Hermannn Schladt (Hrsg.)

 

Animals To Go

 

Anthologie zum Story-Wettbewerb „Fur-Fiction‟ des vss-verlags 2017

Niederstieren

(eine kleine Geschichte aus dem lebendigen Universum)

von Ulrich „Wer-Kater“ Reimer

 

Die Katze hatte das letzte Wort.

Schon allein bei dem Gedanken zog sich Marcus Desertson der Pansen zusammen. Dabei passte es unter Umständen durchaus in sein Konzept, aber dass ließ das ungute Gefühl nicht verschwinden. Die Abfolge der wahrscheinlichen Argumente genau abzustimmen hatte ihn Stunden gekostet. Nun hatten Bär und Katze getauscht, was diesen Teil der Planung völlig ruinierte.

Im vagen Versuch sich gelassen zu geben bohrte der Stier seinen Ellbogen in die Armlehne, stützte den Kopf auf die Hand und zeichnete mit der anderen ein weiteres Strichmännchen auf das digitale Papier. Durch die Lücken zwischen seinen breiten Fingern behielt er die übrigen Teilnehmer der Konferenz im Blick. Er achtete auf Zeichen und nonverbale Äußerungen die er zu seinem Vorteil nutzen konnte.

Ein zuckender Schweif, eingeklappte Ohren, alles konnte nun den entscheidenden Hinweis geben. Dabei wirkte die eigentliche Frage, der letzte Punkt auf der Tagesordnung, so erschreckend simpel.

Abstimmung über die Vergabe der vakanten Stelle des Abteilungsanwalts.

Eine einzelne Entscheidung, gnädig von der Geschäftsleitung an die Abteilungsleiterkonferenz abgetreten, um die Illusion demokratischer Mitbestimmung aufrecht zu erhalten. Niemand machte sich diesbezüglich etwas vor. Doch die Entscheidung blieb zu fällen. Das hart erkämpfte Recht musste verteidigt werden, und der Streit um das Wie zog sich nun in die dritte Stunde. Im Grunde hatten sich die Bewerber auf die zwei reduziert, deren Akten noch in der Mitte des Tisches blinkten.

Auf der einen Seite Ian Desertson. Ein junger Stier, frisch dem Anwaltsgehilfendasein entwachsen, dazu zwei außerplanetarische Semester auf der Erde. Zwar nur Boston, aber immerhin doch mehr als andere vorzuweisen hatten. Nicht zu vergessen, Sohn der Schwester von Marcus Frau. Nicht dass Marcus sich sonderlich gut mit seinem Neffen verstand, aber Blut war dicker als Wasser und Stierblut insbesondere.

Auf der anderen Seite Lauren Plow. Eine verschlagene Kojotin mit drei Jahren Prozesserfahrung, einer beachtlichen Erfolgsquote und einem Lächeln das einem Schauer über den Rücken jagte.

Es brauchte wenig Rechenkunst, um auszutüfteln, wie die Lager der sechs Abteilungsleiter sich aufspalteten. Drei auf jeder Seite machten das Patt perfekt, und auch wenn die Tischordnung es verbergen mochte war die Aufteilung der Fronten doch für jeden ersichtlich. Man konnte es verstecken, es wegdiskutieren bis man sich in einen Politiker verwandelte, das änderte nichts an den Tatsachen. Darauf lief es immer hinaus; Karnivore gegen Herbivore.

Es klang, als ginge Susan Mareness langsam der Atem aus. Marcus hatte sich nicht die Mühe gemacht ihrem Gefasel zuzuhören. Die Abteilungsleiterin des Verkaufs sang Loblieder auf seinen Neffen. Die beiden hatten sich ein einziges Mal bei einer Vorstellung getroffen. Konnten sich nicht ausstehen. Doch die fette Stute würde den Posten eher dem nächsten veganen Penner von der Straße geben, ehe sie zuließ dass die Fleischfresser die Überhand bekamen. Im Nachhinein wünschte Marcus sich wirklich, die Konferenz nicht für den lockeren Freitag angesetzt zu haben. Die legere Kleidung sollte eigentlich für entspannte Atmosphäre sorgen. Wer hätte auch ahnen können, dass ausgerechnet Susan Mareness sich als Naturalistin entpuppte? Nur mit Mühe hatte sie sich noch zu einem Lendenschurz überreden lassen, aber das sie darauf bestand ihre ausgelutschten Euter frei baumeln zu lassen würde ihren Argumenten sicher nicht weiterhelfen.

Endlich ging dem Pferd die Luft aus. Die ausschweifende Rede hatte ihre Position klar gemacht, wenn auch nicht viel mehr. Ian Desterson, ohne Zweifel. Dazu Marcus Stimme machte schon die Hälfte des Nötigen. Über Fred Pinkerton war Marcus sich lange nicht sicher gewesen, der Eber besaß nie das was man eine gefestigte Persönlichkeit nannte. Aber seine Argumentation hatte sich schon nach vier Sätzen zu einer Tirade über die Vorzüge des Veganismus gewandelt. Als er weitere drei Sätze später begann über zeitübergreifende Schuldkomplexe im kollektiven Unterbewusstsein einer Spezies zu referieren hatte Marcus auch ihm nicht mehr zugehört. Wichtig war nur, das Schwein brachte seinen Neffen auf fünfzig Prozent. Natürlich hatte sich auch Marcus selbst in seinem Vortrag um die entscheidenden Qualitäten nicht lumpen lassen.

