cover image

 

Reinhardts Gerontologische Reihe

Band 53

images

Carmen Birkholz ist evangelische Dipl.-Theologin, Pfarrerin, Mediatorin und berät und schult mit ihrem „Institut für Lebensbegleitung“ in Essen zu den Themen Spiritual und Palliative Care, Trauerbegleitung, Hospiz und Demenz.

Für Karin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02651-7 (Print)

ISBN 978-3-497-60424-1 (PDF)

ISSN 0939-558X

ISBN 978-3-497-60975-8 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages: Cornelia Fichtl, München

Covermotiv: © Floydine / Fotolia

Fotos der Abbildungen 3.1, 3.2, 4.3, 4.4a / b, 4.5, 4.6, 4.7, 4.8, 4.9, 6.1, 6.2, 6.3, 6.4, 6.5, 6.6, 6.7 a / b, 6.8, 6.9, 6.10, 6.11, 6.12, 6.13, 6.14, 6.15, 6.16, 6.17, 6.18, 6.19, 6.20, 6.21, 6.22, 6.23, 6.24, 6.25, 6.26, 6.27, 6.28, 7.2 im Innenteil: Carmen Birkholz

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1    Was ist Spiritual Care?

1.1  Religion, Spiritualität, Glaube

1.2  Die Geschichte von Spiritual Care von Cicely Saunders bis heute

1.3  Total Pain

1.4  Was ist spiritueller Schmerz?

1.5  Wie wird Spiritualität vermittelt?

1.6  Spiritual Care für An- und Zugehörige

2    Was sollte man über Demenz wissen?

2.1  Betroffene berichten

2.2  Tom Kitwood und der person-zentrierte Ansatz

2.3  Die Geschichte einer Krankheit

2.4  Andere Sichtweisen auf Demenz

2.5  Wichtiges für Spiritual Care mit Menschen mit Demenz

3    Spirituelle Bedürfnisse von Menschen mit Demenz

3.1  Das Wesen spiritueller Bedürfnisse

3.2  Verstehen üben, „Sprachen“ lernen mit Naomi Feil

3.3  Spirituelle Kernbedürfnisse

3.4  Tom Kitwood und das Bedürfnis nach Liebe

4    Die spirituelle Sorge um Menschen mit Demenz

4.1  Care Ethik

4.2  Basale Stimulation in Spiritual Care

4.3  Die spirituelle Begegnung

4.4  Ein altbekannter Konflikt in der Betreuung

4.5  Achtsamkeit

4.6  Spiritual Care und die Selbstsorge der Begleitenden

4.7  Yoga mit alten Menschen mit Beeinträchtigungen

4.8  Am Anfang war Musik

4.9  Das „Ü“ macht glücklich

5    Spiritual Care in der Sterbebegleitung

6    Spiritualität der Religionen

6.1  Jüdische Spiritualität

6.2  Christliche Spiritualität

6.3  Muslimische Spiritualität

6.4  Biografischer, kultureller und musischer Ausdruck von Spiritualität

7    Trauer und Trauerbegleitung in einer Spiritual Care bei Menschen mit Demenz

8    Kann man Spiritual Care lernen?

8.1  „Jetzt weiß ich, dass das Spiritual Care ist“

8.2  Wissenswertes für die Praxis

8.3  Organisationen schaffen Raum für Spiritual Care

Literatur

Sachregister

Dank

Vorwort

Es sind besondere Lebenssituationen, die tiefe spirituelle Erfahrungen hinterlassen können. Eine solche hatte ich in einer schweren Unfallsituation an einem 3. August. Ich lag verunglückt auf dem Boden, hatte starke Schmerzen, bekam keine Luft mehr und wusste doch, es ist nicht Schlimmes, d. h. Lebensbedrohliches. Es ist für mich immer noch beeindruckend, wie klar mein Geist war, obwohl ich von außen betrachtet sicher einen ganz anderen Eindruck erweckte.

Bevor ich mit einem Hubschrauber in die Unfallklinik geflogen wurde, waren einige Menschen an der Unfallstelle aktiv. Ich habe keine Gesichter vor Augen, aber sehr präsente Eindrücke. An meiner linken Seite kniete ein Mann, der mir immer wieder zusprach: „Du brauchst keine Angst haben, Gott ist bei dir.“ Seine Stimme war freundlich, bemüht mich zu trösten und durchdringend. Es berührte mich nicht, aber es bedrängte mich auch nicht. Ich dachte: „Du weißt nicht, dass hier eine Theologin liegt; es tut mir nicht weh, aber es berührt mich auch nicht.“ Ich wundere mich heute noch über die freundliche Distanz, die ich zu ihm empfand. Ich musste mich nicht abgrenzen, nicht wehren gegen diesen etwas missionarischen Trostversuch.

