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KATHRIN HÖLZLE

 

MIT DEM HERBSTLAUB KOMMT DER TOD

KOMMISSAR MAIWALDS ERSTER FALL

 

Kriminalroman

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Cover: Jacqueline Spieweg

Bildlizenzen: shutterstock

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt des Textes

ist die Autorin Kathrin Hölzle

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

Druck und Bindung: Bookpress.eu

 

ISBN 978-3-96050-085-8

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2018 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

1. Kapitel

 

Donnerstag, 17. November 2005

 

Die Angst vor der Dunkelheit liegt in der Natur des Menschen. Es ist die Unsicherheit, die man empfindet, weil das Böse meist in deren Schutz zuschlägt. Ängstliche Menschen empfinden den Herbst und Winter mit ihren langen, dunklen Abenden als quälend und furchtbar.

Dieser Tag war so einer dieser tristen, späten Novembernachmittage. Das Böse war tatsächlich bereits unterwegs, um sein erstes Opfer zu holen. Seinen Plan hatte er bereits im Spätsommer endgültig gefasst, aber er wollte mit der Ausführung lieber auf die dunkle Jahreszeit warten. Er liebte den November ganz besonders, denn da war sein Geburtstag. Ja, und zwar genau am siebzehnten, also heute.

Der Name seines Opfers war Sabine Heinrich. Jedoch gehörte sie zu den furchtlosen Menschen auf dieser Welt. Sie liebte die gemütliche, kuschelige Jahreszeit besonders und hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Eine Vorliebe, die ihr nun zum Verhängnis werden sollte. Obwohl es ihr gerade nicht so gutging, hatte sie sich kurzerhand dazu entschlossen, mit dem Auto zu ihrer Lieblingsstelle zu fahren, die nur sie kannte: Ein kleiner, einsam gelegener Wald außerhalb der Stadt, wo sie beim Joggen immer die nötige Ruhe fand, um sich vollständig entspannen und die Probleme in ihrer Ehe, die sie momentan plagten, mit der nötigen Gelassenheit angehen zu können. Das hier war ihr Wald. Sie liebte diese Einsamkeit weitab von der allgemeinen Hektik einer Großstadt wie Hamburg, die trotzdem schnell erreichbar war.

Während sie ihr Auto parkte, gingen ihr wieder unzählige Gedanken durch den Kopf. Warum hatte sie nicht auf ihre guten Freunde und Verwandten gehört, die ihr auf nette Art sagen wollten, dass sie und Tobias einfach nicht zusammenpassten? Niemand hatte daran geglaubt, dass diese Ehe eine Zukunft haben könnte, aber sie hatte es ja allen beweisen wollen und schon beinahe aus Trotz geheiratet. Nein, es war kein Neid ihrer besten Freundinnen auf diesen Traummann gewesen, der Tobias damals, jedenfalls in ihren Augen, noch gewesen war, sondern nur pure Vernunft und Fürsorge, die sie aber leider nicht hatte erkennen wollen oder können. Nun musste sie mit den Konsequenzen, die sich aus ihrer Entscheidung ergaben, fertig werden und eine Lösung finden, die auch im Sinne ihres Sohnes war.

Im Moment wäre sie am liebsten noch viel weiter weggefahren und nicht so bald zurückgekommen, aber als Mutter konnte sie einfach nicht so egoistisch handeln und musste hierbleiben, um sich mit ihrem Mann auseinanderzusetzen. Er wollte sie nicht verlieren. Das hatte er ihr gesagt, ja sogar versprochen, aber er konnte die Fehler der letzten Jahre nicht so einfach durch ein paar nette Worte wiedergutmachen und so tun, als wäre er der beste Ehemann, den sie sich wünschen konnte. Nein, sie brauchte noch etwas Zeit und für heute musste eben dieser kleine Ausflug in ihren Wald genügen, um die Gedanken zu ordnen.

Als sie aus dem Auto stieg, um allein in den Wald zu gehen, und zwar ohne dass irgendjemand wusste, wohin sie gefahren war, wäre es Sabine nie in den Sinn gekommen, dass dieser wunderschöne Wald mit seinem bunten Herbstlaub eine größere Gefahr für sie darstellen könnte als ihr Ehemann. An diesem trüben, grauen und ungemütlichen Novembernachmittag, an dem die meisten Menschen zu Hause geblieben wären und an dem sie sich spontan dazu entschieden hatte, im Wald eine Runde zu joggen, lauerte bereits der Tod auf sie und er war ebenso düster wie dieser späte Nachmittag im November.

Ihr war klar, dass es bald zu dämmern beginnen würde, aber sie würde es schon noch rechtzeitig zurück zu ihrem Auto schaffen. Sabine hatte einen wirklich stressigen Tag gehabt und brauchte nun einfach dieses befreiende Gefühl, das sie jedes Mal empfand, wenn sie allein durch den Wald joggte, dabei die frische Luft und die Ruhe genoss, während sie sich ordentlich auspowerte. Danach überkam sie jedes Mal ein unbeschreibliches Gefühl. Sie fühlte sich zwar vollkommen fertig, aber gleichzeitig auch so gelassen und ausgeglichen wie nach einem wunderbar erholsamen Urlaub.

Ein tolles Gefühl, den ganzen Wald für sich zu haben, dachte Sabine, um innere Ruhe und Gelassenheit bemüht. Doch gute Laune wollte bei ihr heute trotzdem nicht aufkommen. Zu sehr belastete sie der momentane Zustand ihrer Ehe. In Gedanken war sie schon wieder bei dem lautstarken Streit, den sie am Morgen mit ihrem Mann ausgetragen hatte, als sie nach ein paar Aufwärm-Übungen die ersten Meter langsam zu laufen begann und dann mit dem Tempo mehr und mehr anzog. Auf die Umgebung achtete sie dabei nicht. Deshalb bemerkte sie auch die Anwesenheit der anderen Person nicht, die sie bereits ins Visier genommen hatte und ihr nun mit etwas Abstand folgte. Sie bemerkte die Gefahr auch nicht, als deren unheimlicher Schatten ihr beinahe schon zum Greifen nahekam.

Der Streit mit Tobias belastete Sabine mehr, als sie je zugeben hätte. Wenn nicht ein Teil von ihr diesen verdammt gut aussehenden Mann noch immer lieben würde, hätte sie längst die Scheidung eingereicht. Doch irgendetwas in ihr verzehrte sich nach ihm und die Vorstellung, ihn nicht mehr berühren zu können, war unerträglich. Es war nur ein kleiner Teil von ihr, der ihn noch liebte, und diesen drohte er mehr und mehr selbst zu zerstören, wenn er wieder einmal einen seiner Ausraster hatte, weil sie eben nicht immer so wollte, wie er es gerne hätte. Oft genug war es schon vorgekommen, dass ein kleiner Streit auf diese Weise eskaliert war. Seine Augen waren dann so voller Hass, dass man ihn kaum wiedererkannte. Immer wenn er die Kontrolle über seine Gefühle verlor, hatte sie Angst vor ihm. In der Vergangenheit war er schon mehrmals handgreiflich geworden und würde es sicher wieder werden. Jedes Mal machte er ihr mit seiner unbeherrschten Art einfach nur Angst. Er selbst schien dagegen Gefallen an ihrer Panik zu finden. Solange, bis er sich wieder in den netten Ehemann zurückverwandelte und dann hinterher unendliche Reue zeigte. Sicherlich meinte er es in diesen Momenten auch ernst damit. Es erschien ihr aber wie ein Spiel, nur dass Sabine nun nicht länger dabei mitspielen wollte.

