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ÜBER DIE AUTORIN

Elif Shafak, in Straßburg geboren, ist eine preisgekrönte Autorin und die meistgelesene Schriftstellerin der Türkei. Sie schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Ihr schriftstellerisches Werk von fünfzehn Büchern wurde in insgesamt achtundvierzig Sprachen übersetzt. Zu ihren bekanntesten Romanen gehören Der Bastard von Istanbul, Die vierzig Geheimnisse der Liebe, Ehre und Der Geruch des Paradieses. Der Bonbonpalast ist einer ihrer früheren Romane und erschien im Original erstmals im Jahr 2002. Elif Shafak lebt in London.

www.elifshafak.com

ÜBER DAS BUCH

Einst war der Bonbonpalast ein Prachtbau, doch heute ist er ein heruntergekommenes Mietshaus mit Bewohnern, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Durch die Flure, unter den Wohnungstüren hindurch, aus den Fenstern heraus und um das Gebäude herum legen sich die Stränge ihrer Geschichten, die sich auf fatale Weise miteinander verknüpfen.

»Wer Elif Shafaks Blick auf die Türkei kennenlernen will, hält sich am besten an den Bonbonpalast.«

Neue Zürcher Zeitung

»Elif Shafak sieht hin, schaut die Menschen an, hört ihnen zu, registriert ihre unterschiedlichen Tonfälle genauestens und fügt alles zusammen zu der Sinfonie einer Großstadt.«

Frankfurter Rundschau

»Ein kluger Roman einer überaus begabten Erzählerin.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Der Bonbonpalast erzählt ein vitales Stück Istanbul.«

Die Zeit

Die Bewohner des Bonbonpalasts

Wohnung 1 – Musa, Meryem und Muhammet

Wohnung 2 – Sidar und Gaba

Wohnung 3 – Die Friseure Cemal & Celal

Wohnung 4 – Die Feuersons

Wohnung 5 – Hadschi Hadschi, sein Sohn, seine Schwiegertochter und seine Enkelkinder

Wohnung 6 – Metin Çetin und Gemahlin Nadj

Wohnung 7 – Ich

Wohnung 8 – Die Blaue Mätresse

Wohnung 9 – Hygiene-Tijene und Su

Wohnung 10 – Tantchen Madam

 

Auch im Ghetto kann man sicher sein und sich wohlfühlen. Was es gleichwohl zu einem Ghetto macht, ist der Zwang, dort leben zu müssen. Jetzt, da die Mauern einstürzen, sollten wir über den Schutt steigen und uns die Stadt dort draußen ansehen.

 

Ursula K. Le Guin

Aus: Kadmlar Rüyalar Ejderhalar (Frauen, Träume, Drachen)

 

DIE LEUTE BEHAUPTEN, ich hätte eine blühende Fantasie. Das ist noch die freundlichste Art zu sagen: »Du spinnst!« Damit könnten sie sogar recht haben. Denn ich spinne reichlich, zum Beispiel wenn ich mir ständig Sorgen mache und beim Reden alles durcheinanderbringe oder wenn ich mich vor den Blicken anderer fürchte, aber so tue, als hätte ich keine Angst, wenn ich mich jemandem vorstelle, den ich gerne kennenlernen würde, und dabei verschweige, dass ich mich selbst kaum kenne, und wenn mir die Vergangenheit wehtut und ich nicht akzeptieren kann, dass die Zukunft auch nicht viel besser sein wird. Vor allem spinne ich, wenn ich mich nicht damit abfinden kann, da zu sein, wo ich bin, und der zu sein, für den ich gehalten werde. Das Ersponnene ist genauso weit von der Wahrheit weg wie von der Unwahrheit. Der Lügner stellt die Wahrheit auf den Kopf, während der Spinner die Wahrheit mit der Lüge verlötet. Das hört sich kompliziert an, ist aber so einfach, dass es sich mit einem Strich darstellen lässt.

Angenommen, die Wahrheit ist ein waagerechter Strich:

Dann ergibt das, was wir Lüge nennen, eine Senkrechte:

Das Ersponnene sieht dann so aus:

Im Kreis gibt es keine Waagerechte und keine Senkrechte, er hat weder einen Anfang noch ein Ende.

