Cover

Tatjana Kruse

Stick oder stirb!

Kommissar Seifferheld ermittelt

Tatjana Kruse

Stick oder stirb!

für Bill Murray, aus Gründen

Das Who is Who im Seifferheld-Universum

Die Familie

Der Held: Siegfried „Siggi“ Seifferheld, Kommissar im Unruhestand, Sticker, Schnüffler, Stammtischbruder

Sein Hund: Aeonis „Onis“ vom Entenfall, viriler Hovawart-Rüde mit Knickrute

Seine Frau: Marianne Seifferheld-Cramlowski: ehemals freie Journalistin für das Haller Tagblatt (Kürzel MaC), jetzt Betreiberin eines Hundekindergartens

Seine Schwester: Irmgard Seifferheld-Hölderlein (Spitzname „die Generalin“, Gattin von Pfarrer Helmerich Hölderlein)

Seine Tochter: Susanne Seifferheld (Managerin bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall, Mutter von Ola-Sanne, bessere Hälfte von Masseur Olaf Schmüller)

Seine Nichte: Karina Seifferheld (Aktivistin, Ehefrau von Ex-Haller-Tagblatt-Fotograf Fela Seifferheld, geb. Nneka, Mutter von Sohn Fela junior und Töchterchen Fatou)

Die Schwäbisch Haller Mischpoke

Die VHS-Männerkochkursgruppe: Bocuse (Chefkoch, Franzose), Klaus (reicher Erbe, Wirt), Gotthelf (verheiratet), Eduard (Buchhändler), Horst (Mathelehrer), Arndt (Klempner), Schmälzle (Wanderführerautor)

Die Vollmondtrommler: Arno, Reimer, Tobias, Klaus, Bernhard, Helmerich

Mord-zwo-Stammtisch: Rogier van der Weyden (der Liebe wegen aus dem Geburtsland der Pommes eingewandert), Wurster (der Bärenmarkenbär), Dombrowski (von der Sitte), Bauer zwo (Idiot in lila Lederkluft)

Olga Pfleiderer: kettenrauchende kasachische Nicht-Putzfrau

Auch dabei:

Pjotr Jagelovsk

Igor Demioff

Aleksandr Kusmin, Enkel

Niklas Engel, auch Enkel

Sergei, der Mann fürs Grobe

Mischa und Oleg, die Männer fürs noch Gröbere

Madame Ischtar, Wahrsagerin

Die Knaststicker: Kurt, Murat, Trân, Willi und Saiid

Stella, Pitbullhündin

Mittwoch

Prolog

Er spürte den Atem des Grauens im Nacken.

Der Atem war heiß. Nicht nur heiß, sondern auch tonnenschwer. Denn das Grauen hat ein Gewicht. Und einen Geruch. In diesem konkreten Fall roch es nach nassem Hund.

Sie waren zu viert, wie die apokalyptischen Reiter, und sie waren ihm dicht auf den Fersen.

Er keuchte.

Es war ein Fehler gewesen, die Treppe als Fluchtweg zu wählen. Aber sie hatten ihn an diesem frühen Morgen überrascht, hatten im Erdgeschoss auf ihn gewartet und ihn eingekreist. Die Treppe war seine einzige Option gewesen.

Die Holzstufen knarzten.

Sein Vorteil bestand darin, dass er sich im Haus auskannte, die vier aber nicht. Panisch sah er sich im ersten Stock um.

Drei der fünf Türen waren verschlossen, das wusste er. Also wählte er den linken der beiden Räume, die beide zur Gasse hin lagen. Das einzige Fenster im Zimmer stand sperrangelweit offen, ebenso wie das auf gleicher Höhe liegende Fenster im Haus direkt gegenüber. Aber die greise Nachbarin, die dort gefühlte vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, die Geschehnisse in der Unteren Herrngasse zu Schwäbisch Hall beobachtete, abgestützt auf einem lila Samtkissen, war – natürlich! – ausgerechnet jetzt nicht auf ihrem Posten. Das Kissen lag verwaist da.

Die Gasse war nur wenige Meter breit. Früher, ja selbst noch vor ein paar Jahren, hätte er womöglich den Sprung gewagt. Nicht hinunter aufs Kopfsteinpflaster – hinüber aufs Samtkissen. Aber es ließ sich nicht leugnen: Seine fitten Jahre waren vorbei.

Sollte er sich lautstark bemerkbar machen? Nein, zu spät – die vier polterten wie eine Gerölllawine ins Zimmer. Er hastete in letzter Sekunde in den Nebenraum – die stets geöffnete Durchgangstür hatte er in seine Berechnungen einkalkuliert – und eilte von dort wieder in den Flur, wo sie ihm, weil sie ihn nicht verfolgt hatten, sondern rückwärts wieder aus der Tür gepoltert waren, jedoch den Weg nach unten verstellten. Ganz blöd waren die vier also nicht. Auch wenn sie so aussahen …

Blieb nur das zweite Obergeschoss.

Keuchend nahm er die Stufen in Angriff.

Wie lange würde er das noch durchhalten? Sein Herz raste wie wild, seine Lungen brannten, von seinen Beinmuskeln ganz zu schweigen. Außerdem bekam er Seitenstechen.

Er brauchte Hilfe.

All die Jahre hatte er seine Unabhängigkeit gepflegt. Niemand ist eine Insel, das stimmte schon. Aber er hatte seine Kämpfe stets allein ausgefochten. Hatte natürlich, wenn die Situation es erforderte, Unterstützung nicht nur angenommen, sondern sogar eingefordert. Doch letzten Endes hatte er sich immer als Einzelkämpfer gesehen, als einsamen Wolf. Er brauchte keinen, der ihn rettete.

Bis jetzt.

Diese Erkenntnis wog fast noch schwerer als das Grauen.

Mit letzter Kraft stieß er die Tür zum Schlafzimmer auf und sprang auf die Wölbung im Bett, zwischen das Bakelittelefon auf dem Nachttisch und das Kissen mit dem aufgestickten Sinnspruch Auf mir träumst du von endlosen Küssen.