Eine gute Freundin aus der Schulzeit hatte mit ihrem Ehemann das gleiche Problem. Schon so einige Abende hatte sie mit Maria auf ihrer Terrasse gesessen, Wein getrunken und sich über ihren Ehemann beklagt, während der einmal mehr mit seiner Sekretärin auf irgendeiner Dienstreise war und sie sich wahrscheinlich das Hotelzimmer, wie scheinbar bisher üblich, teilten.

Nur durch einen dummen Zufall hatte Sabine davon erfahren, als ihr Sohn plötzlich mit hohem Fieber ins Krankenhaus gemusst und sie ihren Mann im Hotel zu erreichen versucht hatte. Man hatte sie sofort zu dem entsprechenden Zimmer durchgestellt und seine Sekretärin war zu Sabines Erstaunen ans Telefon gegangen. Wahrscheinlich hätte sie nicht einmal Verdacht geschöpft, wäre es nicht ausgerechnet drei Uhr in der Nacht gewesen. Dafür gab es einfach keine vernünftige Erklärung und so hatte sich Tobias auch nicht die Mühe gemacht, eine andere Erklärung dafür zu finden als die, die der Wahrheit entsprach.

Es folgte ein heftiger Streit, der mit der Drohung von Sabine, sich sofort von ihm zu trennen, endete. Darauf folgte seine Drohung, ihr den gemeinsamen Sohn auf keinen Fall überlassen zu wollen und sie auch finanziell auf dem Trockenen sitzen zu lassen. So gab sie nach und der Streit wurde zu seinen Gunsten entschieden. Seitdem war einige Zeit vergangen und nun plätscherte ihre Ehe einfach so dahin, obwohl aus seiner Sicht alles wieder in Ordnung war. Hin und wieder eskalierte die Situation eben, aber ansonsten gab es aus Tobias Heinrichs Sicht absolut keinen Grund, etwas zu ändern.

Er hat ja auch seine Sekretärin, dachte Sabine gerade voller Verbitterung, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich wahrnahm und heftig zusammenzuckte. Es hörte sich wie das Knacken von Geäst an, das unter schweren Schritten mit derben Schuhen zerbrach. Ein unheimlicher Schauer lief ihr den Rücken hinab, aber sie fing sich recht schnell, lief unbeirrt weiter und ließ ihren Gedanken wieder freien Lauf.

Am Ende dieser Abende mit Maria war Sabine jedes Mal voller Zuversicht, dass am Ende doch alles gut werden würde, doch diese Zuversicht hielt meistens nicht lange an.

Ich muss unbedingt Maria mal wieder einladen, um ein wenig Trost bei ihr zu finden, dachte Sabine gerade, als sie wieder ein Geräusch vernahm. Aber sie ignorierte es erneut und beruhigte sich damit, dass diese Geräusche wahrscheinlich von den hier im Wald lebenden Tieren verursacht wurden. Ihr kam gerade ein sarkastischer Gedanke in den Sinn, der zu ihrer aktuellen Stimmung passte: Wahrscheinlich ist mir Tobias heimlich gefolgt und will mich umbringen, um dann mit unserem Sohn und seiner tollen Sekretärin ein neues Leben anzufangen, ging ihr mit einem verbitterten Lächeln auf den Lippen durch den Kopf. Soll er es doch nur versuchen, aber so einfach kriegt er mich nicht mit seiner miserablen Kondition, dachte sie und zog das Tempo weiter an.

Das bunte Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen und mit jedem Schritt und jedem tiefen Atemzug fühlte sie sich ein wenig befreiter. Die bösen Gedanken verschwanden langsam und machten der Freude auf einen gemütlichen Abend, gemeinsam mit Maria, Platz. Und schon ging es ihr gleich wieder besser. Sabine lief völlig entspannt weiter und konzentrierte sich dabei nur noch auf ihre Atmung. Sie sog die frische Waldluft tief durch die Nase ein und ließ sie durch den Mund wieder entweichen. Es tat ihr so gut, dass sie für einen Moment allen Ärger vergessen konnte. Der Weg, den sie heute nehmen wollte, war ein Rundweg, der sie an seinem Ende wieder direkt zum Parkplatz führen würde. Dieser Weg war zwar feucht, aber nur leicht, sodass kaum die Gefahr bestand, darauf auszurutschen. Lediglich das viele Laub erforderte etwas Vorsicht, aber Sabine lief gerne auf den bunten Herbstblättern.

Die gleichmäßige Atmung behielt sie weiter bei, aber ihre Gedanken machten sich selbstständig und landeten kurzerhand wieder bei Tobias. Sie schweiften in diesem Moment ungewollt weit ab, was ihrer Konzentration auf das Joggen nicht sehr zuträglich war. Sie dachte nun zwar friedlich über ihre Ehe nach, aber sie nahm sich fest vor, an ihrer Ehe so einige Dinge zu ändern. Und notfalls war eine Trennung der letzte Ausweg. Die schwierige Phase, in der sich das Ehepaar Heinrich befand und die sie nun mithilfe einer Paartherapeutin, gegen die sich Tobias anfangs noch sehr gesträubt hatte, wieder in geordnete Bahnen führen wollten, beschäftigte sie im Unterbewusstsein immer wieder. Ein entsprechender Termin war bereits vereinbart, aber ob sie diesen dann gemeinsam wahrnehmen würden, stand nach dem bösen Erwachen heute Morgen leider wieder in den Sternen. Nach einer fast schlaflosen Nacht wegen des üblen Streites gestern Morgen stand wieder einmal alles auf dem Spiel.

Beide hatten sie nun einen Seitensprung hinter sich. Sabine hatte ihrem Fitnesstrainer nicht widerstehen können, aber eher aus Trotz und Rachegefühlen heraus, und Tobias nicht seiner überaus attraktiven, blonden Sekretärin.

Ein Klischee, wie es im Buche steht, dachte Sabine voller Zorn. Dabei hatten sie sich einmal geliebt und es hatte niemals so weit kommen sollen. Doch nun war sie anscheinend mit einem notorischen Fremdgänger verheiratet.

