Kommentar
»Höchstwahrscheinlich …« (»highly likely«)
Lothar Geisler
Aktuelles
Russland im Fadenkreuz
Die NATO – vorne präsent und einsatzbereit
Jörg Kronauer
Klare Warnung an Macron
Georg Polikeit
Metall-Tarifabschluss 2018: Arbeitszeit – wie weiter?
Achim Bigus
SPD-Krise und Erneuerungsdiskussion
Beate Landefeld
Eine arbeitende Partei
Zum 22. Parteitag der DKP
Wera Richter
Thema: Marx 200
Editorial
Kritik an der Macht UND an der Ohnmacht oder Warum es ohne Marx keine Politik gegen das Unrecht gibt
Dietmar Dath
Authentischer Marxismus als Programm
Ein Essay
Holger Wendt
Marx als Produkt
Wovon reden wir, wenn wir über 200 Jahre Karl Marx sprechen?
Georg Fülberth
Einführendes zur Dialektik
Richard Sorg
Karl Marx über Dienstleistungen
Klaus Müller
Über Aufklärung, politische Ethik und erneuerten Humanismus
Thomas Metscher
»… sein Name ist Kommunismus«
Bertolt Brechts Versifizierung des Manifests der Kommunistischen Partei
Jenny Farrell
Mensch, Natur, Kapital und Befreiung – mit Marx über Marx hinaus
Reflexionen über Kohei Saito und Daniel Stosiek
Wolfgang Jantzen
Aus der Arbeit der Marx-Engels-Stiftung
Digitalisierung: Hype oder Drohkulisse?
Die »vierte industrielle Revolution« bei Licht betrachtet
Wolfgang Garbers
Leserzuschrift
»Unterstützung für die 35-Stundenwoche«
Aufruf in MBl 2_18, Seite 1
Leserzuschrift von Anne Rieger
Position
Zur Rolle des Finanzkapitals beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich
Hans Hautmann
Dokumentation
Der Imperialismus in der Offensive – Überall ist Klassenkampf
Referat des Bundesvorstandes der SDAJ beim 23. Buko, 24./25.3.2018
Lena Kreymann
Rezensionen
Thomas Metscher: Integrativer Marxismus. Dialektische Studien. Grundlegung (Jenny Farrel)
Dieter Jahnke, Jürgen Leibiger und Manfred Neuhaus (Hg,): Marx‘ »Kapital« im 21. Jahrhundert (Holger Wendt)
Gareth Stedman Jones: Karl Marx – Die Biographie, (Timm Graßmann)
Eicker-Wolf, Kai: Wirtschaftswunderland. Eine Abrechnung mit der Wirtschaftspolitik von Gerhard Schröder bis heute (Georg Fülberth)
Andreas Wehr: Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise.(Pablo Graubner)
Thankmar von Münchhausen: 72 Tage. Die Pariser Kommune 1871 – die erste »Diktatur des Proletariats« (Rainer Venzke)
Christoph Koch (Hrsg.): Das Potsdamer Abkommen 1945–2015. Rechtliche Bedeutung und historische Auswirkungen (Ludwig Elm)
Hans-Henning Scharsach: »Stille Machtergreifung – Hofer, Strache und die Burschenschaften« (Bernd Mugele)
Es schrieben diesmal
Da werden Sergej Skripal, ein Ex-Doppelagent seiner Majestät aus Russland, und seine Tochter bewusstlos auf einer Parkbank in Salisbury aufgefunden. In jedem drittklassigen Thriller verkündet der ermittelnde Staatsanwalt: »Wir ermitteln in alle Richtungen.« Nicht so in London, der »Hauptstadt friedensgefährdener Lügen« (Willy Wimmer/CDU) wo die britische Staatslenkerin Theresa May frei von Fakten die Richtung ganz fix vorgibt: »Vergiftet mit ›Nowitschok‹!« und »Der Russe war’s!« Na ja, »Highly-likely« – »Höchstwahrscheinlich«, räumt sie ein.
Offene Fragen nach dem verwendeten Nervengift (›Nowitschok‹ oder nicht?), seiner Herkunft (Usbekistan, Russland, USA oder andere x-beliebige Giftküche?), der Nachweismethode (mit oder ohne Vergleichsprobe?), plausiblen Tatmotiven oder auch Motiven, Russland diesen Mordversuch anzuhängen, werden systematisch ausgeblendet. Außer auf Nachdenkseiten.de. Dort wurde u.a. auf brisante Fakten, Fragen, Hintergrund-Infos des ehemaligen, britischen Botschafters in Usbekistan, Craig Murray, hingewiesen. Z.B. auf die Zusammenarbeit von Sergej Skripal mit seinen beiden ehemaligen MI6-»Bärenführern«, Christopher Steele und Pablo Miller, deren obskure private Sicherheitsfirma Orbis Intelligence darauf spezialisiert ist, zahlungskräftigen Kunden antirussische Propaganda-Kampagnen zu basteln. Aus ihrer Giftküche stamme auch das für das Clinton-Lager erstellte, sensationelle Dossier über Trumps Beziehungen zu Russland, zu dem auch Sergej Skripal beigetragen hat. Highly likely.
US-, NATO-, EU-Spitze, die »Macht um Acht« (tagesschau) und die meisten anderen Massenmedien tröten wider besseres Wissen aus imperialistischer Kumpanei ins gleiche Horn wie Theresa May: »Der Russe war’s!« Also Sanktionen her, russische Diplomaten (Spione) raus, WM-Boykott … alles, das ganze Eskalationsinstrumentarium des Kalten Krieges wird reaktiviert. Deeskalierende Diplomatie, politische Gesprächskanäle und staatliche Beziehungen zu gegenseitigem Nutzen werden geschwächt. Die Dringlichkeit der Suche nach einem System gemeinsamer Sicherheit, Handels und Handelns durch Rüstungskontrolle und Abrüstung rutscht immer mehr aus dem Fokus.
