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Der Bergpfarrer
– Box 4 –

E-Book 17-22

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-861-2

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Wirbel um Dr. Elena Winter

Darf eine Tierärztin so gut aussehen?

Roman von Toni Waidacher

Clemens Hardlinger schleppte sich mit letzter Kraft die steinerne Treppe seines Hauses hinauf und schloß mit einer müden Bewegung die Tür auf. Der Tierarzt von St. Johann hatte einen schweren, arbeitsreichen Tag hinter sich. Der Kollege vom Kreisveterinäramt hatte Seuchenalarm gegeben. Auf einem Bauernhof, in der Nähe von Waldeck, waren bei einer Muttersau Anzeichen der gefürchteten Maul- und Klauenseuche aufgetreten. Dr. Hardlinger war daraufhin den ganzen Tag unterwegs gewesen, um auf den umliegenden Höfen im Wachnertal nach dem Rechten zu sehen. Gottlob gab es keine Hinweise darauf, daß die Seuche sich schon bis hierher ausgebreitet hatte.

Aufatmend ließ sich der Tierarzt in seinen Sessel sinken und wischte sich erschöpft über das Gesicht. Ein starker Kaffee, ging es ihm durch den Kopf, das wäre jetzt genau das Richtige. Aber eigentlich war er viel zu müde, sich zu erheben und in die Küche zu gehen. Schließlich raffte er sich doch auf, denn mittlerweile meldete sich auch sein Magen zu Wort. Seit dem Frühstück hatte Dr. Hardlinger nichts mehr zu sich genommen. Ansonsten aß er mittags im ›Löwen‹, oder, wenn er schon früh unterwegs war, kam es vor, daß er auf einem der Höfe zum Mittagessen eingeladen wurde. Doch heute hatte er, angesichts der Umstände, keine Zeit gehabt, einer solchen Einladung zu folgen.

Es wird Zeit, daß du endlich in Pension gehst, dachte er, während er in seiner Küche stand und eine Brotscheibe mit Bergkäse belegte. Nebenan, auf dem Kühlschrank, stand die Kaffeemaschine. Sie blubberte und zischte, während der Kaffee durch den Filter lief. Der betörende Duft verstärkte das ohnehin schon vorhandene Hungergefühl. Mit einem wohligen Seufzer biß Clemens Hardlinger in das Brot. Den Kaffee in der Hand, setzte er sich wieder in seinen Sessel und schaute die Post durch, wozu er am Morgen nicht gekommen war. Er hoffte, endlich eine Antwort auf sein Inserat in der tierärztlichen Fachzeitung zu bekommen, das er bereits zum zweiten Mal aufgegeben hatte.

Neben einigen Reklamesendungen diverser Futtermittelhersteller, Informationsschreiben von Unternehmen für Tiermedizin und einer Monatsschrift des Tierschutzvereins, dem Dr. Hardlinger angehörte, befand sich auch ein Brief darunter, dessen Inhalt den Tierdoktor optimistisch stimmte. Der Absender war eine junge Kollegin, die auf sein Inserat antwortete. Dr. Hardlinger las das Schreiben mehrmals durch. Dr. Elena Winter hatte mit Auszeichnung promoviert und war zur Zeit die Assistentin des Laborleiters, einer großen Münchener Tierklinik. Wie sie schrieb, hatte sie schon seit längerem den Wunsch, eine eigene Tierarztpraxis zu übernehmen, wobei sie besonders die alpenländische Umgebung bevorzugte.

Dem Schreiben waren Kopien mehrerer Diplome beigefügt. Frau Dr. Winter hatte eine ganze Reihe von Seminaren besucht und sich auf vielfältige Art und Weise weitergebildet.

Erwartungsvoll griff Clemens Hardlinger zum Telefon und wählte die angegebene Münchner Nummer. Es wurde ein sehr langes Telefonat, das er mit der jungen Tierärztin führte.

»Also schön, Frau Kollegin, wir sehen uns dann in vier Wochen zu einem ersten Gespräch«, sagte er zum Schluß und legte zufrieden den Hörer auf die Gabel.

Er war gespannt auf das erste Treffen mit Elena Winter. Ihre Stimme hatte äußerst sympathisch geklungen, und sie weiß offenbar, was sie will. Wenn er sie richtig einschätzte, war sie eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand.

Gewiß würden dem ersten Treffen weitere folgen, bis man sich einig war, was die Übernahme der Praxis betraf. Doch Clemens Hardlinger war ziemlich zuversichtlich, daß er endlich eine Nachfolgerin gefunden hatte.

*

Alois Kammeier schaute nachdenklich auf das Papier, das zusammengeknüllt unter der Kirchenbank lag. Der Mesner von St. Johann konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie es dorthin gekommen war. Zum einen hatte er nach der letzten Messe, wie immer, ordentlich gekehrt, zum anderen war es noch nie vorgekommen, daß einer der Gläubigen während des Gottesdienstes Schokolade gegessen, und dann das Papier einfach unter die Bank geworfen hatte.

Aber dies war eindeutig das Papier eines Schokoladenriegels. Der Mesner hob es auf und steckte es in die Tasche seines Anzugs. Dann schaute er sorgfältig, ob noch mehr solcher Abfälle herumlagen, was aber eigentlich unmöglich sein konnte. Er fand auch nichts, trotzdem rätselte er immer noch herum, wie das Papier dorthin gekommen war.

Er schaute auf die Uhr. Bis zum Abendessen war es noch eine halbe Stunde. Zeit, die er nutzen konnte, um in der Sakristei Ordnung zu schaffen. Er betrat den Raum unter der Empore und blieb wie erstarrt stehen.

Eines der beiden kleinen Fenster stand offen, obwohl Pfarrer Trenker angeordnet hatte, sie beide stets geschlossen zu halten. Alois Kammeier wußte nicht, was er von der ganzen Angelegenheit zu halten hatte. Er hatte das Fenster gewiß nicht geöffnet, und er konnte sich nicht vorstellen, daß Hochwürden es getan hatte. Schließlich saß ihnen allen der Schrecken über den frevelhaften Madonnenraub vor einiger Zeit noch gut im Gedächtnis.