Vielleicht irrte sie sich aber auch und versuchte deshalb wirklich daran zu glauben, dass sie trotz allem noch zusammengehörten, und zwar nicht nur wegen ihres kleinen Sohnes, der gerade erst eingeschult worden war, sondern weil sie sich tief im Inneren eigentlich immer noch liebten und sich gegenseitig eine zweite Chance geben wollten. Jedenfalls begann sie damit, sich diesen Umstand Stück für Stück einzureden. Dass dieses Gefühl möglicherweise einseitig war, wäre ihr im Moment eher nicht in den Sinn gekommen. Eine Ehe bestand schließlich aus mehr Komponenten als nur gutem Sex. Und in allen anderen Bereichen harmonierten sie beide sehr gut zusammen, bis auf die Momente, in denen er einen seiner Ausraster hatte. Sie ahnte, dass sie sich wohl etwas vormachte, aber vor einer Scheidung hatte sie ebenfalls Angst.

Gut, die körperliche Nähe hatte durch die gegenseitigen Seitensprünge arg gelitten, aber beide waren ihrer Meinung nach bereit, daran zu arbeiten, sodass es durchaus wieder so schön wie früher, ganz zu Beginn ihrer Ehe, werden könnte. Jedenfalls bis gestern Morgen hatten sie es tatsächlich ohne Streit geschafft. Dann hatte Tobias verkündet, dass er mit genau der Sekretärin, der er nicht hatte widerstehen können, auf eine Dienstreise gehen musste und mit ihr, wenn auch nicht im selben Zimmer, so doch immerhin im selben Hotel übernachten würde. Diese Mitteilung hatte auf Sabine wie ein rotes Tuch gewirkt und ihr war einfach der Kragen geplatzt.

Nun grübelte sie darüber nach, ob Tobias über ihren Ausbruch zu Recht so derart wütend geworden war oder ob er sich schlicht und einfach ertappt gefühlt hatte? Die ehrliche Antwort darauf galt es noch herauszufinden.

Dann musste Sabine an ihren Sohn denken, der nun seit fast drei Monaten so voller Freude zur Schule ging. Ihr war durch den Klassenlehrer eine sehr gute Mitarbeit ihres Sohnes im Unterricht bestätigt worden. Die ständigen Streitereien seiner Eltern würden wohl kaum zu einer weiterhin guten, schulischen Leistung ihres Sohnes beitragen, also sollten sie sich in den Griff bekommen und zwar so schnell wie nur möglich.

Sabines Laune besserte sich mit jedem weiteren Meter, den sie zurücklegte, gerade wieder und sogar ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, das aber jäh erlosch, als sie durch den Nebel, der gerade aufzog, eine dunkel gekleidete Gestalt im Unterholz entdeckte, deren Umrisse in der Dämmerung aber auch gleich darauf wieder verschwanden. War es nur Einbildung gewesen?

Nein, mit Sicherheit ist das keine Einbildung gewesen, dachte Sabine zutiefst beunruhigt und sie konnte die Tatsache, dass ihr doch jemand gefolgt war, nun nicht mehr länger ignorieren. Ihre gute Stimmung verschwand schlagartig. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und Sabine entschied sich dafür, auf der zweiten Hälfte des Rundwegs in Richtung ihres Autos ein schnelleres Tempo zu laufen, während sie sich wieder und wieder umdrehte, aber absolut nichts mehr entdecken konnte.

Die Dämmerung setzte langsam immer mehr ein und ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet, dass es schon fast halb sechs war und somit sowieso Zeit für den Heimweg wurde. Ausgerechnet heute hatte sie die kleine Taschenlampe, die sie für gewöhnlich mitnahm, wenn sie davon ausging, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit ihre Runde beenden würde, im Auto liegen lassen. Und auch das Pfefferspray für Notfälle, welches sie für gewöhnlich in der rechten Tasche der Jacke ihres Jogginganzuges mit sich führte, lag ebenfalls im Handschuhfach ihres Autos. Unbehagen begleitete sie nun, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als ruhig zu bleiben und zu laufen, ohne auf dem feuchten Laub auszurutschen und sich dabei womöglich noch einen Knöchel zu verstauchen. Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, zu Hause keine Nachricht darüber zu hinterlassen, wohin sie gegangen war, obwohl diese Nachricht ohnehin völlig sinnlos gewesen wäre, wenn es wirklich Tobias war, der sich da im Unterholz versteckte. Aber dann noch aus Unachtsamkeit das Handy sowie die Taschenlampe und das Pfefferspray im Auto liegen zu lassen, war schon sehr leichtsinnig von ihr, das musste sie nun zugeben. Jetzt war es aber egal, denn es war zu spät, um diese Fehler noch zu beheben, und Sabine lief daher einfach, was das Zeug hielt.

Sie spürte nun immer deutlicher, dass sie nicht alleine hier war, und ahnte nichts Gutes. Ihr Verdacht fiel sofort auf ihren Mann. Es gab keine Feinde in ihrem Leben, jedenfalls nicht, soweit sie wusste, und er hatte zumindest aus ihrer Sicht ein mögliches Motiv dafür, sie umzubringen. Dieser Gedanke stimmte sie zornig und ließ sie in diesem Moment langsam am Sinn ihrer Ehe zweifeln. Immerhin hatte er eine Geliebte, die ihm durchaus wichtiger sein könnte als seine Ehefrau.

Bereits zum zweiten Mal sah sie nun die Umrisse einer dunklen Gestalt im Unterholz ein Stück hinter sich und hörte Geräusche, die von kleinen Ästen stammten, die unter dem Gewicht einer Person zerbrachen. Das war eindeutig kein Tier, sondern ein Mensch, den sie dort hinter sich hören konnte. Ihrem Gehör nach vermutete Sabine, dass die Person, die sie verfolgte, nun vom Unterholz auf den Weg gewechselt hatte. Statt des Knackens kleiner Äste war nun das Rascheln von Laub zu hören.

Plötzlich nahm Sabine Heinrich in ihrem gesamten Körper ein Gefühl wahr, das vollständig von ihr Besitz ergriff und das sie derart heftig bisher noch nicht gekannt hatte. Es war das Gefühl von Todesangst.

Sollte sie vielleicht abrupt stehen bleiben, sich blitzschnell umdrehen und der drohenden Gefahr stellen? Nein, sie entschied, dass es besser wäre, wenn ihr Verfolger nicht bemerken würde, wie sehr sie bereits in Panik geraten war. Trotz der feuchten Kälte wurde es Sabine immer heißer unter ihrem türkisfarbenen Jogginganzug und sie bereute es, heute ausgerechnet dieses weithin leuchtende Teil gewählt zu haben anstelle eines unauffälligeren Modells in Schwarz. Ihr dunkelbraunes Haar, welches sie zum Pferdeschwanz gebunden hatte, klebte feucht an ihrem Kopf und ihr Atem ging immer schneller. Obwohl Sabine eigentlich eine recht gute Kondition besaß, befürchtete sie nun, dass ihre Kräfte sie bei diesem Tempo doch bald verlassen würden.

