Über Birgit Jasmund

Birgit Jasmund, geboren 1967, stammt aus der Nähe von Hamburg. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Kiel hat das Leben sie nach Dresden verschlagen. Im Aufbau Taschenbuch Verlag sind von ihr bereits der historische Roman »Die Tochter von Rungholt«, »Luther und der Pesttote«, »Der Duft des Teufels«, »Das Geheimnis der Porzellanmalerin« sowie bei Rütten & Loening die Liebesgeschichte »Krabbenfang« erschienen.

Informationen zum Buch

Der Duft von Zimt und Mandeln

Dresden, 1730: Die junge Magd Christina träumt davon, Bäckerin zu werden. So oft es geht, schleicht sie sich in die Backstube und probiert neue Köstlichkeiten aus. Dann wird ihr ein ungewöhnliches Angebot gemacht: Sie soll in die Rolle einer Adeligen schlüpfen. Sie wird in die feudale sächsische Gesellschaft eingeführt, und mit einem Mal ist ihr Leben unbeschwert und voller Vergnügungen. Als sie sich jedoch verliebt, steht sie plötzlich vor einer schweren Entscheidung: Folgt sie ihrem Herzen oder kämpft sie für ihren Traum?

Die packende Geschichte über die Entstehung des berühmten Dresdner Stollens.

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Birgit Jasmund

Das Geheimnis der Zuckerbäckerin

Historischer Roman

Inhaltsübersicht

Über Birgit Jasmund

Informationen zum Buch

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Prolog

Teil I: Vor dem Campement

Eins – April 1730

Zwei – April 1730

Drei – April 1730

Vier – Mai 1730

Teil II: Das Große Campement

Eins – 31. Mai 1730

Zwei – 1. Juni 1730

Drei – 2. Juni 1730

Vier – 3. Juni 1730

Fünf – 4. Juni 1730

Sechs – 5. Juni 1730

Sieben – 6. Juni 1730

Acht – 7. Juni 1730

Neun – 8. und 9. Juni 1730

Zehn – 10. und 11. Juni 1730

Elf – 12. Juni 1730

Zwölf – 13. Juni 1730

Dreizehn – 14 und 15. Juni 1730

Vierzehn – 16. Juni 1730

Fünfzehn – 17. Juni 1730

Sechzehn – 18. Juni 1730

Siebzehn – 19. Juni 1730

Achtzehn – 20. und 21. Juni 1730

Neunzehn – 22. Juni 1730

Zwanzig – 23. Juni 1730

Einundzwanzig – 24. Juni 1730

Zweiundzwanzig – 25. Juni 1730

Dreiundzwanzig – 26. Juni 1730

Vierundzwanzig – 27. Juni 1730

Dramatis Personae

Nachwort – Dichtung und Wahrheit

Impressum

Prolog

Seine Finger schwebten über dem weißen Turm. Emilius von Kobsdorff betrachtete das Schachbrett mit gerunzelter Stirn. Auf dem Brett standen deutlich mehr schwarze als weiße Figuren. Entblößte er die Flanke seines Königs, wenn er den Turm verrückte? Die Möglichkeiten der schwarzen Figuren schienen unendlich zu sein. Die seinen dagegen … Vom Turm wanderte seine Hand zum letzten weißen Läufer, er hob ihn hoch und drehte ihn zwischen den Fingern.

Der Läufer deckte den Turm, und wenn er ihn um zwei Felder verrückte, deckte er immer noch den Turm und … War dieser Zug ein Befreiungsschlag? Gab es überhaupt noch eine Möglichkeit, sich aus der Umzingelung der Schwarzen zu retten? Es schien schwierig, und der weiße Läufer nicht die richtige Figur dafür. Emilius stellte sie zurück auf das Brett, wandte sich erneut dem Turm zu.

»Eine Figur muss gezogen werden, wenn sie einmal berührt wurde«, sagte sein Schachpartner Laurenz Schumann eher gelangweilt als verärgert über den Regelverstoß. Er saß bequem zurückgelehnt im Stuhl, die Ellenbogen auf die Armlehnen gestützt und die Fingerspitzen vor dem Körper aneinandergelegt. Für einen Mann besaß er ungewöhnlich lange und schlanke Finger. Die Hände eines Arztes, die Geschwüre ertasteten und gebrochene Knochen einrenkten, Husten und Fieber behandelten oder Gewehrkugeln entfernten. Ja, auch damit hatte er als Arzt des sächsischen Generalstabes in Dresden zu tun, viel öfter allerdings mit Fällen von Ruhr und Typhus. Dr. Laurenz Schumann hatte auch stets ein offenes Ohr für die Seelennöte und Leiden seiner Patienten, brachte sogar dann Verständnis auf, wenn diese nur eingebildet waren. Das hatte ihm den Zugang zu Dresdens besseren Kreisen eröffnet, ihm die Freundschaft von Männern wie Emilius von Kobsdorff eingetragen.

Emilius wusste natürlich um seinen Regelverstoß. Er griff erneut nach dem Läufer und verrückte ihn um zwei Felder. »Damit habe ich wohl meinen Untergang eingeläutet«, bemerkte er. »Es war nicht sehr nobel von dir, mich auf diese lästige Regel hinzuweisen, vor allem in deiner Position«, sagte er mit einem Lachen. Übel nahm er es seinem Freund keineswegs, fühlte sich auch nicht sonderlich geschulmeistert. Von den vier Partien, die sie bisher gespielt hatten, hatte er nur eine für sich entscheiden können. So war es immer, wenn er mit Laurenz Schumann Schach spielte. Ihm fehlte die Geduld des Freundes, alle Möglichkeiten zu durchdenken. Er stürmte lieber voran.

»Und ich habe gelernt, dass ein Mann sich in jeder Lage ehrenhaft verhalten muss«, entgegnete Laurenz. Auch diese Worte wurden durch ein Lächeln abgemildert.

»Gesprochen wie ein Adeliger.«

»Bestimmt färbt die Haltung der adeligen Offiziere auf mich ab.«

»Also ist Adel anerzogen?«

Während dieses Wortwechsels hatten sie das Schachspiel fortgeführt, und die vierte Niederlage des Tages war für Emilius nicht mehr abzuwenden. Er könnte seinen König um ein Feld vor- und wieder zurückrücken, sich aber nicht mehr aus der Umklammerung der schwarzen Figuren befreien. Als Zeichen seiner Niederlage legte er den König flach auf das Brett.

»Nein, Adel ist ein Geburtsrecht. Allenfalls eine adelige Haltung kann anerzogen sein. Noch eine Partie?« Laurenz begann, die Figuren auf dem Brett neu aufzustellen, diesmal die weißen auf seiner Seite und die schwarzen für Emilius.