Eine schlimme Ahnung durchfuhr den Mesner. Hatten sich möglicherweise wieder dunkle Elemente hier herumgetrieben, um eine Möglichkeit auszubaldowern, die Kirche auszurauben?

»Das glaub’ ich net«, sagte Pfarrer Trenker.

Der Geistliche war auf den Ruf seines Mesners in das Gotteshaus geeilt. Sein Bruder Max, Polizeibeamter in St. Johann, hatte ihn begleitet. Er schaute sich aufmerksam um.

»Also, ein Fetzen Schokoladenpapier und ein offenes Fenster sind noch lang’ keine Indizien für ein beabsichtigtes Verbrechen«, meinte er.

»Ich werd’ trotzdem meine Augen offenhalten«, erwiderte Kammeier. »So ganz trau’ ich der Sach’ net.«

»Ein bissel merkürdig ist’s schon«, meinte Max, während sie zum Pfarrhaus hinübergingen. »Der Herr Kammeier ist die Sauberkeit in Person. Ich kann mir net vorstellen, daß er solch ein Stück Papier übersieht, beim Reinemachen. Und das mit dem Fenster ist auch net so ohne weiteres zu erklären. Es schaut so aus, als ob sich da jemand einen Einstieg hat offen lassen wollen. Ist dir während der Messe etwas aufgefallen?«

Sebastian überlegte. Nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre.

»Naja, ich werd’ später noch mal hineinschauen, ob alles in Ordnung ist«, versprach Max.

*

Das langgestreckte Gebäude lag im Dunkel. Auch die Fenster waren, bis auf eines, unbeleuchtet. Franz Herrschwieger, Nachtwächter in der Münchner Tierklinik, schaute zu dem hell erleuchteten Fleck im dritten Stock empor und schüttelte den Kopf.

Machte die Frau Doktor schon wieder Überstunden!

Seit zwanzig Jahren war Franz schon hier angestellt und hatte eine Menge Ärzte kommen und gehen sehen, aber so eine, wie Elena Winter, war nie darunter gewesen. Die Frau rieb sich für ihre Arbeit regelrecht auf. Morgens war sie die erste und abends die letzte, die ging. Dabei hatte sie für jeden ein sympathisches Lächeln und ein freundliches Wort, egal, ob es sich um Prof. Dr. Birchler handelte, den Gründer und Leiter der Tierklinik, oder um Franz Herrschwieger – den Nachtwächter.

Wenn die Frau wirklich kündigt – na dann gute Nacht, dachte Franz und drehte weiter seine Runde.

Im dritten Stock saß indes Elena Winter auf einen Schemel. Sie blickte durch ein Mikroskop und beobachtete aufmerksam, was sich in der Flüssigkeit auf dem Objektträger tat. Winzige, stangenförmige Teilchen schwammen darin. Sie platzten mit atemberaubender Geschwindigkeit und vermehrten sich auf diese Weise. Elena tupfte mit einer Pipette einen Tropfen aus einem Reagenzglas hinzu und hielt den Atem an. Kaum hatten sich die beiden Flüssigkeiten vermischt, wurde die Vermehrung der Stangenteilchen gestoppt. Reglos lagen sie auf dem Objektträger, abgestorben.

Die junge Ärztin unterdrückte einen Freudenschrei. Akribisch notierte sie ihre Entdeckung in einem Protokoll. Dann griff sie zum Telefon und rief Professor Birchler an.

»Sie haben’s wirklich geschafft, Sie Teufelsmädchen?« fragte ihr Chef begeistert. »Los, machen Sie sich sofort auf den Weg und kommen Sie hierher. Das muß gefeiert werden.«

»Ich weiß net«, versuchte Elena Winter die Begeisterung des Klinikleiters zu bremsen. »Es ist ein erster Versuch, viele andere müssen noch folgen, ehe wir uns sicher sein können. Ich denke aber, Dr. Hartmann hat nun eine gute Basis, auf der er aufbauen kann.«

»Sie haben natürlich recht«, räumte der Chef ein. »Nur werden Sie leider nicht mehr die Früchte des Ruhms ernten, wenngleich er Ihnen gebührt, nach der Arbeit, die Sie geleistet haben. Sagen Sie, Elena, ich kann Sie wirklich nicht umstimmen? Es steht fest, daß Sie uns verlassen werden?«

»Ja, Herr Professor, endgültig.«

Der Mann am anderen Ende seufzte.

»Na schön, da kann man wohl nichts machen. Aber, Sie wissen hoffentlich, daß Sie jederzeit zu uns zurückkommen können, wenn es Ihnen in diesem Nest nicht gefällt. So jemand wie Sie, ist ja nicht mit Gold aufzuwiegen.«

Elena ließ ein glockenhelles Lachen hören.

»Danke für die Blumen. Aber, jetzt möcht’ ich ins Bett. Den Sekt können wir ja morgen auch noch trinken.«

Sie legte auf und verließ das Labor. Gerade hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da klingelte das Telefon. Elena konnte sich denken, wer der Anrufer war. Einen Moment überlegte sie, ob sie zurückgehen und abnehmen sollte, doch dann schüttelte sie den Kopf und ging weiter.

Über den Flur gelangte sie zu der Krankenstation. Sie wollte noch einmal nach ›Tessi‹ schauen. Die kleine graugetigerte Katze war vor ein paar Wochen von einem Autofahrer gebracht worden, dem sie, auf der Flucht vor einem Hund, direkt in den Wagen gelaufen war. Die Tierärztin hatte dem Kätzchen in einer mehrstündigen Operation das Leben gerettet. Inzwischen hatte sich Tessi wieder gut erholt und war zum Liebling aller Klinikmitarbeiter geworden.

Die Katze lag schnurrend in Elenas Armen und ließ genußvoll die Streicheleinheiten über sich ergehen. Dabei hielt sie die Augen geschlossen und scheute sich auch nicht, die Bauchseite, ihre verwundbarste Stelle, kraulen zu lassen. Eine Geste absoluten Vertrauens.