Die unheimliche schwarze Gestalt kam langsam näher und näher und hatte ganz offensichtlich Spaß daran, dass diese hilflose Frau durch seine bloße Anwesenheit mehr und mehr in Panik geriet. Sie konnte nun bereits seinen Atem hören, so nah, wie er ihr schon gekommen war. Er atmete schwer, aber hielt trotzdem mühelos das Tempo, das sein Opfer ihm vorgab.

Ein kalter Windhauch streifte ihren nackten Hals und ließ ihren Körper erschauern. Die Joggingkleidung klebte nass an ihr. Ohne sich umzudrehen, lief Sabine innerlich zitternd durch den inzwischen bereits fast dunklen Wald und betete im Geist darum, dass ihr Verfolger bald aufgeben möge.

Ihr Gebet wurde offensichtlich nicht erhört, denn wenige Sekunden später passierte genau das, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatte. Sie hatte gegen alle Vernunft kurz versucht, sich während des Laufens umzudrehen, um ihren Verfolger anzusehen. Wenn es wirklich Tobias war, der ihr nur Angst machen wollte und sie ihn zum Beispiel anhand seiner Statur erkennen konnte, würde sie einfach stehen bleiben und versuchen, vernünftig mit ihm zu reden. Nein, trotz seiner jähzornigen Art würde er es nicht fertigbringen, sie tatsächlich umzubringen und ihr dabei in die Augen zu sehen. So eiskalt war er einfach nicht, davon war Sabine in diesem Moment fest überzeugt.

Der kurze Blick nach hinten zeigte ihr, dass es vielleicht wirklich nur Tobias sein könnte. Die Bewegungen wirkten so entschlossen. Der Abstand zu ihm war nur noch gering. Dann passierte, wovor sie sich gefürchtet hatte. Sie kam ins Stolpern und konnte den Sturz nicht mehr abwenden. Trotz der sehr guten, teuren Markenlaufschuhe rutschte Sabine auf dem feuchten Herbstlaub in seinen leuchtend bunten Farben, das ihr und ihrem Sohn immer so gut gefiel, aus und stürzte schwer. Diese Laufschuhe, die sie so sehr gemocht hatte, dass sie ein kleines Vermögen dafür ausgegeben hatte, waren nun wertlos geworden.

Sabine war auf das feuchte Laub gefallen und blieb hilflos liegen. Der Länge nach auf dem Boden, das Gesicht in den bunten Herbstblättern, versuchte sie sich so schnell wie möglich wieder aufzuraffen. Doch ihr rechter Knöchel versagte und zum kalten Angstschweiß gesellte sich nun der unerwartete Schmerz, der aus ihrem Knöchel schoss. Panisch realisierte sie, dass Wegrennen nun nicht mehr infrage kam. Was blieb ihr zu ihrer Verteidigung? Das Adrenalin in ihrem Körper ließ es in ihren Ohren rauschen und in ihrem Kopf hämmern. Verzweifelt blieb sie reglos liegen. Als sie sich wand und umsehen wollte, um zumindest einen Ast oder Stein zur Abwehr zu finden, entfuhr ihr ein kurzer Schmerzensschrei. Dann hatte ihr Verfolger sie schon eingeholt und Tränen der Verzweiflung liefen ihr übers Gesicht.

Sie fühlte, dass gleich etwas Böses geschehen würde. Sein heißer Atem, der sich wie der Atem eines wilden Tieres anhörte, welches kurz davorstand, seine Beute zu erlegen, drang, begleitet von einem Stöhnen, an ihr Ohr, als er sich über sie beugte, um sie brutal in seine Gewalt zu bekommen. Ihr Verfolger, den sie nun zweifellos für ihren Ehemann hielt, packte sie mit einer Hand brutal von hinten im Nacken, während er sie mit seinem Knie auf ihrem Rücken zu Boden drückte und ließ sie bereits in diesem Moment erahnen, dass sie den Wald nicht mehr lebend verlassen würde. Mit ihm vernünftig zu reden, war offensichtlich zwecklos, denn ihr fiel es wie Schuppen von den Augen: Seine Geliebte hatte gewonnen. Er hatte sich für sie entschieden und um sich nicht lange um das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn streiten und viel Geld verlieren zu müssen, wollte er sie nun kurzerhand loswerden.

Ein wirklich genialer Plan, den er sich da ausgedacht hatte, dachte sie voller Panik. Sie spürte nun deutlich die drohende Gefahr und ihre Gedanken überschlugen sich. In ihren Ohren rauschte es und sie begann zu frieren, obwohl ihr gleichzeitig glühend heiß war. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und es drohte zu zerspringen.

Dieser Zustand dauerte nur einige Minuten lang an, obwohl es gefühlt Stunden waren. Sie wagte nicht, sich zu rühren, bevor sie dann ganz langsam wieder etwas klarer denken konnte. Gut, er mochte seinen Plan gefasst haben, aber sie würde es ihm nicht so leicht machen. Ihre Kraft und Stärke kehrten zurück. Vom Überlebenswillen angetrieben, unternahm Sabine einen letzten Versuch, um ihr Leben zu retten.

Sie drehte sich vorsichtig ein Stück zu ihm um und fragte mit zitternder Stimme: »Warum tust du das? Wir haben einen kleinen Sohn zusammen. Denkst du eigentlich auch mal an ihn? Glaubst du, er wäre glücklich damit, wenn du ihm einfach eine neue, ihm fremde Mutter vorsetzt. Wenn du nicht mehr mit mir leben willst, dann gehe ich und will auch kein Geld von dir. Du kannst alles behalten, nur bitte lass mich zusammen mit meinem Sohn gehen!«

Die Antwort war ein Lachen, das so schrecklich klang, dass ihr eiskalte Schauer über den verschwitzten Rücken liefen. Die Hoffnung auf Mitleid, die sie bis jetzt noch gehabt hatte, erstarb just in diesem Moment, als dieses höhnische Lachen ertönte. Es war nicht das fröhliche Lachen, welches sie von ihrem Mann kannte. Dann sagte eine hasserfüllte Stimme: »Ich tue das, weil du etwas getan hast, das einen Menschen, der mir sehr viel bedeutet, sehr verletzt hat!«

Diese Stimme kam ihr zwar bekannt vor, aber sie konnte sie beim besten Willen nicht zuordnen. Hatte Tobias seine Stimme irgendwie verstellt? Vielleicht gab es eine Art Mikrofon, durch das er sprach. Und was redete er dafür einen Unsinn? War er es doch nicht, sondern ein völlig Fremder?

Schließlich war der Angreifer maskiert und selbst seine Augen, an denen sie Tobias eindeutig erkannt hätte, waren nicht zu sehen, denn über der Maske, vermutlich eine Skimaske, trug er noch eine Kapuze, die nichts mehr erkennen ließ außer dunklen Schatten.