Ebenfalls an meiner linken Seite war der Notarzt. Er sagte wenig, fragte meinen Mann nach meinem Vornamen. Es war wohl wichtig, dass ich nicht in die Bewusstlosigkeit glitt. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war, sprach er mich mit Vornamen an. Ich spürte seine starke Verbundenheit mit mir ohne Worte. Er hatte ein Gespür für mich. Dass er immer zum rechten Zeitpunkt meinen Namen sagte, ließ mich im Nachhinein an den Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja denken, den ich selber bei vielen Taufen und Beerdigungen gesprochen habe: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ (Jesaja 43, 1, Lutherbibel 1999, AT, 704)

Diese Momente aus der Unfallsituation hatten und haben für mich eine tiefe spirituelle Bedeutung. Ich habe kein Gesicht des Arztes vor Augen, aber seine präsente, konzentrierte Nähe kann ich noch heute fühlen. Der 3. August ist seitdem wie ein weiterer Geburtstag für mich.

Warum erzähle ich Ihnen meine so persönliche Geschichte? Sie spricht vom Wesen der Spiritualität. Sie geschieht in mir und ist nach außen nicht sichtbar. Man wird das Unfallopfer in mir gesehen haben, das nach Luft rang und vor Schmerzen stöhnte. Es wird niemand wahrgenommen haben, was in meinem Inneren passierte. Die tiefe Bedeutung, das tiefe Wissen „es ist nichts Schlimmes“, die tiefe Berührung der Verbundenheit, die mir Halt gegeben hat, wird niemand beobachtet haben.

Es wird auch niemand wissen, dass mich der hörbare Zuspruch des anderen Mannes, eine Zusage, dass Gott bei mir ist, mich nicht berührte, mir aber auch nicht zu nahegetreten ist.

Niemand weiß etwas von den spirituellen Momenten im Leben eines Menschen, wenn er oder sie nicht davon erzählt, so wie ich es Ihnen jetzt erzähle und damit etwas sehr Intimes preisgebe und lange überlegt habe, ob ich das im Vorwort eines Buches tun soll und möchte.

Ich wage auch zu behaupten, dass mir niemand diese inneren Erfahrungen von Klarheit und Freiheit zugetraut hat, auch sie waren nicht zu sehen. Aber sie waren da und wurden zu einer der wenigen starken spirituellen Erfahrungen meines Lebens, aus der ich das Zutrauen gewinne, auch in zukünftigen existenziellen Krisen, solche Kraft erleben zu können. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, sagt Paulus im 2. Korintherbrief (Korintherbrief 12, 9, Lutherbibel 1999, NT, 213). Das ist ein Geheimnis von Spiritualität.

Diese Erfahrung hat in mir das Zutrauen zu uns Menschen gestärkt. Menschen mit Demenz, besonders am Lebensende, können äußerlich sehr hinfällig aussehen. Was in dem Menschen geschieht, was ihn berührt und bewegt, kann ich nicht sagen, es kann vielleicht sensibel erspürt werden, so wie es eine Teilnehmerin in meinem Forschungsprojekt zur Spirituellen Begleitung von Menschen mit Demenz beschreibt:

BEISPIEL

Begleitung eines Menschen mit Demenz am Lebensende

„Die Dame hatte die Augen zu, als ich zu ihr ins Zimmer ging.

Ich habe mich zu ihr gesetzt und mental versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ich nahm dann eine Hand von ihr in meine und mit der anderen Hand streichelte ich ihr behutsam über die Wangen und ihr Haare. An ihrer Haltung und dem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, wie sie sich entspannte.

Nach einiger Zeit machte sie die Augen auf, betrachtete mich und sagte deutlich: „Ich kann nicht mehr“, alles andere was sie noch sagte, konnte ich nicht verstehen.

Als ich mich verabschieden wollte, sagte sie auch wieder deutlich: „Bleib noch ein bisschen, ich bin allein“. Ich blieb noch eine ganze Zeit bei ihr. Ich hatte den Eindruck sie hat meine Nähe genossen, indem sie sich sichtlich entspannte und in das Kissen sinken ließ.“ (Logbucheintragung einer Teilnehmer / in des Forschungsprojektes „Spirituelle Begleitung von Menschen mit Demenz im Kontext von Palliative Care im Altenpflegeheim“.)

Wilfried Härle (2010) gab seinem Buch „Würde“ den Untertitel, „Groß vom Menschen denken“. Es gehört für mich zur spirituellen Begleitung von Menschen mit Demenz, bis zum letzten Atemzug groß von ihnen zu denken, ihnen – wie jedem anderen Menschen auch – zuzutrauen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. (Birkholz 2014) Spiritualität kann als eigenes Empfinden und in der Begegnung eine Größe sein, die die Menschen auf ihrem Weg nach innen stärkt.

Sie finden in diesem Buch persönliche Erzählungen, die Sie zum Dialog mit Ihren eigenen Lebenserfahrungen einladen. Sie finden Beispiele aus der Praxis, die Sie an Ihre eigene Begegnung mit Menschen mit Demenz erinnern können. Sie finden Anregungen und Tipps für die Begleitung, aber keine Rezepte.