Doch es war zu spät.

Seine Verfolger stürmten herein.

Aus weit aufgerissenen Augen sah er sie an. Der Anblick ließ ihn schwer schlucken. Möglich, dass ihre Mütter sie liebten, aber für ihn waren sie nicht nur charakterlich, sondern auch optisch-ästhetisch Ausgeburten der Hölle.

So etwas wie diese vier apokalyptischen Mini-Monster hatte die Natur nie vorgesehen: Sie waren Wesen wie aus einer anderen Welt. Aliens, die sich an ihm festpfropfen und ihm das Leben aussaugen würden.

Schimären des Grauens. Oder, genauer gesagt, eine Bichogge, ein Chips, ein Schnudel und ein Pickel.

Und jetzt stürzten sie sich auf ihn …

Seifferheld und der Hund, der ein Pickel war

Aus dem Polizeibericht

Am späten Montagabend wurde die Polizei zu einer Gaststätte in der Pfarrgasse gerufen. Dort gab es Stress mit einem Gast, der seine Rechnung nicht begleichen wollte, weil das Cordon Bleu seiner Meinung nach nicht fachmännisch zubereitet war. Es kam zu einer massiven verbalen Auseinandersetzung, die in einer gewalttätigen Zerlegung des Mobiliars durch Gast und Wirt eskalierte. Ein weiterer Gast verständigte die Polizei. Die erteilte dem unzufriedenen Gast einen Platzverweis und drohte ihm bei erneutem Auftreten eine Ingewahrsamnehmung an. Die Kosten, die auf ihn zukommen, werden beträchtlich sein – für den Sachschaden und das Cordon Bleu. Zur Erinnerung: Wenn man es aufgegessen hat, muss man es auch bezahlen. Der Wirt wurde ebenfalls abgemahnt. Nicht wegen mangelnder Kochkünste, sondern wegen Tätlichkeiten gegen einen Gast.

Siegfried Seifferheld fuhr schnappatmend im Bett auf.

Was ausnahmsweise nicht an seiner Schlafapnoe lag, sondern daran, dass etwas Massiges und Schweres urplötzlich auf seinem Brustkasten gelandet war. „Was zum Teufel …?“

Noch voll in den Fängen seiner morgendlichen REM-Tiefschlafphase registrierte er in Zeitlupe, dass das Gewicht auf seiner Brust sein treuer Rüde Onis war. Der ängstlich fiepte.

Seifferheld sah zum Wecker, dessen eitergrüne Digitalanzeige in diesem Moment auf 6:30 Uhr sprang. Und ja, da stimmten die Glocken von Sankt Michael auch schon ihr Morgengeläut an. Der tiefe Klang brachte die Mauern des alten Fachwerkhauses zum Vibrieren. Und dauerte genau so lang, wie gläubige Anwohner brauchten, um das Vaterunser aufzusagen und damit den Tag positiv gestimmt zu beginnen. Man konnte nur hoffen, dass die höhere Macht Seifferhelds Stoßseufzer „Großer Gott!“ als gültige Auf-den-Punkt-Zusammenfassung durchgehen ließ.

Seifferheld stellte sich dem Grauen in seinem Schlafzimmer.

Über dem Bettrand tauchten abwechselnd erst zwei, gleich darauf vier Schrumpfköpfe auf – wie kleine, aus dem Takt geratene Springteufelchen: hoch, runter, hoch, runter. Hoch, hoch, runter, hoch. Runter, hoch, hoch, runter.

Am häufigsten sah man das Köpfchen der Bichogge, am seltensten den Schädel des Pickels. Riechen konnte man sie jedoch alle vier – offenbar hatten sie ein Bad im Kocher genommen, dem Fluss, der so malerisch durch Schwäbisch Hall mäanderte, dessen Fluten olfaktorisch allerdings nicht mit Chanel No. 5 zu verwechseln waren. Non, Monsieur.

Seufzend ließ sich Seifferheld wieder in die Kissen fallen. „Haben sie dich wieder gejagt? Ist ja gut, alter Freund. Die tun dir nichts.“

Er streichelte den Kopf von Onis, der ausnahmsweise nicht daran schuld war, dass sich vier Hundewelpen jaulend abmühten, aufs Bett zu kommen. Diese vier hatten andere Väter.

„MaC!“, rief Seifferheld, so laut er konnte. Er musste nicht nur die Welpen übertönen, sein Ruf nach seinem Ehegespons hatte auch zwei Stockwerke und eine Küchentür zu überwinden.

„Komme gleich!“, rief es von unten zurück.

„Sie kommt gleich“, sagte Seifferheld zu Onis und streichelte dem Hovawart den immer noch zitternden Schädel. „Rettung naht und alles wird gut.“

Die Welpen hüpften unermüdlich um die Wette, als hätten sie Duracell-Batterien gevespert. Seifferheld mochte das nicht ganz ausschließen. Die vier waren nicht von dieser Welt. Diesbezüglich waren Herr und Hund einer Meinung.

Man hörte das Knarzen von Holzstufen.

Seine frisch angetraute Marianne nahte – als Dea ex Machina, nur nicht von oben herabschwebend, sondern die Treppe nehmend. Seit der Hochzeit arbeitete sie nicht länger als freie Journalistin beim Haller Tagblatt. Und füllte die dadurch gewonnene Freizeit damit aus, dass sie einen Welpenkindergarten betrieb. Für Welpen mit besonderen Bedürfnissen, wollte heißen: für Welpen aus Mischbeziehungen.