Er erhörte ihr verzweifeltes Flehen nicht und dadurch fühlte Sabine sich vollkommen hilflos. Trotzdem unternahm sie einen allerletzten Versuch, drehte sich blitzschnell auf den Rücken um und riss ihm die Maske herunter. Da er mit dieser Reaktion nicht gerechnet hatte, gelang ihr dieses Vorhaben und sie sah sein Gesicht nun sehr erschreckend deutlich. Sie erkannte ihren Angreifer mit Entsetzen. Dieser hasserfüllte Ausdruck in seinen Augen versetzte sie regelrecht in Panik. Dann sagte sie nur noch mit erschrockener Stimme: »Weshalb tust du mir so etwas an? Ich habe doch ...«

Weiter kam sie nicht, denn er packte sie und drückte sie so brutal wieder zu Boden, dass sie kein Wort mehr herausbekam. Dann hörte sie noch die hasserfüllten Worte: »Nun wirst du deine gerechte Strafe bekommen!« Sabine konnte mit diesen Worten nichts anfangen und begann zu weinen, weil sie wusste, dass ihr Sohn von nun an ohne seine Mutter aufwachsen würde. In den letzten Minuten ihres Lebens dachte sie an den schönen Nachmittag mit ihrem Sohn zwei Tage zuvor. Sie waren zum Kastaniensammeln gegangen und hatten anschließend einen gemütlichen Bastelnachmittag bei warmem Kakao und Kaminfeuer veranstaltet. Die gebastelten Figuren und Tiere standen nun auf dem Kaminsims, wo sie langsam vertrockneten und dann wahrscheinlich im Müll landeten, so wie ihr lebloser Körper anscheinend auch bald.

Eine absolute innere Ruhe nahm sie nun gefangen und sie ergab sich in ihr Schicksal, während ihr noch ein paar Gedanken durch den Kopf gingen. Wer würde sich wohl ab jetzt um ihren geliebten, kleinen Sohn und ihr schönes Haus kümmern? Würde ihr Mann es einfach an Fremde verkaufen oder es selbst bewohnen und ihrem Sohn eine neue Mutter vorsetzen?

Diese letzten Gedanken kamen ihr in den Sinn und dazu zogen die passenden Bilder an ihrem geistigen Auge vorbei, während Sabine letztendlich kampflos aufgab. Nein, gegen diesen Gegner hatte sie keine Chance und auch keine Kraft mehr, um zu kämpfen. Sie kannte diesen Mann und ihr war durchaus bewusst, wie viel Kraft in ihm steckte. Dabei waren sie sich einmal so nahe gewesen und nun wollte er sie töten. Es ergab einfach keinen Sinn, aber ihr Schicksal schien besiegelt. Dieser Ausdruck absoluter Entschlossenheit in seinen Augen war beängstigend und überwältigend zugleich. Als ihr dann wenige Augenblicke später unweigerlich ein letzter erbitterter Kampf auf Leben und Tod unmöglich erschien, wurde sich Sabine endgültig und absolut dessen bewusst, dass ihr nun nur noch Sekunden ihres Lebens verblieben und sie dann diese Welt gegen ihren Willen verlassen würde. Bald darauf blickten ihre großen, grünen Augen weit aufgerissen ins Leere.

 

Der Anblick ihres leblosen Körpers zu seinen Füßen war für ihn ein Genuss und er fühlte sich, als würde er schweben. Zuvor hatte er schweigend seine Rache genossen, während ihre Atemzüge schwächer und schwächer geworden waren, bis der letzte Lebenshauch aus ihr entwichen war und ihr Körper dann reglos auf dem feuchten Herbstlaub lag.

Seine Gedanken wanderten zu dem Moment zurück, als er sie von hinten gepackt und die volle Vorfreude gespürt hatte, weil er endlich die Macht über sie und ihr Leben erlangt hatte. Seine Lust am Töten hatte er jedenfalls vollends befriedigt.

Am Ende von Sabines Leben fühlte er sich endlich restlos befriedigt, obwohl er absolut kein sexuelles Verlangen nach seinem Opfer verspürt hatte, denn nur die Lust am Töten verschaffte ihm die Erleichterung, die er benötigte, um nicht vollends den Verstand zu verlieren.

Am Tatort befanden sich keinerlei Blutspuren, denn er hatte ganz bewusst eine Art des Tötens gewählt, bei der keine verräterischen Blutspuren hinterlassen wurden. Er legte in allen Bereichen seines Lebens stets größten Wert auf Sauberkeit und verabscheute diese primitiven Mörder, die ungeplant und völlig konfus töteten, dabei sämtliche verräterischen Spuren am blutverschmierten Tatort hinterlassend. Nein, so ein Vorhaben musste wirklich gut geplant werden.

Er trug die Leiche seines grazilen Opfers mühelos zu seinem Wagen, um sie darin zu verstauen. Bevor er den Wagen startete, wollte er vorsichtshalber noch einmal um ihn herumlaufen. Dabei suchte er den Boden mit einer Taschenlampe nach Dingen ab, die eventuell auf den Waldboden gefallen sein könnten. Seinen Blick starr auf den Boden gerichtet, betrachtete er aufmerksam jede nur mögliche Stelle auf der Suche nach noch so kleinen verräterischen Spuren. Aber er fand absolut nichts und war sehr zufrieden über den bisher guten Verlauf seines teuflischen Vorhabens. Dann warf er noch einen Blick auf den roten Kleinwagen seines Opfers, den er natürlich zeitnah beseitigen musste. Dies würde er später am Abend tun. Er hatte schon einen entsprechenden Fahrzeugtransportanhänger organisiert, mit dem er das Auto seines Opfers zu einem nicht weit entfernten kleinen See bringen und ihn dann sanft hineingleiten lassen würde. Nun fuhr er zunächst mit seinem Wagen langsam und vorsichtig in Richtung Bundesstraße, die zu seinem Glück wenig befahren war.

Sein erstes Opfer war ihm sicher, denn es lag tot in seinem Kofferraum. Das Gefühl von völliger Zufriedenheit ließ ihn ganz ruhig und entspannt seinem Plan folgen.

Ihr späteres Grab hatte er schon ausgehoben und sie kam als Erste hinein. Natürlich war die Wahl der Grabstätte auch kein Zufall. Eine ganz bestimmte Person sollte sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt finden. Das war der Plan und er würde sich von nichts und niemandem dabei aufhalten lassen. Er war schon immer ein Perfektionist gewesen, der nichts dem Zufall überließ. Und so würde auch dieser Plan perfekt aufgehen.

Während der Fahrt summte er die Melodie des bekannten Songs »Happy Birthday« und genoss seine Vorfreude auf ein Stück der leckeren Geburtstagstorte. Seine Lieblingsbäckerei hatte sie ihm heute am Morgen pünktlich geliefert.

