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Über dieses Buch:

South Dakota, 1890. Die junge Elaine Goodale will nur eins: dass die vertriebenen und in Reservaten zusammengepferchten Indianer trotz der strengen Regeln und Verbote ein würdiges Leben führen können. In speziellen Schulen lehrt sie sie die Kultur und Sprache der Weißen – und wie sie ihre eigenen Traditionen bewahren können. Doch Elaine hat einflussreiche Widersacher, von den Damen der höheren Gesellschaft über einflussreiche Politiker bis hin zu kirchlichen Würdenträgern: Alle versuchen, ihr Steine in den Weg zu legen. Als sie sich dann auch noch in Charles Eastman verliebt, einen westlich gebildeten und studierten Mediziner, schlägt ihr offene Feindseligkeit entgegen … denn er ist Indianer!

Elaine Goodale Eastman war die erste Frau in den USA, die als „Supervisor of Education“ ein öffentliches Amt bekleidete. Für ihr beeindruckendes politisches Engagement wird sie bis heute bewundert und verehrt.

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und „on the road“ in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Thomas Jeier veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden eBooks:

Die Tochter des Schamanen

Biberfrau

Das Lied der Cheyenne

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Sterne über Vietnam

Sie hatten einen Traum

Flucht durch die Wildnis

Flucht vor dem Hurrikan

Sturm über Stone Island

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe Mai 2018

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Andrey Burmakin, Sara Winter, bestinda 18

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-294-8

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Thomas Jeier

Wohin der Adler fliegt – Das Leben der Elaine Goodale

Roman

dotbooks.

Für Gudrun und Martina – stark wie Elaine

»Besorgte weiße Freunde drängten mich, niemals unbewaffnet mit Indianern zu reisen. Sie waren schlechte Psychologen und noch schlechtere Realisten. Ein Revolver in meinem Gepäck hätte mangelhaftes Vertrauen in meine Begleiter bedeutet und der Tatsache widersprochen, dass ich ihnen vollkommen vertraute und in ihnen die einzig wirkungsvolle Garantie für meine Sicherheit sah.«
Elaine Goodale Eastman

Kapitel 1

Um Mitternacht wurde Elaine durch sich nähernden Hufschlag geweckt. Sie schreckte von ihrem Nachtlager hoch und spähte nervös zum Zelteingang. Durch einen Spalt in der Fellklappe, die ihr Tipi verschloss, fiel der flackernde Schein des Lagerfeuers. Kühler Wind wehte herein, und strich über ihre Haare und ihr Gesicht. Auf der Innenwand ihres kegelförmigen Zeltes bewegten sich geheimnisvolle Schatten.

Sie griff sich ängstlich an die Wange. Obwohl die Indianer schon lange besiegt waren und in Reservaten lebten, kam es immer noch zu gelegentlichen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den weißen Siedlern. Wenn sich betrunkene Weiße in dieser Nacht einen Spaß erlauben und ein Lager friedlicher Indianer überfallen wollten, war sie in ernsthafter Gefahr. Erst vor zwei Wochen waren zwei Krieger, die zum Fasten auf den Bear Butte gestiegen waren, von Weißen verprügelt worden.

»Elaine! Bist du wach?«, hörte sie Weasel Woman rufen. Die Stimme der jungen Indianerin klang gedämpft durch die Zeltwand. »Da kommt jemand!«

Seit das achtzehnjährige Mädchen vor zwei Jahren in ihrer Missionsschule am White River aufgetaucht war und als älteste Schülerin an ihrem Englischunterricht teilnahm, war Elaine mit ihr befreundet. Die zerbrechlich wirkende Minneconjou-Indianerin mit dem schüchternen Lächeln hatte ihr die Sprache der Lakota beigebracht und sie gelehrt, wie man eine Tierhaut mit dem Hirn erlegter Tiere gerbte, zu weichem Wildleder verarbeitete und mit Perlen bestickte. Die Minneconjou waren für ihre fantasievollen Stickereien bekannt.

Ihr Stamm gehörte zu den »Sieben Ratsfeuern« der Sioux. Zusammen mit den Hunkpapa, Oglala und einigen anderen Stämmen lebten sie in den sechs Reservaten der ehemaligen Great Sioux Reservation in South Dakota. Elaine war seit zwei Jahren, also seit 1887, am White River und unterrichtete junge Indianer in der Missionsschule von Bischof William Hobart Hare. Nach dem Ende des Schuljahres hatte sie beschlossen, die Sommerferien mit Whirling Hawk, seinen beiden Frauen und einigen befreundeten Indianern auf einem Jagdausflug zu verbringen. Ein Unternehmen, das ihr beim Bischof und einigen anderen Weißen besorgte Blicke eingebracht hatte. Diese Menschen verstanden nicht, wie man sich als gebildete weiße Frau von der Ostküste mit diesen Wilden einlassen konnte. Elaine kümmerte die Kritik nicht. Sie mochte die Sioux und war begierig darauf, mehr über ihre Kultur zu erfahren. Außerdem versprach so ein Jagdausflug wesentlich mehr Abwechslung als eine frühzeitige Abreise nach Osten und die Dinnerpartys der vornehmen Gesellschaft.

»Kommst du, Elaine?« Weasel Woman war die einzige Indianerin, die sie mit dem Vornamen ansprechen durfte. Alle anderen, auch die Kinder in der Schule, benutzten das förmliche »Ma'am«. Die respektvolle Anrede war das erste Wort, das sie ihnen beibrachte, ähnlich wie in einer weißen Schule.

»Ich komme», antwortete Elaine leise. Sie schlug die Decken zurück und schlüpfte rasch in ihr Kleid – ein einfaches Wildlederkleid, wie es die Indianerinnen trugen. Ein solches Kleid war die praktischste und bequemste Kleidung auf einem Jagdausflug. In ihren bestickten Mokassins, einem großzügigen Geschenk von Weasel Woman, und mit einem mexikanischen Schal über den offenen dunkelblonden Haaren trat sie aus dem Tipi.

Weasel Woman wartete schon ungeduldig auf sie. Als einzige unverheiratete Indianerin ihres Jagdtrupps nächtigte sie, so wie Elaine, in einem eigenen Zelt. Bei ihr standen die Frauen der fünf Männer, die Elaine auf den Jagdtrip eingeladen hatten. Whirling Hawk und One Crooked Foot verharrten mit erhobenen Gewehren vor ihrem Tipi. Der Medizinmann Yellow Eyes und die anderen beiden Männer blieben im Schatten. Alle blickten dem Indianer entgegen, der mit erhobener rechter Hand in den schwachen Feuerschein geritten kam.