Die Gegenseite jedoch ebenso wenig. Einkauf und Marketing waren seit Gründung der Firma stets in karnivorer Hand. Fin Jolings Ansprache war die Schlimmste. Der Iltis verstand sein Metier mit einer Finesse, die seinesgleichen suchen konnte. Ihm traute man zu einem Elefanten Ballettschuhe zu verkaufen. Seine Argumente hätten fast Marcus selbst überzeugt. Was er sagte fühlte sich an wie ein Labyrinth, das einen wenn man sich erst in seinen Pfaden verirrt hatte, unweigerlich zu der einen, seinen Schlussfolgerung führte. Besondere Sorgen hatte Marcus sich dabei um Pinkerton gemacht, es war nur zu bekannt was der Eber im Kühlschrank seiner Abteilung bunkerte. Doch Fin schien nicht recht in Form zu sein, am Ende blieb es bei seiner Stimme für die Kojotin.

Von Erich Humberts hingegen ging nie eine Gefahr aus. Der Bär war in seinem schienenhaften Denken gefangen seit Marcus ihn kannte. In gewisser Weise bewunderte er ihn sogar. In Konzentration und Sturheit konnte es niemand mit dem obersten Einkäufer aufnehmen. Das machte ihn ebenso verlässlich wie berechenbar. Dass er sich auch zu den Naturalisten zählte machte Marcus weniger aus. Einerseits schadete er damit wenn überhaupt der Gegenseite; andererseits hatte er den, vielleicht nicht beabsichtigten, Anstand alles was man nicht unbedingt sehen wollte unter seinem Wanst zu verstecken.

So stand es drei Stimmen für Ian, zwei gegen ihn.

Was blieb war nur die Datensicherheit. Die kleinster aller Abteilungen, im Grund nur eine Bande verschrobener Fachidioten, die sich freuten mit überteuerter Software spielen zu dürfen. Und ihre Königin bekam nun das Wort. Justizia Lex, eine Katze, was musste man mehr wissen? Niemand hatte gern mit ihr zu tun, denn das bedeutete dass man die Datensicherheit brauchte. Was wiederum bedeutete, dass man in irgendeine Falle getappt war. Ein Fakt, den die Katze einen nie vergessen ließ. Angeblich war sie verheiratet, nach Menschenart. Marcus bedauerte den armen Kerl wenn es denn stimmte. Sie würde für die Kojotin stimmen. Um das zu wissen brauchte man ihr Geschwätz gar nicht erst zu hören. Sie würde das Patt vollenden, die Konferenz in die Länge ziehen und alle wären wütend auf sie. Irgendwann würde diese Wut umschlagen, Fin war dabei das schwache Glied. Der Iltis war ungeduldig, auch wenn er es gut verstecken konnte. Er war clever, aber nicht standhaft. Erkannte er lange genug keinen Fortschritt würde er umschwenken. Marketing war letztlich auch nur eine Facette von Betrug. Marcus kratzte sich dezent am Ansatz seiner Hörner. Geduld war eine feine Tugend.

Er hatte sich so sehr in der Auslegung seiner Taktik verloren, dass es ihm beinahe entgangen wäre als die Katze das Wort ergriff. Die silbergraue Gestalt erhob sich galant aus ihrem Sessel, zupfte ihre violette Geschäftsbluse zurecht; afrikanische Musterung, sicher nicht billig; und räusperte sich leise.

Ihre schimmernden Katzenaugen überblickten den Tisch als inspizierte ein Buffet.

„Stellt den Stier ein.“, sagte sie und setzte sich wieder.

Stille schwappte in den Raum wie eine zähe Flüssigkeit.

Marcus brauchte einige Sekunden um richtig zu begreifen. Er hatte es geschafft. Sein Neffe war drin, vier gegen zwei, daran gab es nichts zu rütteln. Doch wurde jedes Aufkeimen von Freude sogleich durch das Wissen erstickt, dass all seine ausgeklügelte Taktik sich in Rauch aufgelöst hatte. Der Triumph schmeckte seltsam schal.

Bär und Iltis bedachten die Katze mit Blicken irgendwo zwischen Zorn und Überraschung. Sie schien nichts davon zu bemerken.

„War es das?“, fragte sie nach einigen Sekunden ohne von ihrem digitalen Papier aufzusehen.

„Sicher“, nickte Marcus. Die Verblüffung zog sich nur sehr langsam zurück.

„Hervorragend“, sagte die Katze. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Sie presste den Daumen auf das digitale Papier und schnippte ihren zeitcodierten Fingerabdruck in die Protokolldatei. „Wenn Sie noch etwas brauchen, sagen Sie es mir am Montag.“

Sie wischte ihre ausgebreiteten Dateien zusammen, erhob sich und verließ den Konferenzraum. Marcus wäre fast vom Stuhl gefallen als er ihr hinterher hastete.

„Moment!“, rief er ihr nach.

