Inhalt



Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Danksagung

Impressum




© 2018, hansanord Verlag


Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.


ISBN: 978-3-947145-14-0


Für Fragen und Anregungen: info@hansanord-verlag.de


Logo_hansanord_pos_180


hansanord Verlag

Johann-Biersack-Str. 9
D 82340 Feldafing
Tel.:  +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
info@hansanord-verlag.de
www.hansanord-verlag.de

 




John Kiru


RUBINROTES VERMÄCHTNIS


Lost Inside Cambodia


 

 

 

 

über den Autor


Geboren 1967. Während dieser Zeit eskaliert der Krieg in Vietnam. Ende der 1970er-Jahre wird das damals sechsjährige vietnamesische Flüchtlingskind Nga Nguyen aus Saigon in der Familie des Autors aufgenommen, wächst dort zusammen mit ihm auf und besucht eine deutsche Schule. 

John Kiru ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers und Sachbuchautors. Nach dem Fachabitur absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Danach arbeitete er drei Jahre als Bankangestellter. In der Folge war er Firmengründer und Inhaber zahlreicher unterschiedlicher Unternehmen. Außerdem war er als Bauunternehmer, Sachverständiger, Hubschrauberpilot und Hausverwalter tätig.

Sämtliche Schauplätze der Handlung des Romans sowie Teile der Handlung selbst sind fundiert recherchiert und dem Autor teilweise aus eigener Anschauung bekannt. Als aktiver Hubschrauberpilot wurde bei der Darstellung der entsprechenden Szenen auf Authentizität großen Wert gelegt. Die Idee und die ersten Kapitel des Manuskriptes entstanden auf der Atlantikinsel La Palma.

Autorenwebsite unter www.john-kiru.com

Danksagung



Ganz herzlich möchte ich jenen Menschen danken, die mich tatkräftig dabei unterstützt haben, um dieser Geschichte ihre endgültige Fassung zu verleihen. 

Ganz oben auf meiner Dankesliste steht meine Lebensgefährtin Susanne. Sie muss meine kreativen Phasen aushalten, die mich manchmal beim Schreiben überkommen. Außerdem ist sie regelmäßig meine erste Leserin. Ihr geschulter und kritischer Blick unterstützt mich beim erfolgreichen Vorankommen. 

Mein Dank gilt auch Dorothee, meiner zweiten regelmäßigen Leserin. Es ist keine Selbstverständlichkeit, ein Manuskript immer und immer wieder durchzulesen, um eine andere Sichtweise und somit einen neuen Blickwinkel auf inhaltliche Details zu erhalten.      

Ganz herzlich danken möchte ich auch Elisabeth Kruse, meiner Lektorin, die mich sehr konstruktiv unterstützte. Sie haben mir sehr viel beigebracht, was das Schreiben betrifft. Vielen Dank für Ihr geschultes Auge und die professionelle Zusammenarbeit. Danke für Ihre Klugheit, Ihre Freundlichkeit, Ihre Geduld und vor allem für Ihren ausgesprochenen Humor. Sie haben dies zu einer wundervollen Erfahrung für mich gemacht und ich freue mich außerordentlich, mit Ihnen auf allerhöchstem Niveau zusammengearbeitet zu haben. 

Außerdem danke ich meiner neuen Lektorin, Birgit Rehaag, die zwar erst spät hinzukam, doch stets Unterstützung gewährte, wenn ich sie brauchte.



„Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind ein günstiger.“ 

(Lucius Annaeus Seneca)

Kapitel 1



Fast hätte es Chris erwischt. Durch das aggressive Hupen eines vorbeirauschenden Autos aufgeschreckt, sprang er in letzter Sekunde zur Seite. Der Geruch von verbranntem Reifengummi lag in der Luft und kroch ihm in die Nase. Oh Gott! Das war knapp. Den Wagen hatte er einfach nicht gesehen. „Tut mir leid!“, rief er mit erhobener Hand dem Fahrer hinterher und ging weiter.

In Tagträume versunken, schlenderte Chris an diesem sonnigen Samstagmorgen die Del Monte Avenue entlang, Richtung Cabrillo Highway, zu seinem Lebensmittelpunkt in Monterey, Kalifornien: Randy`s Diner. In dem Restaurant arbeitete er schon seit fast fünfzehn Jahren, mit Unterbrechungen.