»Tja, kleine Musch, jetzt heißt es bald Abschied nehmen«, sagte Elena Winter nachdenklich. »Ich würd’ dich schon gern selbst behalten, aber da wo ich hingeh’, kann ich dich leider net gebrauchen. Ich muß mich erstmal selber dort umschau’n, ob’s mir gefällt und ob ich für immer dableiben möcht’.«

Sie legte das Kätzchen in den Käfig zurück und sperrte sorgfältig ab. In ein paar Tagen konnte Tessi die Krankenstation verlassen und durfte mit anderen Artgenossen zusammensein. Dann begann die Suche nach einem neuen Zuhause für das Tier. Ein Unterfangen, das sich nicht immer leicht gestaltete. Elena hoffte nur, daß Tessi ein liebevolles Frauchen oder Herrchen finden mochte.

*

Der Parkplatz vor der Tierklinik war nur spärlich beleuchtet. Franz Herrschwieger hatte aber genau aufgepaßt, wann das Licht im Labor erloschen war, und wartete nun unten vor dem Eingang auf die junge Tierärztin.

»Guten Abend, Frau Doktor«, grüßte er und hob drohend den Finger. »Haben S’ schon wieder so lang’ gerackert? Kommen S’, ich bring’ Sie zu Ihrem Wagen.«

Elena lächelte ihn an.

»Vielen Dank, Franz. Jetzt ist ja bald Schluß mit den ewig langen Dienststunden.«

Der Nachtwächter machte ein bedauerndes Gesicht.

»Dann stimmt das also, was so erzählt wird, daß Sie uns verlassen wollen?«

»Ja, es stimmt«, gab sie zu. »Am Freitag ist mein letzter Arbeitstag, und in der nächsten Woche fahre ich dann nach Sankt Johann.«

»Ach schade«, meinte Franz. »Da werden aber eine ganze Menge Kollegen traurig sein. Haben S’ sich das auch gut überlegt? Entschuldigen S’, es geht mich ja nix an, aber man macht sich ja so seine Gedanken…«

»Das ist lieb von Ihnen, aber unnötig. Ich hab’ mir schon lange eine eigene Praxis gewünscht. Aber davon gibt’s in München mehr als genug. Außerdem mag ich die Berge. Ich bin sicher, daß es mir dort gefallen wird.«

Sie waren an ihrem Wagen angekommen. Es war das einzige Fahrzeug, das noch auf dem Parkplatz stand. Franz Herrschwieger wartet, bis Elena eingestiegen war, dann tippte er sich auf dem Zeigefinger an den Schirm seiner Mütze.

»Na, dann wünsch’ ich Ihnen schon mal alles Gute, Frau Doktor«, sagte er. »Aber erstmal schlafen S’ sich richtig aus.«

»Danke, Franz«, lachte Elena zurück. »Wir sehen uns bestimmt noch mal, bevor ich München verlasse.«

Sie fuhr zur Straße und bog dann ein. Bis zu ihrer Wohnung war es eine Viertelstunde zu fahren, jedenfalls jetzt, in der Nacht. Morgens brauchte sie bald eine ganze Stunde bis in die Klinik.

Laß mich einen Parkplatz finden, hoffte sie inständig, als sie in die Straße einbog, in der sie wohnte. Neben einigen Geschäften gab es hier eine ganze Reihe Kneipen und Bars. Dementsprechend war der Parkraum in dieser Straße recht knapp. Doch an diesem späten Abend hatte sie Glück. Beinahe direkt vor ihrem Haus wurde ein Platz frei. Aufatmend fuhr sie in die Lücke und stieg aus. Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie auf die Haustür zu, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte.

Elenas Schritte stockten, sie blieb stehen und schloß die Augen. Natürlich, ich hätt’s mir denken können!

Dr. Klaus Hartmann kam über die Straße gelaufen.

»Ich hab’ auf dich gewartet«, sagte er. »Ich hatte im Labor angerufen, aber zuerst war dein Apparat besetzt, später bist du nicht mehr rangegangen.«

Elena unterdrückte ein Gähnen.

»Schön«, nickte sie. »Was willst du?«

Der Laborleiter in der Münchener Tierklinik hob bittend die Hände.

»Ich würd’ gern noch mal mit dir reden.«

»Wozu, Klaus? Zwischen uns ist doch alles gesagt«, erwiderte sie.

»Bitte, Elena…«

Er deutete auf die andere Straßenseite.

»Da drüben, die Kneipe ist noch geöffnet. Laß uns dort noch etwas trinken gehen«, bat Klaus Hartmann.

Elena Winter fuhr sich durch die blonden Locken. Ihre dunklen Augen schauten müde.

»Entschuldige, Klaus, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Die Versuchsreihe Dreinullnullacht hat übrigens geklappt. Die Vermehrung der Bakterien wurde gestoppt. Aber das kannst du alles im Protokoll nachlesen.«

Er trat zu ihr, packte sie bei der Schulter und rüttelte sie. Von drüben, aus der Kneipe, drangen Musikfetzen und Gesprächslärm herüber.

»Was glaubst du wohl, wie egal mir diese verfluchte Versuchsreihe ist?« schrie er unbeherrscht. »Hier geht’s um uns und unsere Zukunft, die du mit deinem Starrsinn gefährdest. Elena, bitte, wach’ endlich auf! Ich liebe dich! Wie oft soll ich dir das noch sagen? Ich liebe dich und ich will mit dir leben.«

Elena Winter sah ihren Arbeitskollegen und Beinaheverlobten an.

»Wenn du das wirklich willst, Klaus, dann komm mit nach Sankt Johann.«

»Das kannst du nicht von mir verlangen«, schüttelte er den Kopf. »Meine Zukunft – nein, unsere Zukunft liegt hier. In ein paar Jahren schon kann ich Nachfolger von Professor Birchler werden. Du kannst doch nicht allen Ernstes verlangen, daß ich mir solch eine Chance entgehen laß!«

Jetzt war es die junge Frau, die den Kopf schüttelte.