Die graue Katze blieb auf dem Gang stehen und bedachte ihn mit einem durchbohrenden Blick. „Dauert das lange?“

„Nur eine Frage.“, entgegnete Marcus „Warum?“

Die Katze rollte mit den Augen „Ist das wichtig?“

„Ich habe mich etwas über sie informiert.“, erwiderte Marcus „Ihre Eltern waren Anwälte. Sie kennen doch das Spiel, niemand tut etwas ohne Grund.“

„Da haben Sie es doch. Meine Eltern waren Anwälte. Ich weiß wovon ich rede. Auf lange Sicht ist Ihr Neffe besser für den Job.“

Marcus verzog ungläubig das Gesicht. „Was hat das damit zu tun?“

„Etwas das ich damals gelernt habe.“ Justizia lächelte bösartig „Jura ist eine Sache für Wiederkäuer.“

Die Rache des Benu

von Gerhard Fritsch

 

Er – oder Es, wie man im Nachhinein sagen würde, konnte sich nach der dritten Phiole noch erinnern, dass er alle neun Phiolen trinken müsse. Das hatte ihm der alte Mann gesagt, den er glaubte zu kennen und der Tag für Tag um ihn war. Danach würde er geheilt sein, sozusagen neu geboren.

Nach der fünften Phiole, die ihm wie alle anderen der Alte im Fünf-Stunden-Takt eingab, verlor Benu, wie wir ihn jetzt als Sinnbild für den „wiedergeborenen Sohn“ der altägyptischen Mythologie nennen wollen, das Bewusstsein – oder zumindest den Teil davon, der ihm noch geblieben war.

Fünf Stunden nach der neunten Eingabe des bittersauren Elixiers erwachte er. Sich krümmend und windend versuchte er, die Schmerzen abzuschütteln, die ihn quälten. Der Schrei, den er ausstoßen wollte, erstickte in einem Krächzen, die Hände, mit denen er sich an den Kopf fassen wollte, schienen ihm mehrfach zusammengefaltet zu sein und schnitten ihm Wunden ins Fleisch. Sein Gedächtnis an vorher war nur noch rudimentär vorhanden, doch dass er sich auf seinem Lager wälzen konnte, erstaunte ihn. Er fiel herab und hörte ein Surren, das ihm in vager Erinnerung war, das er aber nicht deuten konnte. Plötzlich wurde es hell und ein Ruf der Verzweiflung durchdrang den Raum. Der alte Mann eilte mit bestürzter Mine herbei und bedeckte voller Schreck sein Gesicht mit den Händen. „Oh mein Gott“, stöhnte er. „Was habe ich getan!“

Doch Benu verstand die Bedeutung seiner Worte nicht. Seine Schmerzen waren wie verflogen, er spürte Kraft in sich, in seinem Körper aufsteigen – ein Gefühl, das ihm wie neu, wie wiedergegeben erschien, und das ihm Selbstvertrauen verlieh, Vertrauen darauf, diese neue Kraft auch zu nutzen. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blickte auf den alten Mann vor sich hinab, der gerade seine Hände wieder vor sein Gesicht führen wollte. Doch wie aus einem angeborenen Reflex heraus, der einen Angriff gegen ihn abwehren wollte, schlug Benu dagegen und traf mit seinen Krallen die Augen des alten Mannes.

Hineingeworfen aus dem Nebel seiner Vergangenheit in ein neues Leben mit einem neuen Körper und ohne die Erfahrungen des Hineinwachsens konnte Benu nur den Instinkten des Augenblicks folgen. Und dieser Instinkt befahl ihm, sein Verlangen nach Blut und Eingeweiden zu stillen. Blitzschnell verkrampfte er sich im Kopf seines Opfers und hackte ihm mit seinen krallenbewehrten Händen die Augäpfel aus dem Gesicht. Um sein Leben ringend wand und schlug der Alte verzweifelt um sich. Benu konnte er damit nicht gefährden, vielmehr bestärkte er ihn noch in dessen Aggressivität. Doch er traf mit seinen Füßen den nebenstehenden Tisch, von dem daraufhin diverse Gefäße und elektrische Laborgeräte auf den Boden fielen und in Brand gerieten.

Für Benu war auch das Feuer ungewohnt. Er konnte sich schleierhaft erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben, aber nicht, welche Wirkungen es haben kann. Den Versuch, es zu bekämpfen, gab er bald auf und floh durch die Tür, durch die der alte Mann hereingekommen war.

Das Feuer wurde größer und größer. Bald vernahm Benu rasch näherkommende laute Signalgeräusche und blau aufflackernde Lichter in der Dunkelheit. Angst überkam ihn vor dem Unbekannten, das tosend und blitzend herbeieilte. Instinktiv beschloss er, sich in Sicherheit zu bringen. Er begann zu rennen, und ohne dass er es bewusst herbeiführte, breitete er seine langen mit Flughäuten  verbundenen Arme aus und schwang sich in die Lüfte.

 

***

 

Das Rodenwälder Tagblatt berichtete am 2. Mai von einem sehr tragischen Geschehen. Das Haus eines emeritierten Professors der Zytologie, etwas abseits eines kleinen Dorfes im Rodenwald gelegen, war in der Walpurgisnacht vollständig abgebrannt. Brandursache, hieß es, wäre ein Kurzschluss im Privatlabor des Professors gewesen, hervorgerufen wahrscheinlich durch das Herabfallen eines elektrischen Prüfgerätes. Die Begleitumstände waren überaus mysteriös: der Professor selbst hatte sich anscheinend ins Freie retten können, wurde aber mit ausgestochenen Augen aufgefunden. Seine Ehefrau war im Bett liegend verbrannt und der 30jährige, nach einem unverschuldeten Autounfall seit Jahren querschnittsgelähmte und geistig behinderte Sohn spurlos verschwunden. Er musste zuletzt im Labor gewesen sein, da sich dort sein umgestürzter Rollstuhl befand. Ohne diesen hätte er sich aber kaum bewegen können, weshalb man von einem Verbrechen ausging. Schwere Körperverletzung, Entführung, Brandstiftung und Totschlag.