Es wäre schön, wenn ich Ihr Interesse und Ihre Neugier wecken würde auf das, was das denn sein kann: „Spiritual Care“.

Vielleicht gewinnt jetzt die Sorge um die Seele eines Menschen mehr Raum in Ihren alltäglichen Handgriffen, Blicken und Gefühlen. Und Sie erkennen intuitiv in einem Menschen, der in seiner Demenz oft eingeschlossen ist, den Anknüpfungspunkt für eine Begegnung. Diese Begegnung kann die Berührung in der Pflege sein, das Singen eines Liedes, das Spenden eines Segens. Wesentlich sind immer die Offenheit und das Zutrauen zu sich selbst und dem anderen. In der spirituellen Erfahrung gibt es nur Beschenkte – mit und ohne Demenz.

Essen, Juli 2017 Carmen Birkholz

Einleitung

Menschen mit Demenz befinden sich in einer besonderen Lebenssituation. Sie verabschieden sich langsam vom Leben und können auf der seelisch-spirituellen Ebene sehr empfänglich sein. Da sie bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse, auch auf diesen Ebenen, Unterstützung brauchen, ist spirituelle Fürsorge für sie existenziell.

Spiritual Care ist ein Teil von Palliative Care und hospizlicher Haltung, in der Cicely Saunders (1965) eine besondere Art der Weggemeinschaft sieht. Besonders in existenziellen Krisenzeiten, wenn Menschen sich verloren fühlen und in besonderer Weise auf den Beistand von Vertrautem angewiesen sind, kommt sie zum Tragen. Die symbolische Verdichtung dieser Lebenssituation sieht Cicely Saunders in der Erfahrung Jesu im Garten Gethsemane, in der Nacht vor seinem Verrat. Er bat seine Freunde, mit ihm zu wachen und ihm in seiner Not beizustehen. Die Freunde schliefen jedoch immer wieder ein und Jesus durchlebte diese Nacht in einer tiefen Verlassenheit. (Markusevangelium 14, 32 ff., Lutherbibel 1999, NT, 62, Saunders 1965)

Menschen, die mit Demenzerscheinungen leben müssen, sind in einer vergleichbaren Situation. Sie benötigen Begleitung, in allen Lebensbereichen und sind deshalb auf Menschen angewiesen, die ihnen beistehen. Sie ringen um Halt und um ihre Würde als Person in dieser Lebenserfahrung, in der ihnen oft der Boden unter den Füßen entgleitet. Ihre Gefühle führen sie treffsicher durch eine Welt, in der so vieles „ver-rückt“ geworden ist und in der sie sich zunehmend weniger orientieren können. Doch ihre Gefühle alleine reichen nicht als Teil ihrer Selbstsorge aus, sondern sie benötigen die Resonanz anderer, die den Ausdruck ihrer Gefühle verstehen; die bereit sind, sich auf ein verändertes Leben mit ihnen einzulassen, neue „Sprachen“ zu lernen, um mit ihnen durch eine veränderte Welt auf ihr Lebensende zuzugehen. In einem Leben mit Demenz gibt es nur Betroffene: die alten Menschen, ihre An- und Zugehörigen, Pflegende, Begleitende, Ärzt / innen und viele mehr. Spiritual Care bei Demenz versteht sich so als ein Konzept der Weggemeinschaft bei Sonnenuntergang. Sie ist seelischer Beistand am Lebensende, der nach Wegen gelingender Verbundenheit sucht. Mit ihr lässt sich die Vereinsamung aller Betroffener auflösen, oder zumindest besser aushalten und die hospizliche Haltung des „Leben-bis-zuletzt“ kann auch in einer Demenz zur gelebten und geteilten Erfahrung werden.

1    Was ist Spiritual Care?

BEISPIEL

Ein Beispiel für Spiritual Care

Meine Schwiegermutter war in der Weihnachtszeit drei Wochen im Krankenhaus. In ihrem Zimmer hatte sie eine schwer kranke Bettnachbarin, Frau R., eine Dame mit Demenz, die nie Besuch bekam. Ich nahm Kontakt zu ihr auf. Sie konnte kaum sprechen und wurde über eine Sonde ernährt. Wir sprachen über die Augen und über unser Lächeln. Dass sie anscheinend niemanden hatte, tat mir in der Seele weh.

Weihnachten wollte ich ihr etwas schenken: Einen Lebkuchenstern, den ich sichtbar über ihr Bettes hängte und ein Lavendelsäckchen, das sie in die Hand nehmen oder sich auf die Brust legen konnte. Ich fragte sie, ob ich ihre Hand massieren dürfe. Sie lächelte und nickte. Sie schloss die Augen, ein paar Tränen liefen ihre Wange still hinab, dann schlief sie während der Massage ein. Zwei Wochen lang sah ich sie nahezu täglich und fragte sie jedes Mal, ob sie eine Massage möchte. Immer wieder das lächelnde Nicken. Es entstand eine Vertrautheit ohne viele Worte zwischen uns, die ich als spirituell erlebt habe. Der Kontakt über die Augen, der gleich ins Herz ging, heilte für mich den spirituellen Schmerz, den ich in der Verlassenheit der Frau empfunden habe.