Wer sich ein wenig mit der Geschichte auskennt, wie Kriege gemacht werden, denkt bei den Salisbury-Tales spontan an Colin Powells Schwindelkampagne über irakische Massenvernichtungswaffen (2002/03) oder die Kriegsvorwände von Sarajewo (1914), Gleiwitz (1939), Tonkin (1964) oder daran, wie dereinst Ronald Reagan’s »Komitee für Täuschungsoperationen« in den 1980er Jahren reihenweise »russische« U-Boote vor Schwedens Küste vortäuschte, um die Ängste in Europa zu nähren und Bedrohungsgefühle besonders bei den »kriegsunwilligen« Schweden zu fördern. (Siehe die jüngst erneut ausgestrahlte arte-Dokumentation aus dem Jahr 2015.)
Der Kalte Krieg gegen Russland wird wegen dieses aktuellen Salisbury-Zwischenfalls wohl (noch) nicht in einen heißen Russlandfeldzug der NATO münden, zumal die neuen APS-Kriegsgerätelager der USA im niederländischen Eygelshoven, im belgischen Zutendaal und im münsterländischen Dülmen erst ab 2020 voll bestückt und einsatzbereit sein sollen. Im Nahen und Mittleren Osten tobt allerdings bereits ein heißer, unkalkulierbarer Krieg, in dem Russland’s Beteiligung die Geopolitik des US-Imperialismus ganz besonders stört. Highly likely hat auch das mit dem Gift-Anschlag in Salisbury zu tun.
Kern des gegen Russland gerichteten militärischen Dispositivs, das die NATO seit 2014 in Ost- und Südosteuropa errichtet hat, ist ihre sogenannte Enhanced Forward Presence (eFP) – vier in Estland, Lettland, Litauen und Polen stationierte multinationale Bataillone. Jedes von ihnen wird von einer schlagkräftigen NATO-Rahmennation geführt – im estnischen Tapa von Großbritannien, im lettischen Ādaži von Kanada, im litauischen Rukla von Deutschland und im polnischen Orzysz von den Vereinigten Staaten. Die insgesamt gut 4.500 Militärs werden mit ihrem schweren Gerät alle sechs Monate gegen ein neues Kontingent ausgetauscht; dabei handelt es sich um ein Zugeständnis an die NATO-Russland-Grundakte, die eine dauerhafte Stationierung von NATO-Truppen in den ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten für nicht wirklich vorgesehen erklärt. Die eFP besteht entsprechend nicht aus fest stationierten, sondern aus rotierenden Kampftruppen, was zwar den Wortlaut der NATO-Russland-Grundakte wahrt, ihrem Geist aber zuwiderläuft. Die Bataillone, die die NATO auch Battlegroups nennt und die am 29. Juni 2017 bei einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister offiziell für einsatzfähig erklärt wurden, führen Kriegsübungen wie »Iron Wolf« sowie Ausbildungsmaßnahmen durch, wobei sie eng mit den jeweiligen einheimischen Streitkräften kooperieren. …
Für ihre gegen Russland gerichteten Aktivitäten in Osteuropa verfügt die NATO inzwischen über eine eigene militärische Führungsstruktur. Am 3. Juli 2017 ist im polnischen Elbląg rund 50 Kilometer südlich der Oblast Kaliningrad das neue Headquarters Multinational Division North-East (HQ MND-NE) offiziell eingeweiht worden. Mit rund 300 Soldaten aus 14 Staaten, darunter Deutschland, führt es die vier Bataillone der eFP. Seinerseits ist es dem Headquarters Multinational Corps North-East (HQ MNC-NE) im nordwestpolnischen Szczecin unterstellt. Dieses wiederum wurde schon am 18. September 1999, nur ein halbes Jahr nach Polens NATO-Beitritt, gegründet. Neben den drei Führungsnationen Deutschland, Polen und Dänemark sind inzwischen 22 weitere Staaten involviert. Teile der mehr als 400 Soldaten starken, abwechselnd von einem deutschen und einem polnischen Kommandeur geleiteten Einheit haben ihre Fähigkeiten dreimal (2007, 2010, 2014) in Afghanistan erprobt. Heute hat das HQ MNC-NE als einziges unter den NATO-Hauptquartieren eine fest definierte regionale Zuständigkeit: für Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei und Ungarn. Zwar ist es auf die Führung von Landstreitkräften spezialisiert, unterhält daneben aber auch ein Koordinierungszentrum für Luftoperationen (Air Operations Coordination Centre). Seit dem 14. Juni 2017 ist es offiziell als Hauptquartier auch für High Readiness Forces zertifiziert.