Der Mörder von Sabine Heinrich erreichte eine halbe Stunde später gut gelaunt seine Wohnung, um dort ihre durch den Todeskampf im Wald stark verschmutzte Leiche, wie geplant, aufwendig für die Beerdigung vorzubereiten.

 

***

 

Tobias Heinrich kam am Abend früher als ursprünglich geplant von seiner Dienstreise zurück und war mehr als verwundert, dass seine Frau nicht, wie erwartet, zu Hause war. Aufgrund des heftigen Streites mit ihr tags zuvor am frühen Morgen hatte er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, denn er musste zugeben, dass er an ihrer Stelle vermutlich ebenfalls explodiert wäre.

Und nun stand er mit einem wunderschönen Blumenstrauß in der Küche, um ihr zu sagen, dass er entschieden hatte, seinen Job zu kündigen und nie wieder ein Wort mit seiner ehemaligen Geliebten zu wechseln, und zwar weil er sie als seine Ehefrau noch immer liebte und mit ihr ganz neu anfangen wollte. Diese Erkenntnis hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Er hatte sich extra eine nette, kleine Rede zurechtgelegt und war sich sicher, dass er damit das Herz seiner Frau zurückgewinnen würde. Sie musste ihm einfach vergeben. Die Fehler der Vergangenheit würden sie sich gegenseitig verzeihen müssen, aber es lohnte sich, dafür zu kämpfen, dass dieser Neuanfang gelingen konnte.

Tobias Heinrich konnte sich zwar nicht erklären, woher dieser Sinneswandel seinerseits plötzlich kam, aber in der letzten Nacht, die er allein in seinem Hotelzimmer verbracht hatte, war ihm klar geworden, dass einzig und allein sein Job die Schuld an dem Ehedilemma trug. Eigentlich hätte er noch eine weitere Nacht allein in diesem verdammten Hotel verbringen müssen, aber er hatte mithilfe einer guten Ausrede alles abgebrochen. Nun wollte er die frohe Botschaft überbringen und niemand war da, um ihn zu empfangen. Dabei hatte er Frau und Sohn hier erwartet. Wo waren die beiden nur?, fragte er sich.

Er rief ihre Namen, aber es kam keine Antwort. Auch sein Sohn schien nicht da zu sein. Wo konnten die beiden denn bloß stecken? Hatte er einen wichtigen Termin vergessen? Vielleicht gab es ja heute irgendeine Schulaufführung oder einen Elternabend in der Schule. Er konnte sich zwar an keinen Termin erinnern, aber möglicherweise hatte er etwas überhört. Verwirrt griff er nach einer Vase und gab den Blumen etwas Wasser, bevor er dann eilig durch das ganze Haus lief, aber er fand nirgendwo eine Spur von Sabine und ebenso wenig von seinem Sohn. Alles war, wie gewohnt, ordentlich und sauber, aber es stand auch kein Essen auf dem Herd.

Vom Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken gerissen, zuckte Tobias Heinrich zusammen und ging in der Hoffnung zum Telefon, dass der Anruf von seiner Frau kam. Seine Hoffnung wurde nicht erfüllt, denn der Anruf kam von der Mutter eines Mitschülers und Freundes seines Sohnes. Die Frau erkundigte sich, weshalb Frau Heinrich ihren Sohn nicht, wie verabredet, um achtzehn Uhr abgeholt hätte. Leider konnte er ihr diese Frage nicht beantworten, aber sein Gefühl sagte ihm nun, dass seiner Frau etwas zugestoßen sein musste. Wohin ist sie bloß gefahren? Ihr Auto stand nicht in der Garage und sie hatte keine Nachricht hinterlassen. Selbst wenn Sabine so sauer auf ihn gewesen wäre, dass sie das Haus Hals über Kopf verlassen hatte, so hätte sie jedoch niemals ihren Sohn vergessen. Und auch die Möglichkeit, dass sie sich selbst etwas angetan haben könnte – etwa aus purer Verzweiflung über den derzeitigen Zustand ihrer Ehe oder auch aus irgendeinem anderen Grund – lag kaum im Bereich des Möglichen. Jedenfalls nicht aus Sicht von Tobias Heinrich. Nein, Fakt war ganz eindeutig, dass seine Frau niemals freiwillig ihren Sohn im Stich gelassen hätte.

»Wie bitte, was sagten Sie? Ich habe Sie leider nicht verstanden«, erwiderte die Mutter von dem Freund seines Sohnes mit leichter Ungeduld in ihrer Stimme.

Tobias Heinrich wurde von der Stimme der Frau aus seinen Gedanken gerissen und sagte so freundlich, wie es ihm im Hinblick auf seine steigende Nervosität nur möglich war: »Oh, es tut mir leid, ich habe nur laut gedacht. Dabei ist mir gerade eingefallen, dass meine Frau noch kurzfristig einen wichtigen Termin wahrnehmen musste. Sie muss darüber wohl vergessen haben, mir Bescheid zu geben, damit ich unseren Sohn bei Ihnen abholen komme. Es tut mir wirklich leid, aber ich werde so schnell wie möglich bei Ihnen vorbeikommen. Vielen Dank für Ihre Geduld!«

»Na gut, wir werden hier auf Sie warten. Aber wir wollten eigentlich gerade auswärts zum Essen gehen. Sollen wir Ihren Sohn vielleicht mitnehmen? Wir fahren hinterher sowieso bei Ihnen vorbei und könnten ihn dann direkt nach Hause bringen«, bot die hilfsbereite Frau an, nachdem sie bemerkt hatte, wie sehr Tobias Heinrich gerade unter Stress stand.

Er überlegte kurz. »Wenn Sie das tun könnten, wäre ich Ihnen wirklich wahnsinnig dankbar, denn ich muss noch einmal kurz weg, um etwas Wichtiges zu erledigen. Vielen Dank und ich verspreche auch, dass ich nachher auf jeden Fall pünktlich wieder hier sein werde.«

»Gut, dann bringen wir Ihren Sohn so gegen zwanzig Uhr dreißig nach Hause.«

>»Ja gut, vielen Dank dafür und einen schönen Abend!«, sagte er äußerst erleichtert und legte auf.

Nachdem er sich verabschiedet hatte, beeilte sich Tobias Heinrich, um sein Versprechen, seinen Sohn nachher pünktlich in Empfang zu nehmen, auch einlösen zu können. Während der unvermeidlichen Fahrt zum Polizeipräsidium rasten seine Gedanken wild durcheinander und er überlegte fieberhaft, was geschehen sein könnte. Was sollte er den Beamten denn erzählen? Die Wahrheit wäre wohl am besten, dachte er.

Die Sorge um seine Frau ließ ihn seinen Hunger und die Müdigkeit vergessen. Wenigstens ging es dem Kleinen gut.