Onis, der eigentlich Aeonis vom Entenfall hieß und höchstem Hunde-Adel entsprang, wegen seiner Knickrute aber nicht zur Zucht taugte, hatte zweimal hintereinander Lady begattet, eine Berner-Sennen-Hündin. Die daraus entstandenen Hovasenner hatten Marianne gezeigt, dass einen die Pflege von Mischhunden oftmals vor ganz eigene Hürden stellte. So hatte beispielsweise der Pickel, der eigentlich Bruno hieß und der Sohn eines Pitbulls und einer Dackelhündin war, die kurzen Beinchen seiner Mutter, aber den stämmigen Schädel seines Vaters geerbt. Er brauchte ein völlig anderes Training, nämlich vor allem das der Nackenmuskulatur, als beispielsweise die Bichogge, das Kind der Liebe einer Dogge und eines Bichon Frisé, mit ihren langen Giraffenbeinen und der wild wuchernden Pilzkopffrisur. Oder als der Schnudel (Schnauzer und Pudel) mit seiner geländegängigen Körperform beziehungsweise der kleine, stämmige Chips (Chihuahua und Mops).

Kurzum, Marianne hatte bei einem bekannten deutschen Hundetrainer einen siebentägigen Intensivworkshop besucht – in der Zeit, als Seifferheld seine bei einem Kreuzworträtsel gewonnene Eifel-Reise antrat –, und als sie zurückkam, war sie diplomierte Hundekindergärtnerin. Siggi gönnte seiner Frau diese neue Aufgabe, er wünschte sich nur, sie würde ihr nicht gerade in ihrem ehelichen Heim nachgehen. Und nicht schon in aller Herrgottsfrühe.

Die Welpen ermatteten allmählich.

Siggi murmelte: „Bleib liegen, alter Knabe, hier bist du sicher“, und kraulte seinen Onis noch kurz hinter den Ohren. Dann hievte er sich ächzend aus dem Bett.

Ex-Kommissar Siegfried „Siggi“ Seifferheld hatte sich bei einem Banküberfall eine Kugel in der Hüfte eingefangen, die nicht herausoperiert werden konnte. Damals war er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Aber selbst in dem Paralleluniversum, in dem er der Kugel hatte ausweichen können, wäre er mittlerweile pensioniert worden. Der nagende Zahn der Zeit.

Siggi, der nur Schiesser Feinripp mit Eingriff und ein weißes T-Shirt trug, warf sich seinen blau-weiß gestreiften Morgenmantel über, der nachts immer über dem Fußende des Bettes lag, dann stieg er über die hechelnden Welpen hinweg und humpelte ins Badezimmer, wo er erst mal seinen Morgenurin abstellte. Manchmal fragte er sich, wo die ganze Flüssigkeit herkam, da er ja jede Nacht mindestens einmal wach wurde und aufs Klo musste. Das Alter, das Alter …

Das dachte er auch, als er hinterher in den Spiegel sah und sich über die grauen Bartstoppeln am Kinn fuhr, was ein schabendes Geräusch ergab. Seit dem ersten spärlichen Bartwuchs im Knabenalter hatte er sich jeden Morgen rasiert, weil er einfach fand, dass glattrasierte Männer mehr Autorität verströmten, und er war schließlich Kriminalbeamter gewesen. Aber jetzt imaginierte er schon hin und wieder, ob ihn ein Bart nicht zieren würde. Er drehte den Kopf nach rechts und hob das Kinn: Mit einem Ziegenbärtchen würde er wie ein spanischer Grande aussehen. Aber alle diesbezüglichen Spekulationen waren hinfällig. Seine Marianne war nämlich dagegen. Sie hasste Bärte und behauptete, zwischen den Haaren würde insektoides Kleingetier leben. Und von Drei-Tage-Bartstoppeln bekam sie beim Küssen einen tomatenroten Hautausschlag. Jede Form von Bart war somit für ihn abgehakt.

Seine geliebte Marianne, die er – nach ihrem Kürzel bei der Zeitung – liebevoll MaC nannte und deren verführerisch runden, warmen, weichen Körper er gar nicht oft genug in den Armen halten konnte. Wie so ein Teenager.

Auch wenn es sich nicht leugnen ließ, dass mittlerweile der Ehealltag eingekehrt war.

„Hast du den Polizeibericht abgeschickt?“, fragte sie jetzt durch die offene Badezimmertür, während sie den Chips und den Pickel in den Arm nahm. Mit ihren extrem kurzen Beinchen kamen die beiden Welpen zwar schon die Treppe hoch, aber noch nicht wieder hinunter. Nur die Bichogge und der Schnudel waren auch treppab bereits autonom.

„Nein, bin ja gerade erst aufgewacht … worden.“ Siggi humpelte ins Schlafzimmer zurück.

„Dass du in letzter Zeit aber auch immer morgenmuffeliger werden musst.“ Marianne schüttelte den Kopf und drückte ihm trotzdem einen Kuss auf … die Luft über seiner noch unrasierten Wange. „Mach hin. Waschen, anziehen, loslegen! Frühstück steht auch schon auf dem Tisch.“

Ja, eindeutig. Die Flitterwochen waren vorbei. Laut Marianne hatten sie ohnehin nie welche gehabt. Nur weil sie das luxuriöse Fünf-Sterne-Hotel in den Schweizer Bergen mit den Jungs seines VHS-Männerkochkurses teilen mussten. Siggi hatte – höchst genial, wie er fand – die Flitterwochen mit einem Wettkochen für Amateurköche kombiniert: Übernachtung und Halbpension inklusive. So konnten sie für umsonst (!) eine Woche lang exklusiv wellnessen. Aber Marianne hatte das nicht zu goutieren gewusst: Er war die kompletten Flitterwochen ungeküsst geblieben. Nein, stimmt nicht, der greise Zither-Spieler, der die Hotelgäste musikalisch auf den Fondue-Abend eingroovte, hatte ihn feucht und innig auf den Scheitel geküsst, weil Seifferheld ihn an seinen verstorbenen Sohn erinnerte.

Siggi klappte seinen Laptop auf und setzte sich neben Onis, der jetzt wieder entspannt hechelte, auf das Bett.