»Chasing Crane!«, rief Whirling Hawk erleichtert. Der Anführer ließ sein Gewehr sinken und blickte den Neuankömmling verwundert an. »Du schleichst wie ein Kojote durch die Nacht. Sind deine Augen schon so schlecht, dass du Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden kannst? Oder bist du nur gekommen, um einen Becher Kaffee an unserem Feuer zu trinken?«

Chasing Crane, ein alter Mann mit langen weißen Zöpfen, der zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter einen zerfledderten schwarzen Mantel trug, ließ sich langsam aus dem Sattel gleiten. Er litt an schwerem Rheumatismus. Sein Pferd sah genauso verwahrlost aus wie er und wirkte erschöpft.

»Ich wollte euch nicht erschrecken«, begann er müde. Er schlang die Zügel um einen Strauch. »Und Kaffee wäre gut. Ich habe einen langen Ritt hinter mir. Ich hoffe, ihr habt Zucker. Gib ordentlich Zucker dazu, Hawk.«

Whirling Hawk füllte einen Becher mit Kaffee, schüttete eine halbe Handvoll Zucker hinein und reichte ihn dem Neuankömmling. Chasing Crane rührte ihn mit seinem Messer um. Erst als er vorsichtig daran genippt hatte, schenkte er auch den anderen Teilnehmern des Jagdtrupps seine Aufmerksamkeit.

»Hau«, begrüßte er die Indianer und ihre insgesamt acht Frauen. »Guten Abend, Ma'am«, sagte er zu Elaine. In gebrochenem Englisch sprach er weiter: »Sie sind die Lehrerin vom White River, nicht wahr? Meine Leute erzählen viel Gutes über Sie.«

»Han«, erwiderte Elaine in der Sioux-Sprache. »Hast du den Donner gehört? Es wird ein Gewitter geben. Die Farmer werden sich freuen. Wenn es regnet, gedeiht das Gemüse besser. Hast du auch etwas gepflanzt?«

Er lächelte zufrieden, als er feststellte, wie gründlich Elaine die Gepflogenheiten seines Volkes studiert hatte. Nur wenige Weiße beherrschten seine Sprache und wussten zudem, dass Indianer gern über belanglose Dinge wie das Wetter redeten, bevor sie zur Sache kamen. Ihre Frage beantwortete er jedoch mit einem leichten Kopfschütteln.

»Ich bin ein Hunkpapa-Krieger«, antwortete er, »auch wenn ich schon über sechzig Winter gesehen habe und kaum noch eine Waffe heben kann. Ich werde niemals wie eine Frau auf dem Acker arbeiten.«

Die anderen Männer stimmten ihm zu. Whirling Hawk und seine Begleiter gehörten zu den Traditionellen«, wie Elaine sie nannte. Traditionsbewusste Indianer, die auch im Reservat an den alten Sitten und Gebräuchen festhielten und Leggins, Kriegshemden und Mokassins aus Wildleder trugen. Ihre Haare waren lang oder zu Zöpfen gebunden und mit Adlerfedern geschmückt.

Whirling Hawk hatte inzwischen das Feuer angefacht und bat den Besucher, sich auf einen Felsbrocken zu setzen. Er ließ sich von seiner jüngeren Frau die Pfeife bringen und stopfte sie bedächtig.

»Lass uns rauchen«, sagte er zu dem Gast, ein Ritual, das jeder ernsthaften Unterhaltung vorausging.

Sie setzten sich und ließen die Pfeife kreisen. Whirling Hawk blies den Rauch zum Himmel, zur Erde und in die vier Himmelsrichtungen und sagte: »Wakan Tanka, du begleitest uns in diesen schweren Zeiten auf einen Jagdausflug und lässt uns in die Vergangenheit blicken, dafür danken wir dir.« Er reichte die Pfeife an Chasing Crane weiter, der sie mit zitternden Händen nahm und das Ritual wiederholte. Auch er sprach ein kurzes Gebet und dankte Wakan Tanka dafür, ihn an das Feuer seiner Verwandten geführt zu haben. Die anderen Männer folgten seinem Beispiel. Der Geruch des billigen Tabaks, den Whirling Hawk mit zerstampfter Weidenrinde vermischt hatte, trieb über das Feuer zu den Frauen, die sich respektvoll im Hintergrund hielten.

Elaine wusste, wie wichtig die Pfeifenzeremonie den Indianern war. Selbst die »fortschrittlichen« Indianer hielten daran fest. Mit dem Rauch, so glaubten sie, schafften sie eine Verbindung zu Wakan Tanka, dem Großen Geist, der überall war und alles auf der Erde beseelte: Menschen, Tiere und Dinge. Die weißen Siedler, die sie während der letzten drei Jahre getroffen hatte, taten diese Zeremonie als »heidnischen Geisterkram« ab und vergaßen dabei, dass es auch bei den Christen heilige Symbole und Handlungen gab, die einem neutralen Betrachter seltsam vorkommen mussten – besonders in der katholischen Kirche. Oder war das heilige Abendmahl so anders? Ein Gedanke, über den selbst Bischof Hare nachdachte. Er gehörte zu den wenigen Kirchenmännern, die den Glauben der Indianer respektierten und ihnen nicht verboten, die heilige Pfeife zu rauchen.

Nachdem sie geraucht und weitere Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten, klopfte Whirling Hawk den Tabak über dem Feuer aus und fragte: »Was treibt dich in einer dunklen Nacht wie dieser an unser Feuer, Chasing Crane? Warum sitzt du nicht in deiner Hütte und siehst deinen Enkeln beim Spielen zu?«

Der alte Indianer stellte seinen Kaffeebecher auf den Boden und erhob sich, ein Zeichen dafür, dass er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Trotz seines schäbigen Mantels wirkte er in diesem Moment sehr würdevoll.

Er genoss die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, und verkündete feierlich: »Ich habe Gott gesehen.« Er gebrauchte das englische Wort für »Gott« oder »Jesus«, wie es die christlichen Indianer in der Kirche taten.

Elaine reagierte noch bestürzter als die Indianer am Feuer. Ihre Gestalt straffte sich und nur die Höflichkeit, auf die ihre Eltern so großen Wert gelegt hatten, hielt sie davor zurück, sich in die Unterhaltung einzumischen. Sie tauschte einen Blick mit Weasel Woman und den anderen Frauen, die ebenso entsetzt waren wie sie. So eine kühne Behauptung hatten sie noch nie gehört.