Wäre es nach seinem Vater gegangen, hätte er im Leben alles erreichen können, gemessen an den Maßstäben, die sein Vater vorzugeben vermochte. Aber es ging nicht nach seinem Vater, denn Chris hatte seinen eigenen Kopf. Und gerade deshalb hatte er es mit seinen einunddreißig Jahren nur zum Barkeeper und Kellner gebracht und war nicht Unternehmer oder Arzt geworden.

Dass Chris an diesem Tag zu Fuß unterwegs war, hatte einen Grund. Er war mal wieder völlig pleite. Nicht einmal Benzin konnte er sich leisten und somit blieb sein Auto mit leerem Tank im West End, nahe seiner kleinen Wohnung vor einem Surfbrett-Verleih stehen.

Es war ein typisch kalifornischer trockenwarmer Tag im November 1981. Vor wenigen Monaten hatte Ronald Reagan die Amtsgeschäfte seines Vorgängers Jimmy Carter übernommen und die Raumfähre Columbia war zum zweiten Mal ins All gestartet. Chris seufzte. Eines Tages würde auch er senkrecht durchstarten! Aber leider war dieser Tag eben nicht heute. Doch er würde kommen, davon war er überzeugt!

***

Vor Randy’s Diner stehend fragte sich Kate, was sie sich bei der Sache eigentlich gedacht hatte. Sie war mehr als zweitausend Meilen unterwegs, nur um einen Mann zu treffen, der nie erfahren durfte, wer sie wirklich war. Wollte sie ihn tatsächlich ansprechen? Was würde sie sagen?

Als sie eintrat, blickte sie sich zaghaft um, in der stillen Hoffnung, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

***

Als Chris kurze Zeit später den Diner betrat, spielte die Juke-Box Physical von Olivia Newton-John, was ihn sofort zu einem Hüftschwung animierte. Er lächelte.

„Hat dein Wecker den Geist aufgegeben?“, rief Randy entnervt hinter der Theke hervor.

„Ich bin höchstens fünf Minuten zu spät, keine Sekunde mehr!“, erwiderte Chris.

Mit breitem Grinsen und gerunzelter Stirn hob er die Hände zu einer entschuldigenden Geste und hüpfte tanzend zur Musik an Randy vorüber.

„Aha, Getriebeprobleme?“, brummte der Chef.

„Nein, kein Treibstoff!“, antwortete Chris frech.

„Na klar, was sonst? Wie konnte ich vergessen, dass es keine Tankstellen mehr gibt!“

Chris verabschiedete sich in den Abstellraum hinter dem Tresen, um sich schnell umzuziehen.

„Jeden Tag ist‘s was anderes ...“, rief Randy ihm hinterher, nahm ein Handtuch, drehte sich um und widmete sich wieder seiner geliebten Kaffeemaschine.

Glücklicherweise war nicht viel los, denn solche Sprüche vom Chef, in denen auch ein Körnchen Wahrheit steckte, musste Chris nicht unbedingt vor Gästen hören. Schnell zog er sich um und huschte erneut an Randy vorbei, um ein paar Tische abzuräumen.

Als er von einem der Tische aufblickte, sah er sie zum ersten Mal: Rechts außen an der Theke saß eine Frau auf einem der silbernen Metallhocker vor einer randvoll gefüllten Tasse Kaffee. Ihr langes, dunkles Haar trug sie offen. Die Tür des Lokals war einen Spaltbreit geöffnet, lauer kalifornischer Wind spielte mit ihren Haaren, was sie regungslos hinnahm. Sie schien kaum älter als er zu sein, vielleicht Anfang bis Mitte dreißig. Ihr Blick ging ins Leere. Chris hatte das Gefühl, die Zeit würde für einen Moment stillstehen, während er sie betrachtete.

„Los, schnapp dir endlich einen Bestellblock und befördere deinen Arsch auf die Terrasse!“, machte Emma ihn grinsend von der Seite an, während sie mit einem Tablett voller Geschirr an Chris vorüberhuschte und ihn aus seinen Gedanken riss. „Deine Gäste haben nicht ewig Zeit“, setzte sie nach.