»Nein, Klaus«, antwortete sie. »Das kann ich wirklich nicht. Und wie du schon ganz richtig gesagt hast – deine Zukunft liegt hier. Meine aber, die liegt woanders.«

*

Wie ein schemenhafter Schatten schlüpfte die schlanke Gestalt durch die Büsche, eng an die Kirchenmauer gepreßt. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf und schoben sich vor den Mond. Sie verhinderten, daß sein Licht die Szenerie beleuchtete.

Unter dem Fenster zur Sakristei war ein schmaler Mauerabsatz, auf dem die Gestalt einen Fuß setzte und sich dann hochhangelte. Die Fingerspitzen erreichten den Fenstersims, suchten nach Halt und fanden ihn. Der Rucksack auf dem Rücken beeinträchtigte sie dabei nicht. Mit einem Ruck zog sich die Gestalt ganz nach oben, tastete am Fensterrahmen entlang, konnte aber den Spalt nicht finden, der eigentlich hätte da sein müssen. Doch das Fenster war geschlossen. Von innen verriegelt!

Ein heimlicher Beobachter hätte ein leises Schnaufen und Ächzen hören können. Mit einem schabenden Laut ließ sich die Gestalt wieder zu Boden gleiten, wo sie einen Moment, schwer atmend liegen blieb. Dann raffte sie sich auf.

Wohin jetzt? Petra Worthmann war enttäuscht. Die beiden letzten Nächte hatte es immer geklappt. Sie hatte vor der Abendmesse die Kirche betreten, war dann in die Sakristei geschlichen und hatte den Hebel am Fenster umgelegt, so daß sie es nur noch von außen aufziehen mußte.

Offenbar hatte heute aber jemand bemerkt, daß das Fenster noch geöffnet war und es geschlossen.

Petra pirschte sich weiter durch die Büsche, dem Eingang zu. Zwar war es schon recht dunkel, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Ein später Spaziergänger hätte sie sehen und Verdacht schöpfen können.

Das Madel wartete einen Moment, bis es sicher sein konnte, daß niemand in der Nähe war, dann erhob es sich und lief die zwei Schritte direkt bis vor die Kirchentür. Sie probierte die Klinke und atmete erleichtert auf – es war noch nicht abgeschlossen.

Petra drückte die Tür einen Spalt weit auf. Gerade eben soviel, daß sie hindurchschlüpfen konnte, dann schloß sie die Tür, lehnte sich dagegen und holte erst eimal tief Luft.

Geschafft!

Das Innere des Gotteshauses war nur spärlich beleuchtet. In der Nähe des Altars flackerten ein paar Kerzen, die von Gläubigen im Gedenken an einen lieben Verstorbenen entzündet worden waren. Ihr Schein reichte aus, Petra den Weg zu weisen. Sie eilte die Treppe zur Empore hinauf, stieg von dort die andere Treppe hoch, die zur Orgel führte. Dahinter gab es einen kleinen Raum, in dem der Organist ein paar Utensilien aufbewahrte, Notenblätter meistens, und ein paar Instrumente des Flötenchores. Dort setzte sich Petra auf den Boden und packte ihren Rucksack aus. Viel enthielt er nicht, ein paar Kleidungsstücke, wenig Proviant und das wichtigste – eine alte Decke. Aus braunem Stoff mit einem hellen Aufdruck. Petra legte sie sich um, so daß sie beinahe wie in einem Schlafsack darin steckte, und lehnte ihren Kopf an das kleine Fenster. Durch die fast blinde Scheibe schaute sie hinaus. Von hier oben hatte sie einen guten Blick auf das Pfarrhaus, in dem noch Licht brannte.

Ob der Pfarrer etwas dagegen hätte, daß ich hier schlafe, überlegte das Madel. Eigentlich tu’ ich ja nichts Unrechtes. Zu allen Zeiten boten Kirchen doch Zufluchtssuchenden Asyl und nichts anderes suchte sie hier.

Jetzt war es schon die dritte Nacht, die sie hier verbrachte, und Petra fragte sich, wie es weitergehen sollte. Natürlich konnte sie nicht ewig hier schlafen. Zumal ihr auch irgendwann das wenige Geld ausgehen würde, daß sie noch besaß. Tagsüber mußte sie sich auch noch versteckt halten. Ihren Hunger stillte sie mit trockenen Semmeln, den Durst löschte sie mit Wasser, nur ab und zu übermannte sie der Appetit nach etwas Süßem, dann gönnte sie sich schon mal einen Schokoladenriegel.

Aber, das war kein Dauerzustand. Irgend etwas mußte sie unternehmen. Nur was?

Während sie ihren Gedanken nachhing, tat sich etwas, drüben beim Pfarrhaus. Aufmerksam spähte Petra durch die Scheibe. Zwei Männer kamen den Weg zur Kirche herüber. Den einen hatte sie schon einige Male gesehen, das war der Pfarrer, doch der andere…

Dem Madel stockte der Atem, als es die Polizeiuniform erkannte, die der andere Mann trug. Und die beiden gingen direkt auf die Kirche zu.

Jetzt ist alles aus, schoß es ihr durch den Kopf, jetzt haben sie dich!

*

Sebastian und Max Trenker hatten nach dem Abendessen noch ein Weilchen zusammen gesessen und über dieses und jenes gesprochen. Natürlich war auch die mysteriöse Angelegenheit mit dem offenen Fenster Gegenstand ihrer Unterhaltung. Im Gegensatz zu seinem Bruder, war Max nicht bereit, an einen Zufall zu glauben. Der Mesner hatte das Fenster nicht geöffnet, und die beiden Buben, die als Meßdiener auch Zutritt zur Sakristei hatten, wollten ebenfalls mit der Sache nichts zu tun gehabt haben.