»Gott?«, fragte Whirling Hawk. »Du hast den Gott des weißen Mannes gesehen? Den Mann, den sie ans Kreuz genagelt haben? Du hast ihn gesehen?«

»Unseren Gott«, verbesserte Chasing Crane ihn, »unseren Jesus. Diesmal ist er zu uns gekommen. Er hat zu den Crow am Stony River gesprochen.«

»Und deswegen bist du die halbe Nacht durchgeritten?«, wunderte sich One Crooked Foot. Der krummbeinige Hunkpapa hatte mit einer seiner beiden Frauen gestritten und war schlecht gelaunt. »Die Crow sind unsere Feinde. Wenn du den Messias bei ihnen gesehen hast, kann er nichts Gutes vorhaben. Vielleicht will er sich mit ihnen verbünden, um uns auch noch das letzte Land zu nehmen, das uns die Weißen gelassen haben.« Er warf einen grimmigen Blick auf Elaine, als wäre sie allein für die Reservatspolitik verantwortlich.

»Nicht nur den Crow ist er erschienen», ließ sich Chasing Crane nicht aus der Ruhe bringen, »auch den Cheyenne und den Arapaho und die sind seit vielen Wintern mit uns verbündet. Sie nennen ihn den Messias, so wie die Weißen ihn nannten, als er zum ersten Mal auf die Erde kam. Weil sie ihn ans Kreuz geschlagen haben, will er nicht länger weiß sein. Er ist als Indianer zurückgekehrt, um uns von dem Unglück zu befreien, das die Weißen über uns gebracht haben.« Er musterte Elaine. »Die wenigen Weißen, die uns gut behandelt haben, bleiben von seinem Zorn verschont, doch über den Soldaten und Betrügern wird er den Himmel öffnen und sie jämmerlich ertrinken lassen. Sie werden alle sterben. Wakan Tanka versprach es ihm vor zwei Wintern, als er die Sonne vom Himmel verschwinden ließ und den Tag zur Nacht machte. Gibt es ein besseres Zeichen?«

Elaine konnte sich noch gut an die Sonnenfinsternis erinnern. Sie hatte versucht, den Sioux die Vorgänge am Himmel zu erklären, war aber nicht zu ihnen durchgedrungen. Wissenschaftliche Erklärungen akzeptierten sie genauso wenig wie einige dieser strengen Christen, die darauf bestanden, dass Adam und Eva die ersten Menschen waren und die Frau dem Mann untertan zu sein hatte. Sie glaubte weder das eine noch das andere.

Die Männer am Feuer waren neugierig geworden. »Du hast ihn selbst gesehen, den Messias?«, fragte Whirling Hawk. »Wo kommt er her? Wie sieht er aus? Was hat er gesagt? Spann uns nicht auf die Folter, Großvater!« Mit dieser Anrede bezeugte er seinen Respekt vor dem weißhaarigen Alten.

Chasing Crane stand selten im Mittelpunkt und genoss die Aufmerksamkeit, die ihm widerfuhr. Sein faltiges Gesicht leuchtete im Feuerschein. »Sein Name ist Wovoka«, antwortete er, »und woher er kommt, weiß niemand. Er trägt seine Haare lang wie wir, und er spricht die Sprache eines Volkes, das in der Wüste im Westen lebt, aber jeder versteht ihn, und ich konnte selbst aus der Ferne das Feuer in seinen Augen sehen. Ein loderndes Feuer, das die weißen Betrüger vernichten und uns die alten Zeiten zurückbringen wird. Ihr hättet seine Stimme hören sollen, meine Brüder. Sie war sanft und voller Zuversicht: ›Vor vielen Wintern war ich auf dieser Erde, um die Menschen zu retten‹, sagte er, ›doch die Weißen nagelten mich an ein Kreuz und ließen mich sterben. Diesmal kehre ich zurück, um eure Völker zu retten. Ich weiß, dass ihr mir ewig dankbar sein werdet, denn ich bringe euch die Büffelherden und das Wild zurück. Ich ertrage nicht länger, dass ihr Hunger leidet und an den Krankheiten des weißen Mannes zugrunde geht. Ich will, dass die Tränen eurer Kinder versiegen. Ich werde allem Leid ein Ende bereiten. Ich verwandele das trockene Land, das euch die Weißen gelassen haben, in einen blühenden Garten. Der große Regen, der alle Weißen hinwegschwemmen wird, bringt das Grün in eure Jagdgründe zurück. Singt die alten Lieder, tanzt den neuen Geistertanz, den ich euch lehre, betet zu Wakan Tanka, der in allen Lebewesen und Dingen lebendig ist.‹ So habe ich den Messias reden hören. Ich glaube ihm. Er ist ein bedeutender Mann. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Seinen Worten folgte eine lange Stille. Nur das Knistern des Feuers und das leise Rauschen des Windes war zu hören. Einer der Hunde bei den kleinen Planwagen, in denen sie ihren Proviant verstaut hatten, jaulte leise.

Die Worte von Chasing Crane machten auf Elaines Begleiter gewaltigen Eindruck. Selbst Weasel Woman, die vor zwei Jahren getauft worden war und jeden Sonntag in die Kirche ging; konnte sich der Wirkung seiner Worte nicht entziehen. Und das war kaum verwunderlich. Nach dem Unglück, das mit der Einweisung in die Reservate über die Indianer gekommen war, bedeutete ein solches Versprechen den ersten Lichtblick seit vielen Jahren. Selbst wenn man nicht an Wovoka glaubte, schienen seine Worte neue Hoffnung zu bringen.

Elaine wusste nicht, was sie von dem indianischen Messias halten sollte. Als Lehrerin an einer Missionsschule hätte sie entrüstet sein und energisch widersprechen müssen, aber damit wäre nichts gewonnen gewesen. Warum sollte man den Sioux ihre Hoffnung nehmen? In den drei Jahren, die sie bereits im Westen lehrte, waren zu viele Dinge passiert, die den Indianern nur Leid und Verzweiflung gebracht hatten.

Trotz eines bestehenden Vertrages hatte man ihnen die heiligen Pa Sapa, die Black Hills, genommen und die Great Sioux Reservation in sechs kleinere Reservate aufgeteilt. In den Dörfern hatten die Masern und der Keuchhusten gewütet. Die Lebensmittel, die Washington an die bedürftigen Indianer verteilte, waren radikal gekürzt worden. Seit mehreren Monaten hatte es kaum geregnet und die ohnehin karge Ernte der Indianer war verdorrt. Konnte man den Sioux böse sein, wenn sie sich einem Messias zuwandten? Bischof Hare würde sich natürlich die Haare raufen, wenn er davon hörte. Vor allem, weil sich dieser Wovoka ungeniert der christlichen Heilslehre bediente. Ein geschickter Schachzug, um auch die christlichen Indianer für sich zu gewinnen. Aber nur für kurze Zeit, nahm sie an, denn wer konnte ernsthaft glauben, dass die Büffel zurückkehrten? Oder ein großer Regen alle Weißen aus dem Land vertrieb?