Jeden Morgen verfasste er einen Polizeibericht für das Haller Tagblatt. Die nackten Fakten lieferte ihm das Revier in der Salinenstraße, er bügelte ein wenig drüber, peppte das Ganze ein wenig auf und schickte den Bericht dann per Mail an die Lokalredaktion seiner geliebten Tageszeitung. Polizeichefin Gesine Bauer hatte ihm diese Aufgabe nach seinem Dienstunfall übertragen, weil sie glaubte, so würde er sich auch als Invalide noch ein wenig am Geschehen beteiligt fühlen. Er wollte diese Aufgabe aber am liebsten loswerden, ohne Frau Bauer zu vergrätzen. Also formulierte er seine Berichte jedes Mal so, dass er das Kopfschütteln der Polizeichefin förmlich vor sich sehen konnte. Irgendwann würde sie ihm diese ungeliebte Pflicht wieder entziehen. Lange konnte es nicht mehr dauern.

An diesem Morgen gab es nur die übliche Unfallstatistik – drei Auffahrunfälle mit geringem Blechschaden –, einen kiffenden Pechvogel, eine Mütterrauferei und einen Zechpreller.

„Kommst du jetzt endlich?“, rief es ungeduldig von unten. „Deine Butterbrezelbutter wird ja schon ranzig.“

Seifferheld drückte auf Senden. Dann nahm er seine Gehhilfe und humpelte zur Tür. „Kommst du mit?“

Onis hob den Kopf. Seit vielen Jahren war der Hovawart Siggis treuer Gefährte. Seine Kollegen von der zweiten Abteilung der Mordkommission, kurz Mord zwo, hatten ihn damals nach der banküberfallbedingten Reha mit dem Hund überrascht, damit er einen Grund hatte, jeden Tag aus dem Haus zu gehen und sich zu bewegen. Hatte funktioniert! Herr und Hund waren unzertrennlich. Aber jetzt ließ Onis seinen großen Schädel mit einem Schnaufen auf das Kissen sinken. Er war noch nicht so weit, sich diesen ADHS-gestörten Welpen zu stellen.

Also humpelte Siggi allein ins Erdgeschoss. Die alten Holzstufen knarzten unter seinen Filzpantoffeln. Sonst herrschte Stille in den dicken Mauern des fünfhundert Jahre alten Fachwerkhauses, in dem von Anfang an Seifferhelds gewohnt hatten. Die Seifferhelds waren eine alte Schwäbisch Haller Siedersfamilie, will heißen, seine Vorfahren hatten dunnemals Salz gesotten. Das Salz hatte die Stadt reich gemacht, nicht aber die Seifferhelds. Das Haus in der Unteren Herrngasse war das Einzige von Wert im Familienbesitz. Und natürlich der gute Name.

Insgeheim freute sich Siggi, dass die Männer seiner Tochter Susanne und seiner Nichte Karina den Namen Seifferheld angenommen hatten – so bestand die Chance, dass auch künftig Seifferhelds in diesem Haus wohnen würden. Es mochte am Alter liegen, aber irgendwie rührte ihn dieser Gedanke.

Doch Rührung hin oder her: Er genoss es, dass er nicht länger – wie noch vor wenigen Jahren – mit seiner Tochter, seiner damals in Hall studierenden Nichte und seiner seinerzeit noch altjüngferlich-unverehelichten Schwester Irmgard unter einem Dach wohnte. Einem Weiberrudel, zu dem später auch noch seine Marianne gestoßen war. Nein, diese ganze östrogengeschwängerte Hektik war auf Dauer zu viel für ihn. Ein Hoch auf Ruhe und Gemütlichkeit!, dachte er, kurz bevor er die schwere Eichentür, die in die Küche im Erdgeschoss führte, öffnete. Berühmte letzte Gedanken …

Eine Lärmwelle schwappte ihm entgegen. Dieses Mal jedoch waren die Welpen unschuldig – die Bichogge, der Chips, der Schnudel und der Pickel lagen ausgepowert unter dem Küchentisch und machten ein Nickerchen.

Der Lärm war einzig und allein den in der Küche befindlichen Zweibeinern geschuldet. Und dem alten Transistorradio auf dem Kühlschrank, das grundsätzlich auf Siggis Haussender SWR4-Frankenradio eingestellt war und aus dem gerade ein offenbar von der Liebe und dem Leben gebeutelter Schnulzensänger plärrte, aber nicht gegen den Lärm der im Raum befindlichen Hausgäste ankam.

Seifferheld hatte nur mit seiner Marianne gerechnet, die ihn wie jeden Morgen schon ungeduldig am Frühstückstisch erwarten würde – gemeinsame Mahlzeiten waren ihr normalerweise heilig –, aber an dem übergroßen Holztisch saßen sein Freund Klaus, sein Kochlehrer Bocuse, sein Schwager Helmerich, sein Ex-Kollege Rogier und Olga, die kasachische Putzfrau. War das real? Oder war er beim Schreiben des Polizeiberichts wieder eingeschlafen und lag nun alpträumend mit dem Kopf auf dem Laptop? Er zwickte sich in den Unterarm. Es half nichts.

„Siggi, Sie endlich auch wach?“, rief Olga ihm zu, während sich die Männer lautstark über irgendetwas ereiferten.

Eigentlich eine Unverschämtheit. Es war gerade mal sieben Uhr früh. Olga kam sonst nie vor zehn Uhr. Und dann kam sie auch nicht zum Putzen, sondern um kettenrauchend die Zeit totzuschlagen. Marianne hatte Olga gewissermaßen von Irmgard, der früheren „Frau des Hauses“, geerbt. Und weil die Frauen sich miteinander angefreundet hatten, konnte Siggi die nicht-putzende Putzfrau auch nicht einfach feuern.

„Ich habe schon den Polizeibericht geschrieben“, erklärte er dezidiert, um deutlich zu machen, dass er quasi seit Stunden wach war und schwer gearbeitet hatte, während in seiner Küche Party gemacht wurde.

„Er fleißiger Mann. Ich schon immer habe gesagt“, flötete Olga Siggis Ex-Kollegen Rogier van der Weyden zu, beugte sich mit kokettem Augenaufschlag zu ihm, was ihm tiefe Einblicke in ihr reifes, nachgerade überreifes Dekolletee ermöglichte, krallte sich in den Unterarm des sichtlich peinlich berührten Belgiers und nuckelte lasziv an ihrer Zigarette. Im Haus rauchte Olga selbstverständlich ausnahmslos diese neumodischen Elektrozigaretten, die keinen Rauch ausstießen, sondern nur rot glühten, wenn man daran sog. Schön war es trotzdem nicht.