Aus dieser Erfahrung heraus habe ich folgenden Segen geschrieben:

„Sei gesegnet in deiner Sehnsucht nach Gott,

der Quelle der Liebe, die deine Haut achtsam berührt,

deine Angst löst, deine Tränen trocknet.

Sei gesegnet in deiner Sehnsucht nach deinem Du,

das dich erkennt, deinen Namen mit Zärtlichkeit spricht,

hört, was du sagst und nach deiner Liebe hungert.

Sei gesegnet in deiner Sehnsucht nach dir selbst;

höre den Klang deiner Stimme,

spüre das Leben in deinem Körper,

nimm den Duft der alten Zeit im Jetzt wahr,

spüre dein Herz – lebendig und weich.

Sei gesegnet von dem „Ich bin da“,

bei dir, wohin du auch gehst,

in Liebe.“ (Carmen Birkholz)

Ich habe nicht viel von Frau R. erfahren. Ob unsere Begegnung für sie auch eine spirituelle Dimension hatte, weiß ich nicht. Ich habe die Begegnung mit ihr aus einem menschlichen Impuls gesucht und nicht um Spiritual Care „zu praktizieren“. Spiritual Care geschieht, wenn man sich für die Dimensionen des Religiösen und Spirituellen öffnet und ins eigene Leben integriert. Dann wird es eine Dimension und ist keine Technik.

Wenn von Religion und Spiritualität gesprochen wird, meinen nicht alle dasselbe. Es gibt keine eindeutige Definition, auf die sich alle verständigen. Dennoch ist es für ein Team hilfreich und wichtig, sich über verschiedenen Facetten verständigen zu können, wohl wissend, dass es unterschiedliche Aspekte und Positionen gibt.

In ihrem Buch „Spiritualität und Medizin“ haben Frick und Roser (2011) Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen zur Definition von Spiritualität zu Wort kommen lassen. So ist für den Palliativmediziner Gian Domenico Borasio Spiritualität das, „was den Menschen mit seinem wahren Selbst verbindet und über sich hinauswachsen lässt.“ Der evangelische Kirchenrat Peter Bertram sagt: „Spiritualität ist für mich auf der Suche zu sein, nach dem, ‚was mich unbedingt angeht‘ (Paul Tillich) und dabei den christlichen Gott als Halt und Orientierung zu erleben“. Für die Krankenschwester Christine Klingl ist Spiritualität das „Bewusstsein unserer göttlichen Abstammung und der geistigen Aspekte in mir und anderen Menschen. Bewusstsein der Kraft Gottes im Alltag meines Lebens.“ (Frick / Roser 2011, 301 ff.)

Spiritualität gibt es in allen Religionen, sagt der muslimische Imam Metin Avci: „Für mich bedeutet Spiritualität die geistige Verbindung des Menschen zwischen dieser realen Welt und dem Jenseits, dem allgegenwärtigen Schöpfer Allah. Zugleich ist Spiritualität die Suche des eigenen Ichs nach dem Sinn des Lebens. Ein Mensch ohne Spiritualität ist nicht vorstellbar, da er in den unendlichen Abgrund stürzen und verloren gehen würde. Der Mensch ist vollkommen geschaffen, diese Vollkommenheit kommt jedoch erst mit der Spiritualität zur Geltung. „Alsdann formte Er ihn und blies ihn von seinem Geiste und gab ihm Gehör, Gesicht und Herz“. (Sure 32, 9, Khoury 2007, 196)

Diese Autor / innen haben Spiritualität sehr abstrakt „definiert“. Andere, wie Kenneth Pargament, sprechen bildhafter davon, was Spiritualität für sie ist: „Ich stelle mir Spiritualität als einen Fluss vor. Ein Fluss, der mal verschlungen, mal gerade verläuft, der breite und schmale Abschnitte hat, während er hoffentlich auf ein größeres Gewässer zufließt. Mein eigener Fluss ist ein Teil vieler anderer Ströme, die mit ihm zusammenfließen und ihn anschwellen lassen. Ich hoffe, dass auch ich zu anderen Flüssen beitrage und sie speise. Wir fließen alle gemeinsam im Strom dahin.“ (www.iggs-online.org / 11.10.16)

Der Dalai Lama, der Bodhisattva (Erleuchteter) des tibetischen Buddhismus, sieht in einer Ethik des Mitgefühls, der Güte und der Zuwendung den Kern von Spiritualität.