Der Professor konnte bislang noch nicht vernommen werden, da er immer noch unter Schock stand.

 

***

 

Als Benu das brennende Anwesen verlassen und voller Überraschung festgestellt hatte, dass er fähig war zu fliegen, kehrte er noch einmal zum Unglücksort zurück. Obschon es noch Nacht war, sah und hörte er, als er darüber kreiste, sehr genau, was dort vor sich ging: Fahrzeuge, Motorengeräusche, Lichter, schreiende und hektisch umherlaufende Menschen, zum Teil mit Helmen auf dem Kopf, alles Dinge, die ihn nur vage an etwas erinnerten, das ihm selbst schon einmal widerfahren war. Es machte ihm Angst. Er wollte Ruhe haben und alleine sein, wie zuvor auch.

Benu drehte ab und suchte die Dunkelheit, ohne Lichter, die verrieten, dass dort Menschen hausten. Am Rande eines hochgelegenen Feldes, weit weg von der nächsten Siedlung, ließ er sich nieder. Als er sich vergewissert hatte, dass er alleine war, verkroch er sich ins Unterholz, um dort zu schlafen.

Doch als das erste Dämmerlicht sich ankündigte, erwachte er von einem Motorengeräusch. Augenblicklich hatte er die nächtliche Szenerie mit den schreienden und umherlaufenden Männern vor dem brennenden Anwesen wieder vor Augen. Angst und auch Wut überkamen ihn.

Der Motor des Fahrzeugs wurde abgestellt, ein in einen grünen Mantel gehüllter Mann stieg aus und warf die Türe des Wagens wieder zu.

Benu wollte sich anpirschen, um zu sehen, was da vor sich ging, verursachte dabei aber Geräusche, die den Waidmann aufhorchen und neugierig näher kommen ließen. Als der aber die Gestalt Benus durch das Gebüsch erspähte, überkam ihn große Furcht und er schickte sich an, zu seinem Wagen zurückzukehren, um sich mit einem Jagdgewehr auszurüsten. Doch der Schatten holte ihn ein und versperrte ihm den Weg.

 

 

***

 

Am 5.5. berichtete das Rodenwälder Tagblatt von einem neuerlichen grausamen Vorfall. Ein Jäger, der eigentlich nur zur Wildbeobachtung sein Revier aufgesucht hatte, war in den frühen Morgenstunden des 4.5. von einem Kollegen tot in der Nähe seines Geländewagens aufgefunden worden. Sein Körper wies eine Vielzahl von Stich- und Schnittwunden auf und war post mortem wahrscheinlich von Raubwild oder Wildschweinen schon angefressen worden. Darauf wiesen zumindest die äußeren Umstände hin, für eine genaue Analyse müsse aber das Ergebnis der Gerichtsmedizin abgewartet werden.

 

***

 

Manfred Eiler war erst vor kurzem nach Obschonfurt zugezogen. Er war als Referendar zur Realschule im Nachbarort Alskanfeld versetzt worden, hatte dort aber keine passende Wohnung gefunden. Im Nachhinein dachte Manfred, dass es besser so war, denn die Leute sagten, in Alskanfeld würde man öfter den unangenehmen Geruch der Chemiefabrik in der Nase haben. Außerdem war der Weg zur Schule nicht weiter als drei Kilometer: die Brücke über den Fluss und noch zwei Querstraßen, dann war er dort. Bei gutem Wetter konnte er das mit dem Fahrrad oder zu Fuß machen. Aber das Beste war, dass er in Obschonfurt am Berghang wohnte und von seiner Wohnung aus einen sehr guten Blick auf das große Werk auf der anderen Seite des Flusses hatte. Es faszinierte ihn einfach: die vielen Kamine, Rohrleitungen, Kräne und dergleichen, aber am allermeisten der höchste Schlot. Zweihundert Meter, hatte er gehört, soll er hoch sein, am Fundament breit wie ein Wohnhaus und ganz oben bestimmt noch fünf Meter dick.

Selbst aus dem Hinterland der Stadt und den umliegenden Hügeln aus war seine Spitze noch zu sehen. Sozusagen war dieser Industriekamin der zentrale Orientierungspunkt für die ganze Gegend. Was die Aufmerksamkeit Manfred Eilers besonders auf sich lenkte, waren die rundherum befindlichen, rechteckigen Öffnungen knapp unterhalb der Schornsteinmündung. Unter Zuhilfenahme eines Fernrohres konnte er erkennen, dass sich dahinter tatsächlich ein Hohlraum befinden müsse. Dafür sprach auch, dass ganz oben nur ein abgasführendes Innenrohr, anscheinend aus Edelmetall, herausragte, das einen erheblich geringeren Durchmesser hatte als der eigentliche Kamin.

