JOHN SHIRLEY

 

Die Psychus-Matrix

John Shirley-Werkausgabe, Band 4

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE PSYCHUS-MATRIX 

Erstes Buch 

Zweites Buch 

Drittes Buch 

Viertes Buch 

Fünftes Buch 

Sechstes Buch 

Siebtes Buch 

Achtes Buch 

Epilog 

 

Das Buch

 

2013 A.D.

Angesichts einer unübersehbaren Bevölkerungskrise und von drohenden globalen Konflikten wird die Menschheit vor eine unausweichliche Wahl gestellt: Krieg und Zerstörung oder Übergang zur nächsten Stufe der psychischen Entwicklung.

Dann jedoch geschieht das Unvorhersehbare - eine teilweise Aufhebung der Schwerkraft, die Städte zerstört und zahllose Menschen tötet. Allerdings verfügen die Überlebenden über merkwürdige neue telekinetische Kräfte.

Die alten Regeln sind nun bedeutungslos; es herrschen Anarchie und Gewalt.

Unter großen Entbehrungen lernen die Menschen, dass das kollektive Unbewusste bewusst wurde und dass Empathie Leid für die Massen bedeutet.

Dennoch überleben die alten Vorurteile, und die Menschen sehen unverändert Gewalt als einzige denkbare Antwort auf ihre Probleme an.

Kann die Menschheit lernen, sich anzupassen ... und zu überleben?

 

DIE PSYCHUS-MATRIX – John Shirleys vierter Roman (erstmals im Jahr 1980 erschienen), ein kompromissloser und düsterer SF-Thriller, der viel Meisterhaftes späterer Werke des Autors vorwegnimmt.

Der Apex-Verlag veröffentlicht DIE PSYCHUS-MATRIX in der deutschen Übersetzung von Joachim Körber (und als durchgesehene Neu-Ausgabe).

Der Autor

 

John Shirley, Jahrgang 1953.

 

John Shirley ist ein vielfach mit Literatur-Preisen ausgezeichneter US-amerikanischer Schriftsteller, Drehbuch-Autor und Musiker. Er gilt neben William Gibson als der stilprägendste Cyberpunk-Autor.

Erste Veröffentlichungen 1979 und 1980: Transmaniacon (Roman), Dracula In Love (Roman), City Come A.Walkin' (dt. Stadt geht los, Roman) und Three-Ring Psychus (dt. Die Psi-Armee, Roman).  

1982 folgt Cellars (dt. Kinder der Hölle, Roman), der zum wichtigsten modernen Horror-Roman der (19)80er/90er Jahre gezählt wird.  

John Shirley war Lead-Sänger der 1978 gegründeten Punk-Band Sado-Nation sowie - in den (19)80er Jahren - der Post-Punk- und ProgRock-Bands Obsession und Panther Moderns.  

Von 1985 bis 1990 Veröffentlichung der dystopischen Song Called Youth-Trilogie: Eclipse (dt. Eclipse, Roman), Eclipse Penumbra (dt. Eclipse Penumbra, Roman) und Eclipse Corona (dt. Eclipse Corona, Roman). 2012 erscheint die Trilogie als überarbeitetes und ergänztes Signature-Omnibus unter dem Titel A Song Called Youth.  

Weitere bedeutende Romane/Werke: A Splendid Chaos (dt. Ein herrliches Chaos, 1988), Wetbones (1991), ...And The Angel With Television Eyes (2001), Gurdjieff - An Introduction To His Life And Ideas (non-fiction, 2004), The Other End (2007), Everything Is Broken (2011), Black Glass (2012), Doyle After Death (2013), Wyatt In Wichita (2014).  

John Shirley gilt überdies als Meister im Verfassen von Kurzgeschichten und Erzählungen und hat dementsprechend herausragende Text-Sammlungen veröffentlicht: Heatseeker (dt. Hitzefühler, 1989), New Noir (1993), The Exploded Heart (1996), Black Butterflies (1998), Really, Really, Really, Really Weird Stories (1999), Darkness Divided (2001), Living Shadows (2007) sowie In Extremis: THe Most Extreme Short Stories Of John Shirley (2011). Gemeinsam mit William Gibson verfaßte John Shirley die Kurzgeschichte The Belonging Kind (dt. Zubehör, 1981), welche Bestandteil von Gibsons Textsammlung Burning Chrome (dt. Cyberspace, 1986) ist.  

Darüber hinaus schreibt John Shirley zahlreiche Film-Tie-Ins, u.a. Doom (2005), Constantine (2005), Batman: Dead White (2006), Resident Evil: Retribution (2012) und Grimm: The Icy Touch (dt. Grimm: Der eisige Hauch, 2013).  

Im Jahr 2012 veröffentlicht Black October-Records John Shirleys musikalischen Back-Katalog: das Mini-Album Mouintain Of Skullz und das Doppel-Album Broken Mirror Glass. 2015/16 veröffentlichte Black October-Records beide Tonträger zusätzlich in digitaler Form.  

Der Apex-Verlag widmet John Shirley eine umfangreich Werkausgabe.

 

John Shirley lebt und arbeitet in Vancouver, Washington/USA.

DIE PSYCHUS-MATRIX

 

 

 

 

 

»Deep within your brain is a lever.