Letzteres bezieht sich insbesondere darauf, dass das HQ MNC-NE in Szczecin nicht nur dem HQ MND-NE in Elbląg – und damit der eFP – übergeordnet ist, sondern auch die NATO-«Speerspitze« führt, sobald diese nach Osteuropa verlegt wird. Die »Speerspitze« bzw. Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), die rund 5.000 Soldaten umfasst, ist in der Lage, binnen 48 bis 72 Stunden an jedem beliebigen Ort zu intervenieren. Die Eingreiftruppe ist Teil der NATO Response Force (NRF), die alles in allem ungefähr 40.000 Soldaten zählt und die VJTF im Einsatzfall kurzfristig mit weiteren Einheiten unterstützen kann – nicht zuletzt mit Luft- und Seestreitkräften und vor allem auch mit Spezialkommandos. Um die Interventionsfähigkeit der VJTF sicherzustellen, führt das HQ MNC-NE in Szczeczin sechs sogenannte NATO Force Integration Units (NFIU) – »kleine multinationale Hauptquartiere«, wie es die Bundeswehr formuliert, die in Osteuropa »die Sicherheitslage beobachten« und im Einsatzfall »für die reibungslose Aufnahme der schnellen Einsatzkräfte vor Ort zuständig« sind. NFIUs sind – im Kommandobereich des HQ MNC-NE – in Tallinn (Estland), Riga (Lettland), Vilnius (Litauen), Bydgoszcz (Polen), Székesvehérvár (Ungarn) und Bratislava (Slowakei) eingerichtet worden. Sie sind jeweils mit ungefähr 40 Militärs besetzt; das Standortland und die NATO entsenden jeweils 20.
Eine parallele Struktur baut die NATO in Südosteuropa auf. Analog zu den multinationalen Hauptquartieren in Polen hat das Bündnis im Juni 2017 ein Headquarters Multinational Division South-East (MND-SE) in Bukarest für einsatzfähig erklärt. Das HQ MND-SE, dem ungefähr 280 Soldaten angehören, führt Einsätze der NATO »Speerspitze« in Südosteuropa; dazu sind ihm zwei NFIUs in Bukarest (Rumänien) und Sofia (Bulgarien) unterstellt. Parallel zur baltisch-polnischen eFP baut die NATO zudem eine multinationale Brigade in Craiova (Rumänien) auf. Die NATO-Aktivitäten in Südosteuropa werden – im Unterschied zu denjenigen im Nordosten – nicht vom Allied Joint Force Command im niederländischen Brunssum, sondern vom Allied Joint Force Command in Neapel betreut.
Zusätzlich zur NATO forcieren die Vereinigten Staaten auf nationaler Ebene die militärische Formierung Ost- und Südosteuropas gegen Russland. Im Juni 2014 hat Washington die European Reassurance Initiative (ERI) gestartet, in deren Rahmen US-Truppen nach Ost- und Südosteuropa entsandt, gemeinsame Manöver mit den dortigen Streitkräften durchgeführt und die militärische Infrastruktur vor Ort ausgebaut werden. Stellte Washington im Haushaltsjahr 2015 zunächst 985 Millionen US-Dollar, für 2016 dann 789 Millionen US-Dollar bereit, so stieg der Betrag für 2017 rapide auf 3,4 Milliarden und für 2018 weiter auf 4,8 Milliarden US-Dollar. Hintergrund ist zum einen, dass die US-Streitkräfte seit Januar 2017 regelmäßig eine komplette Brigade mit rund 4.000 Soldaten und schwerem Gerät nach Ost- und Südosteuropa entsenden (Operation Atlantic Resolve, OAR); auch sie wird – wie die eFP-Bataillone – mit formaler Rücksicht auf die NATO-Russland-Grundakte alle neun Monate ausgetauscht. Dabei wird sie jeweils zunächst nach Polen transportiert, wo sie sich sammelt, um zu Ausbildungsmaßnahmen und Manövern weiter nach Estland, Lettland, Litauen, Rumänien und Bulgarien auszuschwärmen. Manche Kriegsübungen hält die Brigade auch auf deutschen Truppenübungsplätzen ab, etwa im bayrischen Grafenwöhr. Für die OAR hat die Bundesrepublik eine besondere Bedeutung: Teile des An- und Abtransports der jeweils per Schiff aus den USA nach Europa verlegten Brigade werden über norddeutsche Häfen abgewickelt und von der Bundeswehr unterstützt; in der Logistikkette spielen etwa das Anlanden der US-Transportschiffe in Bremerhaven und Hilfsaktivitäten der Bundeswehr-Logistikschule in Garlstedt zwischen Bremen und Bremerhaven eine bedeutende Rolle. Die Bundesrepublik sei vom »Frontstaat« des Kalten Kriegs zur »Transitzone« im neuen Kalten Krieg geworden, konstatierte Anfang 2017 aus Anlass der ersten Verlegung einer US-Brigade nach Ost- und Südosteuropa der stellvertretende Inspekteur der Bundeswehr-Streitkräftebasis, Generalleutnant Peter Bohrer.
Die zweite Ursache dafür, dass die US-Ausgaben für ERI 2017 und 2018 dramatisch in die Höhe schnellten, sind der Aufbau und die Bestückung mehrerer Lager mit sogenanntem Army Prepositioned Stock (APS) gewesen. Das kostspielige APS-Konzept sieht vor, US-Kriegsgerät – Panzer, Haubitzen, Militärtransporter und vieles mehr – weitgehend einsatzfähig in Europa zu deponieren, um im Ernstfall nur noch die zugehörigen Soldaten einfliegen zu müssen. Binnen kürzester Zeit könnten die Einheiten dann zum Einsatzort aufbrechen. Mittels APS werde – verdeckt – »eine amerikanische Armeedivision in Europa stationiert«, ließ sich der US-Botschafter bei der NATO, Douglas Lute, bereits im Februar 2016 zitieren. Dabei handle es sich um eine Einheit mit rund 15.000 bis 20.000 Soldaten. APS-Lager sind im niederländischen Eygelshoven unweit Aachen, im belgischen Zutendaal bei Genk, in Miesau nahe der Air Base Ramstein sowie in Dülmen bei Münster eingerichtet worden. Die Stationierung recht weit im Westen sichert für etwaige Einsätze in Ost- und Südosteuropa größere Flexibilität: Der Transport an dortige Kriegsschauplätze wäre jederzeit recht problemlos möglich, während eine Verlegung von Material zum Beispiel aus Rumänien ins Baltikum wegen der vergleichsweise schlecht ausgebauten östlichen Infrastruktur im Ernstfall viel schwieriger zu bewerkstelligen wäre.