»Also, für mich schaut’s beinahe so aus, als wenn der oder die Unbekannten den Riegel umlegten und das Fenster dann anlehnten. Vielleicht hat ein Windstoß es dann erst richtig geöffnet, so daß es dem Herrn Kammeier auffallen mußte«, erläuterte der Polizeibeamte seine Vermutungen über den geheimnisvollen Vorfall. »Am frühen Abend hat’s ziemlich stark geweht. Jedenfalls werd’ ich mich noch einmal in der Kirche umsehen, bevor ich schlafen geh’.«

»Hast ja recht«, nickte Pfarrer Trenker. »Man kann ja net vorsichtig genug sein. Allerdings – an Kirchenräuber glaub’ ich net. Wahrscheinlich klärt sich alles ganz harmlos auf.«

Sie verließen das Pfarrhaus und gingen zur Kirche hinüber. Max hatte seine Taschenlampe zur Hand genommen und beleuchtete die Platten, direkt vor dem Eingang. Er runzelte die Stirn.

»Ist was?« fragte sein Bruder.

»Ich weiß net«, antwortete der Polizist. »Schau’ dir das mal an. Es sieht aus, als sei jemand durch die Büsche gekommen. Jedenfalls ist das auf den Platten hier Erde.«

Sebastian öffnete die Kirchentür. Max leuchtete mit seiner Lampe den Gang entlang. Kein Zweifel – bis zur Treppe, die auf die Empore führte, lagen Erdkrumen auf dem Boden.

Pfarrer Trenker hatte mittlerweile Licht gemacht. Sie konnten sehen, daß die Spur die Treppe hinaufführte.

»Meinst’, daß da noch jemand ist?« fragte Sebastian den Polizisten flüsternd.

Max zuckte die Schulter.

»Vielleicht«, gab er zurück. »Nur – was sucht er da oben? Da gibt’s doch keine Schätze, die zu stehlen es sich lohnt.«

»Das werden wir gleich sehen«, sagte der Geistliche und stieg die Treppe empor.

Max folgte ihm.

»Sei vorsichtig«, mahnte er. »Vielleicht ist der Bursche bewaffnet.«

Sie standen auf der Empore. Dort waren viel weniger Erdkrümel als unten. Aber, das war auch kein Wunder. Bis hier oben hatte der Unbekannte das meiste schon wieder unter den Schuhen verloren.

Die Brüder schauten sich aufmerksam um. Die Empore war der Platz für den Kirchenchor, und für die Mitglieder des Flötenchores. Es gab ein paar Holzstühle, ansonsten herrschte gähnende Leere.

Max hatte seine Taschenlampe inzwischen ausgeknipst. Mit ihr deutete er auf die andere, schmalere Treppe, die zur Orgel hinaufführte. Es war kaum noch etwas zu erkennen, nur zwei, drei

dunkle Sandkörner verrieten, daß jemand hier hinaufgegangen war.

Sie folgten dem Unbekannten. Während in Max der Spürsinn des Ordnungshüters erwacht war, fragte sich Sebastian, wen sie wohl da oben antreffen würden, und welchen Grund dieser Jemand hatte, sich dort zu verstecken. Denn, daß es sich nicht um einen Kirchenräuber handelte, war dem Seelsorger längst klar. Der hätte sich nämlich nicht irgendwo hier oben verkrochen, sondern sich unten, wo es wirklich einige wertvolle sakrale Gegenstände, Figuren und Bilder gab, bedient.

Die Orgel war unversehrt, es hatte also auch niemand die Absicht gehabt, das alte Instrument zu zerstören. Blieb noch der kleine Raum nebenan.

Max und Sebastian stellten sich vor die Tür, und der Polizeibeamte stieß sie mit einem Ruck auf. Da es drinnen dunkel war, hatte er die Taschenlampe wieder eingeschaltet. Ihr Schein traf das bleiche Gesicht eines etwa fünfzehnjährigen Mädels.

»Ja, wen haben wir denn da?« fragte Max Trenker.

Petra Worthmann starrte die beiden Männer ängstlich an. Schon als sie sie zur Kirche hatte kommen sehen, wußte sie, daß man sie entdecken würde. An Flucht war nicht zu denken gewesen, sie wäre ihnen direkt in die Arme gelaufen. Also hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt. Wer wußte schon, wozu es gut war? Ging sie eben wieder zurück in das Heim.

»Grüß Gott, Madel«, sagte einer der beiden. »Ich bin Pfarrer Trenker, und das ist mein Bruder Max. Du brauchst keine Angst haben. Es passiert dir nichts. Magst’ uns wohl auch sagen, wie du heißt?«

»Petra… Petra Worthmann.«

»Aha, schön, Petra, und was machst’ hier oben?«

Sebastian lächelte.

»Eigentlich ist das eine dumme Frage. Wie ich seh’, hast du einen Platz zum Schlafen gesucht, net wahr? Bist’ wohl ausgerissen, was?«

Das Madel nickte und schaute immer noch ängstlich auf Max in seiner Uniform.

»Die Uniform hat nix zu sagen«, meinte der Beamte. »In erster Linie bin ich der Bruder vom Pfarrer, wenn du verstehst, was ich mein’.«

»Nun komm erstmal da raus«, sagte der Geistliche. »Das ist ja nun wahrlich kein Ort, wo man bequem schlafen kann.«

Petra war ein wenig verwirrt. Eigentlich hatte sie ein Donnerwetter erwartet. Statt dessen begegneten ihr die Männer freundlich.

»Sind Sie net bös’, weil ich hier eingedrungen bin?« fragte sie. »Und wollen S’ gar net wissen, woher ich komm?«

»Also, so eilig ist das net«, antwortete Pfarrer Trenker. »Wenn du es uns erzählen willst, wo du ausgerissen bist, dann wirst’ es schon irgendwann tun.«

Er verriet nicht, daß er es längst an dem Aufdruck auf der Decke gesehen hatte, woher das Madel stammte. Die Decke war Eigentum des Waisenhauses in Engelsbach.

