab es noch vieles, was die Weißen nicht begriffen. Der Glaube an Götter und Geister gehörte immer noch zu dem Leben der Menschen hier. Unbegreifliches war noch möglich, und es gab sicher viele Geheimnisse, die einem Außenstehenden unverständlich bleiben würden.

Jessica unterbrach ihre Überlegungen mit einer Frage:

»Was war das für eine Frau, Mama? Und warum wollte sie die Perlen? Sie war mir unheimlich.«

»Es war eine Bettlerin, Jessy. Bettlerinnen gibt's überall«, versuchte Karen sie zu beruhigen. »Und außerdem ist es keine Kunst, zu erkennen, daß die Perlen an deiner Kette alt sind.« Sie fand, daß ihre Stimme wenig überzeugend klang.

»Aber es muß irgendeine Bewandtnis mit den Perlen haben.« Jessica ließ sich nicht so schnell von ihrem Thema abbringen.

»Ach was«, erwiderte Karen, und das klang barscher, als es sonst ihre Art war. »Deine Phantasie geht mit dir durch.« Womit sie ihre Tochter zum Schweigen gebracht hatte.

Am Abend sprach sie mit Thomas über den Vorfall.

»Erstens bin ich sicher, daß du den Songhai, von dem wir die Perlen kauften, mit einem anderen Mann verwechselt hast. Die dunkle Haut macht für uns alle Afrikaner einander ähnlich«, gab Thomas ihr zu bedenken, als sie geendet hatte. »Und zweitens ...«

»Nein, nein«, unterbrach ihn Karen schnell. »Er trug die zerbrochene Brille und ein zerschlissenes graues Hemd. Ich habe ihn deutlich gesehen. Er hat mir ein Zeichen gegeben, daß ich ihm folgen soll.«

»Das bildest du dir sicher nur ein«, sagte Thomas. Da überlegte sich Karen, ob ihr die Hitze, der Gestank, die Musik und das Gemurmel der Marktbesucher, das sie wie eine Decke eingehüllt hatte, bis sie glaubte, ersticken zu müssen, die Sinne verwirrt haben könnten.

»Und was meintest du mit zweitens?« erinnerte sie ihn an das, was er sagen wollte, bevor sie ihn unterbrochen hatte.

»Du bist zum ersten Mal in Afrika, und da ist alles fremd und exotisch für dich. Merkwürdigen alten Frauen wirst du noch oft begegnen und schließlich erkennen, daß an ihnen nichts Geheimnisvolles ist.«

»Aber ich mache mir Vorwürfe, daß ich Jessica mit hierher gebracht habe. Für sie ist das alles vielleicht zu viel?«

»Ach was!« Thomas lachte. »Jessica ist kein kleines Kind mehr. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, daß sie erwachsen wird und ihre Erfahrungen machen muß. Wir können sie nicht immer behüten.« Da schluckte Karen und schwieg, weil sie wußte, wie sinnlos es sein würde, ihm klarzumachen, daß auch ihr die Begegnung mit der Alten unheimlich vorgekommen war. Für so etwas hatte er kein Verständnis.

Da Thomas Bender seine Geschäfte in Mopti erledigt hatte, fuhren sie gegen Mittag des nächsten Tages nach Bamako zurück, wo seine Firma ein Büro unterhielt.

Kapitel 3

Ein paar Tage lang verfolgte Karen noch der Gedanke an die einäugige Bettlerin. Einmal erschien ihr die Alte sogar im Traum und verlangte die Kette zurück. ›Sie gehört uns‹, sagte sie mit ihrer heiseren Altweiberstimme, ›gib sie zurück! Afrikanische Menschen haben teuer bezahlt. Weiße Frau kann nicht verstehen wie teuer.‹ Und als sie nach der Glasperlenkette griff, war Karen schnell davongelaufen.

Auch ihre Tochter hatte den Vorfall offenbar nicht vergessen, denn sie ließ ihren Eltern keine Ruhe mehr. »Ich würd' so gern mehr über die Perlen erfahren!« sagte sie eines Abends.

»Ach was«, erwiderte Thomas. »Da gibt's nichts zu wissen. Es sind alles einfache, billige Glasperlen, nichts weiter. Wertvoll sind nur Muschelperlen, die von Perlentauchern aus den Tiefen der Meere geholt werden, aber auch die werden heute schon künstlich hergestellt.«

Doch mit dieser Antwort gab sich Jessica nicht zufrieden.