Wie würden die NATO-Truppen im Ernstfall vorgehen? Komme es zu militärischen Auseinandersetzungen, dann müsse deren »erste Welle« von denjenigen Einheiten getragen werden, die kontinuierlich in den östlichen und südöstlichen NATO-Staaten präsent seien, heißt es in einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – also »von den Kräften der eFP, den Armeen der regionalen Staaten und anderen Präsenzkräften«. Unter »anderen Präsenzkräften« wird man wohl vor allem die US-Einheiten zu verstehen haben, die im Rahmen der Operation Atlantic Resolve zwischen dem Baltikum und Rumänien pendeln. Die »zweite Welle« etwaiger Kämpfe werde – mit Hilfe der NFIUs – von der binnen 48 bis 72 Stunden einzufliegenden NATO-»Speerspitze« und in deren Kielwasser von der NRF geführt, erläutert die SWP. Für die »dritte Welle«, die danach beginne, gebe es allerdings noch »keine designierten Einheiten«; man werde nehmen müssen, was man aus den NATO-Mitgliedstaaten bekomme. Genau hier setzten aber die Pläne Berlins für die Zukunft der Bundeswehr an, erläutert die SWP. So sei vorgesehen, dass deutsche Einheiten Heeresteile anderer europäischer Staaten aufnähmen; tatsächlich sind bereits rund zwei Drittel der niederländischen Heeresverbände in Bundeswehr-Divisionen integriert, einige tschechische, rumänische und polnische Einheiten stehen vor diesem Schritt. Damit werde »die Grundlage für kampfstarke multinationale Divisionen um die Rahmennation Deutschland gelegt«, bilanziert die SWP. Dies geschehe auch »mit Blick auf mögliche Einsatz-Szenarien (etwa im Osten der Allianz, aber nicht nur) …, um so Folgekräfte verfügbar zu machen«. Das sei »neu und politisch wie militärisch sehr ambitioniert«. Dabei wäre »die Rolle Deutschlands in diesen Verbänden und Strukturen signifikant«.
Ganz so einfach, wie sie klingen, liegen die Dinge mit der »zweiten« und der »dritten Welle« aber möglicherweise nicht. Denn die NATO-»Speerspitze«, die NRF und die um einen Bundeswehrkern gruppierten multinationalen Divisionen müssten an etwaige Kriegsschauplätze im Osten oder im Südosten Europas erst eingeflogen werden. Das aber könnte sich deutlich schwieriger gestalten als gedacht – denn Russland hat, wie Militärstrategen konstatieren, eine »A2/AD«-Zone an seiner Westgrenze errichtet. »AD« steht für »area denial« – dafür, dass Operationen feindlicher Kräfte in einem bestimmten Gebiet schwer durchführbar, vielleicht sogar unmöglich gemacht werden: So erläutern es die drei Ex-NATO-Generäle Wesley Clark (USA), Egon Ramms (Deutschland) und Richard Shirreff (Großbritannien) sowie der mehrmalige estnische Außen- und Verteidigungsminister Jüri Luik in einem Papier, das sie im Mai 2016 veröffentlichten. »A2« wiederum steht für »anti-access«, also dafür, dass es Land-, See- und Luftstreitkräften sehr schwer gemacht wird, überhaupt erst in dieses Gebiet einzudringen. Die A2/AD-Zone, die Russland durch die Stationierung unter anderem von hochwirksamen S-300- und S-400-Luftabwehrsystemen, von Iskander-Raketen und anderem Gerät in seinem Westlichen Militärbezirk und der Exklave Kaliningrad, aber auch durch die Koordination seiner Abwehrsysteme mit der belarussischen Verteidigung errichtet hat, erstreckt sich den NATO-Generälen zufolge auf die baltischen Staaten sowie auf Teile Polens und Finnlands. Die Mobilität der russischen Abwehrsysteme hat zur Folge, dass sie nicht so einfach auszuschalten sind; hinzu kommt die Schlagkraft der russischen Luftwaffe und der Marine. Durch den gesamten russischen Abwehrkomplex würden »die meisten, wenn nicht sogar alle Flugzeuge«, die in den Luftraum über der östlichen Ostsee einzudringen suchten – etwa um Verstärkung zu bringen –, »in Gefahr gebracht«, bemerken Clark, Ramms, Shirreff und Luik.
Selbstverständlich arbeiten die NATO und ihre Streitkräfte an Optionen, die russische Luftabwehr bei Bedarf auszuschalten, um die Verlegung eigener Truppen ins Baltikum durchsetzen zu können. Einen Eindruck davon bietet ein Thesenpapier, das das Kommando Heer mit Sitz in Strausberg bei Berlin im September 2017 vorgelegt hat. Das Heereskommando verfolgt mit dem Papier durchaus eigene Zwecke. So soll das Dokument zum einen die Erstellung eines »Operationskonzepts für Landstreitkräfte« vorbereiten, das in Zukunft als militärisches Grundlagendokument dienen kann. Zum anderen soll es erklärtermaßen als »Anregung zur Diskussion« dienen; dabei zielt es ganz besonders auf den Deutschen Bundestag, der ja schließlich kostspielige Aufrüstungsprojekte genehmigen muss. Um bei den Abgeordneten Eindruck zu schinden, hat ein Autorenteam des Kommandos Heer für das Thesenpapier verschiedene Kriegsszenarien entworfen, denen man zumindest in Ansätzen entnehmen kann, wie sich die Militärs die Waffengänge der Zukunft vorstellen. Interessant ist dies nicht zuletzt, weil die Rahmenangaben recht deutlich machen, wo die Szenarien angesiedelt sind und was sie darstellen: Es handelt sich um Kämpfe gegen russische Truppen im Baltikum.