»Und bös’ sind wir dir net«, fuhr er fort. »Warum auch? Du hast nix Unrechtes getan. Die Kirchentür war net versperrt und sie steht allen offen, die Schutz und Hilfe brauchen. Vom Eindringen kann also gar keine Rede sein. Außerdem glaub’ ich, daß du eine ordentliche Mahlzeit vertragen kannst. Meine Haushälterin ist eine ausgezeichnete Köchin, und bestimmt ist noch was von dem Eintopf, den es zum Mittagessen gab, übrig.«

Der Gedanke an eine warme Suppe ließ Petras Geschmacksnerven aktiv werden. Sie merkte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

Zuerst hatte sie an eine Falle gedacht, die man ihr stellte, indem man die Kirchentür offen ließ. Jetzt war sie auf dem Weg ins Pfarrhaus, wo eine richtige Mahlzeit auf sie wartete, und ein Bett, in dem sie sich ausschlafen konnte, wie der Herr Pfarrer gesagt hatte.

*

Sophie Tappert wunderte sich nicht, als Hochwürden sie fragte, ob noch etwas von dem Eintopf übrig war, und sie dann bat, die Suppe aufzuwärmen, weil es noch einen späten Gast gäbe. Im Gegenteil, als sie das verwahrlost aussehende Madel, mit dem bleichen Gesicht und den Ringen unter den Augen sah, da kam urplötzlich der tief in ihr vorhandene Mutterinstinkt zum Vorschein.

»Lang’ nur tüchtig zu«, forderte sie Petra auf und schnitt eine extra dicke Scheibe von dem Krustenbrot ab, das sie am Morgen gebacken hatte.

Mit großem Vergnügen schaute sie ihr beim Essen zu. Petra wunderte sich, daß Max Trenker sich schon verabschiedet hatte. Trotz ihrer Jugend begriff sie, was er meinte, als er sagte, er sei in erster Linie der Bruder des Pfarrers. Zuerst kam bei ihm der Mensch, dann die Angelegenheit dahinter. Es war ihm gar nicht wichtig, die Sache weiter zu verfolgen und erst mal ein Protokoll zu machen.

Auch der Pfarrer hatte sich nur kurz in der Küche sehen lassen und einen guten Appetit gewünscht.

»Nach dem Essen zeig’ ich dir das Bad«, sagte Sophie Tappert. »Deine Sachen kannst’ dort liegenlassen. Ich wasch’ sie morgen mit aus. Derweil geb’ ich dir ein paar andere Hosen und Pullover. Wir müßten eigentlich was in deiner Größe da haben. Oben ist auch ein Zimmer, in dem du erstmal bleiben kannst.«

Die gute Mahlzeit und die Aussicht auf ein Bad stimmten Petra schon wieder zuversichtlich. Es war ein einfaches, aber sauberes Bett, in das sie später schlüpfte. Wohlig streckte sie sich aus. Sie duftete nach dem Badeschaum und ihre Haare waren frisch gewaschen.

Das Madel mochte gar nicht glauben, daß sie das alles wirklich erlebte, daß es nicht nur ein schöner Traum war, aus dem es jeden Moment erwachte.

Sie dachte an das Heim, aus dem es ausgerissen war, an Tante Anke, die Schwester ihrer Mutter, der sie dies alles zu verdanken hatte, und daran, daß ihre Eltern im Himmel droben doch eigentlich ein Aug’ auf sie haben mußten. Sie konnten doch nicht zulassen, daß ihr Schicksal so einen Verlauf nahm!

Bittere Tränen rannen über das schmale, niedliche Gesicht. Wie oft schon hatte sie diese geweint. Doch diesmal mischten sich auch Tränen der Freude und der Erleichterung darunter. Hier im Pfarrhaus fühlte sie sich nicht nur geborgen und aufgehoben, sondern vor allem willkommen. Etwas, das sie in keinem der vielen Waisenhäuser, die sie in ihrem jungen Leben schon sehen mußte, gespürt hatte.

Hier war sie nicht irgendein Kind ohne Eltern, sondern ein Mensch, um den man sich kümmerte, weil er Hilfe brauchte.

Vielleicht, so dachte die fünfzehnjährige Petra Worthmann, vielleicht hilft mir dieser Pfarrer Trenker ja auch in der anderen Angelegenheit.

Eine innere Stimme sagte ihr, daß sie zu diesem Geistlichen Vertrauen haben konnte, und den Mut, mit ihm all das zu besprechen, was ihr auf dem Herzen lag.

Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief sie ein. Es wurde ein langer, tiefer und traumloser Schlaf.

Unten in der Küche erkundigte sich Pfarrer Trenker nach dem Gast.

»Ich war vor ein paar Minuten bei ihr«, erklärte Sophie Tappert. »Jetzt wird sie schon schlafen.«

Die Haushälterin deutete auf den leeren Suppentopf.

»Gegessen hat sie für zwei«, schmunzelte sie. »Von der Suppe ist nix mehr übrig.«

»Na, hoffentlich ist der Max dann morgen net zu enttäuscht«, meinte Sebastian. »Er hat sich doch den Rest zum Mittag gewünscht.«

»Das glaub’ ich net«, schüttelte Sophie den Kopf. »Er hat ja ein gutes Herz und gönnt dem Madel bestimmt den Eintopf.«

Sie schaute ein wenig nachdenklich.

»Was wohl dahinterstecken mag, daß das Madel aus dem Heim fortgelaufen ist?«

Sebastian zuckte die Schulter.

»Das mag viele Gründe haben«, erwiderte er. »Wichtig ist nur, daß wir dem Madel helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Wenn sie mag, dann wird Petra uns schon alles erzählen, was sie bedrückt. Und wenn es in meiner Macht steht, will ich ihr gerne behilflich sein.«

Er schaute auf die Uhr.

»Jetzt wird’s aber auch Zeit, daß wir schlafen gehen«, sagte er. »Für heut’ gab’s Aufregung genug.«

Sebastian verabschiedete sich von seiner Haushälterin und wünschte eine gute Nacht.

Auf dem Flur fiel sein Blick auf Petras Decke, die sie dort, zusammen mit ihrem Rucksack, abgelegt hatte.

Eigentum des Waisenhauses Engelsbach, war zu lesen. Sebastian kannte die dortige Leiterin noch nicht persönlich. Sie hatte seines Wissens erst vor kurzem die Stelle angetreten. Jetzt würde der Geistliche seinen Antrittsbesuch bei ihr wohl mit einer besonderen Angelegenheit verbinden.