Man kommt von jedem beliebigen Punkt aus in den Kreis, denn einen verbindlichen Start gibt es nicht. Auch keine Schwelle, keinen Ausgangspunkt und kein Ziel. Egal, wo ich beginne, es gibt immer ein Davor. Ich habe es nicht selbst erlebt, aber ich weiß es von einem, der sich auskennt: Früher, als die Mülltonnen an Istanbuls Straßen noch runde, graue Blechdeckel hatten, gab es ein Spiel, das Mädchen und Jungs zusammen spielten. Dafür brauchte es eine bestimmte Zahl von Mitspielern – nicht zu viele, damit es kein Durcheinander gab, aber auch nicht zu wenige, damit es nicht langweilig wurde. Auf jeden Fall musste es eine gerade Zahl sein.

Zuerst ging es bei dem Spiel um die Frage »wann?«. Als Antworten darauf wurden vier Begriffe über Kreuz in den runden, grauen Blechdeckel geschrieben: »Sofort – Morgen – Bald – Nie«. Dann drehte jemand den Deckel auf dem Knauf wie einen Kreisel, und noch bevor der Deckel an Schwung verlor, stoppte ihn der, der an der Reihe war, mit seinem Finger. Jeder Mitspieler wiederholte das und fand so nach und nach heraus, welcher Zeitrahmen ihm am nächsten lag. In der zweiten Runde wurden vier mögliche Antworten auf die Frage »wem?« in den Deckel gemalt, ebenfalls über Kreuz, aber um ein Viertel versetzt: »Mir – Meinem Liebling – Meinem besten Freund – Uns allen«. Wieder wurde der Blechdeckel blitzschnell gedreht, wieder hielten die Finger ihn irgendwo an.

In der dritten Runde ging es um die Frage »Was wird passieren?«. Dazu malten die Kinder wie Radspeichen zwischen die bereits vorhandenen acht Wörter acht weitere Wörter, und zwar – aus Fairness gegenüber dem Schicksal und seinen Unwägbarkeiten – vier gute und vier schlechte: »Liebe – Ehe – Glück – Reichtum – Krankheit – Trennung – Unfall – Tod«. Wieder kreiselte der Deckel, und am Ende hatten die Spieler die sehnsüchtig erwartete Antwort auf ihre Frage »wann wird wem was passieren?«: »Mir – Bald – Reichtum«, »Meinem Liebling – Morgen – Glück«, »Meinem besten Freund – Sofort – Ehe« oder auch »Uns allen – Nie – Trennung«.

Aller Anfang ist nicht schwer. Wenn ich die Spielregeln ein wenig ändere, kann ich meine Geschichte mit derselben Logik beginnen wie das Mülldeckelspiel. Zuerst stecke ich den Zeitrahmen ab: »Gestern – Heute – Morgen – Ewigkeit«. Dann geht es um den Schauplatz der Handlung: »Woher ich komme – Wo ich bin – Wohin ich gehe – Nirgends«. Dann sind die handelnden Personen dran: »Ich – Einer von uns – Wir alle – Keiner von uns«. Schließlich schreibt man – unter Beachtung der Fairnessregel – die möglichen Ausgänge dazwischen. Wenn ich den runden, grauen Blechdeckel viermal hintereinander drehe, kann ich so einen richtigen Satz bilden. Das ist für den Anfang mehr als genug: »Im Frühjahr 2002 starb in Istanbul einer von uns, bevor der Kreis sich geschlossen hatte.«