Deep within your brain there's a switch.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und dieses visionäre Abenteuer ist für Walter Curtis, Andrea Lafayette, Salvador Dali, S. Parris und das Geheimministerium des Explodierten Herzens.

 

 

 

 

 

  Erstes Buch

 

 

Ganz in der Nähe: Talls Drei-Manegen-Sensationszirkus

 

 

 

1.

 

 

Zunächst hielt Dreyer es einfach nur für ein Abheben seiner Seele. Der Gehweg unter seinen Füßen bot keinen Widerstand mehr. Er fühlte sich leicht und beschwingt. Das führte er auf eine Stimmung zurück, für die der angenehme, warme Julimorgen verantwortlich war. Er schritt rascher aus. Sein Lächeln erlosch. Die Beine schienen unter ihm wegzuschmelzen. Er hing mit dem Gesicht nach unten. Er war nicht auf den grünen Fiberplastgehweg aufgeprallt, aber er hing mit dem Gesicht nach unten darüber, seine Nase war kaum zehn Zentimeter von der glasartigen Oberfläche entfernt.

Sein Gewicht schien zu gleichen Teilen über den ganzen Körper verteilt zu sein.

Er sah hinab...

...Hinab an seinem Körper und seinen Beinen...

Er berührte nirgendwo den Boden. Er schwebte parallel zur Straße. Dreyer schrie, seine Brille drohte hinter den Ohren wegzurutschen, er schlug nach seiner Brieftasche, die aus der Gesäßtasche glitt und fledermausähnlich davonflatterte.

Panische Versuche, sich wieder aufzurichten, entfernten ihn nur noch weiter vom Boden, und er taumelte mit einem Zeitlupenpurzelbaum drei Meter in die Höhe. Eine leichte Brise wehte ihn über den rückwärtigen Zaun eines Wohnhauses, und er verfing sich in einer aufgespannten Wäscheleine. Nasse Wäsche mit dem Geruch nach Schweiß und Detergentien klatschte ihm kräftig über die Wangen, und da schrie er laut auf, obwohl er ein untersetzter Junggeselle in den würdevollen mittleren Lebensjahren war. Er schrie wie ein erschrockenes Kind.

Dreyer sah sich verzweifelt um, während er sich mit einer Hand an der Wäscheleine festhielt. Seine Beine zeigten immer noch in die Luft, seine Brille schwebte endgültig davon. Er griff hastig danach und zog sie wieder über Nase und Ohren.

Dasselbe geschah mit allen Leuten.

Die meisten waren viel höher als er. Er konnte sehen, wie sie langsam höher stiegen - Jahrmarktballons gleichend, deren Schnüre durchgeschnitten worden waren. Sie schwebten fast mühelos zum Himmel empor... dem tiefblauen, offenen und wartenden Himmel.

Eine weinende dicke Frau, die züchtig ihren Rock festhielt, schwebte gerade zu den anderen in die Höhe.

Ein ersticktes Schluchzen drang aus Dreyers Kehle.

Und dann erfasste ihn der Übelkeitsanfall, und sein Essen fand den Weg zurück ans Tageslicht. Es schwebte wie eine orange gesprenkelte Amöbe nach oben. Dreyer wandte sich würgend ab.

Die fernen Schreie von oben wurden zu einer Lärmkulisse, die er nicht mehr missachten konnte. Er sah auf. Schatten verdunkelten den Himmel, ein dunkler Fächer schwebte um Portlands bekanntesten Wolkenkratzer.

Verblüfft schlug er die Hand, mit der er sich eben noch festgehalten hatte, vor den Mund.

Das waren Menschen, die dort oben flogen und dabei wie ein Schwarm vom Smog närrisch gemachter Vögel mit den Gliedern zappelten. Zu spät erst erkannte er, dass er dabei war, sich zu ihnen zu gesellen: Er hatte den Halt verloren. Er stieg auf. Er wirbelte kopfüber herum und wurde immer schneller. Mit einer Hand hielt er seine Brille fest.

Ein Luftwagen war außer Kontrolle geraten, sein hilfloser Fahrer klammerte sich verzweifelt an der Hecktür fest. Das Fahrzeug torkelte trunken auf Dreyer zu. Flüchtig dachte er daran, es zu übernehmen, dann aber erkannte er, dass die Ansaugöffnung auf ihn zeigte. Er spürte, wie er in den Sog geriet, und strampelte, bis seine Beine dem heranschwebenden Wagen entgegenzeigten. Er stieß sich mit den Füßen am Kühler ab. Der Wagen war glücklicherweise nur mit geringer Geschwindigkeit geflogen. Der Aufprall ließ zwar seine Zähne aufeinanderschlagen, aber danach trudelte er harmlos im rechten Winkel zur Flugbahn des Wagens davon.

Er war in einem Kaleidoskop-ähnlichen Wirbel verloren und konzentrierte seine ganze Energie auf das Wiedererlangen seiner Brille (verdammt, die war teuer gewesen!), bis er schließlich seine Flugbahn stabilisieren konnte. Mit protestierendem Magen versuchte er sich zu orientieren. Er befand sich in Höhe des vierten Stocks, stieg im Fünfundvierzig-Grad-Winkel empor und rotierte seitlich. Ein Stück Seil schwebte vor seiner Nase vorbei. Er schnappte hastig danach, während er seine Brille wieder auf die Nase fummelte.