*

Der Fahrtwind wehte durch das offene Fenster. Elena Winter hatte die Scheibe ein wenig heruntergedreht und war dankbar für die Erfrischung. Es war eine angenehme Fahrt gewesen, obwohl München nicht gerade um die Ecke lag. Nachdem sie von der Autobahn abgefahren war, fühlte die junge Tierärztin beinahe schon so etwas wie ein Heimatgefühl, wenn sie an St. Johann dachte.

Dreimal war sie insgesamt dort gewesen, hatte mit dem Kollegen verhandelt und sich im Dorf und in der Umgebung umgesehen. Seit Elena ihren Heimatort, Haisenbach in Oberfranken, verlassen hatte, war sie nach ihrem Studium etliche Male umgezogen. Oft schon hatte sie geglaubt, an einem neuen Wohnort heimisch werden zu können, doch erst in St. Johann war dieses Gefühl ausgeprägt, wie nie zuvor.

Sie freute sich auf ihre neue Aufgabe. Die Praxis, die sie übernehmen wollte, hatte ein großes Einzugsgebiet. Es gab zahlreiche Höfe, die Dr. Hardlinger regelmäßig inspizierte. Ganz abgesehen von Kleintierbesitzern, die mit Hund und Katz, Kaninchen und Kanarienvogel in die Sprechstunde kamen. Elena war sicher, daß sich ihre Investition lohnen würde. Einen großen Teil hatte sie gespart, den Rest würde ihr die Bank als Darlehen geben. Nein, sie bereute ihren Beschluß, aus München fortzugehen, nicht, und was die Angelegenheit mit Klaus betraf…, sie hatte alles versucht, ihre Beziehung noch zu retten, aber Elena mußte einsehen, daß dem Mann, von dem sie geglaubt hatte, er wäre der fürs Leben, die Karriere wichtiger war, als das private Glück.

Dabei hatte Elena gleich zu Beginn ihrer Liebe klargemacht, daß sie keineswegs die Absicht hatte, bis zu ihrer Pensionierung in solch einer großen Tierklinik zu arbeiten. Sie hatte das Veterinärstudium gewählt, weil sie Tiere liebte und ihnen helfen wollte. Mehr, als sie es durch bloße Mitgliedschaft in einem Tierschutzverein tun konnte. Die Arbeit im Institut des Professor Birchler sah sie als eine weitere Stufe in ihrer beruflichen Entwicklung an, die aber nicht damit enden sollte, daß sie eines Tages die Leitung des Labors übernahm. Sie wollte frei sein, in ihren Entscheidungen, mit Menschen und Tieren gleichermaßen Kontakt haben und ihr Leben in einer ländlichen Umgebung leben, raus aus der Anonymität der Großstadt.

Nie zuvor hatte Elena sich auf einen Neubeginn so sehr gefreut, wie dieses Mal. Auch wenn die Erinnerung an Klaus Hartmann wie ein bitterer Tropfen war. Gewiß hatten sie auch schöne Zeiten zusammen verlebt, doch wenn sie es recht betrachtete, dann hatte der kühl denkende Arzt und Wissenschaftler ihre Interessen nie so ganz geteilt. Ihm ging es in erster Linie darum, Karriere zu machen. Vielleicht konnte man es ihm nicht so ganz verdenken. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er auf den Tag hin, an dem der Gründer der Tierklinik sich zur Ruhe setzte, und er die Nachfolge antreten konnte.

Doch er zahlte dafür einen hohen Preis – den des persönlichen Glücks.

Elena hatte das Ortsschild passiert und fuhr nun langsam die Straße hinunter, in der das Haus lag, das künftig ihr Heim sein würde. Auch in dieser Beziehung hatte sie sich schnell und unproblematisch mit Dr. Hardlinger geeinigt. Sie übernahm die Praxisräume im Keller, und die Wohnung im Erdgeschoß, während der Kollege in den ersten Stock zog. Dort gab es neben drei Zimmern auch ein großes Bad, und die Küche wollten sie gemeinsam nutzen.

Besonders dankbar war Elena für das Angebot ihres Kollegen, die Praxis noch eine Weile zusammen auszuüben. So würde er seine Nachfolgerin gleich überall vorstellen können. Clemens Hardlinger wußte, warum er sich dazu bereit erklärt hatte – die Bauern waren schon ein Völkchen für sich, und ein neuer Tierarzt, in diesem Fall sogar eine Frau, würde sich erst einmal durchbeißen müssen.

Auch Annemarie Singer, Dr. Hardlingers langjährige Tierarzthelferin, freute sich auf die Zusammenarbeit mit der neuen Chefin. Beim letzten Treffen hatte Elena darum gebeten, die patente Frau kennenzulernen, und sie waren sich beide schnell sympathisch gewesen. Hinzu kam, daß Annemarie durch ihre Erfahrung natürlich viele Eigenheiten derer kannte, die in die Tierarztpraxis kamen.

Sei es als Patient, oder als der dazugehörige Mensch.

*

Pfarrer Trenker und Petra

Worthmann saßen im Arbeitszimmer des Geistlichen. Das Madel hatte ausgiebig geschlafen, und nach dem tollen Frühstück fühlte es sich wie neugeboren. Sebastian hatte Petra gebeten, später zu ihm zu kommen. Nun saßen sie sich gegenüber.

»Ich hoff’, es geht dir gut heut’ morgen«, sagte der Seelsorger. »Geschlafen hast’ jedenfalls ordentlich lang’. Magst’ jetzt vielleicht ein bissel mit mir reden?«

Sie nickte.

»Also, du heißt Petra Worthmann und bist aus dem Waisenhaus in Engelsbach ausgerissen. Hat’s dir net mehr gefallen, was? Wieso bist überhaupt dort?«

Petra schluckte.

»Meine Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen«, antwortete sie. »Da war ich acht.«

»Und hast’ sonst keine Verwandten?«

Das Gesicht des Madels verdüsterte sich.

»Doch, eine Tante. Tante Anke, die Schwester meiner Mutter.«

»Kümmert sie sich net um dich?« fragte Sebastian erstaunt.