»Kennst du denn niemand, der sich ein bißchen auskennt mit so was?« stand Karen ihrer Tochter bei. Sie kannte sie gut und wußte aus Erfahrung, daß Jessica nicht so schnell nachgab, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Das beste würde sein, wenn ihr jemand anderer erklärte, daß hinter den Perlen kein Geheimnis steckte. Vorher würde sie keine Ruhe geben.

»Vielleicht kann dir Herr Ndobo, der Direktor des Nationalmuseums weiterhelfen«, antwortete Thomas. »Ich habe ihn und seine Frau einmal auf einer Einladung der Regierung kennengelernt. Damals hat er mir angeboten, mich durch sein Museum zu führen und mit der Kultur seines Landes bekannt zu machen. Er ist sicher so freundlich, einen Blick auf die Perlen zu werfen. Richtet ihm einen Gruß von mir aus!«

Am nächsten Tag besuchten Karen und Jessica das Nationalmuseum. Sie mußten sich gedulden, denn Monsieur Ndobo war in einer Besprechung. Diese würde sicher noch lange dauern, und weil er morgen auswärts zu tun habe, sollten sie in zwei Tagen wiederkommen, erklärte ihnen die Sekretärin. »So gegen drei Uhr am Nachmittag«, sagte sie. »Dann wird sich der Herr Direktor Zeit nehmen. Er freut sich immer sehr, wenn sich jemand für seine Arbeit interessiert.«

Weil sie schon einmal da waren, besichtigten Karen und Jessica die Ausstellungsräume. Jessica las ihrer Mutter laut vor, was auf den Schrifttafeln stand, die hinter den Vitrinen an der Wand hingen. »›Das Reich der Songhai erreichte unter den Königen Sonni Ali und Askia Mohammed im 15. und 16. Jahrhundert seine größte Ausdehnung. Seine Hauptstadt war Gao am Nigerfluß. Die beiden anderen wichtigen Städte waren Timbuktu und Djenné. Askia Mohammed gründete in Timbuktu eine Universität, die bald zum geistigen Zentrum ganz Westafrikas wurde. Die Frauen der Songhai waren weithin berühmt für ihre magischen Fähigkeiten. Da es Animisten waren, gab es viele Geheimgesellschaften.‹ Was sind Animisten, Mama?« unterbrach sich Jessica selbst.

»Animisten glauben an Naturgeister und Dämonen, die man beschwören muß, soviel ich weiß«, erklärte ihr Karen. »Lies weiter!«

»›Eine der letzten Songhai-Siedlungen befindet sich in den Bergen von Hombori.‹ – Ist das nicht dasselbe Hombori, wo wir meine Kette gekauft haben?«

»Das ist schon möglich.«

Sie wanderten an vielen Holzstatuen vorbei, betrachteten den in Glasschränken ausgestellten Goldschmuck und die an den Wänden hängenden Götter- und Teufelsmasken, deren groteske Vereinfachung Karen Furcht einflößte. Jessica las ihrer Mutter die Tafel über den Stamm der Bambara vor, danach die über den Stamm der Fulbe, der Peul und der Tuareg. »Es gab viele Völker im alten Sudanreich«, stellte sie fest. »Und alle lebten friedlich miteinander.«

»Nein, nein«, klärte Karen sie auf. »Soviel ich weiß, gab es hier ebenso viele Kriege wie bei uns. Aber komm jetzt, Jessy, laß uns gehen! Mir tun schon die Füße weh.«

Am übernächsten Tag kamen sie wieder und wurden gleich bei Herrn Ndobo vorgelassen. Die geschlossenen Rolläden tauchten sein Büro in Dämmerlicht. An der Decke drehte sich ein Ventilator, doch er brachte nur wenig Kühlung.

»Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?« fragte der Direktor freundlich. Er war ein schmächtiger Afrikaner mit Brille und schütterem Haar. Er trug einen Straßenanzug und darunter ein weißes Hemd und eine Krawatte.

Karen bat für ihre Tochter und sich um ein Glas Mineralwasser. Monsieur Ndobo holte die Getränke aus einem Kühlschrank. Er selbst schenkte sich einen Whisky ein, in den er ein paar Eisstücke warf.