Für mich ist der Anker ein Bild für Spiritualität. Die Erfahrung von Momenten der Verankerung in sich selbst und in der Begegnung mit anderen ist wesentlich für Menschen, die „sich verlieren“. Die Erfahrung, verankert zu sein, bei Menschen mit Demenz zu unterstützen, ist Kern spiritueller Begleitung.

images

Überlegen Sie bitte einmal, welche Erfahrung Sie mit Worten im Kontext von Religion und Spiritualität haben. Welche Worte lösen angenehme Vertrautheit oder auch Abwehr aus?

images

1.1  Religion, Spiritualität, Glaube

Unter Religion versteht man ein gewachsenes System von Überzeugungen und Regeln, die festgelegt sind und in den Rahmen einer konkreten Religion hineingehören. So fußt das Christentum auf dem Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes und Mensch, der den Menschen gleich geworden ist. Jesus war Jude und so hat die christliche Religion ihre Wurzeln in der jüdischen Religion. Das „Erste Testament“ (früher Altes Testament) ist die Hebräische Bibel, auf die sich das Judentum und das Christentum beziehen. Das Judentum wartet auf einen Erlöser, den Messias. Für Christ / innen ist Jesus der erwartete Messias. Diese Vorstellung teilen Jüd / innen jedoch nicht. Eine weitere Religion, die sowohl mit dem Judentum als auch mit dem Christentum verbunden ist, ist die Religion des Islam. Die Verbindungsperson aller drei Religionen ist Abraham. Er ist der Stammvater Israels, in dessen Tradition Jüd / innen und Christ / innen stehen.

Abraham ist auch der Vater von Ismael, auf den der Islam zurückgeht (1. Mose 16, 1–16, 1. Mose 21, 8–21, Lutherbibel 1999, AT 15 ff.; Sure 14,39, Khoury 2007, 196). Diese drei Religionen werden „Väterreligionen“ genannt. Ihre Verbundenheit über den Stammvater Abraham enthält „Geschwisterrivalitäten“, ist jedoch auch eine Chance für den Dialog der Religionen und erklärt die Nähe, die einem beim Lesen der Bibel und des Quran auffällt. (Kap. 6)

Die Religionen können unterschiedliche Gruppierungen oder Strömungen haben, die Konfessionen (Bekenntnisse) genannt werden. Im Christentum kennen wir die katholische, evangelische und orthodoxe Konfession. Sie sind Christ / innen, unterscheiden sich aber in einigen theologischen Positionen und ihrer geschichtlichen Entstehung.

Religiös zu sein heißt somit, die Charakteristika und Regeln (Dogmen) einer Religion für sich zu akzeptieren und sich zu der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen.

Glaube ist die persönliche Ausprägung eines Menschen innerhalb seiner Religion. Ein Mensch kann sich als gläubige / r Katholik / in verstehen und dennoch z. B. das Dogma der Jungfrauengeburt für sich ablehnen. Das Wort Glaube kann man auf zweierlei Weise verstehen: Zum einen kann Glauben bedeuten, dass man etwas „für wahr“ hält. „Ich glaube an die Jungenfrauengeburt“ kann somit bedeuten, dass jemand an ein Wunder der Empfängnis ohne die geschlechtliche Verbindung von Maria und Josef „glaubt“.

Zum anderen hat Glauben die Bedeutung von Vertrauen. „Ich glaube an Gott“ bedeutet in diesem Sinne, dass jemand darauf vertraut, dass es eine Macht gibt, die ihn beschützt, sein Leben gewollt hat und über den Tod hinaus trägt. Diese Macht kann „Gott“ genannt werden, aber auch andere Bezeichnungen finden, die von etwas sprechen, was man nicht festhalten und greifen kann, wie z. B. das Heilige, der Ewige, die Lebenskraft. Im Judentum wird daher der Gottesname nicht ausgesprochen.

Glauben ist in diesem Sinne dann kein „Für-Wahr-Halten“ von Dingen, die wider die naturwissenschaftlichen Gesetze sind, sondern ein Vertrauen, dass das Leben einen Sinn hat und man sich getragen und eingebunden fühlt in einer Beziehung zu einer höheren Macht. Das Gedicht von Kurt Marti „geburt“ (Marti 1974, 5) beschreibt eindrücklich die vorgeburtliche und vorbehaltlose Annahme des Menschen durch „Einen“ und der „sagte ja zu meinem Leben“.

Nah verwandt mit dem Wort „Glauben“ ist die Frömmigkeit. Sie wird heute eher noch von älteren Menschen als Wort benutzt und hat zum Teil einen negativen Beigeschmack in dem Wort „frömmeln“. Ein älterer Mensch kann für sich dieses Wort aber durchaus positiv sehen und vertraut sein, z. B. mit dem Kindergebet „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“. Zur Frömmigkeit können das regelmäßige Tischgebet, der Gang zur Kirche, das Lesen eines religiösen Textes am Morgen und das Abendgebet vor dem Einschlafen gehören. So ist Frömmigkeit die persönliche Ausprägung, der eigene Stil, zu glauben, zu dem ganz persönliche Gebete und Rituale gehören können.