Rogier van der Weyden war der Liebe wegen nach Hall gekommen und geblieben. Der Liebe zu einem Mann. Aber darauf sollte Olga schön von allein kommen, Siggi würde es ihr jedenfalls nicht erzählen.

„Was ist denn hier los?“ Er, Siegfried Seifferheld, war der Herr des Hauses. Wenn es hier eine Party gab, dann nur mit seinem Segen.

Marianne kam mit einer Flasche Apfelmost aus der Vorratskammer. „Rogier will was Dienstliches mit dir besprechen, Kläuschen macht hier sein Päuschen, Bocuse zetert auf Französisch, und das so schnell, dass ich kein Wort verstehe, Olga fängt heute Morgen schon früher an, damit sie heute Nachmittag früher gehen kann, und Helmerich traut sich nicht nach Hause zu seiner Irmi. Deine Butterbrezel liegt schon auf dem Tisch.“ Sie stellte die Apfelmostflasche an seinen Platz am Kopfende des Tisches. „Ich war mit den Welpen und Onis draußen, jetzt geh ich nach oben und widme mich meiner Morgenlektüre. Kümmere du dich um unsere Gäste.“ Man merkte ihr überdeutlich an, dass frühmorgendliche Menschenaufläufe ihre Komfortzone sprengten.

Sie nahm sich ihren Becher mit Kaffee und verschwand. Im Vorbeigehen wollte sie ihm einen Kuss auf die Wange drücken, sah, dass besagte Wange immer noch bartstoppelig war, murmelte „Bäh, kratzig“ und ließ Siggi ungeküsst zurück.

Marianne las jeden Morgen eine halbe Stunde in einem Buch, meist einer Biografie oder einem Sachbuch. Abends schlief sie beim Lesen immer sofort ein, deshalb musste es morgens sein. Denn ein Tag ohne Buch war für sie kein Tag. Sie wusste natürlich, dass es Menschen gab, die nicht lasen. Richtig vorstellen konnte sie sich das aber nicht. Als könnte es Menschen geben, die nicht aßen oder nicht atmeten.

Der ungeküsste Siggi seufzte und sah sich um.

Bocuse schien immer noch zu fluchen – bei einem leidenschaftlichen Südfranzosen wie ihm wusste man nie, ob er gerade jemandem Blutrache schwor oder ob er sich einfach nur über das Wetter ausließ –, Klaus redete auf Bocuse ein und hielt aus irgendeinem Grund dabei alte Vinyl-Singles in der Hand, Helmerich trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, Rogier brummte tief und Olga flirtete falsettig. Eine Kakophonie sondergleichen.

„Geht’s auch leiser?“, donnerte Siggi.

Schlagartig herrschte Stille. Na also, ging doch. Er setzte sich an seinen Stammplatz, goss sich Most ein, nahm einen großen Schluck und holte tief Luft.

So – jetzt konnte der Tag beginnen.

„Bocuse, was ist los?“, fragte er den Franzosen, der in Wirklichkeit gar nicht Bocuse hieß, aber von allen so genannt wurde, weil er an der hiesigen Volkshochschule Kochkurse gab.

„Un-ge-’euer-lisch!“, echauffierte sich Bocuse jetzt mit dem französischen Akzent, den er sich extra zugelegt hatte und kultivierte, weil die Deutschen das so charmant fanden. In Wirklichkeit sprach er akzentfrei. „Dieser lächerlische Wicht serviert mir ein ’albgares Stück Fabrikfleisch mit einer Käsescheiblette und Räucherschinken on top und will mir das als Cordon Bleu verkaufen. Und als ich mich weigere, ihm dafür auch nur einen Centime zu bezahlen, prügelt dieser Neandertaler auf misch ein!“

Jetzt erst bemerkte Siggi das Veilchen. Es war ein eher zartes, fliederfarbenes Veilchen, nur punktuell dunkellila, aber dennoch war nicht zu übersehen, dass die linke Gesichtshälfte von Bocuse in Kontakt mit einer Männerfaust gekommen sein musste. Siggi wunderte sich nicht weiter: Wenn es in Schwäbisch Hall irgendwo zu einem Eklat kam, dann war in aller Regel einer seiner „Freunde“ involviert. Die Anführungszeichen dachte Siggi mit. Er sagte nichts, biss nur in seine Butterbrezel.

„Und dann isch ’abe zu den Polizisten gesagt, dass isch ein Freund von ihrem berühmten Kollegen Siegfried Seifferheld bin, ein guter Freund sogar, aber hat mir das ge’olfen? Non!“ Bocuse echauffierte sich in Rage. Sein Gesicht lief rot und immer röter an, bis man das Veilchen gar nicht mehr ausmachen konnte. „Isch wurde mit der vollen ’ärte des Gesetzes gestraft! Zählt Freundschaft gar nichts mehr? In was für einem Land leben wir eigentlisch?!“

In einem rechtsstaatlichen Land, dachte Siggi, sprach es aber nicht aus, sondern spülte einen Bissen Butterbrezel mit einem Schluck Apfelmost hinunter.