Petra schüttelte stumm den Kopf.

»Wo wohnt denn deine Tante?«

»In der Nähe von Altenkirchen, in dem Haus, das meinen Eltern gehörte…«

Pfarrer Trenker wurde hellhörig.

»Also, das mußt’ mir schon genauer erklären«, sagte er. »Wem gehört denn das Haus jetzt? Deiner Tante?«

Jetzt schüttelte sie heftig den Kopf.

»Es gehört mir, genauso, wie das ganze Geld, das meine Eltern mir hinterlassen haben. Aber ich bin ja noch nicht volljährig, und Tante Anke ist mein Vormund…«

»Mal langsam, mal langsam.«

Sebastian hob die Hand.

»Wenn ich das recht versteh’, dann ist die Schwester deiner verstorbenen Mutter dein Vormund, und sie verwaltet das Geld, das rechtmäßig aber dir gehört. Stimmt’s?«

»Ja, genauso ist es.«

»Hm, was ich net versteh«, fuhr der Pfarrer fort. »Warum lebst du net bei deiner Tante? Ich mein’, wenn sie in dem Haus wohnt, das dir gehört, dann wäre es doch eigentlich logisch, daß du auch darin wohnst. Zumal sie doch dein Vormund ist. Warum mußtest du denn in ein Heim?«

»Weil, weil… sie sagt, ich sei schwer erziehbar, und sie hätte keine Zeit für mich, weil sie soviel arbeiten müsse. Tante Anke hat früher in Papas Firma gearbeitet, und seit dem Unglück ist sie dort die Chefin.«

Sebastian beugte sich interessiert vor.

»Aha, und was für eine Firma ist das?«

»So elektronische Sachen für Computer«, lautete die Antwort.

Der Geistliche ahnte, daß das Madel nicht genau wußte, um was es sich dabei handelte. Aber, das war in diesem Moment auch gar nicht wichtig.

»Sag einmal, hast etwas angestellt, bevor du aus dem Heim fortgelaufen bist?«

Max hatte am Morgen versucht herauszubekommen, ob das Madel womöglich polizeilich gesucht würde, aber das war nicht der Fall. Allerdings war es auch merkwürdig, daß die Heimleitung drei Tage nach dem Verschwinden des Kindes die Polizei noch nicht informiert hatte. Es hätte ja auch ein Verbrechen vorliegen können.

»Ganz bestimmt net«, erwiderte Petra. »Ich wollte einfach nur fort.«

Sebastian glaubte ihr. Die Geschichte, die sie ihm da erzählt hatte, war merkwürdig. Ein Kind, eingesperrt in ein Heim, die Eltern tot. Eine Tante als Vormund, die zur Chefin in der Firma des Vaters aufgestiegen war und das gesamte Vermögen verwaltete – das roch gewaltig nach einer nicht ganz sauberen Sache.

Der Geistliche sah auf die Uhr. Heute würde er nicht mehr nach Engelsbach können, obwohl ihm die Angelegenheit sehr wichtig schien. Aber für den Nachmittag war ein kleiner Empfang beim Tierarzt geplant, wo Clemens Hardlinger seine Nachfolgerin vorstellen wollte. Diesen Termin konnte er schlecht absagen. Aber gleich morgen wollte er seinen schon länger geplanten Besuch bei der neuen Leiterin des Engelsbacher Waisenhauses machen. Bis dahin hatte er auch noch Gelegenheit, alles das, was er eben gehört hatte, zu überdenken und einzuordnen. Vieles, was Petra gesagt hatte, schien noch vage zu sein. Dennoch ließ sich schon erahnen, daß dem Madel ein großes Unrecht widerfahren war. Und Sebastian wäre der letzte gewesen, der bei so etwas widerspruchslos zugeschaut hätte!

»Also, Petra, ich kümmere mich um deine Angelegenheit«, versprach er. »Einstweilen darfst’ bei uns bleiben, und brauchst keine Angst haben, daß du wieder zurück mußt. Wenn das alles so ist, wie du sagst, dann darfst’ mir glauben, daß es schon bald alles anders sein wird, oder ich will net länger Pfarrer Trenker heißen.«

Die Augen des Madels strahlten glücklich, als es dies hörte.

*

»Sie haben ja schon alles eingerichtet!« staunte die junge Tierärztin.

Vor ein paar Tagen hatte sie ihre Möbel mit einer Spedition vorausgeschickt und eigentlich erwartet, ein Chaos in ihrer neuen Wohnung vorzufinden. Doch nun stand alles an seinem Platz. Die Sitzecke am Fenster, das breite Sofa an der langen Wand, gegenüber der große Schrank. Besser hätte sie es auch nicht machen können. Nun stapelten sich nur noch Kartons mit Büchern, Geschirr und Kleidung in dem zweiten, großen Raum, der ihr Schlafzimmer werden sollte.

»Naja, die Annemarie hat das meiste getan«, wehrte Dr. Hardlinger ab, als Elena sich herzlich bedankte. »Sie hat auch ein kleines Mittagessen vorbereitet. Wir wußten ja net genau, wann Sie ankommen.«

Die Tierzarzthelferin stand in der Küche und rührte in einem Topf.

»Nichts Besonderes«, meinte sie. »Nur ein bissel Gulasch und Knödel.«

»Ich weiß gar net, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Elena gerührt.

Sie schaute sich um.

»Ich freu’ mich wirklich, hier zu sein.«

Dr. Hardlinger hatte sich dazugesellt.

»Heut’ nachmittag kommen ein paar Honoratioren«, erklärte er. »Ich hab’ den Bürgermeister, den Herrn Pfarrer und ein paar Herren vom Gemeinderat zu einem kleinen Empfang eingeladen. Ach ja, und natürlich den Dr. Wiesinger, unseren Kollegen von der Humanmedizin. Er ist ein ganz patenter Bursche.«

»Himmel, darauf bin ich ja gar net eingerichtet«, erschrak Elena Winter. »Muß da net ein klein bissel was vorbereit werden? Etwas zu essen, ein Glas Sekt vielleicht?«