Der Bergpfarrer – 198 – Auf den Spuren des Glücks

Der Bergpfarrer
– 198–

Auf den Spuren des Glücks

Gibt es eine gemeinsame Zukunft?

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-980-0

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»Sie lebt in St. Johann im Wachner-Tal, sagen Sie?« Die junge Frau sah den Privatdetektiv hinter dem mit Papieren, leeren Zigarettenschachteln und allerlei anderen Dingen überhäuften Schreibtisch fragend an. »Und Sie sind sicher, dass diese Frau Trescher … ich meine …«

Der Detektiv nickte ernst. »Ich bin absolut sicher, Frau Lohwasser.« Er setzte seine Lesebrille auf und fügte, einen Aktenordner aufschlagend, hinzu: »Ihre leibliche Mutter heißt also, wie ich schon sagte, Annemarie Trescher. Sie ist eine geborene Meßmer und seit vierundzwanzig Jahren mit dem Landwirt Hans Trescher verheiratet, der einen mittelgroßen Hof am Ortsrand von St. Johann bewirtschaftet.« Der Privatdetektiv machte eine kleine Pause und fixierte über den dunklen Rand seiner Brillengläser hinweg für einen Moment sein Gegenüber. »Und das schon in der vierten Generation«, fuhr er fort. »Die allerdings, wie es aussieht, auch die letzte sein dürfte. Die Ehe ist nämlich kinderlos. Und in Anbetracht des Alters Ihrer Mutter und Hans Treschers, der bereits auf die sechzig zugeht, ist wohl kein Nachwuchs mehr zu erwarten.«

Franziska Lohwasser saß mit zusammengepressten Lippen. Ihre Miene wirkte angespannt, ließ aber im Übrigen keinerlei Gefühlsregung erkennen.

»Schön. Sie haben eine ganze Menge herausgefunden«, bemerkte sie nach einer Weile anerkennend. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Herr Vollmer.« Sie strich sich eine Strähne ihrer dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und richtete dann ihren Blick an Manfred Vollmer vorbei unverwandt auf die weißgetünchte Wand hinter seinem Schreibtisch, als wolle sie mit ihren Augen die Mauer durchdringen. »Seit dem plötzlichen Unfalltod meiner Adoptiveltern ist es mir mehr und mehr ein Herzensbedürfnis geworden, nachzuforschen, wo meine Wurzeln liegen«, sagte sie wie zu sich selbst. »Und zu erfahren, warum meine Mutter sich unmittelbar nach meiner Geburt von mir getrennt und mich zur Adoption freigegeben hat. Je mehr ich nämlich darüber nachdenke, desto weniger kann ich begreifen, wie eine Frau, auch wenn sie sehr jung und selber fast noch ein Kind ist, ihr Neugeborenes von sich stoßen und es einer ungewissen Zukunft überlassen kann.«

Der Privatdetektiv fuhr sich mit der Hand mehrere Male über sein schlecht rasiertes Kinn.

»Sie sind achtundzwanzig Jahre alt, Frau Lohwasser«, sagte er dann. »Vor nahezu drei Jahrzehnten dürfte es in einem kleinen Ort wie St. Johann nicht einfach gewesen sein, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen. Die moralischen Vorstellungen waren damals um einiges strenger als heute. Ledige Mütter wurden schief angeschaut und ausgegrenzt. Sie konnten meist nicht einmal bei den eigenen Eltern auf Verständnis hoffen.«

Franziska Lohwasser schwieg betreten.

»Aber die Leute in St. Johann müssen doch von der Schwangerschaft meiner Mutter gewusst haben«, wandte sie nach ein paar Minuten des Überlegens ein. »So etwas lässt sich schließlich, zumindest in den letzten Monaten, nicht mehr verbergen. Es hätte also wohl kaum eine Rolle gespielt, wenn …«

Manfred Vollmer zog die Augenbrauen hoch. »Sie gestatten, dass ich rauche?«, unterbrach er Franziska, während er bereits nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug griff.

Franziska Lohwasser nickte zerstreut.

»Ihre Mutter hat Sie in Agatharied im Chiemgau zur Welt gebracht«, ergriff er, eine ansehnliche Rauchwolke in die ohnehin schon reichlich stickige Luft seines Büros blasend, schließlich wieder das Wort. »Sie hat, die ersten Wochen nach ihrer Niederkunft mit eingerechnet, fast ein Dreivierteljahr in diesem kleinen Ort gelebt. Auf dem Hof einer gewissen Erna Meßmer, einer entfernten Verwandten väterlicherseits.«

Franziska stutzte einen Moment.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Vollmer, heißt das, meine leibliche Mutter wurde, ehe man ihr ihren Zustand hätte ansehen können, einfach fortgeschickt«, sagte sie ungläubig. »Nicht gerade in die Wüste, aber zumindest in eine Gegend, die ihr fremd war. Zu Menschen, die sie möglicherweise kaum oder gar nicht kannte.«

»So ist es«, bestätigte der Detektiv. Er suchte nach dem Aschenbecher, den er allerdings in dem Tohuwabohu auf seiner Schreibtischplatte nicht finden konnte, sodass er sich nach kurzem Zögern mit einem leeren Whiskyglas begnügte. »Eine ledige junge Mutter bis zu ihrer Niederkunft zu irgendwelchen Verwandten zu schicken, war damals übrigens nichts Außergewöhnliches. Sondern ein durchaus gebräuchlicher Weg, den Ruf der Familie und vor allem den des betroffenen jungen Mädchens zu retten«, setzte er hinzu.