„Ich habe den Polizeieinsatz mitbekommen und bin gleich raus, um allen Betroffenen seelischen Beistand zu leisten“, warf Helmerich ein. Helmerich Hölderlein war seit vielen, vielen Jahren Pfarrer der evangelischen Gemeinde, zu der auch die Seifferhelds gehörten. Er hatte vor gar nicht so langer Zeit Irmgard, Siggis ältere Schwester, geheiratet. Irmgards Spitzname war „die Generalin“, und unzählige Haller – Schulkinder, Einzelhändler, Kirchenblumenschmuckkomiteemitglieder – erzitterten bei ihrem Anblick. Kein Wunder, dass dieser schütterhaarige Mann Gottes deshalb Jahre gebraucht hatte, bis er sich ein Herz fasste und ihr seine Liebe gestand. In ihrer Ehe war klar, wer die Hosen anhatte. Jetzt wohnten die beiden im Pfarrhaus in der Pfarrgasse, in dem schon Reformator Brenz gewohnt hatte, als er die freie Reichsstadt Hall evangelisch machte – direkt gegenüber des neu eröffneten französischen Restaurants. „Höchst bedauerlich, der Zwischenfall. Ich lehne Tätlichkeiten ab! Selig, wer Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet – er wird das volle Leben haben.“

Helmerich, der seit einer Missionarsreise nach Afrika begeisterter (wenn auch völlig unmusikalischer) Trommler war, gehörte seit einiger Zeit den Vollmondtrommlern an; einer Gruppe von Männern, die sich immer zu Vollmond in einem abgelegenen Waldstück trafen, um mit nacktem Oberkörper zu trommeln. Siggi hatte das einmal mit eigenen Augen gesehen, sonst hätte er es nicht geglaubt.

Helmerich klaubte sich ein Blatt aus dem schütteren Kopfhaar. Er war in erster Linie Trommler und danach alles andere: Freund, Ehemann, Pfarrer. Deswegen zitierte er auch keine Bibelsprüche, sondern berühmte Trommler, wie in diesem Fall Ringo Starr. Wenn man das in der richtigen salbungsvollen Stimmlage tat, klang es trotzdem fromm und wie direkt von Petrus gechannelt. „Und danach habe ich Bocuse mit zu meinen Trommelkameraden genommen. Damit er wieder runterkommt.“

„Hast du die ganze Nacht durchgetrommelt und traust dich deswegen nicht nach Hause?“, fragte Siggi. Er kannte doch seine Pappenheimer. Und seinen Schwager. Und mehr noch seine Schwester.

Helmerich nickte. „Kannst du bei meinem lieben Irmchen ein gutes Wort für mich einlegen?“

Siggi seufzte. Helmerich durfte von Berufs wegen nicht lügen, auch nicht notlügen. Deswegen kam er immer zu ihm, wenn er mit seiner Frau in eine Bredouille geriet. Zum Beispiel, wenn er zum Zapfenstreich um Mitternacht nicht im Bett lag, weil er lieber im Wald mit seinen Freunden spielte. Unartiger wurde das Kind im Manne in diesem Fall nicht.

Seifferheld sagte mit vollem Mund: „Na gut, ich sage ihr, dass du heute Nacht bei uns geschlafen hast. Wegen akuter Flatulenz. Damit du deinem geliebten Weib mit deinen Stakkatodauerfürzen nicht den Schlaf raubst.“

„Danke, Siggi.“ Wenn Helmerich sich aufregte, neigte er berüchtigtermaßen zu Stresspupsen. Auf Reisen, bei Meetings mit dem Kirchengemeinderat, eigentlich immer. So auch jetzt.

Olga wedelte mit der Elektrozigarettenhand die Duftschwaden beiseite.

„Wenn ich mal unterbrechen darf, weil ich zum Dienst muss …“ Rogier van der Weyden entzog seinen muskulösen Unterarm Olgas Klammergriff. Er stand auf und zeigte mit dem Kopf in Richtung Flur.

Siggi schob sich den Rest der Butterbrezel in den Mund und folgte ihm kauend.

Hinter ihm fing Bocuse wieder an zu fluchen, Klaus holte Eiswürfel für das Veilchen aus dem Kühlschrank und Helmerich trommelte. Es kam einem Wunder gleich, dass die Welpen bei diesem Getöse weiterhin süß schlummerten.

„Hör zu, du stickst doch heute wieder im Knast, oder?“ Nachdem die Küchentür geschlossen war, zog Rogier sein Handy aus der Hosentasche und wischte sich rasch zu seinen Fotos durch. „Hier.“

Siggi schluckte seinen durchgekauten Butterbrezelbissen hinunter. „Wer ist das?“

„Igor Demioff.“ Rogier schnaubte. „Ein Schwein. Russenmafia. Hat sich hochgemordet und ist jetzt die Nummer zwei in seiner Organisation. Seit gestern sitzt er allerdings hier in Hall in der JVA ein.“

Seifferheld betrachtete das unscheinbare Gesicht eines mittelalten Mannes mit graugrünen Augen und mausbraunen Haaren. Bei Russenmafia dachte der Laie ja gern an ungeschlachte Gestalten, denen man ansah, dass sie mit der Gewalt auf Du und Du waren, mit kalten Augen und einem fiesen Zug um den Mund. Aber die Zugehörigkeit zum organisierten Verbrechen sah man nur den unteren Chargen an, die Bosse wirkten wie jemand aus dem mittleren Management einer Sparkasse. So auch dieser Demioff.

„Es heißt, dass er den Obermafioso vom Thron stürzen will“, fuhr Rogier fort. „Den Boss kennst du ja.“

Das stimmte, Siggi kannte den Boss dieser speziellen Russenmafiabande. Er hieß Pjotr und besuchte den Stick-Kurs, den Seifferheld jeden Mittwochnachmittag in der Justizvollzugsanstalt abhielt. Natürlich nur mit stumpfen Nadeln und natürlich nur für Insassen, die als harmlos galten. Und obwohl Pjotr einer der Köpfe des organisierten Verbrechens weltweit war, galt er als harmlos, weil er schon so alt und gebrechlich war.