 

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Auch wenn die grausame Verstümmelung des Professors nicht in dieses Schema passte, hatte die Kriminalpolizei eigentlich eine Lösegeldforderung erwartet. Eine solche aber war selbst nach fünf Tagen noch nicht eingegangen, weshalb die Vermutung einer Entführung wieder in Frage gestellt wurde. Die Spurensicherung durchsuchte zwei Tage lang die ausgebrannten Räume und das gesamte Grundstück des Anwesens, konnte aber keinerlei Hinweise auf irgendwelche Eindringlinge entdecken. Wenn aber der Sohn des Professors vor Ort umgekommen sein sollte, so hätten Überreste gefunden werden müssen, denn ein absolut restfreies Verbrennen eines menschlichen Körpers konnte ausgeschlossen werden, umso mehr, als ja auch die Feuerwehr relativ rasch zur Stelle war. Die meisten Aufschlüsse erhofften sich die Kriminalisten von einer Befragung des Professors. Dieser hatte bislang jedoch noch kein einziges Wort gesprochen. Auf Schockzustand konnte man das nach einer Woche nicht mehr zurückführen. Erschwerend für die Beamten kam hinzu, dass sie dem Professor dabei nicht in die Augen sehen konnten, was ihnen möglicherweise einen Eindruck von seiner Gefühlslage oder seinen Absichten vermittelt hätte.

 

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Manfred Eiler kam sehr gelegen, dass er an seiner Schule auch Berufskundeunterricht erteilte. Er bemühte sich um einen Termin für eine Werksbesichtigung im Chemiewerk, das jährlich mindestens zehn Auszubildende einstellte. Solch eine Besichtigung wurde wenig später tatsächlich auch gewährt.

In den Produktionshallen, in denen viskosehaltige Kunstfasern hergestellt und auf riesige Rollen aufgespult werden, herrschte großer Lärm, so dass keiner ein Wort des Anderen verstehen konnte. Auf den Freiflächen vor den Hallen erklärte der Werksführer jeweils, was zu sehen war und was in den nächsten Räumen besichtigt werden konnte. Das Interesse der Schüler nahm mit der Zeit ab, so dass Manfred Eiler endlich die Initiative ergreifen und den Werksführer über die verschiedenen technischen Aggregate im Freigelände und vor allem über den großen Industrieschlot ausfragen konnte. Viel Neues erfuhr er dabei nicht, hörte aber bestätigt, dass sich ganz oben eine begehbare Plattform, und darunter, hinter den Öffnungen ein Raum befindet, der für Wartungs- und Inspektionsarbeiten genutzt werden kann. Carlos sah nun auch die eingemauerte Steigleiter, die bis ganz nach oben führte. Der Werksführer erklärte aber, dass die jährlich durchzuführenden Messkontrollen erst spät im Jahr durchgeführt werden durften, und zwar aus Artenschutzgründen. Mehrere Jahre lang nämlich hatte dort oben ein Wanderfalkenpärchen gebrütet, deren Art vom Aussterben bedroht sei. In diesem Jahr aber, sagte er, müsse etwas Größeres dort Unterschlupf gefunden haben. Die Überreste von großen Vögeln, Enten oder Schwänen, Hasen, ja sogar ein angefressener Schäferhund wurden unten im Bereich des Kaminsockels gefunden. Gesehen hatte das Vieh bis dahin noch niemand, aber hinaufsteigen dürfe aus besagten Gründen auch keiner. Jedenfalls, so schloss der Werksführer das Thema ab, müsse es schon ein ganz großer Vogel sein, ein Adler oder so etwas.

 

***

 

Irgendwie war die Polizei am Ende ihres Lateins. Wäre der Sohn des Professors nicht unauffindbar gewesen, hätte sie die Ermittlungen einstellen können. So aber musste sie der Sache nachgehen, denn dass irgendein Verbrechen geschehen war, war mehr als wahrscheinlich.

 

Der Professor war vom Krankenhaus in eine Pflegeeinrichtung verlegt worden. Er beteuerte, zum Hergang des Unglückes nichts sagen zu können, drängte aber darauf, alles zu erfahren, was dazu an Erkenntnissen und Vermutungen vorlag.

Die Polizisten redeten viel mit ihm - in der Hoffnung, doch noch den einen oder anderen Hinweis zu bekommen. Was sie ihm jedoch nicht erzählten, war, dass sie mittlerweile im Privatleben von ihm und seinem Sohn nachgeforscht hatten: welchen Beschäftigungen sie nachgingen, welche Kontakte sie hatten und ähnliches mehr.

Für die Beamten ergaben sich dabei keine Erkenntnisse, die den Fall zu lösen geholfen hätten. Der Sohn des Professors war wohl unter regelmäßiger medizinischer Beobachtung und Betreuung, weil er durch den Autounfall nicht nur körperlich, sondern auch mittelschwer geistig behindert war. Ansonsten hatte er dem Anschein nach kaum Kontakte zu Menschen außerhalb der häuslichen Sphäre.

 

Der Professor selbst hingegen hatte anscheinend regen Briefwechsel mit diversen anderen Wissenschaftlern, darunter auch ausländischen. Dies ergab sich aus den Schriftstücken, die er gemeinsam mit anderen Dokumenten und Notizen im Safe aufbewahrt hatte. Auch ein Großteil seines E-Mail-Verkehrs konnte mit Hilfe des Providers gesichert und eingesehen werden. Ein russischer Gelehrter hatte angeblich das sogenannte Phoenix-Geheimnis gelöst. Er behauptete, ein Verfahren entwickelt zu haben, das eine radikale Regeneration alternder oder sogar bereits abgestorbener Zellstrukturen im Körper lebender Organismen ermögliche. Mehrere Seiten, die nur chemische Formeln enthielten, waren dazu beigefügt. Niemand von den untersuchenden Polizisten konnte sich einen Reim daraus machen, und selbst die Spezialisten der Forensik maßen ihnen keine besondere Bedeutung zu.