Emma war Kumpel und Schwester-Ersatz zugleich und wie Chris arbeitete sie bereits seit mehreren Jahren bei Randy. Sie wusste genau, wie Chris tickte. Dass er Ansagen brauchte und sonst in Tagträumen zu versinken drohte.

Chris hatte sich damit abgefunden, dass sein Leben in den Augen anderer ein ständiges Chaos war. Und irgendwie hatten sie recht. Doch wie er in Wahrheit war, wusste niemand. Für die Kollegen und Gäste mimte er den Spaßvogel, aber das war die Fassade, die das abschirmte, was wirklich in ihm vorging. Niemand hätte vermutet, dass er seit vielen Jahren nicht mit sich ins Reine kam.

Außer der anziehenden Frau am Tresen war an diesem Samstag alles so wie sonst auch. Gegen Mittag erwärmte die kalifornische Sonne die trockene Luft auf etwa 22° C und in der Ferne hörte Chris die Möwen kreischen, und die Seelöwen aalten sich auf dem Rücken liegend im Pazifik, von dessen hellblauer Oberfläche die Sonnenstrahlen schier endlos reflektiert wurden. Von der Sonnenterrasse aus konnte man den Strand gut beobachten, was auch die Gäste zu schätzen wussten.

Monterey war eigentlich kein klassisches Urlaubsziel. Abenteurer zog es meist in die Großstädte Los Angeles oder San Francisco. Manche folgten der Hippie-Bewegung, andere wiederum fühlten sich zum Schauspieler berufen und folgten ihrem Traum Richtung Hollywood. Eigentlich wollte Chris ursprünglich auch nach Südkalifornien. 1966 strandete er jedoch – damals auch schon aufgrund akuter Geldnöte – in dieser verschlafenen Küstenstadt direkt am berühmten 17-Mile Drive, welcher eine atemberaubende Sicht auf den Pazifik bot.

Wenn man dieses Naturwunder erfahren wollte, brauchte man vor allem eines: Viel Zeit, um sich darauf einzulassen. Die Klippen, die donnernden Wellen, der Geruch von Pinien und Zypressen, die Nebelfetzen über dem Meer und der Salzwasserdunst auf der Haut. Dies alles hatte nicht nur im Sommer seinen ganz besonderen Reiz. In den Wintermonaten war die See öfter rau und stürmisch, aber die Tagestemperaturen nur minimal geringer als im Sommer. Und es war immer atemberaubend schön hier.

Chris mochte diese Gegend mit all ihren Facetten. Nach vielen Jahren war er hier sesshaft geworden und endlich hatte er wieder das Gefühl, irgendwo hinzugehören.

 

Das vertraute Zischen gegrillter Burger holte Chris in die Gegenwart zurück. Ihm gefiel sein Job. Das Gefühl, dass die Gäste ihn mochten: Ja, er brauchte dieses gute Gefühl, Anderen zu gefallen. Wirklich.

***

Die ganze Zeit beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Ok, seine Kleidung war akzeptabel, Bluejeans, weiße Nike-Turnschuhe mit rotem Logo und ein neongrünes T-Shirt mit hellen Streifen. Kate entging kein Detail. Er war groß, schlank und sportlich. Seine dunklen Augen und sein gepflegtes Äußeres ließen ihn sehr attraktiv erscheinen. Kein Wunder, dass er Frauen faszinierte. Aber verfügte er auch über andere Qualitäten? Wie war es um seine Zuverlässigkeit bestellt? Pünktlichkeit war ja nicht gerade eine seiner Stärken. Erneut fragte sie sich, ob es die richtige Entscheidung war, hier einfach so aufzukreuzen. Sie musste ihn kennenlernen, aber wie?

***

„Gehen wir später ins JUICE noch etwas trinken?“, rief Emma am Spätnachmittag in die Runde, während sie in die Küche kam und auf dem linken Arm drei Teller balancierte. Jimmy, der kubanische Koch, stimmte sofort zu. Chris hingegen hatte keinerlei Ambitionen auf After-Work-Gespräche: „Sorry, ihr müsst heut` ohne mich los, ich muss zu meinem Wagen ...“

Chris hatte keine Lust, nach einem Drink mit den Kollegen noch den weiten Weg bis zum West End zurückzulaufen. Außerdem hatte er noch keinen Plan, wie er das Auto ohne einen Cent in der Tasche zum Weiterfahren bewegen könnte.