Nachdem er dann das Präsidium trotz des dichten Verkehrs relativ rasch erreichte, um seine Frau als vermisst zu melden, blieb er auf dem Parkplatz eine Weile im Auto sitzen und überlegte immer noch, was er den Beamten wohl erzählen sollte. Schließlich war Sabine erst seit wenigen Stunden verschwunden. Ihm war durchaus bekannt, dass nach so kurzer Zeit in der Regel eigentlich noch nichts unternommen wurde, zumindest nicht, wenn kein eindeutiger Hinweis auf ein Gewaltverbrechen vorlag, aber er musste es wenigstens versuchen, denn er spürte in diesem Moment wieder ganz deutlich, wie sehr er Sabine noch liebte und dass die Vorstellung, ihr könnte etwas Schreckliches zugestoßen sein, ihn fast um den Verstand brachte.

Wenn er sie nun nicht mehr lebend wiedersehen würde und er vor ihrem Tod keine Gelegenheit für eine Versöhnung mit ihr mehr fand, dann … Er konnte den Satz nicht mehr zu Ende denken. Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett seines Wagens zeigte ihm, dass es wirklich höchste Zeit war, um endlich zu handeln. Tobias Heinrichs Herz schlug wie wild in seiner Brust, aber er besann sich wieder darauf, dass sein derzeitiger Zustand bei der Suche nach seiner Frau wirklich keine große Hilfe war, und er versuchte, sich auf sein Vorhaben, das Präsidium zu betreten und da drinnen etwas Sinnvolles zu erreichen, zu konzentrieren.

Er verließ nun sehr zielstrebig seinen Wagen und steuerte auf den Eingang des Präsidiums zu. Auch wenn man versuchen würde, ihn hier drinnen erst einmal abzuwimmeln, was zu erwarten war, so musste er einfach alles versuchen, um seine Frau zu finden. Vielleicht hörte ihm ja doch jemand in diesem Laden zu. Leider hatte er einen schlechten Zeitpunkt erwischt. Aufgrund eines am Nachmittag von seinen Eltern als vermisst gemeldeten, kleinen Kindes, das man nun unter Hochdruck zu finden versuchte, herrschte im Präsidium totale Hektik und keiner hatte zunächst Zeit für den besorgten Ehemann von Sabine Heinrich. Ungeduldig lief er auf und ab. Wieder und wieder warf er dabei einen Blick auf seine Uhr. Wenn er nachher nicht wieder zu Hause wäre, wenn diese netten Leute seinen Sohn brachten, dann gäbe es sicher und auch verständlicherweise ziemlichen Ärger mit ihnen. Diese unangenehme Situation wollte er auf jeden Fall verhindern, aber was sollte er tun, wenn ihm in diesem Saftladen nicht bald jemand Gehör schenkte.

Bald würde er noch durchdrehen. Wütend schlug er mit der Faust auf den Kaffeeautomaten, der ihm den bereits bezahlten Kaffee nicht herausgeben wollte, als eine weibliche Stimme hinter ihm sagte: »Na, also Gewalt ist auch keine Lösung!«

Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand eine nette, junge Polizistin in Uniform.

»Ich glaube, der Automat hat keine neuen Becher mehr drin, aber wenn Sie unbedingt gerne einen Kaffee möchten, dann kommen Sie bitte mit mir, Herr … ?«

»Äh ja, Heinrich, mein Name ist Tobias Heinrich. Guten Abend!«

»Guten Abend! Ich bin Kommissarin Petra Berger.«

Nachdem sie sich gegenseitig die Hand gegeben hatten, sagte Kommissarin Berger: »Bitte kommen Sie mit mir. Ich bin über ihr Anliegen informiert. Wir gehen am besten in mein Büro.«

Tobias Heinrich war erleichtert und bemerkte: »Entschuldigen Sie meinen Ausbruch, aber ich stehe unter Stress.«

Dann folgte er ihr zu dem Büro, in dem es hoffentlich den versprochenen Kaffee gab. Auf dem Weg dorthin fragte er die Kommissarin: »Woher kennen Sie eigentlich mein Anliegen?«

»Na, Sie hatten sich doch am Empfang angemeldet, oder?«

»Ja, ich wollte meine Frau als vermisst melden. Niemand weiß, wo sie ist. Ich mache mir Sorgen, verstehen Sie?«

»In meinem Büro können wir bei einer Tasse Kaffee ungestört reden, okay? Hören Sie, Herr Heinrich, ich hätte jetzt eigentlich Streifendienst fahren müssen, denn hier herrscht heute wegen eines verschwundenen Kindes Hochbetrieb. Aber dann hörte ich von Ihrem Anliegen und bin deshalb extra noch hiergeblieben. Ich nehme mir jetzt einfach die Zeit für Ihr Anliegen. Und das heißt doch, dass ich Sie sehr wohl ernst nehme. Finden Sie nicht?« Petra Berger beobachtete den Mann vor ihr amüsiert und ließ ihn in Ruhe die Kekse essen.

Nachdem sie sich auch eine Tasse Kaffee geholt und hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte, fragte sie ihn: »Also, was ist denn genau passiert? Weshalb sind Sie zu uns gekommen?«

»Es geht um meine Frau Sabine. Sie ist verschwunden, nachdem sie heute gegen fünfzehn Uhr unseren Sohn bei einem Freund abgesetzt hat und ihn dann aber nicht, wie mit dessen Mutter vereinbart, gegen achtzehn Uhr wieder dort abholte.«

»Hat Ihre Frau vielleicht eine Nachricht hinterlassen, wohin sie in der Zwischenzeit gehen wollte, oder hatte sie eventuell irgendwo einen Termin?«

»Nein, mir ist absolut nichts bekannt. Weder hatte sie, jedenfalls soweit ich weiß, einen Termin, noch hat sie irgendeine Nachricht zu Hause hinterlassen. Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte!«

»Gut, ist denn vielleicht etwas vorgefallen, was ich wissen sollte?«

»Nun ja, wir hatten gestern am frühen Morgen einen heftigen Streit und ich wäre jetzt eigentlich noch bis morgen zusammen mit meiner Sekretärin auf einer Dienstreise gewesen. Aber mir ist heute nach dem Streit etwas klar geworden und deshalb habe ich die Dienstreise abgebrochen und bin heute schon wieder zurückgekommen.«

»Ach ja, ich verstehe. Worum ging es denn bei diesem Streit? Könnte Ihre Frau vielleicht aufgrund dieses Streites freiwillig das Haus verlassen haben und irgendwo, zum Beispiel bei einer Freundin, untergetaucht sein, um sich für den Streit zu rächen etwa?«

»Ihr Verschwinden hat absolut nichts mit unserem Streit zu tun.«

»Was macht Sie da so sicher? Vielleicht war Ihre Frau so verärgert oder niedergeschlagen, dass sie sich einfach ins Auto gesetzt hat und Hals über Kopf weggefahren ist. Glauben Sie daran etwa nicht?«