Aber der Freund schüttelte den Kopf. »Für diesen Tag habe ich genug Niederlagen einstecken müssen. Ich muss meine Wunden lecken. Portwein wird dabei helfen.«

Laurenz langte zu einem Beistelltisch hinüber und schenkte seinem Freund ein Glas des gewünschten Getränks ein. Obwohl sie sich in Emilius’ Dresdner Wohnung aufhielten, waren die Rollen von Gast und Gastgeber zwischen ihnen nicht mehr klar verteilt. So vertraut und eingespielt war ihre Freundschaft.

Emilius rollte einen Schluck des schweren Weins auf der Zunge hin und her. »Eigentlich eine interessante Frage«, sagte er dazu.

»Was?«

»Ob Adel angeboren oder anerzogen ist. Du etwa zeigst trotz deiner bürgerlichen Herkunft die Gesinnung eines Adeligen. Woher kommt das? Es spricht für meine These, dass Adel eine Frage der Erziehung ist.«

»Solltest du, der du von adeliger Geburt bist, nicht behaupten, dass Adel angeboren ist, und mir die Gegenthese überlassen?«

»Das ist doch gerade der Witz an der Sache: Ich vertrete die Meinung, Adel sei anerzogen, und du hältst ihn für angeboren. Dabei würde jeder denken, es sei genau anders herum, und außerdem erhöht es den Reiz an der Diskussion.«

»Du willst wirklich über diese Frage diskutieren?«

»Der Nachmittag ist jung, warum ihn nicht mit einem gelehrten Gespräch füllen?«

»Über genau diese Frage mit umgekehrten Vorzeichen?«, erkundigte sich Laurenz ein weiteres Mal. Es könnte wirklich ein angeregter Nachmittag werden. Diskussionen mit Emilius führten zwar selten zu tiefschürfenden Erkenntnissen, waren aber allemal unterhaltsam. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der er Schach spielte, stürzte der Arzt sich auch in diese Schlacht.

Eine Stunde und einige Gläser Portwein später hatten sie die Klingen ihres Wortwitzes aneinander geschliffen und alle Argumente ausgetauscht. Aber wie Laurenz befürchtet hatte, waren sie einer Lösung keinen Schritt näher gekommen, keiner war auch nur einen Fingerbreit von seiner Meinung abgewichen.

Emilius lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich werde dir meine These beweisen.«

»Wie?«

»Du wirst es sehen.«

»Das ist doch keine Frage, die eines Beweises zugänglich wäre, als ginge es um die Wirksamkeit einer chemischen Lösung zur Behandlung einer Krankheit.«

»Du und deine Alchemie. Adel ist anerzogen, und ich werde es dir beweisen.«

Auch Nachfragen führten Laurenz nicht weiter. Der Freund war nicht bereit, die Art des Beweises zu offenbaren.

»Es steht dir frei, den Beweis für deine These ebenfalls anzutreten«, sagte er lächelnd.

»Wie soll ich das machen?«

»Dir etwas einfallen lassen.«

Was als spaßiger Zeitvertreib begonnen hatte, enthielt inzwischen einen ernsten Unterton. Laurenz kannte seinen Freund. Wenn der sich in eine Sache verbissen hatte, ließ er nicht wieder davon ab. Halb war er besorgt, halb amüsiert. Emilius war bekannt für seine ausgefallenen Ideen, und bestimmt sprach bald ganz Dresden über ihre Thesen.

Auf dem Weg in seine eigene Wohnung in Altendresden auf der anderen Seite der Elbe grübelte er darüber nach, wie ein Beweis für die These des angeborenen Adels aussehen könnte. Er war immer noch ohne Idee, als ihm in der Wohnung sein Diener Hut und Handschuhe abnahm.

Auf einem silbernen Tablett lagen mehrere Schreiben, die während seiner Abwesenheit abgegeben worden waren. Laurenz nahm sie mit in die Bibliothek, um sie dort zu lesen, derweil sein Diener seinen Wunsch nach einem kleinen Imbiss in die Küche im Untergeschoss des Hauses weitergab.

In der Bibliothek wurden ihm ein Stück Bähbe und eine Tasse Kaffee serviert. Dieses Hefegebäck musste stets frisch im Haus sein. Er brach eine Ecke ab und kaute genüsslich, derweil er seine Briefe durchsah. Bei den meisten Schreiben handelte es sich um Einladungen zu Kartenabenden, Kammerkonzerten oder gelehrten Vorträgen.

Von den Ersteren gedachte er keine Einzige anzunehmen. Er machte sich nichts aus dem Spiel um Geld. Hin und wieder eine Partie Schach mit Emilius, dagegen war nichts einzuwenden, aber er war der Meinung, es vertrage sich nicht mit seinem Beruf als Arzt, ein Vermögen am Spieltisch zu riskieren. Die Einladungen zu den Kammerkonzerten wollte er alle annehmen, er hörte sehr gerne Musik. Ebenso die zu den Vorträgen, es schadete nie, die Bildung zu erweitern.

Er legte die Einladungen beiseite, sein Diener würde sie später sortieren sowie die notwendigen Zusagen oder Ablehnungen schreiben. Ein Schreiben, das er bisher übersehen hatte, kam zum Vorschein. Es war an ihn als Arzt des Generalstabs gerichtet und auf der Rückseite mit einem beeindruckenden Siegel versehen. Laurenz erbrach es und überflog den Inhalt des Briefes. Der enthielt den Befehl, sich spätestens am 20. Mai in Kreinitz einzufinden, dort ein Feldlazarett auf die Dauer von sechs Wochen einzurichten und alle dazu notwendigen Orders zu erteilen. Eine entsprechende Vollmacht sei für ihn in der Kommandantur vorbereitet. Unterzeichnet war der Befehl von Graf von Wackerbarth, dem Chef des Generalstabs, und von Oberst Riedesel, dem Kommandanten des Infanterieregiments Königlicher Prinz.

Ein in das Schreiben eingelegtes Blatt enthielt eine lange Liste aller für das Lazarett als notwendig erachteten Arzneien und Gerätschaften bis hin zu Bettgestellen und Matratzen. Wenn alle notwendigen Anweisungen in sein Belieben gestellt waren, war es ihm wohl auch erlaubt, diese Liste zu ergänzen. Laurenz vertiefte sich auf der Stelle darin und hatte die Frage des angeborenen oder anerzogenen Adels vergessen, ebenso wie die Tasse Kaffee und das angebissene Stück Bähbe. Bis zum genannten Tag blieb nicht mehr viel Zeit, um alles vorzubereiten und für den Transport nach Kreinitz zu sorgen.

Er erwog hinzureisen, um sich das als Lazarett ins Auge gefasste Gebäude anzusehen und mit dessen Besitzer die notwendigen Vorbereitungen auszuhandeln. Seit annähernd zwei Jahren bereiteten der Generalstab und der Hof die Manöver bei Radewitz und Zeithain vor, die alle Welt von der Schlagkraft der nach preußischem Vorbild reformierten sächsischen Armee überzeugen sollten. Die Soldaten hatten dazu nicht nur neue Uniformen und moderne Gewehre aus Suhl erhalten, es war auch eigens ein neues Infanterieregiment aufgestellt und als ganz neue Waffengattung die Artillerie mit achtundvierzig Geschützen eingeführt worden.