Elaine schlief wenig in dieser Nacht. Bis in den frühen Morgen trommelten und tanzten die Indianer, auch die Frauen, denn der Messias hatte ausdrücklich befohlen, dass Männer und Frauen den Geistertanz, der die alten Zeiten zurückbringen würde, gemeinsam tanzen sollten. Vom lodernden Feuer, das sie mit reichlich Holz und Pferdedung geschürt hatten, drang der dumpfe Rhythmus der Trommeln und der eintönige Singsang ihrer Begleiter zu ihr ins Tipi und riss sie jedes Mal, wenn sie gerade die Augen geschlossen hatte, aus dem Schlaf. »Die Büffel kehren zurück! Die Büffel kehren zurück!«, hörte sie ihre Begleiter singen, und als sie neugierig ihren Kopf aus dem Tipi streckte, sah sie auch Weasel Woman im roten Feuerschein tanzen.

Vergebliche Träume, sagte sie sich. Alles nur Illusionen. Eine bessere Zukunft für die Indianer konnte es nur geben, wenn man mehr Schulen in den Reservaten einrichtete, vor allem Day Schools, die es den Schülern ermöglichten, in ihren Dörfern wohnen zu bleiben. Bildung war der Schlüssel zu einem besseren Leben, nicht die verworrenen Träume eines selbst ernannten Propheten. Deshalb hatte sie die Sioux unterrichtet und nur deshalb würde sie sich auch weiterhin für ihre Belange einsetzen. Sie würde nicht aufgeben.

Doch als sie am nächsten Morgen aus dem Tipi trat, wurde sie von Blitz und Donner begrüßt. Ein schweres Gewitter prasselte auf sie herab, und sie glaubte tatsächlich, von dem strömenden Regen weggespült zu werden.

Whirling Hawk hatte sich in eine wasserdichte Plane gehüllt und war bereits damit beschäftigt, die Pferde vor den Wagen zu spannen. Er brauchte nichts zu sagen, um ihr klarzumachen, welche Wirkung die Nachricht von Chasing Crane bei ihm hinterlassen hatte. Sein grimmiges Lächeln verriet ihr genug.

Kapitel 2

Einige Tage später war alles Wasser verdampft und vor ihnen lag wieder das ausgedörrte und trockene Land. Außer Salbei, Greasewood und vereinzeltem Wacholder wuchs in den Nebraska Sandhills kaum etwas. Die Sonne brannte erbarmungslos vom leicht bewölkten Himmel, wie ein loderndes Höllenfeuer, das alles Leben auf der Erde zu vernichten drohte.

Elaine ritt auf ihrer gescheckten Stute im Damensattel, wie sie es im heimatlichen Massachusetts gelernt hatte. Weasel Woman und Esther, die beiden jüngsten Sioux-Frauen, saßen rittlings auf ihren Ponys, die anderen Frauen mühten sich mit den Wagen ab. In dem zerklüfteten und felsigen Land war es schwer, einen Weg für sie zu finden. Die Männer ritten ihre gescheckten Pferde, den letzten Besitz, den sie ins Reservat gerettet hatten. Die Wagen hatten sie von einem weißen Händler geliehen, gegen bestickte Mokassins, die er für viel Geld verkaufen würde.

In dem zerklüfteten, von zahlreichen Bodenrinnen und schmalen Schluchten durchzogenen Land kamen sie nur langsam voran. Es gab weder Straßen noch Trails, nur trockene Erde, die selbst nach einem starken Gewitter innerhalb weniger Stunden wieder zu Sand zerfiel. Unter den Rädern ihrer Planwagen wirbelten Staubwolken auf und hingen minutenlang in der Luft.

Zwei Tage nachdem Chasing Crane bei ihnen gewesen war, kehrte One Crooked Foot mit einer erlegten Antilope von einem Ausflug zurück. Er teilte das Fleisch mit allen und hatte zumindest an diesem Abend gute Laune. Sogar seine ältere Frau lächelte ein wenig. Bis in die späte Nacht feierten sie.

Weitere zwei Tage später erreichten sie eine schäbige, aus Grassoden errichtete Hütte. Unter einem Vordach aus morschen Brettern lagen einige Heuballen. Im Schlamm vor der Hütte suhlten sich zwei Schweine und mehrere Ferkel.

Als sie ihre Wagen und die Pferde auf die Hütte zu lenkten, sprang ihnen ein zottiger schwarzer Köter entgegen und bellte ihre Pferde an. Die ältere Frau von One Crooked Foot vertrieb ihn, indem sie ein Stück Holz nach ihm warf.

Ein Mann mit einer alten Sharps-Flinte und eine verhärmte Frau in einem farblosen Calico-Kleid traten aus der Hütte und blickten ihnen misstrauisch entgegen. Hinter ihnen kamen vier Kinder heraus und drängten sich wie die Orgelpfeifen zwischen ihre Eltern. Elaine bemerkte, dass der Siedler den Finger am Abzug hatte und auch Whirling Hawk und One Crooked Foot ihre Gewehre schussbereit über den Sätteln liegen hatten. Die Indianerkriege waren zwar lange vorbei, aber sicher konnte man in dieser Gegend nie sein.

Elaine trieb ihr Pferd an und zügelte es vor der Familie. Keine Angst, wir kommen in friedlicher Absicht«, begrüßte sie die Leute höflich.

Der Mann blickte ungläubig zu ihr auf. »Du reitest im Damensattel? Du sprichst unsere Sprache? Du warst wohl auf dieser Internatsschule im Osten, von der sie in der Stadt erzählen.« Er kniff die Augen zusammen und musterte sie gegen das Sonnenlicht. »War dein Vater weiß? Oder deine Mutter?«

Elaine war es gewohnt, dass man sie für eine Indianerin hielt. Zumindest hier draußen, wo sie wie eine Sioux gekleidet war, sie ihre Haare zu einem langen Zopf geflochten trug und ihr zerbeulter Hut einen dunklen Schatten auf ihr Gesicht warf. Ihre Haut war von Wind und Wetter gebräunt und ließ sie, wenn man ihre blauen Augen nicht bemerkte, tatsächlich wie eine Sioux aussehen.

Sie stieg aus dem Sattel und schob amüsiert ihren Hut zurück. »Elaine Goodale«, stellte sie sich vor. »Ich unterrichte an der Missionsschule am White River. Ich begleite meine indianischen Freunde auf einem Jagdausflug.«

Der Mann wusste nicht, was er sagen sollte. Eine weiße Frau, noch dazu eine angesehene Lehrerin, hatte er nicht bei den Indianern erwartet. Welche Frau zog schon freiwillig mit einer Horde zerlumpter Wilder durch die Gegend? Ganz allein und ohne jeden Schutz? Als weiße Frau und gerade als Lehrerin war man doch sicher froh, wenn man das Reservat so schnell wie möglich hinter sich lassen und in die Zivilisation zurückkehren konnte.