Spiritualität ist ein recht junges Wort und wird vielfach als offener und weiter Begriff verwendet (Zwingmann 2005), unter dem sich sehr verschiedene Überzeugungen, Lebenshaltungen und Rituale versammeln lassen. (Heller / Heller 2014)

Mit Spiritualität kann auch die persönliche Form der eigenen Religiosität gemeint sein. In diesem Sinne wäre sie verwandt mit dem Begriff des Glaubens. Unter Spiritualität kann jedoch auch verstanden werden, dass jemand eine Verbindung spürt, die über ihn hinausgeht, in der Natur, in der Kunst, in der Musik oder auch im Fußballstadion. Spiritualität kann mit einer konkreten Religion verbunden sein, muss es aber nicht.

In einer deutsch-amerikanischen Studie wurden Menschen darum gebeten, in Worte zu fassen, was sie mit Religion und mit Spiritualität verbinden. Dabei entstanden viele verschieden Wortfelder, wie die folgende Darstellung eindrucksvoll zeigt.

images

Abb.1.1: Darstellung der Wortwolken „Religion“ und „Spiritualität“ (Noth / Kohli-Reichenbach 2014, 91

images

Vergleichen Sie an dieser Stelle bitte einmal die Wortwolken mit Ihrem eigenen Verständnis von Religion und Spiritualität. Finden Sie sich dort wieder?

images

Die „Sektion Seelsorge“ der Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) definiert Spiritualität so: „Unter Spiritualität kann die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen verstanden werden, mit dem er versucht, Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenziellen Bedrohungen zu begegnen.“ (www.dgpalliativmedizin.de/images/stories/pdf/fachkompetenz/070709%20Spirituelle%20Begl%20in%20Pm%20070510.pdf, 17.05.2016)

Diese offene Form der Definition ist gewählt, weil sie sich dem Konzept von Spiritual Care verbunden fühlt. Es zeigt sich in der Praxis jedoch, dass das Wort Spiritualität wenig verwendet wird. Es ist zu technisch und mit allerlei Assoziationen verbunden, die verwirren und Skepsis erzeugen, wie „Spiritismus“. Zudem ist es ein Zungenbrecher und für viele nicht leicht auszusprechen. Das Wort möchte eine Offenheit transportieren, findet aber (noch) keinen allgemeinen Zugang in die Praxis der Pflege.

Spiritual Care (spirituelle Sorge) entstand im Kontext von Hospizbewegung und Klinik. Sie ist ein Teil von Palliative Care und trägt die Überzeugung, dass die Sorge um die spirituellen Bedürfnisse von Menschen deren Wohlbefinden fördert und ihnen hilft, die Herausforderungen von Krankheit und Sterben zu bewältigen. Die Gesundheitswissenschaften sprechen dann von Spiritualität als „Copingstrategie“ (Bewältigungsstrategie). Vielfältige Untersuchungen vor allem in den USA widmen sich den Fragen, ob Menschen, die eine Bindung an Gott oder eine höhere Macht haben, „leichter“ sterben, ob sie weniger Ängste empfinden und mit Schmerzen lindernder umgehen können. Ähnliche Untersuchungen gibt es in Deutschland. Es geht so um den Beitrag von Spiritualität zu einer besseren Lebensqualität in schwierigen, von Krankheit und Tod geprägten Lebensphasen.

Im Kontext von Palliative Care hat man es mit Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Prägung zu tun, sodass es naheliegt, ein möglichst offenes Verständnis von Spiritual Care zu finden, damit alle sich dort wiederfinden können.

1.2  Die Geschichte von Spiritual Care von Cicely Saunders bis heute

Die Hospizbewegung ist eine Bewegung, die christlich geprägt ist. Sie ist zunächst mit christlichem Ethos und von christlichen Träger / innen gestaltet und als Institution geformt worden. Cicely Saunders gilt als die Begründerin der europäischen Hospizbewegung.

Am 22. Juni 1918 in London geboren, wird sie im Laufe ihres Lebens drei Berufe erlernen, sodass sie aufgrund ihrer Persönlichkeit und Ausbildung viele Perspektiven von Palliative Care umsetzen konnte. Ihren ersten Beruf der Krankenschwester kann sie wegen eines Rückenleidens nicht lange ausüben. Sie wird medizinische Sozialarbeiterin und bleibt im Krankhaus tätig. In den 1940er Jahren wendet sie sich bewusst dem christlichen Glauben zu und fortan gehören das Gebet und das Lesen der Bibel zu ihren täglichen Ritualen. 1947 begegnet sie David Tasma, einem jüdischen Polen, der aus dem Warschauer Ghetto geflohen war. Unheilbar an Krebs erkrankt, lernt er Cicely Saunders als Patient kennen. Aus der Patientenbeziehung entwickelte sich eine intensive Freundschaft, die nur etwa zwei Monate dauern konnte. Kurz vor seinem Tod fragte David Tasma sie, ob er sterben müsse. Sie bejaht und er fragt sie, ob sie etwas wirklich Tröstliches für ihn kennen würde; es sollte etwas sein, was aus ihrem Herzen käme. So lernte sie für ihn Psalm 130 über Nacht auswendig.