Während der Vorbereitungen der Manöver war Laurenz als Stabsarzt mehrfach zu Besprechungen gebeten worden und hatte jedes Mal dringlich auf die Notwendigkeit eines Feldlazaretts hingewiesen. Er war sich jedoch nie sicher gewesen, ob die Herren Offiziere über ihren Plänen zu Schlachten und Transporten, den Fragen von Unterbringung und Verpflegung ein Ohr dafür gehabt hatten. Sie hatten, und wie aus der Liste zu ersehen war, hatten sie nicht nur an die im Manöver verletzten Soldaten gedacht, sondern auch an Fieber- und Durchfallerkrankungen, die unvermeidlich auftraten, wenn annähernd dreißigtausend Menschen über Wochen auf engstem Raum zusammenlebten. Laurenz setzte nun seinen Ehrgeiz darein, das Lazarett bestmöglich auszustatten. Er griff zu einer Schreibfeder, tauchte sie in ein Tintenfass und ergänzte als Erstes den auf der Liste aufgeführten Lazaretthelfer um zwei weitere. Die für notwendig erachteten Mengen an Medikamenten verdoppelte er und fügte weitere hinzu. Was während der Manöver nicht verbraucht wurde, könnten die Feldscher später erhalten. Nachdem er solcherart die Liste ergänzt hatte, lehnte er sich zufrieden zurück.

Teil I
Vor dem Campement

Eins
April 1730

In Meister Mingels Backstube in Radebeul hing eine Laterne über dem abgenutzten Holztisch in der Mitte des Raumes und verbreitete ihr warmes Licht. Eine brennende Kerze stand auf dem Regalbord mit den hölzernen Dosen für Gewürze und Nüsse. Eine zweite Kerze beleuchtete die Backformen und Bleche, die in einem Gestell neben dem Ofen auf ihren Einsatz warteten. Noch war es mitten in der Nacht und selbst für einen Bäcker zu früh, um mit der Arbeit zu beginnen. Statt des Meisters und seines Sohnes stand die Magd Christiana an dem langen Tisch und verrührte Eier, weißes Mehl, gute Butter und Zucker zu einem Teig. Sie bearbeitete ihn kräftig mit dem Holzquirl, bis er eine lockere goldgelbe Konsistenz annahm.

Den Teig teilte sie auf ein gutes Dutzend kleine Förmchen auf, die sie mit einem Holzschieber in den Ofen bugsierte. Über mehrere Klappen regelte Christiana die Luftzufuhr und damit die Temperatur im Ofen. In dessen Wärme stand eine zugedeckte Steingutschüssel mit einem Hefeteig. Ihn hatte sie als Ersten zubereitet und zum Gehen neben den Ofen gestellt. Im Teig hatten sich bereits große Poren gebildet, und er hatte sein Volumen nahezu verdoppelt. Sie tippte ihn mit dem Finger an und entschied, er könne noch eine kurze Zeit warten.

Aus Butter, Zucker, Eiern und Vanillemark schlug sie eine luftige Creme als Zier für das Dutzend Törtchen im Ofen. Außer mit der Creme verzierte sie die Törtchen noch mit getrockneten Pflaumen und Rosinen. Einen Moment betrachtete sie ihr Kunstwerk. Viel Zeit konnte sie sich nicht lassen, denn der Hefeteig wartete auf seine weitere Verarbeitung. Sie formte ihn zu drei Strängen und flocht daraus einen Zopf, den sie in den Ofen schob.

Ein einfacher Hefezopf, vielleicht noch mit Mandeln bestreut, war aber nicht, was Christiana vorschwebte. Ihre Idee rankte sich um etwas Komplizierteres. Deshalb schlug sie Eiweiß steif, vermischte es mit Zucker und gemahlenen Nüssen, bis eine geschmeidige Makronenmasse entstanden war. Diese wollte sie auf den Hefezopf streichen. Da Makronenmasse im Ofen mehr trocknen als backen musste, begann nun der knifflige Teil. Mehrmals schaute sie nach, ob der Hefezopf lange genug gebacken hatte, um ihn mit der Makronenmasse zu bestreichen und ihn danach noch bei niedriger Hitze eine Viertelstunde in den Ofen zu stellen. Die Zungenspitze schaute zwischen Christianas Lippen hervor, als sie mit einem Löffel vorsichtig das Nussmus auf dem Zopf verteilte. Aufatmend schob sie das Gebäck ein letztes Mal in den Ofen und wartete eine kleine Weile, bis die Makronenmasse locker aufgegangen war und oben eine feste Kruste gebildet hatte. Der Hefezopf sah nun recht braun aus. Aber es mochte noch gehen – gerade noch.

Sie ordnete alle Backwaren auf dem großen Tisch an, auf dem sonst die Teige geknetet wurden, dämmte die Luftzufuhr am Backofen, damit das Feuer nur noch glimmte, und verließ die Backstube. Es war immer noch dunkel, als sie die Küche erreichte. Die Hälfte des Raumes nahm der von oben heruntergelassene Hängeboden ein, auf dem sich ihr Bett befand. Sehnsüchtig warf Christiana einen Blick darauf, aber ihr war klar, dass die Zeit nicht mehr reichte, um noch einmal unter die Decke zu kriechen, ehe sie Wasser vom Brunnen holen und in der Küche das Herdfeuer schüren musste. Das Backen hatte sie den Schlaf der halben Nacht gekostet, aber in der warmen Backstube zu stehen, den Duft der Teige und fertigen Kuchen zu riechen – sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

Leider bestand ihre Arbeit im Hause Mingel darin, die Küche zu versorgen, der Meisterin und ihrer Schwiegertochter aufzuwarten, sich um Haus und Garten zu kümmern. In die Backstube kam sie nur zum Fegen, oder wenn sie tagsüber ein paar Minuten Zeit fand, um Meister Mingel und seinem Sohn über die Schultern zu schauen. Was sie über das Backen wusste, hatte sie auf diese Weise aufgeschnappt.

Wenn sie in manchen Nächten aufwachte, weil ihr der Kopf vor neuen Ideen für Kuchen schwirrte, konnte sie nicht anders, als aufzustehen und sie auszuprobieren. Mit einem Seufzen zog Christiana den Hängeboden hoch und wollte sich eine kurze Pause am Küchentisch gönnen. Sie setzte sich und legte den Kopf auf die Unterarme.

Kurz darauf standen der Bäckermeister Johann Walther Mingel, sein Sohn und Geselle Christoph Johann Mingel und der Lehrjunge Konrad in der Backstube und betrachteten die Kuchen auf dem Tisch. Niemand musste fragen, woher sie stammten. Konrad streckte die Hand nach einem der Törtchen aus, bekam aber von Mingel Junior einen Klaps auf die Finger.

»Sieht gut aus«, brummte der Bäckermeister.