»Was kann ich für sie tun?« fragte er, nachdem seine Gäste den ersten Schluck getrunken hatten.

»Wir haben vor einigen Tagen eine alte Kette gekauft«, begann Karen, »und weil meine Tochter Jessica ziemlich neugierig ist, würde sie gern etwas über die Perlen erfahren.«

Jessica zog sich den Schmuck über den Kopf und legte ihn auf den Tisch. Der Direktor schob sich die Brille auf die Stirn, hielt sich die Kette vor die Augen und prüfte jede einzelne Perle.

»Woher haben Sie sie?« fragte er.

»Aus Hombori. Ein Mann hat sie uns angeboten«, sagte Karen.

»Was haben Sie dafür bezahlt?«

»Dreitausend Franc.«

»Das war preiswert«, erwiderte Monsieur Ndobo. »Der Mann muß in Not gewesen sein. Einige Perlen sind wertvoll und auch sehr alt ...«

»Wie alt ungefähr?« wollte Karen wissen. Allmählich begann ihr zu dämmern, daß es doch mehr als nur einfache Glasperlen waren, die der Songhai ihnen verkauft hatte.

»Ganz genau kann ich das nicht sagen, aber ich schätze vier- oder fünftausend Jahre vielleicht.«

»Können Sie uns etwas über sie erzählen?« unterbrach ihn Jessica ungeduldig.

»Nur über diejenigen, die aus Venedig stammen oder besser gesagt von der Insel Murano«, erklärte ihr der Direktor.

»Welche sind das?«

»Die rotbraunen und die schwarzen, deren Lochung mit einer weißen Schicht umgeben ist und die man verziert hat. Sie sind zwar im Verhältnis zu anderen Perlen an dieser Kette wahrscheinlich ziemlich jung. Hundert oder hundertfünfzig Jahre, vielleicht auch etwas älter.«

»Aber wie kommen sie von Venedig hierher?«

»Das ist ein langer Weg und eine lange Geschichte«, erwiderte Herr Ndobo lächelnd und wandte sich Karen zu, die es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. »Wenn Sie etwas Geduld haben, kann ich sie Ihnen erzählen.«

»Hoffentlich nehmen wir ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch.«

»Aber nein. Ich freue mich sehr, daß Sie sich für so etwas interessieren. Ich werde meine Geschichte auch ein wenig ausmalen, damit das kleine Fräulein mehr davon hat!« Er füllte die Gläser noch einmal nach und begann:

Eine Handvoll Blütenperlen

An einem Tag im Jahr 1797 glänzten die kupfernen und goldenen Kuppeln der venezianischen Kirchen mit den spiegelnden Wellen der Lagune um die Wette. Die Tauben flatterten gurrend um den Campanile und die Gondoliere schmetterten ihre Liebeslieder, während auf der in unmittelbarer Nähe Venedigs gelegenen Insel Murano ein kleiner Junge geboren wurde, der von seinen Eltern den Namen Jacopo erhielt.

Seit dem dreizehnten Jahrhundert war das alte Venedig eine der bedeutendsten und reichsten Handelsstädte der westlichen Welt. Venezianische Kaufleute segelten weit über alle damals bekannten Ozeane und trieben Handel mit Arabien, Persien, dem osmanischen Reich und Afrika. Berühmte Baumeister errichteten die Kirchen und Paläste Venedigs auf unzähligen Eichensäulen mitten in einer Lagune, weil sich die Menschen dort sicherer fühlten als auf dem Festland. Statt Straßen gab es Kanäle und statt Fuhrwerke Gondeln oder andere Boote.

Nach dem Untergang von Byzanz, das ein Zentrum der Glasmacherei gewesen war, zogen viele Glasmeister von dort nach Venedig, weil sie von dem sagenhaften Reichtum dieser Stadt gehört hatten. Doch als sich zu viele von ihnen dort niederließen, verbannten sie die Männer, die die Gesetze machten und die sich ›Der Rat der Zehn‹ nannten, nach Murano. Die Angst, daß die heißen Glasöfen eine Feuersbrunst entfachen könnten, war der eine Grund, und der andere war, daß man die Glasmacher besser unter Kontrolle haben wollte, denn die Rezepte der Farbmischungen und die Technik, mit der die kostbaren Schalen, Pokale und Perlen hergestellt wurden, waren streng geheim. Bei Androhung der Todesstrafe und Sippenhaftung war es den Glasmachern verboten, etwas davon an Fremde zu verraten.