Was also tun, wenn Russland eine kaum zu durchdringende A2/AD-Zone im Baltikum errichtet hat? Es gelte ganz einfach, die geplante Truppenverlegung dorthin »durch den massiven Einsatz von Täusch-UAV zu tarnen«, heißt es in dem Thesenpapier aus dem Kommando Heer. UAV (Unmanned Aerial Vehicle) sind Drohnen; relativ billige Minidrohnen kann man elektronisch so konfigurieren, dass sie von feindlicher Luftabwehr als Hubschrauber wahrgenommen werden. Schickt man Truppentransporter mit großen Minidrohnenschwärmen auf den Weg, dann kann man »der gegnerischen Luftverteidigung eine Vielzahl von Einsatzverbänden vortäuschen«, heißt es weiter in dem Papier. Der Gegner wäre überlastet, weil ihm »mehr Ziele geboten werden«, als er »bekämpfen kann«; er verschösse seine kostbaren Abwehrwaffen auf nutzlose Minidrohnen, während die Truppentransporter der Bundeswehr sicher an den Einsatzort gelangten. »Parallel« müsse man die Operation freilich durch »Angriffe auf das Luftverteidigungsnetzwerk des Gegners in mehreren Dimensionen« unterstützen, erklärt das Autorenteam aus dem Heereskommando; dabei würden »Cyber-Angriffe, Angriffe aus der Luft, vom Boden und von See« mit einer »gezielte[n] Störung« durch elektronische Waffen und mit »Einsätze[n] von Spezialkräften gegen Führungseinrichtungen kombiniert«. Szenarien dieser Art listet das Thesenpapier für sehr unterschiedliche Operationen auf – nicht nur für die Verlegung von Truppen und für Defensivmaßnahmen, sondern auch für eigene Angriffe, etwa für Vorstöße mit gepanzerten Fahrzeugen. Der Sache nach handelt es sich dabei um etwaige Angriffe auf russisches Territorium.
[1] Auszug mit freundlicher Genehmigung des PapyRossa-Verlages aus: Jörg Kronauer, Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg, Köln, März 2018.
Das war eine klare Warnung an Frankreichs Staatschef Macron: am gewerkschaftlichen Aktionstag für die öffentlichen Dienste haben sich am 22. März mehrere hunderttausend Französinnen und Franzosen an rund 180 Kundgebungen und Demonstrationen im ganzen Land beteiligt. Mehr als 500.000 Teilnehmer nach Angaben des linken Gewerkschaftsbundes CGT, aber immerhin 323.000 auch laut dem französischen Innenministerium.
Der Protest richtete sich in erster Linie gegen die von der Regierung beabsichtigte Streichung von rund 120.000 Stellen in verschiedenen öffentlichen Diensten. Außerdem waren die kürzlich beschlossene Einführung eines »Karenztages« im Krankheitsfall, an dem es weder Lohnfortzahlung noch Krankengeld gibt, und das »Einfrieren« des Indexpunktes für die Höhe der Gehälter Stein des Anstoßes.
Die Beteiligten bekundeten, wie die CGT in einer Erklärung hervorhob, ihr Festhalten am Prinzip von öffentlichen Diensten gegen die Privatisierungsabsichten der Regierung. Sie wollen den Erhalt und den Ausbau der öffentlichen Dienste und dafür mehr Mittel und Personal, damit sie ihre Angebote nicht nur im Interesse der Beschäftigten, sondern auch der Nutzer entsprechend den heutigen Möglichkeiten verbessern können.
Eine Besonderheit des Aktionstages vom 22. März war es, dass erstmals wieder seit langer Zeit eine breite gewerkschaftliche Einheit zustande kam. Alle sieben relevanten Gewerkschaftsbünde (CGT, FO, FSU, CFE-CGC, CFTC, Solidaires et FA-FP) der öffentlichen Dienste hatten sich trotz ihrer unterschiedlichen Grundhaltungen, eher aktionsbereit oder eher auf sozialpartnerschaftliche Verhandlungen ausgerichtet, zu einer gemeinsamen Aktionsfront zusammengeschlossen.
In einem Leitartikel der kommunistischen Tageszeitung »L’Humanité« hieß es dazu am 23.3., dass der unbestreitbare Erfolg der gewerkschaftlichen Demonstrationen ein Zeichen der zunehmenden Besorgnis in der Bevölkerung gegenüber der neoliberalen Offensive von Staatschef Macron und »ein Indiz eines neuen Klimas im Land« sei. Die anfänglich abwartende Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber der Politik Macrons und die »Erstarrung« angesichts seines nun sicht- und spürbar werdenden rigorosen Vorgehens scheine sich zu verflüchtigen.
In den Demonstrationszügen waren die Westen, Fahnen und Transparente der unterschiedlichen Berufsgruppen, von den Staatsbediensteten und Angestellten der Territorialverwaltungen über das Justizpersonal und die Lehrer und Beschäftigten im Bildungswesen bis zum Personal der öffentlichen Krankenhäuser zu sehen. In Paris vereinigten sich am Nachmittag auf dem geschichtsträchtigen Platz der Bastille ein Demonstrationszug der verschiedenen öffentlichen Dienste mit rund 40.000 Teilnehmern, ausgehend vom Stadtviertel Bercy im 12. Arrondissement, mit einer gesonderten Demonstration von 25.000 Eisenbahnern aus dem ganzen Land, ausgehend vom entgegengesetzt liegenden Gare de l’Est (Ostbahnhof).