»Das ist nur was für fiirnaame Leit.« Mingel Junior knetete seine fleischigen Finger.

»Das werden wir schon an unsere Radebeuler verkaufen. Vor allen Dingen den Hefezopf. Den können wir gut vierteln oder gleich kleinere backen.« Meister Mingel rechnete im Kopf bereits die Groschen aus, die ihm das besondere Gebäck einbringen mochte.

»Wie ist der Zopf nur gemacht? Das sieht doch aus wie ein Makronenteig auf einem Hefegebäck. Wie geht das zusammenzubacken?«, wunderte sich Mingel Junior.

»Das ist ganz einfach.« Der Bäckermeister hatte auf den ersten Blick erkannt, wie Christiana es vollbracht hatte, zwei so unterschiedliche Teige in einem Gebäck zusammenzubringen. Er erklärte, wie erst der eine gebacken und kurz vor dem Ende der andere aufgestrichen werden musste. So lieb ihm sein Sohn war, so sehr bedauerte er dessen träge Gedanken und mangelnde Vorstellungskraft. Dass er selbst auf die Idee eines Makronenhefezopfes hätte kommen können, statt alle neuen Ideen in seiner Backstube immer Christiana zu verdanken, bedachte er nicht.

»Sollten wir nicht wissen, wie es schmeckt, was wir an die guten Radebeuler verkaufen wollen?«, wagte Konrad einzuwerfen.

»Verfressener Bengel! Aber du hast Recht«, brummte Mingel Senior und wuschelte dem Lehrjungen durch das Haar. Er nahm ein großes scharfes Messer zur Hand und teilte eines der Törtchen in drei Teile. Zwei größere und ein sehr schmales Stück.

Das kleine war für Konrad bestimmt. Alle drei ließen sich ihre Portionen auf der Zunge zergehen. Der lockere Teig, die süße Creme mit den Früchten – es war eine Komposition, die selbst verwöhnte Gaumen begeistern musste. Der Meister entschied, die Törtchen gleich zwei Pfennige teurer zu machen, als er ursprünglich gedacht hatte. Das war wirklich etwas für die vornehme Kundschaft. Konrad hatte seinen Anteil mit zwei Bissen verschlungen und wartete nun darauf, ob vielleicht noch etwas von dem Hefezopf für ihn abfiel. Bevor es für die Männer in der Backstube ein Frühmahl gab, dauerte es noch Stunden, erst mussten sie die Brote und Kuchen backen, die tagsüber verkauft werden sollten. Und Konrad war immer hungrig.

Der Meister klatschte in die Hände. »An die Arbeit. Vom Herumstehen und Maulaffen feilhalten wird nichts fertig.«

Bei Tagesanbruch erhob sich Sigrun Mingelin und wunderte sich darüber, dass niemand erschienen war, um ihr eine heiße Milch zu bringen, ihr mit der Schnürbrust zu helfen und ihr danach das Haar zu richten. Im Morgenmantel und noch mit der Nachthaube betrat sie das Schlafzimmer ihrer Schwiegertochter Lisbeth Mingelin am anderen Ende des Flurs. Die junge Frau rieb sich eben verschlafen die Augen. Als sie ihre Schwiegermutter erkannte, sprang sie hastig aus dem Bett.

»Ist etwas passiert, liebe Frau Mama?«, erkundigte sie sich mit weit aufgerissenen Augen, als erwartete sie die schlimmste aller Nachrichten.

Ein wenig gänschenhaft war sie schon, ihre Schwiegertochter, dachte die alte Mingelin. Aber auch die Tochter des Ältesten der Radebeuler Bäckerzunft.

»Was soll passiert sein? Niemand kam, um mir beim Ankleiden zu helfen und das Haar zu richten.«

»Das übernehme ich gerne, liebe Frau Mama.« Lisbeth schlüpfte nun in ihren eigenen Morgenmantel.

»Christiana hätte zur Stelle sein sollen.«

»Das stimmt. Wo ist sie abgeblieben? Sie hätte auch mir helfen sollen.« Die junge Mingelin legte viel Entrüstung in ihre Stimme. Sie redete ihrer Schwiegermutter stets nach dem Mund oder versuchte sogar, sie zu übertreffen, um sich bei ihr einzuschmeicheln.

Mit wehenden Morgenmänteln und klappernden Pantinen eilten beide Frauen in die Küche. Die Dämmerung kroch dort durch die geschlossenen Fensterläden, aber es herrschte bereits genug Licht, um die schlafende Gestalt am Küchentisch zu erkennen.

»Das faule Luder!«, empörte sich die alte Mingelin. Sie rüttelte Christiana an der Schulter, und als diese aufschreckte, klatschte eine Ohrfeige in ihr Gesicht. »Bist du nun wach?«

»Arbeitsscheue Schlampe«, echote die junge Mingelin und stieß Christiana ebenfalls in die Seite, zog ihr einen langen Fingernagel über den Handrücken und freute sich an der roten Linie, die auf der Haut der jungen Frau erschien.

Christiana war bei der Ohrfeige sofort aufgeschreckt, brauchte aber einen Moment, um die Lage zu erfassen und die beiden wütenden Frauen vor sich zu erkennen. Sie rieb sich die Augen, unterdrückte ein Gähnen und legte eine Hand an ihre pochende Wange.

»Ich … ich … ich muss verschlafen haben«, murmelte sie undeutlich. Ihr war augenblicklich klar geworden, was passiert war: Statt ein paar Minuten zu dösen, musste sie noch einmal richtig eingeschlafen sein. »Es tut mir sehr leid und wird nicht wieder vorkommen. Ich werde sofort kommen und Ihnen das Haar richten, verehrte Meisterin, das Frühstück bereiten, das Haus fegen und alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigen.«

»Lügnerin. Man sollte dir den Mund mit Seife auswaschen und dich …«

Christiana erfuhr nicht, was die junge Mingelin noch für sie vorgesehen hatte, denn die Ältere bedeutete ihr zu schweigen.

»Damit allein ist es nicht getan! Du hast kein Wasser geholt, für das Morgenmahl ist nichts vorbereitet. Nicht einmal ein Feuer brennt im Herd.«

»Die Stube ist nicht gefegt und aufgeräumt«, ergänzte die Jüngere.

»Ich erledige alles! Sofort!« Christiana band sich eine Schürze um und schob sich einige lose Strähnen ihres hellbraunen Haares unter die Haube. Mehr Morgentoilette war an diesem Tag nicht möglich.

»Du wirst mir als Erstes beim Ankleiden helfen und mein Haar frisieren.«

»Sehr wohl.« Christiana knickste vor der alten Mingelin.

Gleich darauf standen beide in deren Schlafstube, und Christiana half ihr in ein dunkelblaues Tageskleid aus glänzendem Barchent. Mit flinken Händen schloss Christiana die Haken am Rücken und verstand immer noch nicht, wie es ihr passieren konnte, noch einmal so fest einzuschlafen, dass sie die Kirchglocken um sechs Uhr morgens überhört hatte, die den Beginn ihres Arbeitstages anzeigten.