Eine zerknüllte Zeitung stieg aufwärts, die Schlagzeile ergab zerknittert ALLE NEGER RASIERT, doch Dreyer erinnerte sich, dass es unzerknüllt TALLS DREI-MANEGEN-ZIRKUS GASTIERT IN DER STADT heißen musste. Er selbst hatte den Artikel am Vortag geschrieben, am 6. Juli 2013. Und nun hatte er das Gefühl, dass es sein letzter gewesen war.

Die Luftwagen, die geparkt worden waren, schwebten nun scheinbar stabil drei bis vier Meter über dem Boden. Kinder und alte Leute, deren Beine aufwärts zeigten, klammerten sich an ihnen fest, doch während er zusah, ließ einer nach dem anderen los, und sie alle schwebten wie die Seelen Verstorbener nach oben. Rufe wie »Nimm meinen Arm...!«, »Funkstreife wird...!«, »Feueralarm oder...!« wurden laut.

Drei fahrerlose Luftwagen wirbelten ziellos durch die Schluchten zwischen den Gebäuden, überschlugen sich und zertrümmerten Fensterscheiben oder prallten gegen weiße Plastwände. Dreyer nahm erleichtert zur Kenntnis, dass sie einander umkreisten und nach links wegtrieben.

Vorhänge flatterten aus zerbrochenen Scheiben. Entsetzte Menschen wurden gegen die Decken von Wohnungen gepresst, an denen er vorüberschwebte. Das Licht, das durch die aufsteigenden Trümmer herabfiel, bildete Harlekinsmuster auf den Kleidern der Menschen, die frei um ihn herum schwebten.

Wir steigen auf, wir steigen auf wie Bläschen im Bier, dachte er. Eine maunzende Katze paddelte hysterisch auf sein Gesicht zu, er musste ihr heftig gegen die Rippen schlagen, um sie zu vertreiben. Ein kleiner Junge schoss mit eng an die Brust gepressten Armen und Beinen an ihm vorbei, was sehr an die lebende Kanonenkugel erinnerte, die er am Vortag in Talls Drei-Manegen-Sensations-Zirkus gesehen hatte. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen, schien sich aber nicht zu fürchten. Er lächelte sogar entzückt... Vieles, was hier geschah, erinnerte Dreyer an den Zirkus: die schwebenden Leute kamen ihm vor wie Tümmler, wie aufwärts fallende Clowns. Dreyer war schon fast zu der Überzeugung gekommen, dass es sich um eine halluzinogene Darbietung handelte, die bald wie eine abgestreifte Maske wieder verschwinden würde.

Langsam lockerte er seine verkrampften Muskeln, sein Atem ging wieder normal.

Oben hielten sich ganze Menschengruppen an den Händen, die hier und dort wie Seerosen auf einem Teich trieben. Diejenigen, die solo schwebten, paddelten verzweifelt, um in eine aufrechte Position zu gelangen.

Hier oben war die Luft angenehmer. Er befand sich vielleicht vierzig Stockwerke unter der Spitze des höchsten Wolkenkratzers. Er schirmte die Augen gegen das Glühen der Sonne ab und sah unter sich das grüne Band des Willamette River zu seiner Linken. Er wurde auf den Fluss zugetrieben.

Fünfzig Meter unter ihm schoss die Einschienenbahn durch eine sanft geschwungene Kurve. Dreyer sah ein kleines Mädchen, das wie wild mit den Beinen grätschte, während es sich mit einer Hand an der Schiene festklammerte.

»Lass los, Kind!« Doch der Zusammenprall erfolgte noch, bevor er seinen Ausruf beendet hatte, und der zerschmetterte Körper des Kindes stieg bewegungslos in den Himmel hinauf und verschwand. Blutstropfen markierten wie Konfetti seinen Weg.

Da war Dreyer endlich ganz sicher. Sicher, dass es kein Traum war. Er sah sich verzweifelt um.

Er befand sich nun zehn Stockwerke unter der Spitze des Wolkenkratzers und vielleicht dreißig Meter horizontal davon entfernt. Vielleicht konnte er ihn erreichen und sich festhalten.

Er stellte mehrere Versuche an und fand schließlich heraus, dass er sich voran bewegen konnte, wenn er fest mit den Beinen strampelte und kreiste. Es war dem Schwimmen nicht unähnlich. Er trat aus, machte froschartige Bewegungen und kam sich federleicht dabei vor.

Schon bald floss sein Schweiß in Strömen und gesellte sich zu den treibenden Gegenständen und undefinierbaren Flüssigkeiten, die wie das Muster in einer Glasmurmel himmelwärts trieben.