Schon lange hatten die Kaufleute erkannt, daß sie mit bunten Glasperlen fast überall auf der Welt gute Geschäfte machen konnten. Der Gewinn betrug oft mehr als das hundertfache des Einkaufspreises.

Doch nachdem Kolumbus die Neue Welt entdeckt hatte, begann der Glanz Venedigs zu verblassen. Die großen Segelschiffe brauchten zu lange, um das Mittelmeer zu durchqueren und sich dann erst auf die Reise nach Westen zu machen. Von Lissabon, Amsterdam und London aus ging das bedeutend schneller. Schließlich übergab in jenem Jahr 1797, in dem Jacopo geboren wurde, der letzte Doge die Schlüssel der Stadt an Kaiser Napoleon von Frankreich, der sie schon kurze Zeit später an Österreich weiterreichte.

Jacopos Vater war ein Glasmachermeister, und es war von vornherein ausgemacht, daß sein Sohn später einmal das gleiche Handwerk erlernen sollte. Jacopo liebte es, mit seinen Freunden in den Gassen der kleinen Inselstadt zu spielen. Sie wetteiferten, wer von der eisernen Brücke aus am weitesten über den großen Kanal spucken konnte oder liehen sich einen klobigen Fischerkahn aus und taten, als seien sie Gondoliere.

Davon, daß es den Glaswerkstätten auf der Insel zunehmend schlechter ging, merkte der Junge wenig. Die Zeiten, in denen europäische Fürsten und Könige für ihre Schlösser Glaslüster in Murano bestellten, waren vorbei. Und wenn trotz allem ein reicher Mann einen Lüster für seinen Salon haben wollte, dann gab er einer böhmischen Werkstatt den Auftrag. Das ging schneller und war nicht so teuer. Die Folge davon war, daß viele große Glaswerkstätten Arbeiter entlassen mußten. Auch Giovanni, Jacopos Vater, verlor seine Arbeit. Da er nichts anderes konnte, als mit Glas umgehen, kaufte er sich eine ›Lampe‹, das war ein kleiner Brenner, mit deren Hilfe er in Heimarbeit Perlen aus vorgefertigten Glasstäben um einen dünnen Metallstab wickeln und anschließend mit Punkten oder Linien verzieren konnte. Glücklicherweise gab es immer noch genügend Händler, die ihm seine Ware abnahmen. Nebenbei zeigte er seinem Sohn, wie man den Draht vor der Flamme drehen muß und anschließend zusammen mit der Perle in ein kleines Sandhäufchen steckt, damit das noch weiche Glas nicht zu schnell abkühlt und vielleicht zerspringt.

Die Jahre vergingen. Jacopo wuchs heran, und schon bald interessierte er sich nicht mehr so für die Spiele mit seinen Freunden, dafür aber mehr für hübsche Mädchen. Wenn er, wie alle anderen, am Tag des Heiligen Markus mit seiner Familie von Murano nach Venedig segelte, um in der Markuskirche die Messe zu besuchen, dann konnte er seine Blicke kaum von den jungen, schön herausgeputzten Venezianerinnen lösen, die nach dem Kirchenbesuch unter der Aufsicht ihrer Mütter oder einiger Tanten auf dem Markusplatz auf und ab wandelten.

Von allen diesen Mädchen gefiel ihm die schöne Isabella Colani am besten. Sie war die Tochter eines reichen Kaufmanns. In ihren dunklen Haaren schimmerten echte Perlen, und wenn sie anmutig hinter ihrer Mutter den Platz überquerte, dann kam es ihm vor, als ob ihre Füße kaum den Boden berührten. Daß es eine ihrer liebsten Beschäftigungen war, in einen Spiegel zu sehen und sich selbst zu bewundern, wußte er leider nicht.

Jacopo verliebte sich unsterblich in sie. Jedenfalls glaubte er das. Mit allen Mitteln versuchte er, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sie schenkte ihm keine Beachtung. Er schrieb ihr mit ungelenker Handschrift kleine Liebesbriefchen, ließ ihr durch einen Freund Blumen überbringen und sang eines Nachts sogar ein schmachtendes Liebeslied vor ihrem Fenster, woraufhin ihn Isabellas Vater durch einen Diener davonjagen ließ.