Die Frisur der alten Mingelin fiel an diesem Morgen einfach aus. Gleich darauf eilte sie zur jungen Mingelin, um auch ihr bei der Morgentoilette zu helfen. Die jüngere Frau bevorzugte Kleider aus hellen dünnen Stoffen, die eigentlich für die Frau eines Bäckergesellen zu vornehm waren. Mit barscher Stimme gab sie Christiana unentwegt Anweisungen. Ihr behilflich zu sein, dauerte doppelte so lange wie bei der alten Mingelin.

Als Christiana endlich wieder in die Küche kam, hatte die Herrin das Feuer entfacht und war mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt. Sie rührte in einem Topf, aus dem es nach Milchsuppe roch. Christiana begann geschwind, einen Eierkuchenteig zu verquirlen und die Fladen zu backen, damit sie zur Suppe als Morgenmahl auf den Tisch gestellt werden konnten.

»Du warst in der Backstube und vernachlässigst deswegen deine Pflichten«, stellte die alte Mingelin streng fest.

»Ich entschuldige mich dafür. Das wird nicht wieder vorkommen.«

»Es war nicht das erste Mal. Mein Mann tut nichts dagegen.«

»Er weiß es nicht. Geben Sie ihm nicht die Schuld«, sagte Christiana schnell.

»Er duldet es. Dabei stehe ich dem Haushalt vor und habe über dich zu entscheiden. Ich will diesmal zum letzten Mal Gnade vor Recht ergehen lassen und jage dich nicht davon, aber wenn du wieder deine Pflichten vernachlässigst oder ich dich in der Backstube sehe, verlässt du auf der Stelle dieses Haus.«

Christiana schluckte. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Sie beugte sich tiefer über den Tiegel, in dem ein Eierkuchen buk. Nicht mehr in die Backstube zu dürfen, war eine harte Strafe. Oder sie musste noch früher in der Nacht aufstehen und besser aufpassen.

Vom Morgenmahl, das die gesamte Familie gemeinsam einnahm, bekam sie an diesem Tag nichts ab, die Hausarbeit ließ ihr keine Zeit zum Essen.

***

Elisabeth von Haynau wedelte mit einem Schreiben in der Hand, als wollte sie sich Luft zufächeln, und betrat die Bibliothek, in der sie ihren Gatten vermutete. Sie behielt Recht, denn Frieder Wilhelm von Haynau stand am Fenster und starrte in einen wolkenverhangenen Aprilmorgen hinaus. Er trug Reitkleidung und schien zu überlegen, ob ein Ausritt an diesem Morgen eine angenehme Beschäftigung wäre.

»Es sieht nach Regen aus, mein Lieber. Bleiben Sie besser im Haus.«

»Im April sieht es immer nach Regen aus.« Er drehte sich zu seiner Frau um und erblickte das Schreiben in ihrer Hand. »Was haben Sie da? Eine Einladung, die wir nicht ablehnen können?«

»Wenn es das wäre. Mein Schneider schreibt und erinnert mich an verschiedene unbezahlte Rechnungen«, sagte Elisabeth von Haynau kummervoll.

»Warum schreibt er Ihnen und nicht mir?«

»Er hat wohl an Sie geschrieben – jedenfalls entnehme ich das seinen Worten.«

»Er erdreistet sich, an Sie um Geld zu schreiben. Sie müssen den Schneider wechseln, meine Liebe.«

»Das habe ich auf Ihr Anraten hin bereits zweimal getan. In Dresden gibt es keinen weiteren Schneider mehr, der meinen Ansprüchen an meine Garderobe genügt.« Sie war es nicht gewohnt, mit ihrem Ehemann über ihre Kleider zu diskutieren, und bereute es schon, mit dem Brief zu ihm gegangen zu sein. Aber sie war empört gewesen, als sie ihn beim Frühstück im Bett gelesen hatte. Die Empörung hatte immer noch angehalten, als ihre Zofe sie angekleidet und frisiert hatte.

»Sie können natürlich keine Kleider tragen, die nicht Ihren Ansprüchen genügen.«

»Das kann ich in der Tat nicht. Was sollen die Leute von uns denken?« Die Empörung formte den Mund Elisabeth von Haynaus zu einem runden O.

»Sie verstehen mich falsch. Es war nicht ironisch gemeint. Sie müssen angemessen gekleidet sein. Etwas anderes kommt für Leute unseres Standes nicht in Frage«, beeilte sich Frieder von Haynau seiner Liebsten zu versichern. Die Frauen und ihre Garderobe waren ein sensibles Thema, so sensibel wie das der Männer und ihrer Garderobe. »Geben Sie mir das Schreiben, ich werde den frechen Schneider besänftigen. Irgendwie.«

»Das Beste wäre es, ihm ein paar Taler zu geben.«

Frieder von Haynau nahm seiner Frau den Brief ab und warf einen kurzen Blick auf die dort genannt Summe. Sein Adamsapfel hüpfte. Er hatte einen erklecklichen Betrag erwartet, aber diese Höhe dann doch nicht. Ein paar Taler – damit wäre es nicht getan. Es müssten schon einige hundert sein.

»Meine Taschen sind leer.«

»Ich erwarte nicht, dass Sie das Geld in den Taschen Ihres Reitrockes mit sich tragen.«

»Das Geld ist auch an keinem anderen Ort. Nicht so viel. Wir sind klamm, und Sie wissen das.« Es gehörte sich nicht, mit seiner Ehefrau über Geld zu sprechen, aber manchmal musste es sein.

»Etwas werden Sie doch erübrigen können.«

»Etwas wird nicht reichen.«

»Vielleicht auch etwas mehr. Es waren die Kleider für die Redouten in Dresden zu den Karnevalsfeiern. Sie konnten unmöglich wollen, dass ich bei zwei Maskenbällen in einer Woche das gleiche Kleid trage. Wie peinlich das gewesen wäre. Ich hätte mich eher mit Kopfschmerzen zu Bett gelegt.«

Die beiden Redouten im Februar waren rauschende Feste am Dresdner Hof gewesen. Seine Frau hatte an einem Abend in dunkelrot und am anderen in pfirsichgelb geglänzt. Er hatte dazu farblich passende Röcke in Hellbraun und Blau getragen.

»Therese hat auch zwei neue Ballroben benötigt. Ich habe ihr erlaubt, sie bei meinem Schneider zu bestellen.«

»Genützt hat es nichts. Das Mädchen ist nach wie vor nicht vergeben.«

»Das war wirklich nicht ihre Schuld. Auf den Redouten hat sie sich alle Mühe gegeben. Sie ist nie ohne Tanzpartner geblieben«, verteidigte Elisabeth von Haynau ihre einzige Tochter Therese Anni. »Was soll mit dem Schneider geschehen?«

»Ich werde ihm schreiben und einen Teil der Rechnung bezahlen. Sie sprechen mit Therese. Die Hoffnung unserer Familie hängt an ihr.« Frieder von Haynau legte den Brief auf einen Schreibtisch, wo bereits andere gleichen Inhalts warteten.