Für die Eisenbahner war dies der Auftakt zu dem von den vier stärksten Gewerkschaftsbünden (CGT, UNSA, SUD und CFDT) beschlossenen, für drei Monate vereinbarten »perlenartigen« oder »punktartigen Streik« gegen die von der Regierung geplante »Reform« des staatlichen Eisenbahnunternehmens SNCF. Dieser begann am 3. April und dauert im Rhythmus von zwei Tagen Streik und drei Tagen Pause bis Ende Juni. Im Demo-Zug der Eisenbahner zogen auch Abordnungen von Gewerkschaften aus den Nachbarländern mit, so aus Belgien, Spanien, Großbritannien, der Schweiz und Deutschland.
Außer Paris gab es die größten Kundgebungen mit oft mehreren zehntausend Beteiligten in Marseille, Toulouse, Lyon, Nantes, Rennes, Rouen, aber auch mit etwa 5.000 Teilnehmern in Straßburg. Unterstützt wurde die Aktion auch durch Abordnungen der Parteien der politischen Linken, meist unter Beteiligung ihrer zentralen Führungspersonen, so Pierre Laurent von der PCF, Jean-Luc Mélenchon von der Bewegung der »Insoumises« (»Unbeugsamen«), Olivier Besancenot von der »Neuen Antikapitalistischen Partei« (NPA), Benoît Hamon, Ex-Präsidentschaftskandidat der »Sozialisten«, mittlerweile aus der PS ausgetreten und Anführer der Vereinigung »Génération.s«, Vertretern der Grünen-Partei EELV und anderen Linksgruppen. Diese Parteien und Vereinigungen hatten schon Tage vor dem 22. März in einer gemeinsamen Erklärung ihre Solidarität mit dem Anliegen der Gewerkschaften und Demonstranten bekundet.
Das war die erste gemeinsame politische Äußerung der Linksparteien seit langem. Auch der kürzlich neugewählte Vorsitzende der »Sozialistischen Partei« (PS), Olivier Faure, bekundete seine Unterstützung, musste allerdings erleben, dass er wegen seiner duldsamen Haltung gegenüber dem neoliberalen Kurs des vorigen Staatspräsidenten Hollande von Demonstranten angegangen und mit Pfui-Rufen bedacht wurde.
Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes wollten auf einer Zusammenkunft am 23.3. über den Fortgang der Bewegung beraten. Die CGT hat den Vorschlag unterbreitet, am 19. April einen neuen gemeinsamen branchenübergreifenden landesweiten Aktionstag durchzuführen.
Es kennzeichnet die angebliche »Ausgewogenheit« der deutschen Medien, dass die meisten von ihnen den erfolgreichen Aktionstag der Gewerkschaften in Frankreich einfach mit Schweigen übergangen haben.
Der Tarifabschluss für die Metall- und Elektroindustrie 2018 ist sehr komplex. Der Verlauf dieser Tarifbewegung war deutlich kontroverser und härter als die letzten Metalltarifrunden. Die IG Metall musste zum ersten Mal das neue Arbeitskampfinstrument ganztägiger Warnstreiks einsetzen. Das Thema »Arbeitszeit« ist wieder auf der Tagesordnung und in der öffentlichen Diskussion. Wohin die Reise weiter geht, ist mit diesem Abschluss noch nicht ausgemacht.
Das Verhandlungsergebnis mit seinen verschiedenen Bestandteilen ist kompliziert und schwer durchschaubar. Das war schon in der Forderung der IG Metall-Tarifkommissionen angelegt: keine kollektive Verkürzung der Arbeitszeit für alle, sondern individuelle Rechtsansprüche auf »kurze Vollzeit« für jede/n mit einem »lebensphasenorientierten« Entgeltzuschuss für Eltern, Pflegende und Schichtarbeitende.[1]
Im Ergebnis findet sich jetzt statt des von den Unternehmern vehement abgelehnten Entgeltzuschusses für die angesprochenen Gruppen ein »Zeitzuschuss«. Darüber hinaus sind in den Tarifkompromiss auch Anliegen der Kapitalseite nach weiterer Flexibilisierung der Arbeitszeiten nach oben eingegangen.
Beim Lohn darf man sich wegen der langen Laufzeit nicht blenden lassen von der Zahl »4,3 Prozent«. Falsch wäre aber auch, diese Zahl mit »Westrick-Formel« oder Dreisatz auf 27 Monate Laufzeit umzurechnen. Denn: ab 2019 wird einmal jährlich das »Tarifliche Zusatzgeld« fällig von 27,5 Prozent eines Monatseinkommens plus weitere 400 Euro Festgeld (für 2019, in den Folgejahren 12,3% vom Eckentgelt). 27,5 Prozent eines Monatslohns entsprechen bei ca. 13,2 Monatsentgelten im Jahr (mit Urlaubs- und Weihnachtsgeld) etwa 2 Prozent Lohnerhöhung pro Monat; 12,3 Prozent vom Eckentgelt entsprechen weiteren 0,93 Prozent für Beschäftigte im Eckentgelt (Lohngruppe für Tätigkeiten mit dreijähriger Berufsausbildung) – für die höheren Entgeltgruppen prozentual entsprechend weniger, für die unteren entsprechend mehr. Diese »Zusatzgelder« gehen dauerhaft und tarifdynamisch in die zukünftigen Jahreseinkommen ein. In der Summe liegt der Lohnabschluss damit etwa auf gleichem Niveau wie die Metall-Abschlüsse der letzten Jahre: Keine Umverteilung von oben nach unten, aber deutlich mehr als Inflationsausgleich.