Am 1. Mai 2002, einem Mittwoch, um 12 Uhr 20 bog ein beigefarbener Lieferwagen – auf der einen Seite das Bild einer riesigen Maus mit spitzen Zähnen, auf der anderen das einer dicht behaarten, gewaltigen schwarzen Spinne, ansonsten war er über und über mit großen und kleinen Schriften verziert – aus einer der Istanbuler Hauptstraßen, die ihr Aussehen so oft ändern wie ihren Namen, in eine schmale Gasse und fuhr von dort, weil der Fahrer die Absperrungen übersehen hatte, die dort frühmorgens aufgestellt und bis mittags schon wieder umgeworfen worden waren, weiter auf einen großen Platz, wo er sich plötzlich mitten in einem Auflauf von circa zweitausendzweihundert Menschen wiederfand. Darunter waren fünfhundert Demonstranten, die den Tag der Arbeit feiern wollten, eintausenddreihundert Polizisten, die sie daran hindern sollten, eine Reihe von Staatsbeamten, die den Frühlingsfeiertag an einer anderen Ecke des Platzes, am Atatürkdenkmal, begingen, wo sie einen Kranz niederlegten, und Fähnchen schwenkende Grundschüler, die die Lücken dazwischen auffüllten. Die meisten Schüler hatten gerade lesen und schreiben gelernt und wie alle Kinder, die gerade lesen und schreiben lernen, den Drang, alles Geschriebene um sie herum laut vorzulesen. Sie waren völlig aufgedreht, weil sie seit Stunden mucksmäuschenstill in dieser Hitze stehen und sich alle Ansprachen anhören mussten. Als nun der mausige und spinnerte Lieferwagen zwischen sie geriet, kreischten die Kinder wild im Chor: »RE-GEN-BO-GEN-KAM-MER-JÄ-GER-SER-VICE: Ru-fen-Sie-an-wir-rei-ni-gen-für-Sie«.

Der Fahrer des Lieferwagens hatte Karottenhaare, Segelohren, ein unförmiges Gesicht und sah jünger aus, als er war. Das jähe Geschrei brachte ihn völlig aus der Fassung. Um sich vor den Kindern zu retten, riss er das Lenkrad herum und fuhr mitten in die explosive Mischung aus Demonstranten und Polizisten. Ein paar Minuten blieb er regungslos stehen, unschlüssig, in welche Richtung er nun fahren sollte. Da fingen einige Demonstranten an, ihn auszubuhen, andere bewarfen ihn wütend mit Steinen – je nachdem, aus welcher Fraktion welchen politischen Lagers sie kamen. Als er seinen Lieferwagen erschrocken in die andere Richtung steuerte, stoppte ihn die Polizei. Doch weil sich genau in diesem Moment eine kleine Gruppe aus den Reihen der Demonstranten löste und die Polizisten in ihre Richtung losstürmten, entging der Fahrer gerade noch seiner Verhaftung. Nach seiner geglückten Flucht war er in Schweiß gebadet. Er hieß Haksızlık Öztürk und vernichtete seit dreißig Jahren Schädlinge. Noch nie hatte er seinen Job so gehasst wie an diesem Tag.

Um weiterem Ärger zu entgehen, vermied er die Hauptstraßen und nahm stattdessen kurvenreiche Seitenstraßen, auch wenn der Weg dadurch länger wurde. Als er endlich zu dem gesuchten Haus kam, war er für seinen Termin eine geschlagene Stunde und fünfundvierzig Minuten zu spät. Er hielt am Gehweg an, blieb aber noch eine Weile im Wagen sitzen, um zu verschnaufen. Dabei beobachtete er eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Personen, die vor dem Hauseingang zusammenstanden. Er hatte keine Ahnung, warum sie sich dort versammelt hatten, kam aber zu dem Schluss, dass sie nichts mit ihm zu tun hatten. Noch einmal kontrollierte er die Adresse, die ihm die Quasselstrippe von Sekretärin am Morgen in die Hand gedrückt hatte: »Informantenstraße Nr. 88 (Bonbonpalast)«. Unten auf dem Zettel hatte die alte Klatschbase noch einen kleinen Hinweis angebracht: »Das Apartmenthaus mit dem Seidenbaum im Garten.« Haksızlık Öztürk wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und betrachtete aufmerksam den lila und rosa blühenden Baum im Garten. Das musste der Seidenbaum sein.

Da er der Sekretärin nicht über den Weg traute – er spielte sogar mit dem Gedanken, sie bald auszuwechseln –, wollte er mit seinen kurzsichtigen Augen das Schild mit der Hausnummer persönlich kontrollieren. Er parkte den Lieferwagen mitten auf der Straße und stieg aus. Kaum war er einen Schritt gegangen, da kreischte ein Mädchen, das mit zwei weiteren Kindern vor dem Haus stand: »Da kommt der Dschinn! Opaaa, Opa, schau doch, der Dschinn ist da!« Es zerrte am Hosenbein eines älteren Mannes mit gräulichem Bart, breiter Stirn und Gebetskäppchen auf dem Kopf. Dieser drehte sich mürrisch um und musterte zuerst den mitten auf der Straße stehenden Lieferwagen, dann den Fahrer. Mit dem, was er sah, schien er nicht sonderlich zufrieden zu sein, denn seine saure Miene wurde noch saurer, und er zog schnell die drei Kinder an sich.