Er verließ die Küche wieder und begann, einen Tisch abzuräumen. Die ganze Zeit hatte er das Gefühl, von der unbekannten Frau beobachtet zu werden. Mehrmals trafen sich ihre Blicke. Hatte er ihr Interesse geweckt?

Als das Lokal sich zu leeren begann, fiel Chris auf, dass die geheimnisvolle Frau verschwunden war. Bedauerlich.

Er nutzte die zunehmende Ruhe, um sich auf die Terrasse zu schleichen und einen Blick auf den Ozean zu werfen. Eigentlich sollte er langsam die Sonnenschirme einsammeln und festbinden! Aber er genoss es erst mal, alleine zu sein. Naja: Allein mit zwei Gästen, einem offensichtlich frisch verliebten Pärchen, das mit sich selbst so sehr beschäftigt war, dass es ihn nicht wahrnahm. Randy konnte ihn hier auch nicht sehen, eine ideale Situation für Chris, um sich ein wenig zu entspannen ...

Es war ein wundervoller Abend. Mit beiden Ellbogen lehnte er auf dem Geländer und verschränkte seine Hände zu einer Faust. Sein Blick schweifte über die Endlosigkeit des Meeres. Durch die untergehende Sonne färbte sich der Horizont erst graublau, bevor er in ein Gelborange überging. Alles war so friedlich, auch die Geräusche in der Küche wurden jetzt immer leiser und in der Ferne sah man, wie sich die Segel der hinausfahrenden Fischerboote in der Brise neigten. Wie schön wäre es jetzt, wieder dort zu sein, dachte er. Auf der anderen Seite des Ozeans. Es war eine so wundervolle Zeit damals ...

 

Als gegen 22 Uhr die letzten Gäste das Haus verließen, hatte Emma bereits damit begonnen, Tische und Stühle zusammenzuschieben, um Tracey, der stillen Küchenhilfe, beim Abwasch zu helfen. Dann endlich brachen Emma und Jimmy zum JUICE auf und Chris konnte über den Highway zurück Richtung Del Monte Avenue laufen. Wäre er bloß nicht die ganze Woche sinnlos mit dem Auto herumgefahren! Aber genau das verschaffte ihm ein Gefühl von Freiheit. Er wusste, dass der leere Tank sein eigenes Verschulden war. Natürlich. Aber er wollte darauf nicht verzichten und deshalb auch keine Kompromisse machen!

Wie am Vormittag brausten die Fahrzeuge rücksichtslos an ihm vorüber. Die Scheinwerfer des Gegenverkehrs blendeten ihn und immer wieder wurde er zum Stehenbleiben gezwungen. In Höhe des Del Monte Beach legte sich der Verkehr. Dort blieb Chris stehen und richtete seinen Blick ein weiteres Mal auf den schier endlosen Ozean, den er so sehr liebte. Es roch nach salziger Luft, die Boote im Hafen neigten sich im Bodennebel gemächlich hin und her und in der Ferne sah er die Lichter der Küstenvillen zwischen haushohen Zypressen. Alles erschien so friedlich.

Plötzlich übte der Pazifik eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Dieses Gefühl war ihm nicht fremd. Er genoss den kurzen Moment, diesen Augenblick der Sehnsucht, des Alleinseins, der Erinnerung – aber auch des Vergessens.

Spontan beschloss er, an den Strand zu gehen. Als er seine Schuhe ausgezogen hatte, streifte er den Kopfhörer seines Walkman auf und legte eine Kassette der Rockband Foreigner ein. Über die Dünen lief er langsam weiter und blieb am Sandstrand wieder stehen.

Es war eine ruhige Vollmondnacht und die Helligkeit des Mondes ließ das Wasser glitzern. Er spürte ... fühlte etwas, konnte es zunächst nicht richtig deuten. War es diese niemals endende Sehnsucht? Das Lied auf seiner Kassette klang aus. Kurze Stille. Dann vernahm er leises Rauschen. In der sanften Kühle dieser Novembernacht beförderte der kleine rechteckige Kasten nun langsam, aber zielgenau die leisen und zarten Klänge des nächsten Liedes – Waiting for a girl like you – in sein Gehör. Er schloss seine Augen, atmete tief durch und ließ sich auf die Musik ein ...