Er blinzelte den Schweißfilm vor seinen Augen weg und sah eine Hand, die nach ihm griff. Eine ganze Kette von Menschen klammerte sich an Lüftungsrohre auf dem Dach. Er fuchtelte mit den Armen, Tränen kitzelten in seinem Haar. Er streckte einen Arm aus und versuchte, die ausgestreckten Fingerspitzen des Mädchens zu erreichen. Er glitt über sie hinweg, erfasste sie, packte sie. Er grub die Nägel in ihr Fleisch, und sie schrie: »He, aua!«

Er versuchte, sich Handbreit um Handbreit an ihrem Arm hochzuziehen. Es funktionierte nicht. Zum erstenmal bemerkte er die Schwankungen in dem leichten Sog, der ihn nach oben zog. Er riss heftig, und das Mädchen kreischte. In einem Gewimmel von Armen und Beinen stieg er wieder höher, das junge Mädchen, ein Teenager, hämmerte weinend gegen seine Brust. Er hatte sie losgerissen, und nun befanden sie sich beide auf dem Weg in den Himmel.

»Sie gottverdammter Idiot!«, schrie der Engel in seinen Armen. »Tut... mir wirklich leid«, brachte er hervor.

Sie funkelte ihn zornig an, dann blickte sie hinab. Sie wimmerte. Sie waren nun schon über dem höchsten Gebäude und stiegen noch weiter.

Hier oben war es kühl, die sanfte Brise war feucht. Er glaubte, das silberne Band des Ozeans am fernen Horizont sehen zu können. Unten verwandelte das gleißende Sonnenlicht eine Biegung des Flusses in eine blendendweiße Schweißflamme.

Das Mädchen in seinen Armen war eine Chicano, sie hatte blauschwarzes Haar, ihr fleckiges Akne-Gesicht glänzte vor Schweiß. Sie hatte wunderbar große Augen.

Dreyer wurde sich eines nicht expliziten Soges im Rückenmark bewusst, wo verlangende Finger ihn zu dem chaotischen Gedränge oben hinzogen, einer grauschwarzen Wolke. Die groben Facetten der Wolke wurden zu Möbeln und Hunden und Menschen und diesem und jenem. Alles wirbelte und torkelte durcheinander sternenwärts. Dreyer dachte an den Wirbelsturm in Der Zauberer Oz, aber das beruhigte ihn auch nicht.

Schließlich kühlten Schatten seine Wangen, während er ins Herz des morastigen Treibguts vordrang.

Die schwereren Dinge befanden sich im allgemeinen unten: eine Schubkarre, ein kleiner Elefant, der trompetete und mit komischen Bewegungen ins Nichts trat, während er vergeblich zu Talls Zirkus zurückzukehren suchte, eine Zirkuskutsche mit zwei in Seide gekleideten Kutschern, die sich entsetzt festklammerten. Das Pony, das die Kutsche gezogen hatte, war tot, wahrscheinlich vor Schreck an Herzschlag gestorben. Es schwebte so steif wie ein umgekehrtes Reiterstandbild in der Luft. Ein Rasenmäher, dessen Schneiden sich immer noch drehten, summte gierig vor sich hin. In regelmäßigen Abständen schwammen Menschen aus seiner Bahn, oder einige der Toten fielen in seine Spur und verloren Glieder, was noch mehr rotes Fleisch in die Menge verspritzte. Ein Futtersack, ein Heuballen, ein Luftrad, ein Düngerbeutel, ein Klumpen Abfälle - all das vereinigte sich zu einem widerwärtigen Ballett.

Die Menschheit nahm das obere Viertel der Wolke ein.

Dreyer betrachtete die Bescherung. Wo blankes Metall den Kurs begleitete, war die Zusammenballung heller. Die Menschen schienen um eine unsichtbare Achse zu rotieren, was an das Auge eines Zyklons erinnerte.

Dreyer bemühte sich weiterhin, ein erkennbares Muster in den Bewegungen der Masse zu finden: Er hoffte, ein Telefon auf einen Schreibtisch schweben zu sehen, beides aufrecht, und dahinter eine Sekretärin in einem levitierenden Bürosessel, und dahinter wiederum ihren Boss, der von einem bequemeren Sessel einen Brief diktierte. Aber nichts schien sich in einer durchschaubaren Ordnung zusammenzuballen, nur Gewicht und Kreisbahn waren verlässliche Faktoren. Nur wenige Opfer einer Schockparalyse trieben katatonisch in der Menge. Und Dreyer dachte: Warum? Warum sind denn nicht mehr von uns katatonisch, desorientiert und schlotternd vor Angst? Und etwas in ihm antwortete (ohne Worte): Wir passen uns an, denn etwas in uns sagt uns, dass dies unvermeidbar war. Es musste geschehen, es war bereit, und wir warteten. Das Fliegen kommt so oft im Traum zu uns...  

Eine Tanzpuppe, etwa dreißig Zentimeter groß, durchlief auf dem Kopf stehend ihre Tanzroutine, das perfekte, umgekehrte Abbild einer Ballerina. Dreyer lächelte ihr zu und fühlte sich beschwingt. Der ihm am nächsten befindliche Menschenkreis brach auf, damit Dreyer und das Mädchen eingeschlossen werden konnten. In dieser Zelle befanden sich etwa dreißig Menschen: Einige lachten, andere weinten, viele schienen es gar nicht fassen zu können. Es gab wenigstens noch ein Dutzend weitere Ringe, jeder einige hundert Meter vom anderen entfernt.