Dass der Professor gelegentlich noch in seinem Privatlabor arbeitete, war offensichtlich, doch die Einrichtung war durch den Brand komplett zerstört, weshalb man nicht mehr feststellen konnte, mit was er sich dort beschäftigt hatte. Daraufhin angesprochen gab er jeweils nur nichtssagende oder ausweichende Antworten. Jedenfalls schien er aber auch Experimente mit Versuchstieren gemacht zu haben. Darauf wiesen Käfige hin, die aber leer aufgefunden worden waren.

 

***

 

Das Werksgelände war auf Alskanfelder Seite überall eingezäunt. Da es aber nach Oschonfurt hin an den Fluss grenzte, war es mit dem Schlauchboot leicht zu erreichen. Man musste nur Geduld haben, dann erreichte man auch den großen Fabrikschlot ungesehen.

Manfred Eiler tat, wonach ihn drängte, sosehr drängte, dass er allen rationalen Einwänden, die sich einem intelligenten Menschen wie ihm normalerweise stellten, keine Chance auf Gehör mehr einräumte.

Im Schutz der Dunkelheit hatte er übergesetzt, an einem Wochenende, wo nur Minimalschichten gefahren wurden. In grauen Trainingsdress gekleidet, war die Wahrscheinlichkeit, an der Steigleiter entdeckt zu werden, relativ gering. Langsam stieg er auf, ganz langsam, denn schnelle Bewegungen werden immer eher wahrgenommen. Die ersten achtzig Meter waren die gefährlichsten, denn sie befanden sich noch im beleuchteten Bereich des Werks. Darüber waren nur noch die roten Warnlichter für den Flugverkehr sichtbar.

Um von der obersten Plattform in den Raum darunter zu gelangen, musste man eine Metallleiter hinunterklettern, die normalerweise mit einer Klapptüre gesichert ist. Sie war aber offen, und Verwesungsgeruch stieg empor. Die Taschenlampe offenbarte die Gründe: Reste von Tierkadavern, schmutzige Lumpen und anderer Unrat. Manfred Eiler beschloss, nicht in die Kammer zu steigen, sondern lieber oben auf der Plattform zu bleiben und das erhabene Gefühl auszukosten, weit über den Häusern der umliegenden Gemeinden den nächtlichen Himmel zu bestaunen. Er ließ die Klapptüre ins Schloss fallen. So entging ihm allerdings, dass sich in der Kammer auch eine stoßfeste Umhängetasche befand, wie sie manchmal bei Rettungsdiensten in Gebrauch sind. Sie enthielt Phiolen mit einer zähen braunen Flüssigkeit. Manfred Eiler war der letzte Mensch, der sie hätte sehen und mitnehmen können.

Dem lautlosen Schatten war er nicht gewachsen. Ehe er verstand, dass er nicht alleine war, wurde er gepackt und über die Brüstung geworfen. Noch im Fallen spürte er stechenden Schmerz in seinem Gesicht, den näher kommenden Boden aber sah er nicht mehr.

 

***

 

In ihrer Ausgabe vom Gründonnerstag berichtete das Rodenwälder Tagblatt von zwei tragischen Unglücksfällen, die sich an unterschiedlichen Orten zutrugen und allem Anschein nichts miteinander zu tun hatten. Jedoch waren beide Todesstürze:

„Ein junger Lehrer ist in der Nacht zum Mittwoch bei dem Versuch, die Steigleiter des großen Kamins im Chemiewerk hinaufzuklettern, abgestürzt. Seine zerschmetterte Leiche wurde in den frühen Morgenstunden kurz vor Schichtwechsel in einer Blutlache liegend auf dem Fabrikhof gefunden. Die Werksleitung zeigte sich schockiert und verkündete, die Sicherheitsvorkehrungen in Zukunft zu verstärken. Wie außerdem bekannt wurde, war der Lehrer erst zwei Wochen zuvor mit einer Schulklasse zur Werksbesichtigung vor Ort gewesen, wobei dem für Werksführungen zuständigen Mitarbeiter aufgefallen war, dass sich der Verunglückte insbesondere für den großen Industrieschlot interessiert hatte.“

In einem gemeinsamen Plädoyer mit der Polizei wies die Werksleitung angesichts dieses Vorfalles darauf hin, dass das unbefugte Eindringen auf das Werksgelände verboten ist, und im Übrigen das Erklettern von hohen Gebäuden oder anderen steilen Anstiegen ohne fachkundige Absicherung lebensgefährlich sei.