„So long ..., I`ve been looking too hard, I`ve been waiting too long ...”

„Sometimes I don`t know what I will find ...”

Gänsehaut überzog seinen gesamten Oberkörper. Überwältigt von seinen Empfindungen, wurde er wieder von dieser tiefen Sehnsucht ergriffen ... dieser Sehnsucht nach ihr!

„When you love someone..., it feels so right, so warm and true,

I need to know if you feel it too ...”

Hier am Rand des Ozeans war er der Liebe seines Lebens am nächsten. Eigentlich wollte er alles vergessen, aber so sehr er es sich auch wünschte, es gelang ihm nicht. Immer wieder wurde er Opfer seiner quälenden Erinnerungen. Er konnte sich nicht dagegen wehren, fühlte sich als Versager, so wie es ihm sein Vater vor langer Zeit einmal vorgeworfen hatte. In diesem Moment liefen ihm Tränen über sein Gesicht und durch den auffrischenden Wind spürte er die Kälte des Alleinseins noch stärker als sonst.

„I`ve been waiting for a girl like you, to come into my life ...“

Während er sich die Tränen aus dem Gesicht wischte, sank er auf die Knie und berührte mit beiden Händen den kühlen, feinsandigen Boden. Dieses Lied hatte ihn in seinen Bann gezogen. Wütend ballte er seine Hände zu einer Faust. Die Schatten der Vergangenheit drangen in seinen Kopf, als er an jenen Tag dachte, an jene Stunden, die alles zerstört hatten. Den Tag, an dem alles zu Ende ging. Er hatte nicht aufgepasst! Er war ... er war einfach zu nachlässig gewesen an diesem Tag. Er war unvorsichtig gewesen! Das würde er sich nie verzeihen! Konnte er jemals wieder glücklich sein?

Als kurz vor Mitternacht das Klicken seines Kassettenrecorders das Ende des Bandes signalisierte, war es plötzlich ganz still. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Er fühlte sich schwach und müde. Entschlossen blendete er seine Gefühle aus und lief zurück zur Straße, wo seine Schuhe standen. Nach weiteren fünfunddreißig Minuten erreichte er schließlich seinen Wagen, stieg ein und ließ die Fahrertür mit einem kräftigen Ruck ins Schloss fallen. Er war wieder in der Realität angekommen. Endlich.

Um die stickige Luft im Innenraum entweichen zu lassen kurbelte er die Scheibe der Fahrertür herunter und überlegte, wie es weitergehen könnte. Geld hatte er keines und obwohl eine Tankstelle in unmittelbarer Nähe noch geöffnet war, wusste er nicht, welche Geschichte er dem Tankwart auftischen sollte, damit dieser ihm wenigstens eine einzige Gallone Sprit überließ.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Chris zuckte zusammen. Neben seinem Wagen stand plötzlich die Frau aus dem Diner.

„Ich dachte, Sie haben vielleicht ein Problem“, fügte sie durch das geöffnete Fenster entschuldigend hinzu.

„Ja, sieht so aus“, erwiderte Chris perplex.

„Ich habe kein Geld für Benzin und die Tankuhr meines Dodge spielt mir ständig Streiche. Ich muss meine Brieftasche mit meinem gesamten Geld wohl in den Dünen verloren haben ...“

Peinlich berührt wandte er seinen Blick von ihr ab. Wie konnte er so einen Blödsinn von sich geben? Warum hatte er die Fremde angelogen?

„Das ist doch überhaupt kein Problem“, sagte sie und griff in die rechte Tasche ihrer Jeansjacke.

„Hier haben Sie 50 Dollar, die leihe ich Ihnen gerne. Nehmen Sie sie. Sie können mir das Geld bei Gelegenheit wieder zurückgeben.“

Chris war sprachlos! Wieso sollte diese wildfremde Frau ihm einfach so 50 Dollar leihen? Das war völlig verrückt. Zögernd nahm er das Geld entgegen und fragte sie dankbar nickend: „Können Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer auf meine Einkaufstüte schreiben?“

Mit einem Finger deutete er auf das hellbraune Papier auf dem Rücksitz.

„Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich bin mir sicher, dass wir uns schon bald wieder über den Weg laufen werden“, antwortete die fremde Frau, drehte sich hastig um und verschwand im aufkommenden Nebel der Nacht ...

***

Am nächsten Morgen war Chris’ freier Tag. Es war Sonntag und wie üblich schlief er länger als sonst. Sein Wagen parkte vor seinem Appartement in einer ruhigen Wohnsiedlung in der Nähe des Greenwood Park. Im Juni hatte er sich hier eingemietet. Es war ein ebenerdiges Zwei-Zimmer-Appartement mit rechtsseitigem Eingang und kleiner Holzveranda mit Blick auf das stark verwilderte Nachbargrundstück. Eine ideale Umgebung für seinen Mitbewohner Washington.

Nachdem er aufgestanden war, und noch während der Kaffee kochte, öffnete er die Terrassentür und füllte den neben einem Schaukelstuhl stehenden Fressnapf mit ein paar Fischabfällen des Vortages auf. Washington war sein grau-gestreifter Kater und treuer Weggefährte. Aufgegabelt hatte er ihn etwa achtzig Meilen nordwestlich von Bakersfield während einer Überlandfahrt mit seinem alten Dodge. Dort lag er mit verletzter Pfote im Straßengraben, genau an der Stelle, wo James Dean am 30. September 1955 auf tragische Weise mit seinem Porsche ums Leben gekommen war. Chris kannte die Stelle genau, denn hier hatte er schon oft angehalten. Kurzerhand hatte er entschieden, das verletzte Tier mit nach Hause zu nehmen, um es wieder aufzupäppeln.

Das Klopfen des Löffels am Napf war für Washington das Signal. Er kam angerannt und schlängelte sich erst um Chris’ Beine, bevor er genussvoll den Inhalt des reichlich gefüllten Fressnapfes verputzte.

***

Nicht weit von Chris’ Wohnung entfernt dachte Kate erneut über den letzten Tag nach. Es war keine leichte Entscheidung, die sie zu fällen hatte, aber im Vertrauen auf ihre Instinkte, die sie noch nie im Stich gelassen hatten, spürte sie, dass es das Richtige war, was sie tat. Sie wusste jetzt, wo sie ihn finden konnte, aber einfach hinzugehen, das wäre zu unverschämt gewesen. Außerdem durfte er keinen Verdacht schöpfen. Noch nicht!

***

Frischer Kaffeeduft durchzog das Wohnzimmer. Chris liebte seinen morgendlichen Kaffee. Und er genoss ihn mit Milch, ohne Zucker. So wie seine Mutter ihn immer getrunken hatte. Sein Vater hatte ihn immer schwarz getrunken, mit viel Zucker.

Mit seinem Vater hatte er nie viel gemeinsam gehabt. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum es ihn damals so weit von zu Hause weggetrieben hatte.

Seine Wohnung sah ziemlich heruntergekommen und unordentlich aus. Seine getragenen Kleider lagen kreuz und quer auf den Möbeln verstreut. Überall war es staubig und es roch muffig. Zeitungen der Vorwoche lagen vereinzelt auf dem Boden. Eigentlich hätte er die Wohnung längst aufräumen und putzen müssen, aber diese unangenehmen Tätigkeiten schob er endlos vor sich her. Und obwohl sein Vermieter ihm für das Streichen der Wände zwei Monatsmieten erlassen hatte, standen diese Arbeiten ebenfalls noch aus.

Als Chris gerade im Begriff war, sich einen weiteren Kaffee einzuschenken, hallte durch die geöffnete Terrassentür eine kräftige Männerstimme in den Raum:

„Sind Sie Christopher Jensen?“

Chris drehte sich um und starrte dem Fremden direkt in die Augen.

„Ja, das bin ich“, erwiderte er überrascht.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich wohne gegenüber und habe hier einen Brief, der wurde vorgestern für Sie abgegeben. Leider waren Sie gestern nicht zu Hause.“

Chris nahm den Brief, bedankte sich und sah dem Mann nach, der über den verdorrten Rasen davoneilte.