„Über Demioff habe ich neulich was gelesen. Er sitzt in Untersuchungshaft, stimmt’s? Hat er sich etwa absichtlich hierher verlegen lassen, um mit Pjotr zu reden? Um ihm ins Gesicht zu sagen, dass seine Zeit vorbei ist – von wegen: Ganovenehre?“ Siggi kratzte sich geräuschvoll über die unrasierten Kinnstoppel. „Oder will Demioff derjenige sein, der Pjotr mit eigener Hand vom Thron stößt, und zwar final? Steht zu befürchten, dass Pjotr einen ‚Unfall‘ erleidet?“

Rogier zuckte mit den Schultern. „Auszuschließen ist das nicht. Aber es wird bald passieren müssen, Demioffs Rotte an Anwälten hat ihn wegen eines Verfahrensfehlers schon so gut wie auf freiem Fuß. Wir vermuten, dass eine Art Übergabe stattfinden soll. Er will den Alten zum Abdanken zwingen. Und ja, vielleicht droht er ihm sogar mit dem Äußersten, wenn er ihn nicht offiziell als Nachfolger einsetzt und ihm die Zugangscodes für all seine Nummernkonten verrät.“ Rogier steckte sein Handy wieder weg. „Jedenfalls hofft Frau Bauer, dass du mit Pjotr redest. Wir können ihm einen Deal anbieten, wenn er uns Informationen zu Demioff liefert. Irgendwas Konkretes, das zu einer erneuten Festnahme – diesmal ohne Verfahrensfehler – führen kann. Jetzt, wo wir diesen Dreckskerl haben, sollten wir ihn nicht wieder laufen lassen. Wer weiß, ob wir ihn sonst wieder in die Finger kriegen.“

Seifferheld nickte. Er wurde gebraucht. Das Gefühl war unbeschreiblich. Zu gern hätte er mit seiner Gehhilfe ein flottes Freudentänzchen aufs Flurparkett gelegt, aber das ging natürlich nicht. Vor Rogier musste er auf coole Socke machen und den abgeklärten alten Silberrücken geben. Das Tänzchen konnte er später nachholen. „Kein Thema, erledige ich gern.“

„Super.“ Man merkte Rogier die Erleichterung an. „Dann geh ich jetzt mal.“

„Ich melde mich, sobald ich mit Pjotr gesprochen habe.“ Siggi öffnete die Haustür.

Und zuckte zusammen.

Vor der Tür stand seine Schwester Irmgard. Mit einem Korb voller Gemüse. Und einem so eisigen Gesichtsausdruck, dass man damit der Erderwärmung hätte entgegenwirken können.

Auch Rogier van der Weyden zuckte zurück. Er besaß allerdings den taktischen Vorteil, dass er nicht mit Irmi verwandt war und sich mit einem „Na dann, tschüss!“ aus dem Staub machen konnte.

„Ist mein Mann bei euch?“, herrschte Irmi ihren kleinen Bruder an.

„Äh …“, fing Siggi an. Wenn sie ihn derart überrumpelte, mutierte er wieder zum Vierjährigen, den Irmi immer am Ohr zu ziehen gepflegt hatte, wenn sie wütend gewesen war. Automatisch legte sich seine freie Hand um das rechte Ohr.

Irmi schob ihn aber nur beiseite und stob in die Küche. „Helmerich!“, donnerte sie, was ein Fehler war. Die Welpen erwachten. Und weil sie ängstlich erwachten, fingen sie gleich an zu fiepen. Seifferheld schloss rasch die Küchentür, bevor seine Marianne hörte, dass ihre Schützlinge gerade traumatisiert wurden.

Helmerich sprang wie von der Tarantel gestochen auf. „Irmchen …“, fing er an, wurde aber von seiner Frau niedergebügelt.

„Kein Anruf, keine Nachricht, nichts. Ich war krank vor Sorge!“ Die Vibrationen ihrer Stimme ließen das Geschirr im Geschirrschrank klirren.

Seifferheld spechtete in ihren Korb. Mittwochs war immer Markt auf dem Marktplatz von Schwäbisch Hall. Über zwanzig Stände mit bunten Schirmen oder weißen Verkaufswägen und den herrlichsten Köstlichkeiten aus Hohenlohe. Früher hatte seine Schwester ihm immer etwas Besonderes mitgebracht: eine Nussschnecke oder besonders saftige Birnen oder eine Ecke Geifertshofener Käse, aber an diesem Tag lag nur diverses Grünzeug im Korb.

„Irmchen …“ Helmerichs Leiden verstärkte sich angesichts des feuerspeienden Drachens, in den sich sein Weib verwandelt hatte.

Seifferheld räusperte sich. „Dein Mann ist nach dem Trommeln zu mir gekommen, wir haben ein paar Viertele getrunken und sind hier im Wohnzimmer versackt.“

„Halt du dich da raus, Siegfried!“ Irmgard Seifferheld-Hölderlein wurde nicht gern unterbrochen, wenn sie gerade ein in Schieflage geratenes Universum mit ihrer moralischen Wasserwaage wieder ausrichtete. „Helmerich, zu einer funktionierenden Ehe gehören zwei. Ich darf erwarten, dass du mir über deinen Verbleib Auskunft gibst!“

Siggi war sich fast sicher, dass Irmi im Handy ihres Mannes einen GPS-Tracker installiert hatte und sowieso jederzeit wusste, wo Helmerich sich befand.

„Dieses dumme Trommeln nachts im Wald hört jetzt auf!“ Mit Schwung knallte Irmgard den Korb auf den Tisch.

Bocuse und Klaus saßen mittlerweile eng an eng und sahen zu Boden. Nur keinen Blickkontakt mit der außer Rand und Band geratenen Furie. Die Einzige, die völlig relaxt wirkte, war Olga, die sich – die glimmende Elektrozigarette im Mundwinkel – nach unten gebeugt hatte, um die vier verängstigten Welpen abwechselnd zu streicheln. Ihre überlangen Nägel fuhren durch die mehr oder wenigen langen Fellhaare, während sie auf Russisch Beruhigendes gurrte.

Aus alter Gewohnheit nahm Irmgard den Lappen vom Rand der Spüle und wischte einmal quer über die Tischplatte. „Hier müsste auch mal wieder gesaugt werden. Hundehaare in der Küche sind unhygienisch“, erklärte sie mit strengem Blick. Der Blick galt aber nicht Putzfrau Olga, sondern ihrem Bruder. Irmgard und Marianne zofften sich regelmäßig, was die Sauberkeit des Seifferheldschen Heimes anging. Putzfrau Olga blieb da immer außen vor. Sie war wie die neutrale Schweiz bei einem internationalen Konflikt. Obwohl es bei diesem konkreten Konflikt ja gewissermaßen um Schweizer Käse ging …

„Helmerich, wir gehen jetzt.“ Irmgard griff nach ihrem Korb mit dem Grünzeug, das vor den Augen der Betrachter immer welker wurde.