Seine Frau konnte es genauso wenig fassen. Sie legte beide Hände an ihre Wangen und sagte: »Diese ... diese Wilden sind Ihre Freunde, Miss?«

»Weasel Woman ist eine getaufte Christin«, stellte Elaine ihre indianische Freundin vor. »Und sie ist meine beste Schülerin. Die anderen Männer und Frauen sind mit ihr verwandt.« Sie zählte die Namen ihrer Begleiter auf. »Könnten wir vor ihrem Haus übernachten? Wir haben frisches Antilopenfleisch. Wie wäre es, wenn wir zusammen zu Abend essen, Ma'am? Es ist genug für alle da. Wenn Sie die Biskuits beisteuern, laden wir Sie gern zum Essen ein.«

»Frisches Antilopenfleisch?« Der Siedler sicherte sein Gewehr, behielt es aber in den Händen. »Das hatten wir seit einer halben Ewigkeit nicht mehr. Ein paar Karnickel und Präriehunde hab ich geschossen, mehr nicht.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Indianer. »Und sie reisen wirklich mit diesen ... diesen Wilden? Sind die denn nicht gefährlich?« Als Elaine nicht darauf antwortete, fuhr er verlegen fort: »Ich dachte, es gäbe keine Antilopen mehr.«

»One Crooked Foot ist unser bester Jäger«, erklärte Elaine. Sie wiederholte es in der Sioux-Sprache. Ihre Worte zauberten ein kaum merkliches Lächeln auf die grimmigen Züge des Kriegers. »Er findet noch Wild, wenn andere längst von Kaninchen und Präriehunden leben.« Auch diesen Satz übersetzte sie in die Sioux-Sprache. Sie sprach fast ohne einen Akzent.

»Sie sprechen die Sprache der Wilden?« Die Frau machte erneut einen verstörten Eindruck, sie hatte anscheinend immer noch Angst vor den Indianern. Aus großen Augen blickte sie Elaine an. »Wie kommt eine weiße ... eine gebildete Frau dazu, mit Wilden auf die Jagd zu gehen? Haben Sie denn keine Angst?«

Elaine war solche Fragen gewöhnt und reagierte relativ gelassen. »Diese Sioux gehören zu meinen besten Freunden, Ma'am. Für mich sind sie keine Wilden. Sobald Sie einige Zeit mit ihnen verbringen, stellen Sie fest, dass wir uns sogar sehr ähnlich sind. Wir sind alle Menschen, oder etwa nicht? Viele Indianer gehen zur Kirche und viele ihrer Kinder besuchen die Schule, damit sie es einmal besser haben als ihre Eltern. Sie sind gute Menschen. Der Krieg ist lange vorbei und sie kämpfen nur noch darum, einigermaßen über die Runden zu kommen und am Leben zu bleiben.« Sie bemerkte, dass sie mal wieder in den Fehler der meisten Lehrerinnen verfallen war und sich besserwisserisch verhielt. »Lassen Sie uns zusammen essen, Ma'am«, schlug sie deshalb erneut vor, »und Sie werden erkennen, wie unbegründet ihre Angst ist.«

Die Aussicht auf einen Antilopenbraten war für die Siedler so verlockend, dass weder der Mann noch die Frau etwas gegen den Vorschlag einwandten. Sie stellten sich als Augustus und Justine Schmitt vor, zwei Einwanderer aus dem fernen Europa, aus Deutschland, was auch ihren harten Akzent erklärte. Sie waren vor einigen Jahren mit dem Schiff nach New York gekommen, hatten dort ein halbes Jahr in der Lower East Side in einer Mietskaserne gehaust und waren dann bei der ersten Gelegenheit nach Westen gezogen. Hier ging es ihnen noch schlechter als den Indianern. Die wenigen Schweine, eine magere Milchkuh und ein Kartoffelacker, der kaum etwas hergab, waren ihre einzige Einnahmequelle. Das Gemüse in dem kleinen Garten neben dem Haus war während der langen Trockenheit verdorrt und hatte sich auch nach dem Gewitter nicht mehr erholt.

Im Haus sah es nicht viel besser aus. Der Siedler hatte die Grassoden, aus denen es gebaut war, nur teilweise mit Brettern verschalt. Durch einen breiten Spalt in dem Vorhang, der den Wohnbereich vom Schlafraum abtrennte, erkannte Elaine, dass die Wände im Schlafraum mit der Plane eines Wagens abgehängt waren. Auf dem verblichenen Stoff konnte sie noch die Buchstaben des Firmennamens der Frachtgesellschaft lesen. Aus demselben Material waren die Vorhänge vor dem einzigen Fenster. Auf dem bloßen Erdboden stand ein Tisch mit fünf Stühlen, ein Küchenschrank und ein Herd, und an einem der Bretter hing das gerahmte Hochzeitsfoto der Schmitts.

»Wir haben in Deutschland geheiratet«, sagte Justine Schmitt, während Elaine das Foto betrachtete. »Im Ulmer Münster.« Es klang wehmütig, als sehne sie sich nach Deutschland zurück. »Kennen Sie Ulm? Ulm ist eine schöne Stadt.«

»Nein«, erwiderte Elaine, »ich komme von einer Farm in Mount Washington – das liegt in Massachusetts. Ich war noch nie in Europa.« Sie sah ihr beim Kneten des Teigs zu, half ihr, die Biskuits zu formen und das Blech in den Ofen zu schieben. »Sie haben es nicht einfach hier draußen, nicht wahr?«

Justine schloss die Ofentür und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Im hellen Sonnenlicht, das durchs Fenster hereinfiel, war deutlich zu erkennen, wie sehr ihr Wind und Wetter und das harte Leben auf der Prärie zugesetzt hatten. Sie konnte höchstens vierzig sein, sah aber aus wie sechzig.