Das Mädchen tat Haksızlık Öztürk unrecht. Er war weder Dschinn noch Kobold, sondern nur ein etwas klein geratener Mann mit groben Gesichtszügen, riesigen Ohren und unglücklicher Haarfarbe. Das war alles. Gewiss, er war etwas kurz: eins vierzigeinhalb. Er wurde auch schon mal für zwergwüchsig gehalten, aber »Dschinn« nannte man ihn zum ersten Mal. Er tat so, als habe er nichts gehört, bahnte sich mit entschiedenen Schritten einen Weg durch die Menschen vor dem aschfarbenen Gebäude und setzte eine dünne Brille mit dicken Gläsern auf. Sein Arzt hatte ihm verordnet, sie ständig zu tragen, aber er trug sie meist in der Tasche seines orangefarbenen Overalls, der noch mehr ins Auge stach als seine Haare. Trotz Brille erkannte er erst kurz vor dem Ziel, was so verschwommen an der Hausfassade hervorragte: das Relief eines Pfaus mit schmutzig grauen Federn – in gereinigtem Zustand vielleicht ein Prachtstück. Direkt darunter stand in geschwungenen Buchstaben über der zweiflügeligen Haustür Nr. 88 Bonbonpalast. Er war also richtig. Sein Blick fiel auf eine Visitenkarte in der Klingelleiste neben der Tür. Sie war von einer Konkurrenzfirma, die vor zwei Monaten in diesem Viertel aufgemacht hatte. Er nutzte die Gelegenheit, dass die Leute abgelenkt waren, zog die eingeklemmte Visitenkarte heraus und steckte eine von seinen hinein. Nachdem er diese Visitenkarten hatte drucken lassen, hatte er einen Studenten angeheuert, sie an alle Wohnhäuser der umliegenden Straßen zu verteilen. Doch bald feuerte er ihn fristlos und ohne Bezahlung.

REGENBOGEN KAMMERJÄGERSERVICE

Machen Sie sich die Hände nicht schmutzig.

Rufen Sie an, wir übernehmen für Sie die Säuberung.

Erfahrene Fachleute mit elektrischen und mechanischen Pumpen gegen Läuse, Kakerlaken, Flöhe, Wanzen, Ameisen, Spinnen, Skorpione, Fliegen, Mäuse und Schädlinge aller Art.

Wir sprühen im Freien und in geschlossenen Räumen, immer mit der richtigen Sprühtechnik: mit oder ohne Motor, elektrisch, mit Zerstäubern, Sprüh- und Nebelgeräten, auch geruchlos.

Tel.: (0212) 25824240

Der Student machte seine Arbeit nämlich mehr schlecht als recht und schien ihn auch noch zu betrügen. So war Haksızlık Öztürk nun einmal: Er traute keinem über den Weg. Er zog eine weitere Visitenkarte aus seiner Tasche und steckte sie neben die erste. Danach lief er schnell zu seinem Wagen zurück und stieg ein. Er schloss gerade die Tür, als eine blonde Frau in einem Umhang mit Leopardenmuster den Kopf durch das halb offene Autofenster streckte und die Augen verdrehte:

»Sind Sie nur mit einem Wagen da? Das reicht doch nie«, maulte sie. Dabei runzelte sie die Stirn und zog ihre schmal gezupften Augenbrauen hoch. »Die wollten doch zwei Lastwagen schicken! Selbst zwei schaffen kaum so viel Müll.«

Bevor Haksızlık Öztürk begriff, um was es ging, bogen zwei rote Lastwagen von beiden Seiten in die Informantenstraße und rasten heran. Am Bonbonpalast bremsten sie scharf und nahmen seinen Lieferwagen in die Zange. Hinter einem der Lastwagen fuhr der Sendewagen eines Privatkanals. Jetzt kam Bewegung in die Menge. Haksızlık Öztürk versuchte, ordentlich zu parken, und wollte gerade zurücksetzen. Plötzlich hob er eine Hand vom Lenkrad, um auf die wie rasend pochende Ader an seiner rechten Schläfe zu drücken. Nach all den Kundgebungen, die er seit dem Morgen erlebt hatte, standen seine Nerven unter Hochspannung. Unglücklicherweise verlor er die Kontrolle über das Lenkrad und rammte einen Haufen Müllsäcke, die an der Gartenmauer aufgetürmt waren, sodass sich der Müll auf den Gehweg ergoss.