In Franziska Lohwassers Augen spiegelte sich noch immer Skepsis.

»Und mein Vater?«, fragte sie schließlich. »Konnten Sie auch über meinen Vater etwas in Erfahrung bringen, Herr Vollmer?«

Der Detektiv warf einen Blick in seine Akten, als müsse er sich zuerst noch einmal vergewissern, dann erwiderte er: »Leider nein, Frau Lohwasser. Wer Ihr Vater ist, kann ich Ihnen nicht sagen. So wie es aussieht, kann Ihnen das wohl nur Ihre Mutter selbst verraten.« Manfred Vollmer räusperte sich, befeuchtete seinen Zeigefinger an seiner Zunge und blätterte ein wenig in dem vor ihm liegenden Ordner herum. »Außer der auf dem Standesamt gemachten Angabe ›Vater unbekannt‹ konnte ich bei meinen Recherchen nicht das Geringste herausbekommen. So sehr ich mich auch bemüht habe.«

Franziska zuckte mit den Schultern. »Schade, dann eben nicht«, meinte sie, wenn auch mit leisem Bedauern in der Stimme. »Was Sie mir bis jetzt mitgeteilt haben, war im Grunde ohnehin schon mehr als ich erwartet hatte.« Unschlüssig spielte sie eine Weile mit dem Trageriemen ihrer Handtasche, dann fragte sie unvermittelt: »Wo liegt eigentlich dieses Wachnertal? Und dieses St. Johann?«

In ihre Wangen stieg eine leichte Röte, weil sie sich ihrer geographischen Unkenntnis schämte, doch der Detektiv schien sich nicht daran zu stören.

Er nahm einen mit Kaffeeflecken verunzierten Zettel und einen Kugelschreiber zur Hand und schien eine kleine Karte zu zeichnen.

»Wenn Sie von München aus in südöstliche Richtung fahren«, erklärte er, während er einen Kreis für München und einen Strich mit Pfeil für die zu benutzende Straße zeichnete.

Mit einem Schlag unterbrach er sich, denn erst in diesem Moment wurde ihm klar, was Franziskas Frage zu bedeuten hatte.

»Sie … Sie wollen Ihrer Mutter doch wohl keinen Überraschungsbesuch abstatten?«, vergewisserte er sich.

»Nein. Das heißt ja. Warum eigentlich nicht?«, druckste Franziska herum, durch die kritische Miene ihres Gegenübers verunsichert.

Manfred Vollmer ließ den Kugelschreiber sinken und nahm seine Lesebrille ab, um Franziska besser in die Augen sehen zu können.

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Frau Lohwasser, würde ich mir an Ihrer Stelle das noch einmal reiflich überlegen«, gab er zu bedenken. »Es könnte nämlich gut sein, dass Sie durch Ihr plötzliches Auftauchen eine Situation heraufbeschwören, die für keinen der Beteiligten besonders erfreulich ist.«

Franziska prallte zurück.

»Wieso? Was meinen Sie damit?«, fragte sie.

Der Detektiv betrachtete sie prüfend.

»Nun ja«, erwiderte er, nachdem er eine neue Rauchwolke in die Luft gepafft hatte, »das liegt eigentlich auf der Hand. Es könnte doch immerhin sein, dass Hans Trescher über das Vorleben seiner Frau nicht unterrichtet ist. Und wenn Sie plötzlich auftauchen und sich als Annemarie Treschers Tochter vorstellen …«

Franziska nickte.

»… bringe ich meine Mutter möglicherweise in eine ziemlich schwierige Lage«, vollendete sie Manfred Vollmers Satz.

»Eben«, bestätigte der Detektiv. »Und deshalb schlage ich Ihnen vor, erst einmal telefonisch Kontakt mit Ihrer Mutter aufzunehmen. Sie können dann, sobald Sie Annemarie Trescher am Apparat haben, ungestört sagen, wer Sie sind und zum Beispiel ein Treffen vereinbaren. Ihre Mutter hat dann ausreichend Zeit, sich mit der neuen Situation vertraut zu machen. Und gegebenenfalls mit ihrem Mann über alles zu reden und reinen Tisch zu machen.«

Franziska seufzte.