Sie setzte sich auf einen Stuhl und legte beide Hände in den Schoß. »Wir hatten es nie einfach, Ma'am. In Deutschland wollten sie uns einsperren, weil wir die Pacht nicht mehr bezahlen konnten, und in New York ...« Sie senkte die Stimme, damit ihr Mann, der den Indianern auf der Lichtung vor dem Haus beim Braten der Antilope half, sie nicht hören konnte. »In New York verprügelten die Iren meinen Mann, bis er kaum noch stehen konnte. Die Iren mögen uns nicht, wissen Sie? Eigentlich wollten wir nach Kalifornien. Dort soll es fruchtbare Täler geben. Aber irgendwie hat es nicht geklappt. Wie wir in dieser Einöde gelandet sind, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht hätten wir in den Black Hills nach Gold graben sollen, dann wären wir jetzt vielleicht reich und könnten uns doch eine Farm in Kalifornien leisten.«

»In den Black Hills wurde kaum jemand reich«, klärte Elaine die Siedlerfrau auf. Sie ging nicht darauf ein, dass man die Berge den Sioux weggenommen und Elaine sich in zahlreichen Zeitungsberichten und Vorträgen gegen die Verkleinerung der Great Sioux Reservation gewandt hatte. Stattdessen lächelte sie der Frau aufmunternd zu. »So eine Trockenheit wie dieses Jahr kann es nur einmal geben. Sie werden sehen, nächsten Sommer geht es wieder aufwärts.«

Die Indianerfrauen hatten die Planwagen zu einem Halbkreis zusammengefahren, um besser gegen den böigen Wind geschützt zu sein. In ihrem Schatten setzten sie sich zum Essen nieder. Das Antilopenfleisch schmeckte köstlich und zauberte neuen Glanz in die Augen der Siedler. Sie hatten die letzten Monate fast ausschließlich von Maisbrot und Mehlsoße gelebt und waren froh, endlich wieder einmal Fleisch zu essen. Toby, der siebenjährige Sohn der Siedlerfamilie, schlang so viel in sich hinein, dass er sich übergeben musste.

Obwohl die Indianer noch vor wenigen Tagen für die Rückkehr der alten Zeiten und den Tod oder die Vertreibung der weißen Eindringlinge getanzt und gesungen hatten, verstand man sich großartig. Im flackernden Schein des Feuers erzählten die Schmitts von Deutschland und der großen Kirche, in der sie getraut worden waren, und Whirling Hawk, der beste Geschichtenerzähler des Jagdtrupps, berichtete von dem schlauen Kojoten, der seinen Stamm ständig zum Narren hielt, und Elaine übersetzte. Als Augustus Schmitt schließlich eine Maultrommel aus seiner Hosentasche zauberte und einige Lieder zum Besten gab, verstand man sich so gut, als hätten alle am Feuer die gleiche Hautfarbe.

Erst kurz vor Mitternacht, als das Feuer schon beinahe heruntergebrannt war, gab es Ärger. One Crooked Foot entfernte sich vom Feuer, angeblich, um sich hinter einem Gebüsch zu erleichtern. Doch als Elaine sich umdrehte, um eine Decke über ihre Schultern zu ziehen, sah sie, wie er im Haus verschwand. Er kehrte mit dem Sharps-Gewehr des Siedlers zurück und rief: »Was willst du für das Gewehr haben, weißer Mann? Mein Kriegshemd? Meine Mokassins?«

Augustus sprang auf und griff nach seinem Messer. Er ließ es aber stecken und schnauzte den Indianer nur an: »Was fällt dir ein, mein Gewehr zu stehlen? Bring es ins Haus zurück, du Strauchdieb, oder ich drehe dir den Hals um!«

One Crooked Foot machte sich gern über andere Leute lustig. Beinahe liebevoll strich er über das Schloss der Waffe. »Ein gutes Gewehr. Damit könnte ich viele Antilopen erlegen. Und Büffel, wenn sie wiederkommen. Was willst du dafür haben, weißer Mann? Ich will es nicht stehlen, ich will bezahlen.«

Elaine wusste, wie eine solche scheinbar harmlose Situation eskalieren konnte, und erhob sich hastig. Sie trat zwischen One Crooked Foot und Augustus Schmitt. »Er will Ihnen das Gewehr nicht wegnehmen«, versuchte sie den Siedler zu beruhigen. »Er hätte nicht allein ins Haus gehen dürfen, das stimmt, aber er hat es nicht böse gemeint. Er will Ihnen das Gewehr abkaufen und fragt, was Sie dafür haben wollen. Seine Mokassins? Sein Kriegshemd?«

»Ich will es aber nicht verkaufen«, erwiderte der Siedler, immer noch aufgebracht. »Ich habe nur dieses eine Gewehr. Außerdem ist es verboten, Waffen und Munition an Indianer zu verkaufen. Das müssten Sie doch wissen!«

Natürlich wusste Elaine das. Auch der Verkauf von Alkohol an Indianer war streng verboten – ein Gesetz, das sie immer unterstützt hatte.

Sie wandte sich an One Crooked Foot. »Sei vernünftig«, forderte sie ihn auf. »Du weißt, dass es verboten ist, Waffen an Indianer zu verkaufen. Gib sie zurück.«

Der Indianer wollte nicht hören und trat auf den Siedler zu. »Was will der weiße Mann mit einem Gewehr, wo er doch nicht einmal weiß, dass es noch Antilopen gibt? Worauf will er denn schießen? Auf seine Schweine?«

»Gib ihm die Waffe zurück«, mischte sich Whirling Hawk ein. Er befürchtete wohl ebenfalls, dass One Crooked Foot mit seiner provozierenden und vorlauten Art einen gefährlichen Zwischenfall heraufbeschwor. »Wir wollen keinen Ärger mit den Weißen. Sie haben uns gut behandelt. Gib sie zurück.«

Die Frau, mit der One Crooked Foot ständig stritt, sprang auf. »Lass den Unsinn!«, rief sie. »Oder willst du, dass sie uns in das Haus mit den vergitterten Fenstern sperren? Du weißt, was mit dem Krieger passiert ist, der Rinder von den Weißen gestohlen hat. Willst du auch an einem Strick baumeln?«

»Halt den Mund!«, blaffte One Crooked Foot zurück. »Ich will das Gewehr nicht stehlen. Ich bezahle dafür. Ich will mit dem weißen Mann handeln.«

»Es ist verboten! Du hast es gehört!«

Elaine überlegte gerade, wie sie den Krieger dazu bringen konnte, die Waffe aus der Hand zu legen, als sich die Frau des Siedlers zu Wort meldete. Das Festmahl hatte ihr anscheinend neue Kraft und neuen Mut gegeben. Oder möglicherweise war es auch die Verzweiflung, die sie fragen ließ: »Hast du Geld? Wenn du uns Geld gibst, kannst du das Gewehr behalten.« Sie blickte ihren Mann an. »So ist es doch, Augustus, nicht wahr? Wir brauchen Geld.«

»Indianer haben kein Geld«, erwiderte der Siedler. »Die sind genauso arm oder noch ärmer als wir. Du hast doch gehört, was ihnen die Regierung gibt.«

»Ich habe Gold«, verkündete One Crooked Foot zur Überraschung aller. Er ging mit dem Gewehr zu einem der Wagen, kramte in einem Koffer, den er während des Krieges gestohlen hatte, und kehrte mit einem kleinen Lederbeutel zurück. Er klemmte das Gewehr unter den Arm und schüttete zwei Nuggets auf seine linke Handfläche. »Ich gebe dir ein Nugget für das Gewehr. Das ist mehr, als du von jedem weißen Händler dafür bekommen würdest.«