»Als nächstes werden wir eine Pilzwolke sehen«, schluchzte ein Schalterbeamter mit müdem Gesicht, der eine zerknitterte Uniform trug. »In allen Zeitungen hat es gestanden. Krieg. Nahrungsmittelkrise, die Bevölkerung... es muss ein Krieg aus...«

»Lassen Sie das Geschwätz, Mann!«, herrschte ihn ein kreisender Musterungsoffizier der Marine an, der dies offenbar als gute Gelegenheit sah, sich zu profilieren. Er würde das Kommando übernehmen. Sein zerfurchtes und kantiges Gesicht schien konturlos grau im Sonnenlicht, seine Augen blickten, als hätte er drei Tage lang ohne Unterbrechung Monopoly gespielt. »Es besteht absolut kein Grund zu der Annahme, dass der Feind hinter der Sache steckt. Wir haben weder Zivilschutzsirenen gehört noch Anweisungen vom Hauptquartier bekommen.«

»Wie hätte denn jemand, verdammt noch mal, Alarm geben sollen, wenn er unter der Decke hängt?«, fragte ein Hochschulbengel in silberner Jerseyjacke und Shorts. »Und wie soll uns überhaupt jemand retten? Echt, ein Helikopter kann unter diesen besonderen Schwerkraftbedingungen nicht starten. Die Rotorblätter sind auf eine ganz andere Masseverteilung eingestellt, dasselbe gilt für Luftwagen und...«

Seine Worte wurden von einer Reihe knallender Explosionen aus der Richtung des Flughafens unterbrochen.

Alle Köpfe wandten sich in diese Richtung. Eine weitere Explosion erfolgte, als zwei Jets kollidierten. Jeder wandte sich wieder von dem schwarzen Rauchkissen ab, das sich über dem Flughafen bildete. »Sieht nicht so aus, als würden wir immer noch steigen«, stellte der Musterungsoffizier nüchtern fest. Er schwellte die Brust unter der silberschwarzen Uniform der Orbitalpatrouille. »Das Phänomen scheint sich irgendwie stabilisiert zu haben. Mir ist da ein Gedanke gekommen...« Er legte eine dramatische Pause ein. Das Murmeln im Kreis verstummte. »Ich glaube, wir könnten einige der fahrerlosen Luftwagen übernehmen. Mir sind einige in der Wolkenformation aufgefallen. Wir könnten uns eines schnappen, eine Kette dahinter bilden und uns ziehen lassen. Meinetwegen nach... äh...«

»Ja, wohin?«, wollte der Junge wissen. »Je näher am Boden man ist, desto stärker ist der Sog aufwärts. Ich habe mit meinen Bashball- Luftschuhen wieder runterzukommen versucht - hier, kleine Düsen an den Sohlen meiner Schuhe. Aber ich wurde nur wieder hochgeschleudert. Wird hier oben wahrscheinlich sowieso sicherer sein«, meinte er und nickte den Rauchfahnen zu, die von brennenden Gebäuden am Stadtrand aufstiegen, aus denen hell Flammen loderten. Die Gettos. Die Luft über diesen Stadtregionen schien vor brennenden und rauchenden Inseln geradezu überzuquellen - Gebäudetrümmer, die sich von ihren Fundamenten losgerissen hatten und brennend in die Höhe schwebten. Zeitlupenhaft aufsteigende Flammenkutschen.

Dreyer glaubte sich einen Plan ausdenken zu müssen, wie er sie alle in Sicherheit bringen konnte. Aber irgendwie konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Die Vorstellung schien absurd, unnatürlich. Eigentlich fühlte er sich hier recht behaglich.

»Dreyer!« Das war Copeland, Tribune-Mitarbeiter und Enzykloperson. Vor der Cyberverpflanzung war er Professor der Philosophie gewesen. Sein Kopf war fast doppelt so groß wie normal, wodurch seine Gesichtszüge winzig, verkniffen und zwergenhaft wirkten: Nebeneffekte der KRI (Cybernetische Ressourcen-Implantation). Copeland stieg zu Dreyer empor und gesellte sich höflich an seine Seite in den Ring. »Diese Idioten scheinen alle überrascht zu sein«, sagte Copeland mit einer Stimme wie Seide. Das winzige blaue Licht an der Seite seines Schädels war nicht erleuchtet, also war die KRI auch nicht aktiviert.

»Ah. Sie wahrscheinlich nicht!«, antwortete Dreyer, der das Spiel mitspielte. Ihm kam Copelands Kopf in dieser Situation wie ein Ballon vor.

»Nein, ich bin nicht überrascht. Ich wusste zwar nicht, welche Formen es annehmen würde, aber ich wusste, wenn die Bevölkerungsdichte zu groß wird...« Er nickte in Richtung der Hügelkette, die Portland im Südwesten umschloss... Dreyer erinnerte sich noch an eine Zeit, als diese Hügel alle noch grün bewaldet gewesen waren. Nun waren sie bis an den Horizont mit Wohnhäusern überzogen. »Eine Explosion«, fuhr Copeland fort. »Wir konnten den Höhepunkt der Bevölkerungsexplosion eine Weile hinauszögern, aber lange aufhalten konnten wir ihn nicht. Ich gebe zu, es hat länger gedauert, als ich dachte. Und ich nahm an - auch das gebe ich zu -, es würde sich in anderer Form manifestieren: Jede Katastrophentheorieprojektion sagte für dieses Jahr einen Krieg voraus - auch meine KRI.«

»Ähem... aber was hat die Bevölkerung damit zu tun?«, fragte Dreyer abstrakt. Er suchte den stahlblauen Himmel nach Vögeln ab. Keine zu sehen. Vielleicht flohen sie vor dem Rauch. Er konnte die brennenden Gebäude nun riechen. Es kratzte in seiner Kehle.