Nachdem er auf einem Stuhl Platz genommen hatte, öffnete er das Kuvert und als sein Blick auf den Absender fiel, ahnte er schon, worum es ging: Nichts Gutes.

Bob McKee war der Inhaber der einzigen freien Autowerkstatt in Monterey. Hier ließ Chris ab und zu kostengünstig Reparaturen an seinem Wagen durchführen. Vor zwei Monaten war es wieder so weit gewesen. Kupplungsschaden. Die gebrauchten Teile inklusive des Einbaus kosteten vierhundertfünfzig Dollar und da er nur neunzig Dollar auftreiben konnte, hatte Bob sich auf eine wöchentliche Ratenzahlung eingelassen. McKee war ein gutmütiger Mensch. Chris wusste das. Mit diesem Brief wurde er allerdings daran erinnert, dass er schon seit vier Wochen keine Rate mehr gezahlt hatte und nun eine Pfändung ins Haus stand. Es war wie immer: Jeden Tag neue Probleme und Chris hatte die Nase gestrichen voll. Er musste sein Leben endlich in den Griff bekommen. Wie das gehen sollte, wusste er allerdings noch nicht. Aber er wollte es endlich schaffen!

Kurz vor Mittag fiel ihm ein, dass er fast nichts Sauberes mehr zum Anziehen hatte. Deshalb musste er unbedingt noch zum Waschsalon. Er verabschiedete sich von Washington und kratzte ein paar Viertel-Dollar-Münzen vom Tisch. Dann griff er seinen Walkman, nahm den Wäschekorb, füllte ihn, sprang in seinen Wagen und düste ab Richtung Salon.

***

Von der geheimnisvollen Frau fehlte am darauffolgenden Morgen im Diner jede Spur. Das war einerseits gut, andererseits schlecht. Gut, weil es ihm Zeit verschaffte, um das Geld, das er ihr schuldete, zu besorgen. Schlecht, weil er sie gerne näher kennengelernt hätte. Schließlich hatte sie ihm in der Not geholfen und sie sah dazu noch sehr gut aus.

In sechs Wochen war Weihnachten und nur der Gedanke daran, die Feiertage vielleicht nicht allein verbringen zu müssen, machte ihn froh.

Doch auch am nächsten Tag erschien die Frau nicht.

Am 11. November, einem Mittwoch, war Veterans Day. Ein Feiertag. Randy war ein ausgesprochener Patriot. Sein Lokal hatte an diesem Tag traditionsgemäß schon ab 10 Uhr geöffnet und vor seiner Eingangstür wurde eine große amerikanische Flagge zu Ehren aller US-amerikanischen Kriegsveteranen gehisst. Gegen Mittag war das Lokal bis auf den letzten Platz besetzt. Kaum jemand im Team hatte jetzt noch Zeit für eine Pause und Emma hatte große Mühe, den eigens für diesen Tag rekrutierten Aushilfskräften die Abläufe zu erklären.

Die Luft war trocken und der Himmel grau bewölkt. Ein paar Möwen kreisten nervös über der Stadt. Der Wind fegte in Böen kleines Buschwerk und feinkörnigen Sand durch die Straßen. Es war nicht gerade gutes Feiertagswetter. Es würde in den nächsten Stunden umschlagen.

Als sich um 14 Uhr eine große Militärparade am Strand in Gang setzte, drängten immer mehr Gäste auf die Terrasse, denn von hier aus konnten sie das Schauspiel am besten beobachten. Chris hatte endlich ein paar Minuten Zeit, sich vor Jimmys Küchenfenster zu setzen und auszuruhen. Tracey und Jimmy gesellten sich dazu, sie wollten sich dieses Spektakel ebenfalls nicht entgehen lassen, kümmerten sich jedoch nicht weiter um Chris, der regungslos in der Ecke saß.

Ganz vorne am Geländer der Terrasse stand Randy und schwenkte mit voller Kraft eine US-Fahne in der jetzt bereits stürmischen Luft.

Lauter Jubel und Geschrei breiteten sich aus, festlich geschmückte Kinder winkten mit kleinen Fähnchen, bunte Luftballons stiegen in den Himmel auf.