»Wo hast du die Goldkörner her?«, rief One Crooked Foots streitbare Frau. »Warum weiß ich nichts davon? Wir hätten Stoff für neue Kleider kaufen können. Und einen neuen Topf. Was willst du mit einer Waffe? Du hast ein Gewehr. Ist das nicht genug? Schießt du neuerdings mit zwei Gewehren?«

Schweig!«, herrschte One Crooked Foot sie an. »Du verstehst nichts von Gewehren. Mit einer Sharps kann man viele Büffel töten. Buffalo Bill hatte so ein Gewehr. Wenn die Herden zurückkommen, werde ich es brauchen.«

Er wollte dem Siedler eines der Nuggets geben, aber der deutete auf seine Frau, die bereits die Hand aufhielt und es rasch in ihrer Schürzentasche verschwinden ließ. Sie mussten das Gold sehr dringend brauchen, wenn sie dafür sogar ihr einziges Gewehr eintauschten.

»Es soll niemand sagen, wir würden den armen Weißen nicht helfen«, spottete der Indianer. Elaine übersetzte die Worte nicht, sie wollte den armen Siedler und seine Frau nicht unnötig demütigen.

Unter den Indianern löste die Bemerkung von One Crooked Foot große Erheiterung aus und am nächsten Morgen, als sie sich von den Siedlern verabschiedet hatten und weiterzogen, erfuhr Elaine auch den Grund dafür.

»Ist es nicht komisch, dass es Weiße gibt, die noch ärmer sind als wir?«, rief Whirling Hawk, als sie außer Hörweite der Hütte waren. »Sie haben uns die heiligen Pa Sapa und alles Land genommen, das ihnen wertvoll erscheint, und doch gibt es Weiße, die noch weniger zu essen haben als die ärmsten Sioux. Die in schäbigen Hütten wohnen, trockene Felder pflügen und so magere Milchkühe haben, dass man keinen Tropfen mehr herausbekommt.«

»Und wir haben ihnen geholfen«, tönte One Crooked Foot, diesmal ohne einen Kommentar seiner Frau. »Wir haben ihnen mehr Essen und mehr Gold gegeben, als die Regierung uns gibt.« Er reckte die Hand mit dem neuen Gewehr in die Höhe.

Da wusste Elaine, dass ihre Begleiter durch die Begegnung mit der mittellosen Siedlerfamilie einen Teil ihres Stolzes zurückgewonnen hatten. Warum sollten sie sich beklagen, wenn es weiße Familien gab, die noch ärmer waren als sie und nicht mal wussten, dass es noch Antilopen gab?

Doch woher der Krieger die Nuggets hatte, erfuhr sie nie.

Kapitel 3

Am Niobrara River verbrachten Elaine und die Indianer mehrere Tage in einer mit Kiefern bewachsenen Schlucht. Dort gab es mehr Antilopen, als sie während der letzten Wochen insgesamt gesehen hatten, und jede Mahlzeit war ein Fest.

Mit den Wagen war in der zerklüfteten Schlucht kaum ein Vorwärtskommen, daher lagerten sie gleich hinter dem Eingang im Schutz einiger schroffer Felsen. Während die Männer auf der Jagd waren und der Medizinmann Yellow Eyes an einem geheimen Ort zum Großen Geist betete, zog Elaine mit den Frauen los und sammelte Spruce Gum, einen Kaugummi aus Fichtenharz, der bei den Sioux sehr beliebt war. Weasel Woman zeigte ihr Teepsinna, eine Wurzel mit süßlichem Geschmack, die nach Pilzen und Rüben schmeckte.

Elaine lernte viel in diesem Sommer. Von Yellow Eyes erfuhr sie, dass »Wakan Tanka« eigentlich »Großes Geheimnis« bedeutete und jeder junge Krieger vier Tage und vier Nächte auf einem einsamen Berg fastete, um seinen Schutzgeist zu treffen, einen Schutzengel in Tiergestalt, der ihn sein ganzes Leben begleiten würde. Weasel Woman und einige der anderen Frauen zeigten ihr Kräuter, Wurzeln und Beeren, die sie zum Kochen und Verfeinern von Gerichten benutzten. Sie lernte, dass die »Squaws«, wie sie abfällig von den meisten Weißen genannt wurden, keine Sklavinnen waren und sich sehr wohl gegenüber den Männern behaupten konnten – nicht nur die streitbare Frau von One Crooked Foot. Dass Indianer nicht so ernst und grimmig waren, wie die Weißen behaupteten, und sogar herzlich lachen konnten. Dass Indianerinnen keuscher als gottesfürchtige weiße Frauen in New England waren und selten nackte Haut sehen ließen. Sie erfuhr, wie großzügig Indianer waren und wie herzlich und freundlich sich besonders die Frauen verhielten.

Whirling Hawk überraschte sie. Der ernste Krieger und Anführer des Trupps erwies sich während ihres sommerlichen Jagdausflugs als humorvoller Mann, der sich auch für einen Scherz nicht zu schade war. Als sie an einen Bach kamen und mehrere Enten im Wasser schwimmen sahen, sprang er, ohne zu zögern und ohne sich seiner Kleidung zu entledigen, einfach ins Wasser und fing zwei Enten mit bloßen Händen. Am abendlichen Lagerfeuer brach er darüber in schallendes Gelächter aus.

Die Sandhills waren ein einsames Land. Wie die erstarrten Wellen eines stürmischen Meeres lag es vor ihnen, ein Ozean aus trockener Erde und gelbem Gras, der von vereinzelten Schluchten und schmalen Bächen durchzogen wurde. Die wenigen Siedlungen, eigentlich nur schäbige Dörfer oder Ansammlungen von ein paar Häusern, verdankten ihre Existenz entweder einer Ranch oder der Eisenbahn, die 1887 bis in die Sandhills vorgedrungen war. Ihre Schienen zerteilten das endlose Grasmeer wie eine Lebensader.

Im August erreichten Elaine und der Jagdtrupp einen Ort, der Whitman hieß, inmitten blühender Sonnenblumen und einer vom Wind aufgeblähten Wolke aus feinem Sand lag und nur aus sechs Häusern bestand, darunter der Bahnhof, ein Frachtgebäude, eine Kirche, ein Laden und ein »Saloon & Restaurant«, das weder den einen noch den anderen Namen verdiente.