Außer der Tochter hatte seine Frau ihm drei Söhne geschenkt. Und alle seine Kinder waren die Sonne seiner Tage. Der Älteste teilte seine Begeisterung für Pferde und Jagd, der Zweite war Fahnenjunker bei der Zweiten Garde in Dresden. Für ihn musste demnächst ein Leutnantspatent in einem anderen Regiment gekauft werden. Der jüngste Sohn war ein Nachzügler und bewohnte noch die Kinderstuben. Die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage ruhte daher einzig und allein auf seiner Frau und Therese. Seiner Elisabeth musste es gelingen, einen wohlhabenden Mann für die Tochter zu finden.

Draußen bedeckte immer noch die gleiche dicke Wolkenschicht den Himmel, dennoch sagte er: »Ich werde ausreiten. Das neue Pferd braucht Bewegung. Der Stallmeister sagt, so ein edles Tier kann nicht den ganzen Tag stehen. Sprechen Sie mit Therese.«

Er schickte sich an, die Bibliothek zu verlassen. Im Vorbeigehen küsste er seine Frau auf die gepuderte Wange.

Die Suche nach ihrer Tochter kostete Elisabeth von Haynau einige Zeit. Alle Orte, die für ein junges Mädchen um diese Tageszeit schicklich waren, erwiesen sich als Fehlanzeige. Der Frühstücksraum, der Morgensalon, der Wintergarten, das eigene Schlafzimmer. Elisabeth von Haynau stand im ersten Stock im Flur vor den Privaträumen der Familie und tippte mit dem Fuß auf den Teppich. Wo mochte sich ihre Tochter wieder herumtreiben? Sie schickte in die Dienstbotenquartiere hinunter. Der erste Hausdiener versicherte ihr, das gnädige Fräulein habe das Haus nicht verlassen, aber er wusste auch nicht, wo sich Therese augenblicklich aufhielt.

Also suchte sie ihre Tochter an Orten, die sich für eine junge Dame von Stand um diese Tageszeit nicht gehörten. Das waren das Herrenzimmer oder die Gewehrkammer mit den Jagdwaffen. Ganz zum Schluss fand sie sie in einem Seitenflügel des Schlosses im Kabinett des Gutsverwalters.

Therese und Dietrich Liburti saßen nebeneinander hinter dem Schreibtisch und hatten die Köpfe über einem Folianten zusammengesteckt. Diese Vertrautheit mit einem gut aussehenden jungen Mann hätte Elisabeth von Haynau gefallen können, wären es ein anderer Mann und eine andere Gelegenheit gewesen. Die beiden waren so in dieses Buch versunken, dass sie den Eintritt der gnädigen Frau nicht einmal bemerkten.

Elisabeth von Haynau räusperte sich und sah mit Genugtuung, dass ihre Tochter wenigstens zerknirscht dreinschaute. Dietrich von Liburti verneigte sich vor der gnädigen Frau und verließ den Raum.

»Ich habe dich überall gesucht, Kind.«

»Nun haben Sie mich ja gefunden.«

»Es ziemt sich für eine junge Dame deines Standes nicht, auf so vertrautem Fuß mit dem Sohn des Gutsverwalters zu sein.«

»Wir haben gearbeitet. Das …«, Thereses Zeigefinger tippte auf den Folianten, der noch aufgeschlagen auf dem Tisch lag, »… sind die Entwicklungen bei den Beständen an Kühen. Dietrich berichtete, dass einige krank sind. Er befürchtet den Ausbruch einer Seuche, was einen immensen Schaden für das Gut bedeuten würde.«

»Ich höre immer Kühe. Das ist eine ganz und gar unpassende Beschäftigung für dich, mein Liebes. Dein Vater und dein ältester Bruder werden sich darum kümmern.«

»Was, wenn uns die ganze Herde stirbt?«

»Ich möchte das K-Wort aus deinem Mund nicht mehr hören«, sagte Elisabeth von Haynau scharf. »Es gibt ein anderes Problem, das ich mit dir besprechen muss.«

»Hoffentlich nichts Schlimmes, liebe Mama?«

»Du musst heiraten«, sagte Frau von Haynau unverblümt. »Das Wohl der Familie erfordert es.«

»Wen soll ich zum Mann nehmen?« Therese gelang es, eine gleichmütige Miene beizubehalten. In ihrem Inneren sah es jedoch anders aus.

»Einen Mann … einen Mann … Er muss von unserem Stand sein und nicht völlig ohne Vermögen. Du sollst ihn natürlich auch gernhaben. Hast du eine Neigung gefasst, als wir im Februar in Dresden waren?«

»Nein.«

»Du hast keinen Tanz ausgelassen. Und es waren alles respektable Herren, darauf habe ich geachtet. Nie würde ich zulassen, dass du dich unter Wert wegwirfst.«

»Ich erinnere mich an einen, der war ein unerträglicher Schwätzer, ein anderer bekam kaum ein Wort heraus, ein Dritter interessierte sich nur für die Entenjagd. Dann war da noch einer, der sich eines beim Kartenspiel gewonnenen Vermögens rühmte und nun darauf wartete, es genau dort wieder zu verlieren. Wahrscheinlich ist es inzwischen passiert. Zu welchem davon soll ich eine Neigung fassen?«

»Nun … nun … Wenn du so redest …«

»Der mit der Entenjagd könnte immerhin Papa zusagen«, meine Therese trocken. Sie war im letzten Monat zwanzig Jahre alt geworden und längst in die Gesellschaft eingeführt. Etliche andere junge Damen ihres Alters waren verheiratet. Sie verstand die Sorge ihrer Mutter, dass sie sich zu einem späten Mädchen entwickelte. Ähnliche Ängste plagten auch sie.

»Sage so etwas nicht. Jedenfalls brauchst du keinen Mann, der ein Vermögen am Kartentisch gewinnt und verliert. Du brauchst jemanden, der beständig ist und dir all die Annehmlichkeiten bietet, an die du gewöhnt bist.«

»Dafür bin ich Ihnen dankbar, liebe Mama. Haben Sie an den jungen von Heinrichsbad gedacht? Niemand ist beständiger als er, und er würde mir das Leben so angenehm wie möglich machen.«

»Wen?« Elisabeth von Haynau schaute ihre Tochter verständnislos an. Hatte das Mädchen doch eine Neigung gefasst? Und sie sich ganz umsonst einen Sack voll Gedanken gemacht?