Irgendwie hat dieser Feiertag etwas von einem Präsidentenwahlkampf, dachte Chris. Er war überhaupt nicht in Festtagsstimmung, im Gegenteil. Seltsam, dass Randy so einen Trubel in seinem Lokal überhaupt zulässt, schließlich könnte jemand im Getümmel blitzschnell verschwinden und die Rechnung nicht bezahlen, überlegte er weiter. Aber das war ja nicht sein Problem.

Einige Minuten vergingen. Chris nahm das Gerangel nicht mehr richtig wahr. Er war in Gedanken versunken. Eigentlich brauchte er jemanden, mit dem er mal offen reden konnte. Keinen Psychiater, sondern einen richtigen Freund. Diese Frage beschäftigte ihn fast täglich. Jemanden, der zuhörte und ihn verstand. Ihm dabei half, sein Leben zu verändern. Er ahnte, dass all seine Probleme mit seinem chaotischen Leben zu tun haben mussten, denn er war ja nicht dumm. Vielleicht aber auch mit seiner Vergangenheit?! Alles schien jedenfalls miteinander verknüpft zu sein, er wusste nur nicht wie.

Früher, als er noch in Detroit gewohnt hatte, hatte er nie solche Gedanken gehegt. Jedenfalls nicht bis zu diesem einschneidenden Ereignis, dem später noch andere folgen sollten. Seitdem war er Einzelgänger und er wusste, dass er in der Vergangenheit falsche Entscheidungen getroffen hatte. Ihm wurde übel, wenn er daran dachte. Das Leid anderer verursachte sein eigenes Leid. Aber vielleicht war gerade diese Konfrontation mit der Vergangenheit der Schlüssel für eine Verbesserung seines Lebens. Vielleicht brauchte er ja doch einen Psychiater ... Wie sollte er diese zahlreichen Dämonen der Vergangenheit und sein schlechtes Gewissen nur loswerden? Verdammt!

Er schloss seine Augen, verschränkte seine Arme und erinnerte sich an ein Gespräch mit einem alten Mann in der Central Avenue 132 in Salinas. Vor dem Haus, in dem der Schriftsteller John Steinbeck aufgewachsen war. Der Mann war ein Jugendfreund von Steinbeck, dessen Romanverfilmung Jenseits von Eden Chris 1962 mit seinem Vater im Kino gesehen hatte. Bezeichnenderweise handelt der Film von einem Vater-Sohn-Konflikt. James Dean hatte in diesem Drama die Hauptrolle gespielt, bevor er etwa ein Jahr später mit seinem Wagen tödlich verunglückte.

Der alte Mann hatte behauptet, Steinbeck würde in seinen Romanen vom Leben erzählen, so wie es nun einmal sei. Schonungslos, nicht mit rosaroter Brille. Er beschreibe zwischenmenschliche Konflikte, die uns seit jeher beschäftigten, die wir täglich neu erlebten. Aber Konflikte seien immer auch Chancen. Etwas Positives daraus abzuleiten und sein Leben zu verändern, dafür sei es nie zu spät.

Bei diesem Gedanken spürte Chris den Druck seiner Tränen, Tränen der Trauer und Wut. Allerdings, ... für Veränderungen war es nie zu spät!

Er driftete gedanklich ab, weit weg von Trubel, Kälte und seelischen Schmerzen. Um genau zu sein, fast achttausend Meilen weit weg. Auf die andere Seite des Pazifiks ...

Er vernahm das tosende Geräusch eines herabfallenden Wasserfalls und sah sich selbst in der Gischt des Wasserstrahles stehen. Die Luft war sehr heiß und feucht, mindestens 35°C, vielleicht noch mehr. Von oben schoss das Wasser ungebremst auf seinen Kopf und in der unerbittlichen Sonne zeigte sich ein wunderschöner Regenbogen. Die Landschaft war atemberaubend und unbewohnt, der Himmel wolkenlos. Hellblau. Der grüne Dschungel undurchdringlich und geheimnisvoll. Das herrlich warme Wasser sprang in funkelnden Perlen von ihm ab, mitten durch die Lichtstrahlen hindurch. Mit beiden Händen griff er an seine Stirn, neigte den Kopf in den Nacken. Er schloss seine Augen und durchstreifte mit seinen Händen das nasse Haar. Es war magisch und wunderbar.