Psalm 130

1 Ein Wallfahrtslied.

Aus der Tiefe rufe ich,

HERR, zu dir. /

2 Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!

3 Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?

4 Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

5 Ich harre des HERRN, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.

6 Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen

7 hoffe Israel auf den HERRN! Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.

8 Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. ( Lutherbibel 1999, AT, 621)

Als David Tasma starb, hinterließ er ihr 500 Pfund und eine Vision: „Ich werde ein Fenster sein in deinem Haus“ sagte er zu dem Vermächtnis. Es wird noch 20 Jahre dauern, bis dieses Haus, das erste Hospiz in Europa, als St. Christopher’s Hospice in London eröffnet wird.

Cicely Saunders wuchs in ihre Lebensaufgabe hinein. Freiwillig arbeitete sie zusätzlich zu ihrer Anstellung abends weiter im St. Luke’s Hospital, einer Einrichtung für Sterbende, die bereits 1893 gegründet wurde. Schmerzbehandlung und -management waren Gebiete, die ihr Interesse fanden. Um auf diesen Gebieten wirklich aktiv wirken zu können, begann sie im Alter von 33 Jahren ein Medizinstudium.

Sie forschte weiter zur Schmerztherapie und immer war für sie deutlich, dass neben der medikamentösen Bekämpfung von Schmerzen die psychische, soziale und spirituelle Begleitung wesentlich war. Offen mit Menschen, die tödlich erkrankt waren, zu sprechen, war für sie wichtig. Diese Menschen waren am Ende ihrer Lebensreise angekommen und sie wollte ihnen einen Ort bieten, an dem sie Halt finden und ihre letzten Fragen nach Sinn und Bedeutung ihres Lebens stellen konnten. Die Vision des Hospizes trug ihr Leben und Arbeiten über Jahrzehnte und wurde am 24. Juli 1967 mit dem St. Christopher’s Hospice in London Wirklichkeit. Als Direktorin leitete sie das Hospiz bis 1985. Sie starb hier am 14. Mai 2005.

Wesentliche Inspiration waren für sie immer wieder die Begegnungen mit Patientinnen und Patienten. Von ihnen lernte sie, was wesentlich war am Lebensende. So formte sich ihre Vision, einen Ort zu schaffen, an dem sterbende Menschen eine interdisziplinäre Palliative Care erfahren können und der zugleich eine Institution der Forschung und Weiterbildung sein würde. Zur ganzheitlichen Sorge gehörten auch kreative Therapieformen wie Musik- und Kunsttherapie, die Arbeit mit An- und Zugehörigen, das Angebot der Trauerbegleitung nach dem Tod der Patient / innen. Sie selber war eine gläubige Christin, mit der Haltung, dass das Hospiz eine offene Gemeinschaft der Verschiedenen sei. Sie lebte aus der Haltung ihres Glaubens heraus ohne jede Form von missionarischer Aktivität. Cicely Saunders gestaltete ihre Vision mit vielen Mitstreiter / innen zusammen und prägte eine hospizliche Bürgerbewegung, die ganz Europa ergriff.

Sie prägte die Definition von Palliative Care der Gesundheitsorganisation (WHO) in ihrer ersten Fassung von 1990 und der Überarbeitung von 2002. Dort heißt es:

„Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patient / innen und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.“ (WHO 2002, www.who.int/cancer/palliative/definition/en/, 07.06.2016)

Spiritual Care war für Cicely Saunders von Anfang an Teil ihrer ganzheitlichen Sorge um kranke Menschen. Dabei war sie „nie Methode, sondern relationales Geschehen, das herausfordert“ (Holder-Franz 2012, 89). Das bedeutet, dass sichalle im Palliative-Care-Team auch auf die spirituelle Sorge einlassen, und dass diese jede und jeden auch existenziell berühren kann. Es geht nicht um Technik, sondern um Begegnung, die auch spirituelle Fragen und Dimensionen aufnimmt. Zusätzlich sah Cicely Saunders die Bedeutung von ausgebildeten Seelsorger / innen, die zum Team dazugehörten. Sie brachten durch ihre Ausbildung und Berufserfahrung eine Expertise hinein, die „Laien“ nicht haben können. Zudem waren sie gleich zur Stelle, wenn Menschen sich in einer besonders geschützten Form der Schweigepflicht anvertrauen wollten oder religiöse Rituale anfragten.