Sie lagerten vor der Stadt zwischen den Sonnenblumen und bekamen augenblicklich Besuch von den meisten Bürgern der Stadt. Whitman hatte fünfzehn Einwohner, brüstete sich' aber damit, ein bedeutender Handelsplatz zu sein. »Sonst wäre bestimmt nicht die Eisenbahn hier durchgekommen«, betonte Howie Lennox, der Ladenbesitzer und selbst ernannte Bürgermeister der Siedlung.

Wie fast überall in den Sandhills wurden Elaine und die Indianer freundlich von den Siedlern aufgenommen, was vor allem ein Verdienst der jungen Lehrerin war, die auch hier befremdliche Fragen über sich ergehen lassen musste, bevor ein vernünftiges Gespräch in Gang kam. »Beaufsichtigen Sie die Indianer?«, fragte etwa Howie Lennox, und seine Frau, eine knochige und im rauen Nebraskawind rasch gealterte Lady, schlug vor, mit den Indianern nach Osten zu reisen und dort einen Zirkus zu gründen, »so wie dieser Buffalo Bill. Der macht ein Vermögen mit den Wilden. Das sollten Sie auch versuchen.«

Elaine war jedoch mehr daran interessiert, ob mit der Eisenbahn einige Briefe für sie gekommen waren. Bevor sie losgezogen waren, hatte sie ihrer Mutter und ihrer Schwester Dora in Northampton den Bahnhof in Whitman als Adresse mitgeteilt. Tatsächlich wartete ein Brief ihrer Schwester im Telegrafenbüro auf sie.

Während die Indianer und die meisten Bürger versuchten, mit ihrer wenigen Habe einen Tauschhandel aufzuziehen, setzte sich Elaine auf eine Bank am Bahnhof und las den Brief.«

Liebe Elaine«, begann Dora, »ich habe mich sehr gefreut, endlich wieder von dir zu hören. Ich weiß nicht, ob ich bereuen soll, nicht mit dir in die Dakotas gezogen zu sein, aber dazu erscheint mir das Leben in der Wildnis doch zu mühselig und entbehrungsreich. Wie anders sich das Leben außerhalb unserer kleinen Welt in den Berkshires doch präsentiert. Was dich allerdings dazu treibt, dein Talent und dein Wissen ausgerechnet den Indianern zu widmen, werde ich wohl nie verstehen. Man muss sicherlich von großartigen Idealen und dem entschiedenen Willen, die Segnungen der Zivilisation selbst in die entlegensten Gebiete unseres Landes zu bringen, beseelt sein, um die Mühsal des Lebens in der Wildnis ertragen zu können. Mich würde schon das Wetter abschrecken, die unerträglich heißen Sommer und die Staubstürme, von denen du berichtest, die heftigen Gewitter und die strengen Winter. Ich bedauere die Indianer, dass man sie in diese entlegenen Gebiete vertrieben hat, und denke oft darüber nach, wie du es fertigbringst, in diesem doch von großer Armut und ständiger Gefahr bestimmten Land zu überleben und dich an deinem mühseligen Alltag sogar noch zu erfreuen.«

Elaine ließ die Hand mit dem Brief sinken und blickte am Schienenstrang entlang auf die untergehende Sonne. Ihre Schwester hatte recht. Ihre Heimat lag mehrere Tagesreisen entfernt und dies war ein anderes Land, vielleicht sogar ein anderer Kontinent. Hier lebten Menschen, die man an der Ostküste nur vom Hörensagen oder aus den Wildwestshows eines Buffalo Bill kannte und als »bedauernswerte Eingeborene« oder »gefährliche Wilde« sah. Niemand verstand die Sioux wirklich, nicht einmal General Armstrong, der Gründer der Indian School in Hampton Roads, was ein Grund dafür war, warum sie in den Westen gefahren war, um die Indianer als Menschen kennenzulernen.

Sie hielt den Brief in den Lichtschein der einsamen Laterne am Bahnhofsgebäude und las weiter: »Gleichwohl weckt deine aufopferungsvolle Arbeit großes Interesse in der Presse und bei den Behörden. Der freundliche General Armstrong hat uns schon mehrmals besucht und blieb einen Abend sogar zum Essen, nur um Mutter mitzuteilen, was für eine fähige Tochter sie habe. Du hättest Mutter sehen sollen. Du weißt, dass sie von deiner Berufswahl und deinem Drang zur Unabhängigkeit nicht gerade begeistert ist, aber dieses Lob von einem so anerkannten Mann gefiel ihr doch. Herbert Welsh, der Gründer der Indian Rights Association, machte auf dem Rückweg von einer Konferenz bei uns halt und war ebenso voll des Lobes. Er will dich nach deiner Rückkehr im Herbst für eine Vortragsreise verpflichten. Es bleibt doch dabei, dass du im Herbst für längere Zeit aus deinem Exil in den Osten zurückkommst?«

Elaine seufzte bedrückt. Sie hatte Weasel Woman noch nicht gesagt, dass sie als Lehrerin in der Missionsschule aufhören und nach dem Jagdausflug in ihre alte Heimat zurückkehren würde. Nicht für immer, nur so lange, bis sie den Ausbau der Day Schools vorangetrieben hatte und eine neue, verantwortungsvollere Stellung in den Sioux Reservations angeboten bekam. Aber ein Jahr konnte es schon dauern, bis man sie ins Land der Sioux zurückschickte.

»Mutter lässt dich herzlich grüßen«, schrieb Dora weiter. »Nach der Trennung von unserem Vater, der jetzt in New York lebt und sich nur noch selten meldet, ist sie sichtlich aufgeblüht. Sie schreibt Gedichte für einige Zeitungen und verbringt viel Zeit in Bibliotheken und im Theater. Auch ich habe einen künstlerischen Weg eingeschlagen und studiere jetzt an der Art School am Smith College. Wie du weißt, sind wir nach der Trennung in ein gemietetes Landhaus nach Northampton gezogen. Du bist herzlich eingeladen, bei uns zu wohnen, wenn du kommst. Das schreibe ich dir auch im Namen von Mutter. Sie wollte dir ebenfalls einen Brief schreiben, aber du weißt ja, wie sie ist. Neben ihrer künstlerischen Arbeit ist sie vor allem um die Disziplin in unserem Haus besorgt und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihre beiden ältesten Töchter einen angesehenen Mann heiraten und ihr Streben nach einem eigenen Beruf einschränken. Damit wird sie wohl weder bei dir noch bei mir Erfolg haben. Für einen Ehemann würde ich meinen Beruf niemals aufgeben. Es müsste schon ein ganz besonderer Mann sein. Ich freue mich auf dich, liebe Schwester. Ich wünsche dir eine gute Reise und sei herzlich gegrüßt von deiner Schwester Dora. PS: Rose und Robert lassen dich ebenfalls grüßen.«