»Siegfried von Heinrichsbad. Seine Familie lebt auf dem Rittergut Guhlis. Sie sind unsere Nachbarn, und ich kenne Siegfried mein ganzes Leben lang.«

»Den doch nicht!«

»Er würde nie ein Vermögen am Kartentisch verspielen. Seine Familie lebt in guten Verhältnissen und ist von unserem Stand. Ich bin mir sicher, er könnte dazu gebracht werden, mir einen Antrag zu machen.« Der Aufruhr in Thereses Inneren hatte sich gelegt, ihr natürlicher Humor die Oberhand gewonnen, und sie fand einigen Gefallen an dem Gespräch.

»Du benötigst hervorragende Verhältnisse. Schlage dir diesen jungen Menschen aus dem Kopf. Dein Vater und ich haben ganz andere Pläne für dich.«

»Welche?«

»Du wirst nach Dresden reisen und im Haushalt deiner Tante leben. Sie wird dich bei der Suche nach einem Ehemann leiten.«

»Sie weiß davon?«

»Ich werde ihr schreiben. Und sie wird sich nicht weigern, das weiß ich. Das Glück, das ihr widerfahren war, warum soll es dir nicht vergönnt sein? Sie hat eine sehr gute Partie gemacht. Du bist so hübsch, es wird dir auch gelingen.« Elisabeth von Haynau betrachtete ihre Tochter, fasste ihr unter das Kinn und drehte ihr Gesicht ins Licht. »Dein Teint könnte etwas zarter sein. Das kommt davon, weil du bei jedem Wetter rausgehst wie eine Bauernmagd. Ab sofort hört das auf. Bis du nach Dresden reist, musst du makellos sein. Wir werden dir einige neue Kleider anfertigen lassen, ein paar Hauben und Handschuhe wirst du auch benötigen. Bei den Schuhen …« Elisabeth von Haynau dachte angestrengt nach und runzelte dabei unbewusst die Stirn. Sie tat es sonst nie, weil sie fürchtete, die dabei entstehenden Falten würden sich in die Haut eingraben.

»Liebe Mama, hören Sie auf«, sagte Therese dringlich. »Sie wollen mich zur Tante schicken, damit sich ein vermögender Mann meiner annimmt. Weil diese Familie mit dem Geld nicht auskommt, wollen Sie noch mehr Geld ausgeben, obwohl der Ausgang Ihres Plans mehr als ungewiss ist.«

»Bevor ein Gewinn winkt, muss investiert werden. Das weiß ich von deinem Vater.«

»Wir nähen neue Spitzen und Borten an die Kleider, die Sie mir erst im Februar haben schneidern lassen.«

»Das geht auf keinen Fall.« Die Mutter war tatsächlich so erschrocken, wie sie sich anhörte. »Die Kleider hast du in Dresden schon getragen, damit kannst du dich in der Residenz nicht mehr sehen lassen. Es ist abgemacht, du bekommst neue. Dein Vater wird es möglich machen.«

»Es muss also ein sehr reicher Mann sein.« Nun fiel es Therese wieder schwer, Gleichmut zu bewahren.

»Nun …«

»Es gibt keine andere Möglichkeit?«

»Keine. Du musst auch an deine Brüder denken, die du gewiss nicht im Elend sehen willst.«

»Nachdem alles gesagt ist, liebe Frau Mama, werden Sie mich entschuldigen. Ich kann nicht …« Therese lief an ihrer Mutter vorbei aus dem Raum.

»Kind!«, rief die und schaute ihr betroffen nach. Dass das arme Ding immer alles so schwer nehmen musste. Jedes andere Mädchen in ihrem Alter würde sich über einen Aufenthalt in der Residenzstadt freuen, könnte es gar nicht erwarten, hinzukommen. Ihre Tochter machte ein Drama daraus. Den Nachbarn heiraten – was sie sich da wieder in den Kopf gesetzt hatte. Zum Glück hatte sie rechtzeitig davon erfahren, um dem einen Riegel vorzuschieben.

In Rekordzeit und beinahe ohne die Hilfe ihrer Zofe schlüpfte Therese in ein Reitkostüm und drückte sich ein Hütchen keck aufs Haupt. In die Ställe hatte sie die Nachricht hinuntergeschickt, dass ihre Stute Iphigenie gesattelt werden solle. Die temperamentvolle Fuchsstute wartete im Hof, als sie herunterkam, neben einem zweiten gesattelten Pferd und einem Reitknecht, der beide an den Zügeln hielt. Der Regen, der ihren Vater über einen Ritt hatte nachdenken lassen, hatte sich inzwischen zu einem leichten Nieseln abgeschwächt. Der Himmel zeigte Fetzen von Blau, und womöglich würde sich im Laufe des Tages noch die Sonne herauswagen. Therese gönnte dem Wetter keinen Blick, sondern eilte über den Hof.

»Ich will allein ausreiten und benötige seine Dienste nicht«, beschied sie dem älteren Knecht knapp.

»Wenn dem gnädigen Fräulein ein Unglück zustößt«, äußerte der Mann, derweil er ihr die zum Steigbügel gefalteten Hände hinhielt.

»Was mir beim Reiten passieren könnte, wäre nichts gegen den Unbill, den mir andere Menschen zu verursachen in der Lage sind«, antwortete sie, als sie ihre Röcke ordnete.

Auf das kleinste Zeichen hin trabte Iphigenie an. Die beiden verließen den Hof, und Therese wandte sich fort vom Schloss und dem Dorf, der Feldmark sowie den Wäldern zu. Sie war schon oft um Benndorf herum ausgeritten und kannte jeden Weg. Als die Stute sich warmgetrabt hatte, ließ Therese ihr die Zügel schießen. Iphigenie galoppierte an, ihre Reiterin beugte sich vor, die Enden eines Schals und ihre Röcke flatterten. Der Wind kühlte Thereses erhitzte Wangen. Zweige streiften sie.

Iphigenie stürmte einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, die Dächer eines Dorfes kamen in Sicht, aber Therese lenkte die Stute in einem weiten Bogen daran vorbei. Ebenso hielt sie es beim zweiten und dritten Dorf. Erst als der Atem des Pferdes schwerer ging, parierte sie Iphigenie zum Trab und schließlich zum Schritt durch. Sie legte eine Hand auf den schweißnassen Hals der Stute.

»Das hat gut getan«, murmelte sie. »Du hast einen schnellen Ritt auch vermisst, nicht wahr, meine Gute?«

Als Antwort schnaubte das Pferd.

Therese ließ es am langen Zügel im Schritt gehen.

»Ich soll nach Dresden gehen und eine Zeit lang bei der Tante wohnen«, informierte sie Iphigenie unterdessen. »Ich würde dich mitnehmen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es dir in der Stadt gefällt. Solche Ritte wie dieser sind dort nicht möglich. Meine Tante würde es auch kaum erlauben, viel eher müsste ich mit ihr in der Kutsche fahren und alle Augenblicke anhalten, um mit Bekannten zu plaudern.«

Bei dieser Vorstellung stiegen Tränen in Thereses Augen. Entschlossen wischte sie sie fort, ehe sie Iphigenie mehr von ihrem Kummer anvertraute. »Einen reichen Mann soll ich heiraten, der mit seinem Geld das Vermögen derer von Haynau rettet. Und das alles nur, weil die liebe Frau Mama nicht von dem teuren Leben lassen kann. Ein paar Kleider und eine glanzvolle Einladung weniger täten es auch. Sie glaubt, dass ich das gleiche Leben anstrebe wie sie, aber mir macht es nichts aus, zweimal hintereinander mit dem gleichen Kleid in Gesellschaft gesehen zu werden.« Therese stockte. Machte ihr das wirklich nichts aus? Sie erntete auch nicht gerne höhnische Blicke wegen ihrer Garderobe. So ehrlich vor sich selbst musste sie schon sein.