Spiritualität gehörte zum Leben von Cicely Saunders wie das Wasser zu den Fischen. Sie pflegte ihren christlichen Glauben, sah aber zugleich in vielen pflegerischen alltäglichen Handlungen eine spirituelle Dimension. Spiritualität ist zunächst nichts, was zusätzlich durch bestimmte (geistliche) Personen in den Alltag hineingebracht werden muss, sondern etwas, was dauernd geschieht. So spricht sie wertschätzend im Rahmen der Pflege von den „Sakramenten des Wasserbechers und des Handtuchs; Sakramente, die den Glauben vieler stärken, die mit den liturgischen Sakramenten nur noch wenig anfangen können.“ (Saunders 1974, 32)

Spiritualität ist somit eine Dimension, die im alltäglichen Tun und in der Begegnung geschieht. Eine Pflegemitarbeiterin beschreibt dies bei der Grundpflege einer Bewohnerin mit einer schweren Demenz:

BEISPIEL

Ein Erfolgserlebnis

Eine schwer demenzkranke Bewohnerin lässt nur schwer Körperpflege zu: Sie läuft meistens weg und wird sehr unruhig; sie wird dann auch laut und wiederholt meistens auch die gleichen Laute, die ich nicht verstehe. Bevor ich heute zu der Bewohnerin reingehe, versuchte ich mich erst mal zu sammeln bzw. ruhig zu werden und entspannt reinzugehen. Die Bewohnerin nahm das sehr gut an und ließ die Grundpflege zu.

Durch das (oder mein) beruhigtes Auftreten konnte ich die Bewohnerin in der Grundpflege versorgen. Sie sagte dann auch „Mama“ zu mir. Das hat mich sehr berührt und war für mich ein Erfolgserlebnis.“ (Logbucheintrag einer Teilnehmer / in des Forschungsprojektes „Spirituelle Begleitung von Menschen mit Demenz im Kontext von Palliative Care im Altenpflegeheim“.)

Cicely Saunders bekam vielfach Dank von Gästen und Angehörigen des Hospizes für die spirituelle Qualität der Begegnungen, die sie dort erfahren haben.

„Vor nicht allzu langer Zeit wartete ich in unserer Empfangshalle, die unweit von unserer Kapelle ist. Ich sah, wie ein Mann eine Kerze in der Kapelle anzündete. Anschließend kam er auf mich zu und dankte mir für die Hospizarbeit und fügte hinzu. „Meine Frau war hier sehr glücklich.“ Es ist ein Ort, an dem das „Sakrament des Bechers kalten Wassers und das der Fußwaschung immer wieder praktiziert werden – oft von Menschen, deren Dienst einfach die Pflege ist, ohne erklärte und anerkannte geistliche Bindung. Diese Haltung der gegenseitigen Zuwendung vermittelt allen, dass sie willkommen sind.“ (Saunders 2003, 67)

In der Begleitung von Menschen mit Demenz sieht Cicely Saunders eine große Herausforderung. „Fortschreitende Demenz bei Menschen, die man liebt, über Jahre hinweg aushalten zu müssen, das ist wohl eine der schlimmsten Arten, ihrem Tod zu begegnen.“ (Saunders 1984, 48)

Dieser Herausforderung stellt sich jedoch erst mit einem grundsätzlichen Ansatz die Wiener Psychologin und Ärztin Marina Kojer (2009), die als Begründerin der Palliativen Geriatrie gilt. Im Rahmen eines Modellprojektes entwickelte sie ab 1997 ein spezielles Pflege- und Begleitungskonzept. Sie integrierte Validation, Elemente der Basalen Stimulation und Instrumente spezieller Schmerzerfassung in die Pflege von Menschen mit Demenz. Ausgangspunkt ihres Engagements war das Gefühl, dass etwas grundsätzlich nicht stimmte in der Pflege und Begleitung und dass vieles von dem, was man tat, an den betroffenen Menschen vorbeizog. (Kojer 2009, 25 ff.)

Spiritual Care findet sich als Dimension in ihrem Konzept der Palliativen Geriatrie jedoch lange nicht. Erst in einem Interview mit Christian Metz im Jahr 2015 hebt sie die Bedeutung der spirituellen Begleitung hervor. Sie sieht in ihr Gottesdienstqualitäten im Alltag, die in der Beziehung zwischen Menschen mit und ohne Demenz geschehen und die wichtigen Bedürfnisse nach Halt, Schutz und menschlicher Bezogenheit unterstützen. Spiritual Care ist für sie unmittelbare menschliche Zuwendung, die von Herz zu Herz geschieht. (Metz / Kojer 2015)

Nicht als Spiritual Care benannt, sondern als konfessionelle Seelsorge für alte Menschen mit Demenz, entstanden seit den 1990er Jahren Konzepte und konkrete Entwürfe für die christliche seelsorgerliche Begleitung durch Andachten und Gottesdienste. Sie sind geprägt von vertrauten Texten, Liedern und Ritualen, kurzen Textbeiträgen und sinnlicher Umsetzung von Leitgedanken. Glaubensäußerungen sollen in ihrer Vertrautheit erscheinen. Symbole und Bilder werden gezeigt und in die Hände gegeben, z. B. durch das Nehmen von Brot, Blumen, Steinen, Blättern oder Krippenfiguren.

Depping 2008