»Nein, das glaube ich nicht, denn Sabine hätte niemals ihren Sohn im Stich gelassen. Sie wollte ihn um achtzehn Uhr bei seinem Freund abholen und hat es nicht getan. Der Streit war wirklich übel, aber ich glaube einfach nicht, dass sie deswegen einfach so verschwinden würde. So ein Verhalten passt nicht zu Sabine.«

»Worum ging es in dem besagten Streit?«, fragte Kommissarin Berger ihn nun direkt und ohne Umschweife. Ihm war natürlich durchaus bewusst, was sie mit dieser Frage bezweckte, und er wurde ein wenig nervös. Deshalb zögerte er damit, die Kommissarin im Detail über den Inhalt des Streitgesprächs zu informieren, denn ihm war durchaus bewusst, dass wenn Sabine wirklich Gewalt angetan worden war, er als Ehemann aufgrund des momentanen Zustandes seiner Ehe sofort als Haupttatverdächtiger gelten würde. Ein handfestes Alibi konnte er ebenfalls nicht nachweisen, denn immerhin hatte er die Dienstreise plötzlich und ohne Angabe von genauen Gründen abgebrochen. Und seine ehemalige Geliebte würde ihm aufgrund der gegebenen Umstände wohl kaum mehr ein gutes Alibi geben wollen. Also musste er mit seinen Angaben sehr vorsichtig sein.

Nach einer Weile kam dann seine wohlüberlegte Antwort: »Ich hatte ein Verhältnis mit meiner Sekretärin. Sabine ist bereits vor einiger Zeit dahintergekommen und hat dann kurzfristig gestern am frühen Morgen von mir erfahren, dass ich genau diese Sekretärin mit auf die Dienstreise nehmen würde. Das Verhältnis mit ihr habe ich jedoch bereits beendet und wollte wirklich nur diese verdammte Dienstreise hinter mich bringen, aber Sabine glaubte mir nicht. Das war eigentlich das Wesentliche zum Inhalt unseres Streites.«

»Danke für Ihre Offenheit, Herr Heinrich! Aber Sie müssen verstehen, dass ich diese Informationen benötige, um mir ein genaues Bild vom Sachverhalt des Falles machen zu können.«

»Das verstehe ich natürlich. Ich liebe meine Frau und wollte einen Neuanfang mit ihr, deshalb habe ich die Dienstreise abgebrochen und bin mit einem großen Blumenstrauß nach Hause gekommen, um sie zu überraschen, aber da war niemand.«

Die Tatsache, dass er das Verhältnis zu seiner Sekretärin eigentlich noch gar nicht richtig beendet hatte, weil diese noch nichts von seiner Absicht wusste, verschwieg er. Auch das kleine Detail, dass Sabine ihm bei dem Streit mit der Tatsache gedroht hatte, ihn zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn zu verlassen und dafür zu sorgen, dass er ihn dann niemals wiedersehen würde, verschwieg er wohl wissend der erdrückenden Beweislast gegen ihn. Ihm war klar, dass dies möglicherweise ein hervorragendes Motiv für einen Mord an der unliebsam gewordenen Noch-Ehefrau darstellen könnte.

Aber so war es nicht, denn er hatte mit Sabines Verschwinden absolut nichts zu tun. Und es bestand ja durchaus die Hoffnung, dass sie am Leben war und bald wiederkam.

Kommissarin Petra Berger sah Tobias Heinrich nachdenklich an. Sie glaubte ihm, dass er sich einfach nur Sorgen machte. Irgendwie tat er ihr sogar leid. Sie wusste aber auch, dass heute noch nichts in dieser Vermisstensache unternommen werden konnte, denn die Frau war geschätzt noch keine vier Stunden weg. Trotzdem versuchte sie, möglichst beruhigende Worte für ihn zu finden: »Also gut, ich nehme jetzt mal Ihre Personalien auf, aber da Ihre Frau noch keine vier Stunden verschwunden ist, werden wir heute noch nicht nach ihr suchen. Aber machen Sie sich bitte vorerst keine Sorgen. Kümmern Sie sich einfach um Ihren Sohn und warten zu Hause auf Ihre Frau. Falls sie bis morgen um diese Zeit noch nicht wieder zurückgekommen ist, kommen Sie noch einmal hierher zu uns, dann werden ich oder einer meiner Kollegen die Vermisstenanzeige aufnehmen. Okay?«

»Ja gut, das werde ich machen. Vielen Dank für Ihre Zeit und den wirklich guten Kaffee.« Mit diesen Worten stand er auf und gab der Kommissarin noch kurz die Hand, bevor er zu seinem Wagen eilte, um endlich nach Hause zu fahren, bevor sein Sohn dort ankam.

Gerade noch pünktlich erreichte Tobias Heinrich das Haus seiner kleinen Familie. Er stand noch vor der Garderobe in der Diele, als es an der Haustür klingelte und sein Sohn gebracht wurde. Er bedankte sich überschwänglich und verabschiedete sich dann noch höflich von den netten Leuten.

Später brachte er seinen müden Sohn zu Bett und saß dann stundenlang wartend vor dem Fernseher, aber weder klingelte endlich das Telefon, noch öffnete sich die Haustür. Das Programm rieselte so dahin, aber Tobias Heinrich konnte sich einfach auf nichts konzentrieren, bis ein spannender Krimi begann. Er handelte von einer Frau, die beim Joggen überfallen und ermordet wurde. Ihre Leiche wurde erst Monate später im Unterholz gefunden.

Während Tobias Heinrich den Blick nicht mehr vom Fernseher abwenden konnte, stellte sich an seinem Körper vor Entsetzen jedes einzelne Haar auf und er begann fürchterlich zu frieren. Nein, ihr durfte es nicht wie dieser armen Frau aus dem Krimi ergangen sein. Nein, nicht jetzt, wo doch alles wieder gut werden sollte. Und dann fing Tobias Heinrich, nachdem er den Fernseher ausgeschaltet hatte, zum ersten Mal in seinem Leben an zu beten. Mit jeder Stunde, die verging, wurde ihm klarer, dass Sabine etwas Furchtbares zugestoßen sein musste. Niemals wäre sie einfach so weggeblieben und hätte alles stehen und liegen lassen. Sogar die Waschmaschine war noch eingeschaltet gewesen. Die fertig gewaschene Wäsche lag nun seit Stunden darin und musste dringend aufgehängt werden. Nein, das sah ihr überhaupt nicht ähnlich.

Da er sich irgendwie beschäftigen musste, nahm er sich der Wäsche an und hängte sie sehr ordentlich auf. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen und schreckliche Bilder drängten sich in dieser quälenden, schlaflosen Nacht in seinen Kopf. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, trüge er indirekt die Schuld daran. Dieser Gedanke verfolgte ihn über die vielen Stunden.