»Aber mit zwei oder drei guten Kleidern komme ich aus«, erklärte sie ihrer Stute trotzig.

Iphigenies Atem hatte sich inzwischen beruhigt, sie wirkte wieder frisch, deshalb nahm Therese die Zügel auf und ließ sie antraben. In leichtem Tempo wandte sie sich heimwärts. Iphigenie wäre gerne schärfer getrabt oder wieder galoppiert, aber Therese wollte sich nicht den Vorhaltungen des Stallmeisters aussetzen, mit einem erhitzten und erschöpften Pferd auf den Hof zu kommen.

Auf einem quer zu ihrem eigenen verlaufenden Weg sah sie einen Reiter nahen und erkannte ihren Vater auf seinem neuen Hengst. Er hatte sie auch gesehen und winkte. Lieber wäre Therese allein geblieben, aber sie sah keine Möglichkeit, so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Sie wartete an der Stelle, an der beide Wege aufeinanderstießen. Danach ritten sie im Schritt nebeneinander her.

»Ich habe auch immer gefunden, dass ein scharfer Ritt hilft, trübe Gedanken zu vertreiben. Wir sind uns sehr ähnlich, meine Kleine.« Frieder von Haynau machte eine Bewegung, als wollte er seiner Tochter über die Wange streichen, ließ es dann jedoch.

»Wieso vermuten Sie trübe Gedanken bei mir?«

»Deine Mutter wollte mit dir sprechen, und ich gehe davon aus, dass sie es auch getan hat.«

»Sie hat.«

»Du bist also im Bilde über unsere betrübliche Situation und wirst die Sache gefasst tragen. Ich kenne doch meine Tochter.«

Am liebsten hätte Therese ihm ihren Kummer und Ärger an den Kopf geworfen, aber sie beherrschte sich. Ihren Vater verscheuchte sie mit einem Wutausbruch eher, als dass sie etwas bei ihm erreichte.

»Können wir nicht bei besserer, bei sparsamerer Wirtschaftsweise auskommen?«

»Du kennst doch deine Mutter …« Er ließ den Satz im Nichts verhallen.

»Und Sie, mein lieber Papa? Sie können unmöglich gutheißen, mich an einen Mann zu verheiraten, nur weil er reich ist.«

»Du sollst einen Mann heiraten, den du gern hast, mein Kind. Sein Vermögen dürfen wir dabei nicht vernachlässigen. Wenn du genügend darüber nachgedacht und es eine Nacht überschlafen hast, wirst du genauso denken. Das ist nun einmal, was Leuten unseres Standes zukommt.« Diesmal strich er ihr über die Wange. »So war es immer gewesen. Eine Heirat bedeutet eine Allianz zwischen zwei Familien.«

»Lässt sich das nicht ändern? Uns gehört nur ein Rittergut, wir herrschen über kein Fürstentum.«

»Wollen ausgerechnet wir damit anfangen?«

Ja, hätte Therese am liebsten ausgerufen, was bedeutet unser Stand, wenn er nur dazu dient, mich unglücklich zu machen, aber ihr Vater redete schnell weiter, als wollte er genau diesen Ausbruch verhindern. »Deine Mutter hat vielleicht streng mit dir gesprochen, du kennst sie. Sie meint es nicht so. In ihrem Herzen will sie nichts anderes, als dass du glücklich wirst. Wenn du ihr wieder vom Sparen gesprochen hast – du weißt, dass ihr das nicht liegt. Das Geld zerrinnt ihr zwischen den Fingern, wie mir auch. Da kann man nichts machen.«

Therese warf einen Blick auf seinen Hengst. »Nun es …«

»Es wäre eine Sünde gewesen, dieses herrliche Tier nicht zu erwerben. Am Ende wäre es mich teurer gekommen, weil ich mich immer und immer geärgert hätte. Ich hätte nur andere Pferde gekauft, um diesen Verlust wettzumachen, und mehr ausgegeben, als mich dieser brave Bursche gekostet hat. Eigentlich habe ich mit seinem Kauf Geld gespart.«

Therese verdrehte die Augen. Was ließ sich sagen? Jedes Wort musste verschwendet sein, und sie wusste, dass sie am Ende als brave Tochter nach Dresden reisen würde.

Sie ritten gemeinsam nach Benndorf zurück, und wer sie gesehen hätte, hätte an ein unzertrennliches Vater-Tochter-Gespann gedacht.

Zwei
April 1730

Auf der Stelle verlässt du das Haus! Pack dein Bündel und verschwinde! Du bekommst noch den Lohn für diese Woche, und danach will ich dich nie wieder in der Nähe dieser Bäckerei sehen«, schrie die alte Mingelin sie an.

»Verehrte Meisterin, ich bitte Sie. Das dürfen Sie nicht. Wo soll ich denn hingehen? Ich habe doch niemanden.« Christiana spürte, wie ihr das Blut abwechselnd ins Gesicht schoss und in die Beine sackte.

»Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Ich habe es dir oft genug gesagt.«

Die alte Mingelin ließ nicht mit sich reden. Auf die Gnade der jüngeren Mingelin zu hoffen, war genauso vergebens. Die beiden beobachteten Christiana, die mit zitternden Händen ihre wenigen Habseligkeiten packte, und begleiteten sie bis zur Tür des Bäckerhauses. Die jüngere Mingelin versetzte ihr sogar noch einen leichten Stoß, der sie auf die Gasse stolpern ließ. Geräuschvoll wurden die Tür geschlossen und der Schlüssel herumgedreht.

Frühnebel hatte die Radebeuler Gassen eingehüllt und legte sich feucht auf Christianas Gesicht. Sie ging bis zum Marktplatz und hockte sich dort auf den Brunnenrand. Sie betastete die Münzen in ihrer Börse – der Lohn für diese Woche und ihre Ersparnisse. Das Geld würde kaum für zwei Dutzend Tage reichen.

Müde lehnte Christiana den Kopf an einen Balken. Gegen Mitternacht war sie aufgestanden und in die Backstube geschlichen. Sie hatte einfach nicht widerstehen können. Nie mehr den Geruch frischen Backwerks in der Nase zu haben oder einen Teig zu kneten. Sie musste sich über das Verbot der alten Mingelin einfach hinwegsetzen. Ein paarmal war es ja auch gut gegangen.