Doch schon bald fehlte ihm die Zeit, um seiner Angebeteten seine Liebe zu zeigen, denn sein Vater wurde sehr krank. Von Jacopos Fleiß hing es ab, ob die Familie satt wurde oder nicht. Bis tief in die Nächte hinein saß der junge Mann vor der Lampe und wickelte Perlen, die er anschließend so verzierte, wie es die Händler bei ihm in Auftrag gegeben hatten. Während er das tat, träumte er davon, daß die schöne Isabella seine Liebe erwidern würde, und wie wunderbar es sei, wenn sie erst einmal verheiratet wären. Er sah sich mit ihr in einem Garten spazierengehen, und in Gedanken pflückte er kleine Blüten und steckte sie ihr in den Ausschnitt. Eines Tages fiel ihm ein, er könnte vielleicht ihre Aufmerksamkeit mit einer Perlenkette erringen, bei der er jede einzelne Perle mit winzigen Blüten bemalte. Die Perlen müßten aus rotbraunem Glas sein, so wie die Erde eines Blumenbeetes, und die Blüten gelb, weiß oder rosafarben. Das würde sich gut von der bleichen Haut Isabellas abheben. Es wäre ein ihrer unvergleichlichen Schönheit würdiger Schmuck. Von da an versuchte Jacopo Nacht für Nacht, nachdem er seine tägliche Anzahl Perlen fertiggestellt hatte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er verwendete die dünnsten Glasstäbe, die es zu kaufen gab, und hielt sie über die Flamme, bis ihre Enden zu glühen begannen. Dann malte er mit ihnen winzig kleine Ranken, Blüten und Blättchen auf die vorbereiteten Perlen. Er arbeitete, bis seine Augen tränten und der Draht mit der Perle in seiner Hand so heiß wurde, daß er sich die Finger an ihm verbrannte. Es dauerte lange, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war, und dann noch länger, bis er so viele Perlen zusammen hatte, daß sie für eine Kette reichten. Als er sie auffädelte, zitterten seine Hände bei dem Gedanken, daß sie schon bald die Haut des Mädchens berühren würden, das er liebte. Er verschnürte sein Geschenk zu einem kleinen Päckchen und wartete auf eine günstige Gelegenheit.

Eines Tages stand Jacopo dann auf der Piazzetta und wartete auf das Ende der Messe. Als Isabella hinter ihren Eltern aus dem großen Mittelportal trat, ging er auf sie zu. Doch dann verließ ihn auf einmal der Mut, er warf ihr das Päckchen zu und lief davon, weil er Angst hatte, sie könnte sein Geschenk ablehnen. Die erstaunte und ein wenig erschrockene Isabella ließ er einfach stehen. Das Mädchen war ziemlich ratlos, was sie mit Jacopos Päckchen anfangen sollte.

»Was ist das?« fragte ihre Mutter, die nichts von dem Vorfall bemerkt hatte.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Isabella.

»Gib her!« verlangte die Mutter und nahm ihr Jacopos Geschenk aus der Hand. Zu Hause angekommen, packte sie es zusammen mit Isabella aus. »Was soll denn das?« sagte das Mädchen kopfschüttelnd. »Es ist eine Glasperlenkette.«

»Wer erdreistet sich, meiner Tochter Glasperlen zu schenken!« rief die Mutter entrüstet. »In unserer Familie tragen die Frauen nur echte Perlen und Steine.« Sie wollte die Kette schon ihrer Zofe schenken, als Signor Colani den Raum betrat und die Perlen auf dem Tisch entdeckte. Er befand sich gerade mitten in den Vorbereitungen zu einer Handelsreise und war daher ständig auf der Suche nach Waren, die er in Afrika oder Arabien gegen etwas anderes eintauschen konnte. Auf den ersten Blick erkannte er, daß sich mit diesen Blütenperlen sicher besonders gute Geschäfte machen ließen.

»Wo habt ihr die Kette her?« fragte er.

»Ein Verehrer hat sie Isabella geschenkt«, erklärte ihm seine Frau.

»Ein Verehrer? Wie heißt er?«