»Es muss einen Ort geben, wo die ganze Menschenmasse hinkann, wenn die Population einen bestimmten Punkt überschreitet... und Sie kennen doch auch das alte Sprichwort: Immer nur nach oben. Ist Ihnen denn nie aufgefallen, wie seltsam sich die Leute in letzter Zeit verhalten haben? Ungewöhnlich niedrige Verbrechensrate. Allgemeines Gefühl der Erwartung. Sie haben darauf gewartet. Dies ist ein geschichtlicher Höhepunkt...«

»Sagt Ihnen das Ihr KRI? Ich meine, können Sie denn nichts Spezifischeres herausbekommen? Beispielsweise, wie man wieder runterkommen kann.«

»Ich habe meine KRI in letzter Zeit überhaupt nicht benützt. Macht mir Schwierigkeiten. Mischt sich in meine persönlichen Entscheidungen ein. Müßte sie mal reprogrammieren lassen. Mag sie bis dahin nicht benützen. Was ich Ihnen mitgeteilt habe, ist meine Theorie. Als ich meine Theorie einspeicherte, machte meine KRI lediglich eine Bemerkung, etwas über eine historische Gabelung, entweder Weltkrieg oder aber Erwachen des kollektiven Unterbewusstseins. Und noch etwas über telekinetische Rückwirkung oder so. Ich weiß es nicht, das verdammte Implant benimmt sich neuerdings merkwürdig. Ich traue ihm nicht mehr...«

»Mich würde interessieren, welchen Einfluss das hier auf die Vögel gehabt hat. Ich kann keine sehen. Und dann der Fluss - warum ist der Fluss nicht auch hier oben bei uns?«

»Oh, ich stelle mir vor, dass ihn das Moment des Fließens unten hält, aber wahrscheinlich wird auch er einiges höher sein als üblich. Aber wir scheinen es trotzdem nur mit einer teilweise aufgehobenen Schwerkraft zu tun zu haben. Die Vögel fliegen wahrscheinlich weit über uns verkehrt herum - aber wenn es sich um ein natürliches Phänomen handelt, wie den Beginn einer Eiszeit, dann haben sie es wahrscheinlich schon vorher kommen sehen und Vorkehrungen getroffen. Ich frage mich, was für ökologische Folgen das haben wird, wahrscheinlich nur geringe. Wenn es sich um einen Reflex der Natur handelt, dann wird sich die Natur auch selbst darum kümmern.«

Der Wind nahm etwas zu und wehte den Rauch aus den unteren Luftschichten.

»Ich habe überhaupt keine Flugzeuge in der Nähe gesehen. Sie?«, fragte Dreyer.

»Nur das, welches explodiert ist.«

»Dann«, sagte der Musterungsoffizier wieder, »bleibt uns noch eine Möglichkeit. Wir könnten zu einem hohen Berggipfel schweben, uns mit den Händen festhalten und hinunterhangeln... äh...« Jeder stöhnte über die unglaubliche Dummheit dieses Vorschlages. Dreyer betrachtete das dunkle Mädchen neben ihm. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Mund zitterte. Sie wollte die Augen öffnen und hinabblicken, warf aber jedes Mal den Kopf wieder zurück. Gelegentlich blies der Wind etwas heftiger, und über das Murmeln der Stimmen und das Weinen konnte man ein fernes Stöhnen hören. Manchmal wurde es zu einem schmerzenden Schrillen. Jetzt war es verschwunden. Da war es wieder.

Er wurde sich eines Druckes in den Eingeweiden bewusst. Er musste urinieren. Wie sollte er das nur mit der nötigen Würde hinter sich bringen?

Dreyer wollte nicht daran denken. Er schloss die Augen und genoss mit Wangen und Stirn die Sonne. Er würde einen üblen Sonnenbrand bekommen, aber das störte ihn nicht. Er hatte wahrscheinlich sowieso nur noch einige Stunden zu leben.

»Hören Sie etwas, Dreyer?«, fragte Copeland und umklammerte Dreyers Handgelenk.

»Ja. Ein fernes, heulendes Geräusch.« Er runzelte die Stirn.

Sein Blick folgte einer Papiergeldwolke, mehrere Zwanziger, die wie grüne Schmetterlinge fast zum Greifen nah über seinem Kopf dahinschwebten. Keiner rührte einen Finger, um nach ihnen zu greifen. »Was ist das?«, fragte der Junge in der Jerseyjacke. Er blinzelte nach Westen.

Er sah einen schwarzen Punkt, der näher kam und dabei größer wurde und feste Konturen annahm, ein Dreieck mit etwas Schimmerndem in der Mitte.

Vollkommene Stille war eingetreten, sah man von dem zunehmenden Heulen ab.