Bei der Arbeitszeit erreichte die IG Metall den geforderten Rechtsanspruch auf »kurze Vollzeit« mit Rückkehrrecht für jeden, aber nicht für alle Beschäftigten, sondern begrenzt auf maximal 10 Prozent der Belegschaften. Für Kindererziehung, Pflege und bei Schichtarbeit gibt es ab 1. Januar 2019 Anspruch auf acht Tage »tarifliche Freistellungszeit«. Sechs davon zahlt der Beschäftigte durch Umwandlung des »Tariflichen Zusatzgeldes« von 27,5 Prozent eines Monatslohns (»Wahloption« Geld oder Freizeit), zwei zahlt der Unternehmer als »Freizeitzuschuss« statt des geforderten Entgeltzuschusses.
Für die 400 Euro/12,3% vom Eckentgelt konnte Gesamtmetall eine »dauerhafte Differenzierung« durchsetzen: ein Unternehmer kann diese aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation verschieben, kürzen oder gar nicht zahlen. Dafür braucht er allerdings die Zustimmung der Tarifparteien, also auch der IG-Metall-Mitglieder des betroffenen Betriebes. Die Zustimmung des (in der Regel leichter erpressbaren) Betriebsrates reicht nicht.
Zur Kompensation des durch »kurze Vollzeit« und »Wahloption« entfallenden Arbeitsvolumens hat die Kapitalseite eine Aufweichung der bisher geltende(n) maximalen Quote(n) für längere Arbeitszeiten bis zu 40 Stunden durchgesetzt. Dazu Gesamtmetall-Chef Rainer Dulger: »Mit diesem Modell haben wir genau die Flexibilisierung nach unten und nach oben vereinbaren können, die wir angestrebt haben«. Mit solchen Aussagen wollen die Unternehmer den Eindruck vermitteln, sie könnten jetzt einseitig die Arbeitszeit einzelner Beschäftigter verlängern. Doch auch in Zukunft steht, wie bisher, in den Manteltarifverträgen: »Soll für einzelne Arbeitnehmer die individuelle (…) Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden verlängert werden, bedarf dies der Zustimmung des Arbeitnehmers«.
Dabei ist natürlich klar, dass die einzelnen Arbeitenden mit ihren Chefs nicht »auf Augenhöhe« verhandeln. Es bleibt Aufgabe der Betriebsräte, dafür zu sorgen, dass diese Freiwilligkeit nicht nur auf dem Papier steht. Deren Mitbestimmung bei der Einhaltung der maximalen »Quoten« für Verträge mit längerer Arbeitszeit wurde im Tarifabschluss ebenfalls gestärkt. Die reale Umsetzung vor Ort wird also sehr von der Stärke der Beschäftigten und ihrer Betriebsräte und Vertrauensleute im jeweiligen Betrieb abhängen. Diese weitere Individualisierung und Verbetrieblichung ist die größte »Kröte« im Abschluss.
Für diesen Abschluss (mitsamt »Kröten«) mussten eine Million Metallerinnen und Metaller in Warnstreiks und noch einmal eine halbe Million in Tagesstreiks den Unternehmern zeigen, wer jeden Tag – und oft auch in der Nacht – die Werte schafft, auf denen ihr Profit beruht. Gezwungen wurden sie dazu durch die Reaktion der Unternehmer und ihrer Verbände auf die Forderungen der IG Metall.
Diese wiesen die Arbeitszeit-Forderungen als »fast unüberbrückbare Hürde« scharf zurück[2] und starteten schon in die erste Verhandlungsrunde mit massiven Gegenforderungen.[3] Den geforderten Entgeltzuschuss für Erziehende, Pflegende und Schichtarbeitende bezeichneten sie als »rechtswidrig« und reichten – im Vorfeld der Tagesstreiks – entsprechende Klagen ein, ohne Erfolg. Garniert wurde dieses Vorgehen mit markigen Sprüchen – manche davon sind wahre Perlen:
»Was habe ich mit den familiären Zuständen der Beschäftigten zu tun?« – ungeschminkt machte Dr. Volker Schmidt (Hauptgeschäftsführer NiedersachsenMetall) hier klar, dass Verkauf und Kauf der Arbeitskraft für die Beteiligten sehr verschiedene Zwecke verfolgen: geht es dem Verkäufer um die Existenz (mitsamt der »familiären Zustände«), so geht es den Dr. Schmidts um die Quelle des Profits und sonst gar nichts …
»Mehr Geld fürs Nichtstun wird es mit uns nicht geben« – so kommentierte Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger die Forderung nach einem Entgeltzuschuss bei Kindererziehung oder Pflege. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich also aus Unternehmersicht um »Nichtstun« – persönlich wäre ihm zu wünschen, nie auf Pflegende angewiesen zu sein, die das auch so sehen …
»Es geht nicht, dass der Arbeitnehmer allein entscheidet, wann er wie viel arbeiten will« – in diesem Satz von Unternehmerpräsident Ingo Kramer erkennt ein Kommentator[4] »ein vordemokratisches Denkmuster«, welches ins 19. Jahrhundert passe. Als sein Bruder im Geiste kritisiert Südwestmetall-Chef Stefan Wolf »Forderungen, die keine Rücksicht auf die betriebliche Organisation nehmen: Es ist aber immer noch die Hoheit des Unternehmers, diese Organisation aufrecht zu erhalten.«
Man sieht: wenn es um Arbeitszeiten geht, sehen die Herren »Sozialpartner« rot. Dazu noch einmal der Kommentar im »Kölner Stadt-Anzeiger«: »Beim Thema Arbeitszeit verstehen Arbeitgeber keinen Spaß. Die Metall-Unternehmer schon gar nicht. Ökonomisch haben sie zwar längst verkraftet, dass ihnen die IG Metall vor Jahrzehnten die 35-Stunden-Woche abgetrotzt hat. Aber mental haben sie hier noch immer eine nicht heilen wollende, schmerzhafte Wunde. Mediziner nennen dies Phantomschmerz.«
Ein Blick in die Geschichte der Regelung und Begrenzung von Arbeitszeiten zeigt weitere, tiefer liegende Gründe für die Verhärtung der Fronten: bei der Arbeitszeit geht es nicht »nur« um Verteilungsfragen wie beim Einkommen, sondern auch um Verfügungsgewalt und Macht – das illustrieren die Herren Kramer und Wolf.