 

Im Gegensatz zum zweiten am selben Tag geschehenen Todessturz wurde aber eine Selbsttötungsabsicht nicht angenommen:

„In der idyllisch im Rodenwald gelegenen Rehabilitationsklinik stürzte sich ein Professor im Ruhestand gestern Abend von einem Balkon im dritten Stock in die Tiefe. Er starb noch an der Unfallstelle. Der Professor hatte nach einem Brand seines Wohnhauses auf mysteriöse Weise sein Augenlicht verloren (wir berichteten). Wie die Klinikleitung mitteilte, hatte er vor einigen Tagen um ein Diktiergerät gebeten, auf dem er, wie sich jetzt herausstellte, seine Selbstmordabsicht ankündigte. In einer ersten Stellungnahme geht die Polizei jetzt auch davon aus, dass der Professor selbst den Brand gelegt und sich anschließend selbst die Augen ausgestochen hatte. Wahrscheinlich hat er auch das Geheimnis um das Verschwinden seines Sohnes mit ins Grab genommen.“

 

***

 

Der Schatten wand sich in Gram und Selbstzweifel. Sein Versteck war entdeckt worden. Er wollte keinen Menschen mehr sehen. Dunkel erinnerte er sich an sein rollendes Gefängnis, dem er für immer entronnen war. Ohne die Worte wiederholen zu können, wusste er, was sein Retter gemeint hatte, als er ihm die Tasche mit den Phiolen gezeigt hatte. Er holte sie herauf, hängte sie sich um und flog in die Nacht davon. Und in den Tiefen seines Bewusstseins regte sich so etwas wie Bedauern darüber, was er dem alten Mann angetan hatte, der jahrelang für ihn gesorgt hatte.

Impressum

 

Hermann Schladt (Hrsg.) - Animals To Go

1. Auflage – April 2018

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.freepics.com/

Lektorat: Hermann Schladt

 

Vorwort

Es war beim U-Con am 17. Juni 2017 in Dortmund. Nach einem Gespräch mit einem Besucher am Stand meines Verlags über das Subgenre der Phantastik welches als Fur-Fiction bekannt ist, kam mir Idee, die 2017er Ausgabe des alljährlichen Story Wettbewerbs unter dieses Thema zu stellen.

Der Besucher entpuppte sich dann als Helge Lange, Herausgeber der „Fur Fiction“-Anthologien bei Solar-X.

Im Verlaufe des Con tauschten wir uns ausführlicher über das Genre und die Möglichkeit eines Story-Wettbewerbs dazu aus. Dann stand es fest: ich mache es und Helge Lange würde in der Jury mitarbeiten. Und Helge war mir während der Laufzeit jederzeit ein guter und kompetenter Berater.

Fur-Fiction, ein hierzulande doch recht unbekanntes Genre innerhalb der Phantastik. Auch wenn wir uns nicht auf einen engefassten Begriff der Fur-Fiction beschränkt haben (vermenschlichte Tiere in Kleidern á la „Die Schöne und das Biest‟, sondern allgemein fantastische Kurzgeschichten, in denen Tiere, Tiermenschen, Misch- und Werwesen usw. eine wesentliche Rolle spielen zum Wettbewerb zuließen, hielt sich die Zahl der Einsendungen in Grenzen.

Dennoch hat es gereicht, Ihnen in dieser Anthologie dreizehn ansprechende und qualitativ guter Stories präsentieren zu können, die Ihnen ein gutes Lesevergnügen bescheren werden.

Dazu dann noch als besonderes Schmankerl eine frühe Fur-Fiction-Story, die schon 1908 entstanden Kurzgeschichte „Aus dem Tagebuch einer Ameise‟ von Kurd Laßwitz

Ich bedanke mich bei allen Autorinnen und Autoren, die sich mit einer Geschichte an diesem Wettbewerb beteiligt haben.

Mein Dank geht auch an Helge Lange, der mir die Idee zu diesem Wettbewerb nahebrachte und als Mitglied der Jury an der Entstehung dieser Anthologie beteiligt war.

Ebenfalls in der Jury arbeiteten Armin Bappert und Chris Schilling mit, bei denen ich mich hiermit auch herzlich bedanke.

Jetzt wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen der vierzen Stories diese außergewöhnlichen Anthologie.

 

Hermann Schladt

Herausgeber

Ergebnis

 

 

1. Platz                Melanie Brosowski                Brandnacht

2. Platz                Eberhard Mayr                                Hexenmeister

3. Platz                Ulrich Reimer                                Felid Navidad

4. Platz                Ulrich Reimer                                Niederstieren

5. Platz                Joe Tyler                                Metamorphosis

 

Einen herzlichen Glückwunsch von der Jury zu diesem Erfolg.

 

Weiterhin in die Anthologie aufgenommen werden die Stories:

 

Martina Bethe-Hartwig                Wölfe

Gerhard Fritsch                                Die Rache des Benu

Marina Heidrich                                Experiment Nr 8

Otto Jansen                                                Ein Wildunfall

Stefan Lochner                                Weich

Michelle Schrandt                                Animal I have become

Marcus Watolla                                Freunde fürs Leben

Tatsyr                                                Wer war gleich nochmal Ernie

 

Auch euch unseren herzlichen Glückwunsch.

 

Experiment Nr. 8

von Marina Heidrich

 

"Bitte!" Die Stimme der jungen Frau klang matt und schläfrig. "Bitte Schwester, machen Sie mich los." Die Worte kamen verwaschen, gedehnt.

"Ganz ruhig, Jenny wir sind hier um Ihnen zu helfen." Die Schwester zog eine weitere Spritze auf. "Dr. Lindström schaut gleich nach Ihnen."

Jennys Augenlider flatterten. Sie versuchte, ihren rechten Arm zu bewegen, doch dieser war genau wie der andere mit einem weich gepolsterten Gurt ans Bettgitter fixiert.