»Ein Rettungsflugzeug!« krähte der Offizier. »Ich wusste es! Wetten, dass es die alte U. S. Orbital Navy ist?«

Erleichterte Jubelrufe mischten sich mit missfälligem Grunzen. Copeland lachte lauthals.

Das Ding wurde größer, schneller. Das ferne Heulen rollte lautstark über sie hinweg, es wurde dichter und vernehmlicher, und endlich konnte man es als das Heulen kräftiger Maschinen erkennen.

»Ist verdammt groß. Muss so groß sein wie ein Boeing Passagierspezialtransporter«, kommentierte eine blauhaarige Frau. Sie kam Dreyer bekannt vor. Arbeitete sie nicht auch im Büro der Tribune?

Sie sahen einige Minuten lautlos zu.

Es kam näher, und seine Abmessungen wurden immer beeindruckender. Zuerst erkannte es Dreyer am Lärm, den es verursachte, dann anhand seiner Form.

»Das ist eine Erntemaschine«, rief er unvermittelt. »Eines dieser neuen hektargroßen Modelle, wie sie sie auf den schwimmenden Weizenplantagen auf dem Meer verwenden.«

»Aber warum ist denn etwas derart Großes nicht weiter unten? Das ist doch sehr schwer!«, sagte die hübsche Frau mit den blauen Haaren.

»Sie werden teilweise von Magnetfeldern angetrieben«, erklärte Copeland. »Bringt man das noch mit der verringerten Schwerkraft zusammen, dann erklärt es sich sehr leicht, weshalb das Ding so hoch oben ist. Vor der Küste von Astoria gibt es eine solche Plantage. Das Phänomen erstreckt sich also mindestens so weit. Verdammt, es ist ganz bestimmt ein weltweites Phänomen. Ja, das ist eine verdammt große Erntemaschine... scheint verlassen zu sein.«

Sie ragte über ihnen auf, eine monumentale, schimmernde kubistische Version eines Berges, an dessen Basis sich ein höhlenartiges Maul befand. Das Heulen pulsierte nun noch lauter, die Luft um sie herum zitterte, das Treibgut unter ihnen wurde sichtlich durcheinandergewirbelt.

Dreyer verlor den Halt an Copeland und dem Mädchen und drehte sich erneut, der Maschinenpark der Stadt kreiste langsam unter ihm. Übelkeit überflutete seinen Magen.

Menschen gerieten in Panik, der bereits offene Kreis brach an mehreren Stellen.

Dreyers Drehbewegung stabilisierte sich, und nun konnte er sehen, dass sie sich alle in eine Richtung bewegten. Saugwirkung! Zylinder mit grauen, weizenerntenden Stahlzähnen drehten sich in der Maschine. Das verursachte die Saugwirkung. Dreyer wurde genau auf die Zähne zugezogen.

Das Gebilde ragte nun nur noch vierzig Meter entfernt über ihnen auf. Es war wie eine aztekische Pyramide terrassenförmig angelegt, allerdings von einer Glaskuppel bedeckt.

Die Kontrollkuppel des Fahrers war unbemannt. Wahrscheinlich hatte die Besatzung die Maschine aufgegeben, worauf die Kombination von Wind und ihrem eigenen Antrieb sie über das Festland geweht hatte.

Während die Entfernung zwischen Dreyer und der Erntemaschine schwand, schien sich das klaffende Maul immer weiter zu öffnen. Voller Übelkeit sah Dreyer zu, wie drei der Menschen, die sich nicht an dem Kreis beteiligt gehabt hatten, mit rudernden Armen in die Öffnung gesogen wurden.

Ihre Schreie wurden eins mit dem Brüllen der Turbinen der Maschine. Die Panik hing wie Eiseskälte in der Luft, die Menschen um ihn her bildeten ein Gewühl vor Entsetzen aufgerissener Augen und unverständlich brüllender Münder.

Das Ding ragte direkt über ihm auf. Das Licht, welches darauf fiel, ließ die Karosserie aus Fiberglas und Metall wie einen Eisberg schimmern. Er spürte das Ziehen des Soges an Kleidern und Haaren.

In Gruppen zu zweien und dreien wurden Menschen in die knirschende Dunkelheit gesogen. Eine Wolke glühenden Rots wartete hinter dem Erntemechanismus, wo normalerweise der Weizen gedroschen wurde.

Nur noch acht Meter. Rechts vor ihm erweckte eine Zusammenballung von Möbeln Dreyers Aufmerksamkeit. Mit der Kraft der Verzweiflung trat er sich vom Rücken einer weinenden, dicken Frau ab. Sie bemerkte es kaum.

Der Sog verfälschte seine ursprüngliche Flugbahn. Trotzdem schwebte er vier Meter nach rechts und klammerte sich mit den Fingern am Leichtmetallrahmen eines langen, kissenlosen Sofas fest. Er zog sich Handbreit um Handbreit an dem Gestell entlang, sein Bizeps schmerzte, während der Sog hinter ihm immer mehr zunahm. Blut und Schweiß seiner aufgeriebenen Handflächen arbeiteten gegen ihn, er glitt zurück. Doch er klammerte sich mit den Fingern fest, bis seine Nägel brachen. Er biss die Zähne zusammen und zog sich weitere Zentimeter vorwärts.