Außerdem stehen sich bei diesem Thema zwei unvereinbare Grundpositionen gegenüber, seitdem in der kapitalistischen Produktionsweise die menschliche Arbeitskraft zur Ware geworden ist, welche aber Besonderheiten gegenüber anderen Waren aufweist. Hören wir dazu Marx: »Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich (…) zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will.«[5]
Marx folgert: »Es findet hier also eine Antinomie« (ein Widerstreit von Gesetzen) »statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. (…) Die Schöpfung eines Normalarbeitstages ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkrieges zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.«[6]
Besonders in den Tagesstreiks als Schlachten dieses »Bürgerkriegs« haben die Beteiligten massenhaft ihre eigene Kraft erfahren: »Ohne uns läuft nichts!« Für diese Erfahrung muss man Dulger und Co. eigentlich danken …
IG Metall-Verhandlungsführer Roman Zitzelsberger feiert den Abschluss als »mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit für die Beschäftigten«. In der Tat: hier wurde erstmals eine Flexibilisierung der Arbeitszeit vereinbart, welche sich an den Bedürfnissen der Arbeitenden orientiert und nicht an denen der Kapitalverwertung. Aber: »Es geht um ein Arbeitszeitverkürzungsprojekt… und nicht um ein Individualisierungsprojekt«, so Robert Sadowsky, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Gelsenkirchen, auf der Arbeitszeitkonferenz der DKP im November 2017.[7] Das Tarifergebnis enthält von beidem etwas.
Wohin rollt der Zug? Bleibt es bei der Aussage des IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann: »Es geht schon lange nicht mehr um die weitere kollektive wöchentliche Arbeitszeitverkürzung. Stattdessen wollen wir den unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen gerecht werden …«?[8] Oder formieren sich in den Gewerkschaften wieder stärkere Kräfte, welche angesichts fortbestehender Massenarbeitslosigkeit und Prekarität sowie anstehender Rationalisierungsschübe (»Industrie 4.0«) auf kollektive Arbeitszeitverkürzungen setzen? Dafür müssten sich allerdings stärker als bisher politische Kerne in den Betrieben entwickeln, welche nicht nur einen betrieblichen, sondern einen gesellschaftlichen Blick auf Arbeitszeiten und andere Fragen haben.
In zwei Konflikten der nächsten Zeit werden weitere Weichen gestellt. Zum einen wurde die Angleichung der Arbeitszeiten in der Metallindustrie Ost an den Westen in dieser Runde noch nicht gelöst – im Osten laut Beschäftigtenbefragung für 91 Prozent »wichtig« oder »eher wichtig«, im Westen nur für 41 Prozent. Dafür gilt es, im Osten die betriebliche Durchsetzungskraft der IG Metall und im Westen die Solidarität zu stärken. Zum anderen »brauchen wir eine gesetzliche Flankierung unserer Arbeitszeitpolitik«.[9] Darum ist es nötig, den Angriffen aus Kapital und Kabinett auf das Arbeitszeitgesetz mit eigenen Forderungen entgegenzutreten.[10]
[1] Zu den Forderungen im Detail vgl. meinen Artikel in: Marxistische Blätter 1_2018, S. 13.
[2] Nordmetall-Präsident Thomas Lambusch, WESER-KURIER 4.1.2018.
[3] Die Gegenforderungen im Detail ebenfalls in: Marxistische Blätter 1_2018, S. 14.
[4] »Kölner Stadt-Anzeiger«, 3.1.2018.
[5] Karl Marx, Das Kapital, Bd. I., MEW 23, S. 249.
[6] Ebenda, S. 249, S. 316. Zum Thema lohnt sich: Das Kapital, Band 1, Achtes Kapitel, Der Arbeitstag, 1. Die Grenzen des Arbeitstags, MEW 23, S. 245–249, http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_1; sowie 7. Der Kampf um den Normalarbeitstag. Rückwirkung der englischen Fabrikgesetzgebung auf andre Länder, MEW 23, S. 315–320, http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_245.htm#Kap_8_7.
[7] UZ-Doku. »30 Stunden sind genug«, S. 27.
[8] Neue Osnabrücker Zeitung, 4.11.2016.
[9] Robert Sadowsky, IG Metall Gelsenkirchen, UZ-Dokumentation »30 Stunden sind genug«, S. 25.
[10] Vgl. dazu Robert Sadowsky, »Trumpfkarte im Standortpoker«, UZ-Dokumentation »30 Stunden sind genug«, S. 21–27; Isa Paape, »Eine für alle – Die 35-Stunden-Woche«, »Z.« Nr. 113, März 2018, S. 14–19.