Pfarrer Helmerich Hölderlein stand auf, nickte Bocuse, Kläuschen und Olga zu, seufzte schwer in Richtung Siggi und lief dann wie ein begossener Pudel seiner Frau hinterher. Man hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel.

„Die Ehe ist der Untergang des Mannes“, dozierte Klaus. „Sie legt ihn in Ketten und verurteilt ihn zu einem Leben in Unfreiheit.“ Nicht, dass Klaus gewusst hätte, wovon er sprach. Er war Single und würde das auch bleiben. Seit er kürzlich von seiner letzten Freundin Gunda abserviert worden war, hielt er Frauen im Allgemeinen und Gunda im Besonderen für Satan in Fummel.

Olga tätschelte Klaus die Hand. „Du besser nicht vergessen Vorteile von Ehe“, sagte sie und zwinkerte zweideutig.

Klaus zuckte mit den Schultern. „Ja schon, saubere Wohnung und zwei warme Mahlzeiten am Tag.“ Klaus war ein Mann, der immer nur an das Eine dachte. Nämlich an Essen.

„Und …“, gurrte Olga sinnlich und wackelte mit den Augenbrauen.

„Gebügelte Wäsche!“ Klaus strahlte wie früher in der Schule, wenn er ausnahmsweise die Frage des Lehrers beantworten konnte. Was selten genug vorgekommen war.

Olga gab auf. Siggi schüttelte grinsend den Kopf. Klaus, ein reicher Erbe, war schon von vielen Frauen umcirct worden, aber keine hielt es dauerhaft mit ihm aus, denn im Grunde war er der geborene Junggeselle und nicht partnerschaftstauglich. Seit seine Gummipuppe Mimi – getreue Gefährtin seiner freundinnenlosen Zeiten – nicht mehr zu flicken gewesen war und sich daher nicht mehr aufblasen ließ, war er ein sehr einsamer Junggeselle. Siggi überlegte nicht zum ersten Mal, ob die Kochkursjungs an Weihnachten zusammenlegen und Klaus eine neue Mimi schenken sollten.

„Ich jetzt müssen gehen.“ Olga stand auf, zog den viel zu kurzen Samtrock etwas nach unten und schlüpfte in ihre Jacke mit Leopardenmuster.

Unwillkürlich wanderte Siggis Blick zur Küchenuhr. Kurz vor halb acht. „Äh, sind Sie mit dem Putzen denn schon durch?“, fragte er.

„Aber ja, für heute ich genug getan, Wohnung sauber.“ Olga stöckelte durch den Teppich aus Welpenhaaren zur Küchentür, die kleinen Hunde hinterher. „Oh meine Süßen, ihr nicht könnt mit mir kommen. Husch, husch, in Körbchen.“ Sie beugte sich tief nach unten, um die Welpen zur Seite zu schieben, damit sie hinter sich die Küchentür schließen konnte. Bocuse, Klaus und Siggi starrten wie hypnotisiert in das sich ihnen darbietende Dekolletee – sie konnten nicht anders. Es schien über einen eingebauten Magneten für Männerblicke zu verfügen. Wiewohl Olga keine junge Frau mehr war, im Gegenteil. Aber Sexappeal war ja keine Frage des Aussehens, sondern der Ausstrahlung.

Als sie weg war, atmeten die Männer tief durch, während die Welpen anfingen, die Stuhlbeine anzunagen.

Seifferheld ließ sie gewähren – die Welpen waren Mariannes Verantwortung. Wenn sie das Mobiliar zu Sägespänen zerlegten, dann ging ihn das nichts an.

In Klaus schien sich der eingebaute Begeisterungsschalter umgelegt zu haben, denn mit seiner üblichen Euphorie rief er: „Wo wir jetzt unter uns sind, können wir dir ja erklären, warum wir hier sind, Siggi.“ Er hob die Schallplatten hoch.

Seifferheld setzte sich wieder an seinen Platz und machte da weiter, wo er aufgehört hatte: zweite Butterbrezel und drittes Glas Apfelmost.

„Isch bin nur ’ier, weil ’elmerich misch mitgenommen ’at“, wehrte Bocuse ab, als wolle er mit dem, was jetzt kam, nichts zu tun haben. Er hielt sich mit der einen Hand den Eisbeutel an die lädierte Gesichtshälfte und schaufelte mit der anderen Gsälz auf seine Brötchenhälfte.

„Das wird dich umhauen, Siggi. Weil nämlich, wir singen jetzt!“ Klaus strahlte. Aufgrund seiner Position als reicher Erbe hatte er nie einem Beruf nachgehen müssen. Vor einiger Zeit hatte er aber zum Zeitvertreib eine gastronomische Immobilie in bester Innenstadtlage angemietet und betrieb dort jetzt ein Bistro. Mehr schlecht als recht. Wenn er damit seinen Lebensunterhalt hätte verdienen müssen, wäre er schon längst verhungert. Musste er ja aber nicht. Meistens war sogar er es, der Lokalrunden schmiss. Sein Lebensmittelpunkt waren seine Freunde von der Männerkochkursgruppe. Immer wieder kam er mit neuen Ideen an, was die Jungs gemeinsam auf die Beine stellen konnten – sie hatten sich bereits mehrmals an Amateurkochwettbewerben beteiligt (jedes Mal unterirdisch erfolglos), und einmal hatten sie sogar zusammen ein Kochbuch geschrieben (das Verfahren, das ein Rentner angestrengt hatte, weil er nach dem Nachkochen eines ihrer Rezepte eine böse Magenverstimmung bekam, war noch anhängig).

„Wer singt?“, fragte Siggi. Ihm schwante Schlimmes.

Die Acht vom Herd