Das Gestell fiel mit zunehmender Geschwindigkeit den Schneidemessern der Erntemaschine entgegen. Nur noch fünf Meter. Die meisten von Dreyers Ringkumpanen befanden sich noch hinter ihm, kamen aber rasch näher. Der Offizier schwebte vorbei und wurde zwischen den rotierenden Walzen zerquetscht.

Dreyer zog sich über die Kante des Sofagestells, bis er kopfunter daran hing und der Rahmen gezwungen war, in die Vertikale zu kippen, und auf den Einsaugkanal der Maschine zutrieb. Er kämpfte stöhnend gegen den Sog an, wandte sich um, der Maschine zu, und stemmte die Füße fest gegen das vertikale Vorderteil des hinteren Rahmens. Der Schatten der Erntemaschine schluckte ihn, ihr Dröhnen pochte schmerzhaft in seinem Kopf.

Seine Rückenmuskeln schmerzten unerträglich, als er das Sofagestell aufrichtete. Das entgegengesetzte Ende des rechteckigen Rahmens wurde von zwei rasch rotierenden Walzen erfasst und angezogen. Die Dreschwalzen drehten sich langsam einwärts, der Rahmen wurde verbogen, während Dreyer am anderen Ende wie ein Fisch am Haken durchgeschüttelt wurde. Er musste all seine schwindenden Kräfte aufwenden, um den Halt nicht zu verlieren. Seine Fersen wurden über den Kopf zurückgesogen, bis seine Beine in die Öffnung deuteten und er sich nur noch mit den Fingerspitzen gegen das heftige Ziehen halten konnte.

Er hustete und sah Menschen näher wirbeln, die ihre Augen schlossen, während sie näher kamen, und hinter ihnen Wolken, purpurfarbenen Horizont, Sonnenlicht, das vom Schnee der Berggipfel reflektiert wurde...

Er verlor den Halt.

Fiel zurück.

Hinein in ein Kreischen kreisenden Metalls.

Er prallte mit den Schultern zuerst auf, Messer rissen Hemd und Haut auf.

Sein Drehmoment schmetterte den Kopf gegen einen stillstehenden Zylinder. Die Betäubung griff mit dunklen Fingern nach ihm.

 

 

 

2.

 

 

Zu seiner eigenen Überraschung erwachte er wieder.

Alle Glieder waren noch vorhanden und unversehrt.

Sein Rücken war wund. Er wollte nach hinten greifen und zuckte zurück.

»Lassen Sie wohl den Verband in Ruhe!« Die Stimme einer Frau. Er sah sich um. Blaue Metallwände, an einer Seite eine Öffnung, dahinter Dunkelheit, fernes Summen von Generatoren, das Dröhnen der Maschinen, Gelächter und Unterhaltungen aus angrenzenden Räumen. Er war mit Garn an eine Koje gefesselt, die an einem Scharnier aus der Wand ragte.

Ein Kochgeschirr schwebte in der Luft, es verbarg fast die Leuchte. Neben ihm schwebte eine Frau, die sich mit einem um eine Deckenstützstrebe gewinkelten Fuß festhielt, während sie seine linke Schulter sanft mit der Hand berührte. Sein Hemd war verschwunden. Ihre Berührung war warm und angenehm.

Die Frau kam ihm bekannt vor. Sie war in mittleren Jahren und hatte viele Falten, aber sie waren alle nach oben gerichtet, als würde sie häufig lachen. Ihre Nase war schmal, ihre Lippen spröde, ihre Wangenknochen hoch, und ihre Augen standen etwas schräg, waren aber von blauer Farbe. Halb asiatisch, vermutete er. Ihr blaues, wie Tang treibendes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen.

»Bin ich im Innern der Erntemaschine?«, fragte er mit heiserer Stimme. »In den Mannschaftsunterkünften?

Sie nickte. »Erraten.« Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Und vielen Dank.«

»Wofür?« Er wusste verdammt gut, wofür, aber er wollte es gerne aus ihrem Mund hören, da er stolz auf sich war. Er war fünfundvierzig und hatte vierzig Jahre darauf gewartet, einmal etwas physisch Heldenhaftes vollbringen zu können.

»Dafür, dass Sie den Schneidemechanismus der Erntemaschine außer Gefecht gesetzt haben. Sie haben ihn mit diesem Gestell festgeklammert. Sah verdammt schwer aus. Wir sind Ihnen sehr dankbar, ich besonders, denn ich war direkt hinter Ihnen und wäre als nächste an der Reihe gewesen.«

Seine Muskeln schmerzten jetzt noch. »War wirklich hart«, sagte er.

»Stellen Sie sich vor!«, sagte sie mit strahlendem Blick. »Hier sind Vorräte für mindestens eine Woche. Es gibt sogar ein Badezimmer, und wir haben herausgefunden, wie man es benützt. Und Wasser, und Sicherheit vor dem heraufziehenden Sturm. Wir hoffen... Wir sind alle durch diesen Schacht direkt neben der Ansaugöffnung hereingekommen. Dort ist eine Schleuse.«

»Wie viele Menschen? Und gibt es hier oben Funk oder so etwas?« »Ungefähr dreißig. Sogar Mr. Copeland gibt sich die Ehre, hier mit uns zu hausen. Kein Funkgerät.«

»Sie kennen Copeland?«