"Ich bin nicht verrückt", flüsterte die blasse, dunkelhaarige Patientin. Die Krankenschwester bekam einen harten Zug um den Mund.

"Beten Sie lieber, dass Sie es doch sind.  Welche normale Mutter würde denn sonst ihr Neugeborenes nach zwei Tagen umbringen?"

Jenny öffnete die Augen und bäumte sich leicht auf. "Das war nicht mein Kind!"

"Schwester Anette!" Eine tiefe, energische Männerstimme ertönte. Dr. Lindström stand in der Tür und warf der diensthabenden Pflegerin einen missbilligenden Blick zu. "Wertungen stehen Ihnen nicht zu! Das ist eine Patientin. Habe ich mich klar ausgedrückt?"

Die Schwester zog verlegen den Kopf ein. "Ja, Doktor", flüsterte sie als sie den Raum verließ.

Der Arzt zog einen Hocker ans Bett und setzte sich. "Hallo, meine Liebe. Ich spritze Ihnen jetzt erst mal etwas, damit sie ein wenig munterer werden. Dann können wir uns besser unterhalten. In Ordnung?" Dr. Lindströms Stimme klang nun sanft und beruhigend.

"Ja", hauchte Jenny, die nur mit Mühe ihre Augen offen halten konnte.

Der Arzt tupfte ihre Armbeuge mit Desinfektionsmittel ab und setzte sorgfältig die Spritze. Jenny fühlte nichts. Bereits nach kurzer Zeit verschwand die Müdigkeit, ihr Blick wurde klarer. Dr. Lindström lächelte aufmunternd und stellte das Kopfteil des Bettes höher, so dass die Patientin fast auf gleicher Augenhöhe mit ihm war.

"Jenny, erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen vor ein paar Tagen über die Wochenbettpsychose erzählt habe?"

"Nicht so richtig", flüsterte die junge Frau.

"Während einer Schwangerschaft ist der weibliche Körper starken Hormonschwankungen unterworfen, zudem spielen psychische Faktoren eine Rolle. Wir forschen noch, warum es bei circa drei von tausend Gebärenden im Anschluss an die Entbindung zu einer Störung der Psyche kommt." Dr. Lindström strich der Patientin über die Hand. "Depressionen oder Manien sind nicht selten. Allerdings tritt die schwerste Form der postpartalen Störung, die Wochenbettpsychose, nicht so häufig auf." Der Arzt beugte sich vor. "Jenny, Sie sind nun schon drei Wochen hier. Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, was passiert ist? Ich würde Ihnen so gerne helfen."  Er sah ihr freundlich in die Augen.

"Dr. Lindström", flüsterte die Frau, "bitte, glauben sie mir …, ich bin nicht verrückt." Eine Träne floss über ihr Gesicht. "Aber was ich Ihnen erzählen werde, hört sich danach an."

Der Arzt schüttelte den Kopf. "Machen Sie sich keine Sorgen, reden sie einfach. Ich höre nur zu."

Die Frau leckte sich über ihre trockenen Lippen. "Es begann letztes Jahr." Sie schloss die Augen. Und fuhr fort, zunächst stockend, dann immer flüssiger: "Ich hatte mich so auf den Studienplatz gefreut, auch wenn er weit weg von zuhause war. Aber wer möchte denn nicht an dieser renommierten Uni studieren? Und dann noch mit Stipendium.

Erst wohnte ich ein paar Tage in einer kleinen Pension, aber das würde ich nicht lange bezahlen können. Daher suchte ich ein günstiges Zimmer in einer WG. So lernte ich Eva und ihren Bruder Sebastian kennen. Sie hatten einen Zettel am schwarzen Brett aufgehängt, dass bei Ihnen noch ein Zimmer frei sei und ich bewarb mich mit dutzenden anderen Studenten. Ich hatte Glück. Zwischen uns dreien herrschte gleich Sympathie und so bekam ich den Zuschlag. Ich war überglücklich.

Mit den Geschwistern verstand ich mich super, es dauerte nicht lange, da verbrachten wir unsere ganze Freizeit miteinander. Sebastian war ein stiller, schlaksiger Mann mit intensiven dunklen Augen und Eva hatte die tollsten aschblonden Haare, die ich bis dahin je gesehen hatte. Eine Mähne wie ein Filmstar.

Eines Abends gingen Sebastian und ich alleine aus und es kam, wie es kommen musste. Wir waren ganz leicht angetrunken, küssten uns, und ab da waren wir zusammen. Erst hatte ich ein schlechtes Gewissen Eva gegenüber, aber als wir es ihr sagten, freute sie sich riesig.

"Da hast du ja das perfekte Exemplar gefunden!", lachte sie und klopfte ihrem Bruder auf die Schulter.

Es war die beste Zeit meines Lebens und Sebastian ein richtiger Gentleman der alten Schule. Ich machte mir ein wenig Sorgen, ich bin nicht so leicht zu haben, für Sex brauche ich erst mal Vertrauen. Aber Sebastian hat mich nie bedrängt.  Für ihn war das ok.

Zwei Wochen nachdem wir ein Paar wurden, hatte er Geburtstag und wollte mit mir zum Feiern in eine besondere Bar gehen. Es war später Abend und dunkel. Ich weiß nicht mehr, wohin wir fuhren, aber es schien am Stadtrand eine stillgelegte Fabrik zu sein. Da war ein großes "Betreten verboten!"-Schild und ich fragte Sebastian, ob