Der Bonbonpalast hatte schon lange ein Müllproblem, vor allem vor der Tür. Von Anfang Februar, als die Firma pleitegegangen war, die den Müll in der Gegend eingesammelt hatte, bis Mitte April, als eine neue Firma die Ausschreibung gewonnen hatte, waren der Müllhaufen und der säuerliche Geruch, den er verströmte, bis zur Unerträglichkeit gewachsen. Doch auch mit der neuen Müllabfuhr änderte sich daran wenig. Selbst wenn der Abfall abends ordentlich eingesammelt wurde, wucherte er täglich aufs Neue, weil Hausbewohner und Passanten ständig ihren Müll an die Gartenmauer warfen.

Wenn Sie sich aus Neugierde einmal dorthin begeben, werden Sie noch heute einen Müllberg an der Gartenmauer sehen. Jeden Abend wird er zwar abgeräumt, doch schon am nächsten Tag schwillt er wieder an und wird genauso hoch wie am Tag zuvor. Mülltüten werden hingeschafft, Mülltüten werden weggeschafft. Der Müllhaufen verteidigt beharrlich seinen Platz, zusammen mit seinem »Volk«, den Leuten, die den Müll täglich durchwühlen, nach Blech, Pappe, Essensresten und was auch immer, den Katzen, Krähen, Möwen und seinem »König«, dem langhaarigen, pechschwarzen Kater mit weißem Bart und grimmigem Blick. Ungeziefer ist natürlich auch zur Stelle, wie überall, wo es Müll gibt, und selbst Läuse tummeln sich am Bonbonpalast. Glauben Sie mir, die Läuse sind am schlimmsten.

Um das zu beobachten, müssen Sie dort einige Zeit verbringen. Falls Sie keine Zeit haben, begnügen Sie sich doch einfach mit meiner Version der Geschichte. Ich kann zwar nur in meinem Namen sprechen, aber ich dichte selten etwas dazu, zumindest nicht sehr. Vielleicht füge ich manchmal die waagerechte Linie der Wahrheit an die senkrechte Linie der Lüge, um der zermürbenden Eintönigkeit zu entkommen, in der ich gerade stecke. Aus reiner Langeweile. Wenn mir jemand prophezeite, mein Leben wäre morgen nicht mehr ganz so trostlos wie heute, ginge es mir bestimmt besser. Aber morgen wird es wieder ganz genauso sein wie heute und auch die Tage danach. Nicht nur mein Leben wiederholt sich ständig: Die Senkrechte liegt zwar anders als die Waagerechte, doch beide sind gleich monoton. So ist die ewige Wiederkehr entgegen landläufiger Meinung typischer für Linien als für Kreise.

Aus der Monotonie der Linien führt nur ein Weg hinaus: Kreise in Kreise in Kreise zu malen. Damit machen Sie allerdings das Spiel kaputt, genauso wie wenn Sie den runden, grauen Blechdeckel drehen und eine Kombination herauskommt, die Ihnen nicht passt, und Sie ihn dann noch einmal anstoßen. Mit Subjekten, Pronomen, Verben und Zufällen spielen und sich dadurch ablenken: »Im Frühjahr 2002, in Istanbul, wurde der Tod von einem von uns von ihm selbst/mir/uns allen/keinem von uns herbeigeführt.«

Haksızlık Öztürk sprühte damals zuerst eine Wohnung, dann nach und nach alle Wohnungen im Bonbonpalast. Vierzehn Tage später kam er wegen der Babykakerlaken wieder, die aus den Eiern ihrer toten Mütter geschlüpft waren. Doch da blieb die Tür der Wohnung, die er als Erstes gesprüht hatte, verschlossen. Jetzt ist es aber noch zu früh, davon zu erzählen. Denn es gab ein Davor und natürlich ein Vor dem Davor.

Davor