Was Manfred Vollmer ihr riet, klang durchaus überzeugend. Aber was, um Himmels willen, sollte sie ihrer Mutter, wenn sie ihr bei ihrem ersten Gespräch nicht einmal in die Augen sehen konnte, denn sagen? Vielleicht »Hallo, Mama, ich bin Franziska Lohwasser, deine Tochter, die du zur Adoption freigegeben hast. Ich würde dich wahnsinnig gerne einmal sehen und mit dir sprechen. Wenn es dir genauso ergeht, treffen wir uns doch einfach irgendwo. In einem Café oder Gasthof in St. Johann zum Beispiel. Ich trage eine Zeitung unter dem Arm und einen grünen Hut auf dem Kopf. Falls es dich nicht stört, kannst du es genauso machen.«? Unwillkürlich schüttelte Franziska den Kopf. Das ging doch nicht. Das war doch einfach lächerlich. So konnte man sich vielleicht mit einer Zeitungsannoncen-Bekanntschaft verabreden, aber auf keinen Fall seine leibliche Mutter kennenlernen.

»Ich weiß nicht so recht, Herr Vollmer«, wandte sie schließlich ein. »Wäre es nicht besser, meiner Mutter einen Brief zu schreiben?«

Der Privatdetektiv drückte seine Zigarette am Rand des Whiskyglases aus, hob dann ein wenig gekränkt die Hände und ließ sie wieder sinken.

»Wie Sie meinen, Frau Lohwasser«, entgegnete er. »Ich möchte Sie nicht bevormunden. Aber ich gebe zu Bedenken, dass das Briefgeheimnis unter langjährigen Eheleuten nicht immer respektiert wird. Sollte Ihr Schreiben also Herrn Trescher in die Hände fallen, könnten sich ähnliche Schwierigkeiten ergeben, wie bei einem überraschenden Kurzbesuch ihrerseits in St. Johann.«

Franziska seufzte ein zweites Mal.

Worauf hatte sie sich da eigentlich eingelassen? Sie hatte geglaubt, das Hauptproblem wäre, ihre Mutter ausfindig zu machen, und nun …

»Schon gut«, wiegelte sie ab. »Ich danke Ihnen jedenfalls nochmals ganz herzlich für Ihre Bemühungen, Herr Vollmer.« Sie nestelte am Verschluss ihrer Tasche. »Soll ich Sie gleich bezahlen oder wollen Sie mir eine Rechnung schreiben?«

»Ich werde Ihnen eine Rechnung zusenden«, antwortete Manfred Vollmer mit einem Lächeln, in dem, wie es Franziska schien, große Vorfreude auf sein Honorar lag. »Und übrigens«, hakte er, als Franziska sich bereits erhob, noch einmal nach, »die Telefonnummer des Trescher-Hofs habe ich bereits für Sie notiert.« Diesmal reichte er Franziska eine schmuddelige Weihnachtskarte, auf der er in steiler Schrift Annemarie Treschers Adresse nebst Festnetznummer festgehalten hatte.

Franziska steckte die Karte in ihre Handtasche, bedankte sich ein letztes Mal und verließ Manfred Vollmers Büro.

Dabei stellte sie fest, dass sie noch genauso nervös war wie vor einer halben Stunde, als sie den stickigen kleinen Raum mit klammen, feuchten Händen und einem Kribbeln im Bauch betreten hatte.

»Annemarie Trescher«, murmelte sie ein paar Mal vor sich hin und forschte in sich hinein, doch in ihrem Kopf und ihrem Herzen regte sich nichts.

Trotz der erfolgreichen Arbeit des Privatdetektivs machte sie ein unglückliches Gesicht.

Wäre es vielleicht besser gewesen, gar nicht nach ihrer Mutter zu forschen?

*

Es war ein langer Tag gewesen, und obwohl Franziska ihre Arbeit als Tierpflegerin liebte, fühlte sie sich rechtschaffen müde, als sie die Treppen zu ihrer kleinen Altbauwohnung im Stuttgarter Ortsteil Cannstatt hinaufstieg.

Ihre Jacke und ihre Handtasche abwerfend betrat Franziska die Wohnküche, in der sich der Großteil ihres häuslichen Lebens abspielte, zog die Vorhänge zu und spähte in den Kühlschrank, aus dem ihr wieder einmal nur Leere und kalte Luft entgegengähnte.

Sie beschloss, sich einen Kaffee zu machen und kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Keksen oder einer Tafel Schokolade, wobei ihr die Weihnachtskarte des Privatdetektivs mit Adresse und Telefonnummer ihrer Mutter in die Hände fiel.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Franziska die Karte.

Einen Moment lang kam es ihr beinahe so vor, als liege der Besuch in Manfred Vollmers Büro nicht einen halben Tag, sondern ein halbes Jahr zurück, so sehr hatten ihre Arbeit und die Ereignisse des Tages sie in Anspruch genommen.

Aber schneller als Franziska gedacht hatte, waren die gespannte Erwartung und auch das flaue Gefühl in der Magengrube wieder da.

Die Süßigkeiten waren vergessen, der Hunger ebenfalls. Und die Kaffeemaschine blubberte unbeachtet vor sich hin.

Sollte sie es gleich einmal versuchen und die angegebene Nummer wählen?

Kurz entschlossen griff Franziska zum Telefon, doch am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand.

Franziska schwankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung.

Unsicher und mit zitternden Fingern legte sie auf und schaltete nach einigen Minuten des Zögerns ihren Laptop ein.

Angespannt tippte sie »St. Johann im Wachnertal« in die Suchmaschine ein.

Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurde.