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Mario Schlembach

Nebel

Roman

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www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1257-3
eISBN 978-3-7013-6257-8

© 2018 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Covergestaltung: Marc Damm

für Opapa

„Wie Orpheus spiel ich
auf den Saiten des Lebens
den Tod.“

Ingeborg Bachmann

„Vater verstorben. Beerdigung in drei Tagen“, höre ich die Stimme der Bestatterin, nachdem ich von einem Spaziergang durch den stillgelegten Friedhof zurück in mein kleines Zimmer komme und die Nachrichten abrufe. Ihre Stimme ist mir vertraut, obwohl ich sie so viele Jahre nicht mehr gehört habe. Monoton spricht sie alle Worte bis auf die letzte Silbe zu Ende, als wäre jedes für sich eine abgeschlossene Welt und keinem Satz zugehörig.

„Vater verstorben.“

Immer wieder spule ich zum Anfang.

Wann, wo und wie ist er gestorben? Ich möchte nicht mit unnötigen Fragen stören und rufe nicht zurück. Der Leichnam muss bereits freigegeben worden sein, wie ich denke, wenn der Bestattungstermin feststeht.

Wohl ein natürlicher Tod.

Ich nehme einen Nachtzug in meine Heimat. Starr blicke ich in die Umrisse der Augen vor mir, die sich im Fenster widerspiegeln. Ein fettleibiger Mann quetscht sich in den gegenüberliegenden Mittelsitz des Abteils. Ich verliere mich im Rhythmus seiner Atemzüge und in der kratzigen Melodie seiner schlaffen Stimmbänder. Die Monotonie beruhigt mich. Gemeinsam mit dem Rattern der Schienen und der Vibration des Untergrunds hüllt mich all das in eine warme Melancholie.

Stunden vergehen, in denen ich meinem Spiegelbild und seinem Atem ausgesetzt bin. Ich sehe ein Gesicht in der Ferne, dessen Züge ich nicht deuten kann. In jeder Falte eines Fremden erkenne ich hunderte Geschichten, aber hier, so unmittelbar vor mir selbst, ist nichts als eine große Leere.

Mein Blick verschwimmt vor meinem Leben.

Wie lange irre ich schon in diesem Nebel?

Am frühen Vormittag steige ich um. Ein Regionalzug bringt mich wenige Kilometer vor die Grenze. Um diese Uhrzeit fahren die Menschen üblicherweise in die entgegengesetzte Richtung. Ich sitze alleine in meinem Abteil, im Gestank einer vergangenen Masse, und umklammere meine Fahrkarte.

Vom verlassenen Bahnsteig aus beginne ich meinen Fußmarsch durch die Provinzstadt. Die Bestattung liegt auf der anderen Seite. Ich durchquere das menschenleere Zentrum: geschlossene Geschäftslokale, verwaiste Cafés und Büroräume. Der Verputz bröckelt von den Hauswänden. Hinter den Schaufenstern nichts als Tristesse.

An einem Kreisverkehr warte ich, um die Straße zu passieren, und lese die roten Lettern über dem Eingang des Hauses:

„BESTATTUNG“

Die Fassade ist in einem dreckigen Gelb, das jegliches Leuchten verloren hat.

Ich öffne die Eingangstür und warte im Vorzimmer. Die Bestatterin ist gerade mit einer Kundschaft beschäftigt, wie ich aus den dumpfen Geräuschen schließe, die aus dem Büro dringen. Kein klares Wort kann ich verstehen.

Ab und zu ein lautes Schluchzen.

Ich setze mich. An der Wand hängt das Bild eines saftig grünen Waldes im Morgentau, durch den sich das erste Licht des Tages kämpft.

Das Telefon läutet.

„Wir haben einen Sterbefall“, vernehme ich dumpf aus der Ohrmuschel des giftgrünen Wählscheibentelefons und reiche meinem Vater den Hörer. Als Kind nehme ich jeden Anruf entgegen und spiele den Sekretär.

Die Bestatterin ruft bei uns an, um sich den Termin für ein Begräbnis bestätigen zu lassen. Mein Vater, der Totengräber, weiß oft bereits vor ihr, dass jemand gestorben ist. In so einem kleinen Dorf verbreitet sich die Nachricht eines Ablebens wie ein Lauffeuer. Trotzdem ändert sich das Ritual ihres Gespräches nie – die immer gleichen Begrüßungsformeln und Abschiedsfloskeln.

Ich warte ungeduldig, bis mein Vater auflegt und mir von den Einzelheiten berichtet: Wer ist gestorben, wann, wo und wie? Sobald ich die Stimme der Bestatterin höre, dreht sich das Lotterierad in mir und ich suche nach möglichen Kombinationen: Alt, Zuhause, Herzinfarkt ist stets die sicherste Wette. Alles andere sind kaum zu erratende Verbindungen im schier endlosen Variablenmeer des Todes.

Die Tür öffnet sich. Gestützt von ihrer etwa sechzigjährigen Tochter, verlässt eine alte Frau das Besprechungszimmer und ich trete ein.

Mein Vater ist im Schlaf gestorben, wie mir die Bestatterin in ihrem nüchternen Ton mitteilt. Die Wette mit mir selbst hätte ich verloren, denn stets habe ich gedacht, dass er eines Tages während der Arbeit sterben würde. Wenn etwas erledigt werden musste, hat er für seinen Körper keine Grenze gekannt.

Der Bestatter hat meinen Vater gefunden, als er ihn zu einem Leichentransport mitnehmen wollte. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat er bei Abholungen und als Sargträger geholfen. Der Anblick sowie der Gestank der Leichen haben ihn nie berührt. In den Gräbern ist ihm bei weitem Schlimmeres untergekommen.

Wie üblich hat der Bestatter das Gartentor geöffnet und nach meinem Vater gerufen. Als aber keine Antwort gekommen ist, ist er zum Fenster gegangen und hat ihn auf seiner Pritsche in verkrümmter Stellung liegen gesehen.

Jede Hilfe ist zu spät gekommen.

In meine Gedankenverlorenheit hinein, sagt die Bestatterin, dass ich mich um nichts kümmern müsse. Mein Vater hätte ihnen bereits alles gesagt, seine Dokumente hinterlegt und seine Wünsche bezüglich seiner Trauerfeier geäußert: Ein schlichtes Begräbnis ohne Geistlichen, ohne Musik und ohne großes Tamtam.

Ich nicke und muss ihr vertrauen. Sie hat meinen Vater in diesen letzten Jahren besser gekannt als ich. Nie habe ich mit ihm über sein Begräbnis gesprochen und gedacht, dass er genauso begraben werden möchte, wie die Menschen, die er unter die Erde gebracht hat.

„Für den Aushub des Grabes suchen wir noch jemanden“, erwähnt die Bestatterin beiläufig. Es dauert etwas, bis das Gesagte in mich eindringt. Mehr zu mir selbst als zu ihr murmle ich:

„Ich kümmere mich darum.“

Als sie ansetzt, um das Gesagte zu hinterfragen, wiederhole ich bestimmt:

„Ich kümmere mich darum!“

Irritation nehme ich in ihren Augen wahr, die sie mit Worten zum Ablauf des Begräbnisses überspielt.

Nachdem wir alles Weitere besprochen haben, reicht sie mir den Schlüsselbund meines Vaters. Ich bedanke mich und trete aus der Tür, neben der ein junger Mann auf das Bild vor ihm starrt.

Es sind wenige Schritte bis zur Bushaltestelle. Das Gymnasium, in dem ich acht Jahre meines Lebens verbracht habe, liegt nur einige Meter weiter. Ich setze mich und warte wie das Schulkind von damals, um nach Hause zu kommen. Alle Erinnerungen und Bilder, die sich vor meinem inneren Auge ausbreiten wollen, blocke ich ab.

Der Bus fährt ein. Kinder in den hinteren Reihen. Sie schreien. Im Lärm lässt sich kein klares Wort deuten. Die schiere Willkür der Geräusche übertönt meine Gedanken. Ein, zwei Stationen in der Stadt, die Landstraße hinaus, keine fünf Kilometer und ich steige aus.

Ich gehe an der Volksschule vorbei, hinunter in den alten Teil des Dorfes, wo in einer Quergasse Am Graben das Haus steht, in dem Vater gestorben ist. Beim letzten Telefonat hat er mir erzählt, dass er unsere Landwirtschaft, die etwas außerhalb liegt, verkauft und wieder in das verfallene Haus seiner Kindheit zieht, in dem er auch geboren wurde. Als ob er noch einmal zurück, zurück zum Anfang will, habe ich mir gedacht, aber geschwiegen.

Seit Jahrzehnten hat niemand mehr in der Ruine gewohnt. Die Kinder der Ortschaft nennen sie seit jeher: Die Geisterbude.

Vor der Einfahrt des Hauses bleibe ich stehen. Äste eines Baumes ragen über den Gehsteig. Efeu überwuchert die Mauer. Ich öffne das Tor.

Rechts das gelbbraune Haus, links die mit Kalk gestrichene Werkstatt mit grünen Türen und Fenstern, und dazwischen der weitläufige Garten, der durch einen Apfelbaum geteilt wird.

Es gleicht einem Wunder, dass das Haus noch steht. Das Dach ist an manchen Stellen, durch den schweren Schnee des Winters, eingedrückt und einige Ziegel fehlen. Es ist für mich kaum zu glauben, dass Vater seine letzten Tage hier verbracht hat.

Nach einigen Versuchen finde ich den richtigen Schlüssel für die morsche Eingangstür. Ich trete zwei Schritte hinein und sehe völlig ramponierte Räume. Das Innenleben des Erdgeschosses hat Vater bis auf die Grundmauern herausgerissen. Über eine Holztreppe gelange ich zur oberen Etage. Das Kinderzimmer ist unberührt.

Überall liegt Staub. Die Luft ist feucht und riecht nach Schimmel. Nichts deutet darauf hin, dass jemand hier gelebt hat, und nichts finde ich, das auch nur ansatzweise auf meinen Vater hinweisen könnte: Bücher, Fotos, Notizen, Erinnerungsstücke. Nichts! Aber das entspräche ihm auch nicht.

Bei jedem Ausflug, wenn ich die anderen Familien mit Fotoapparaten sehe, frage ich:

„Machen wir keine Fotos, Papa?“

Und er deutet mit dem Finger an meine Stirn und sagt:

„Ja, da!“

Bevor ich zur Ruhe komme und die Gedanken über mich hereinbrechen, stelle ich meine Tasche am Fuß der Treppe ab und entscheide mich für einen Spaziergang.

Es ist Nachmittag. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und gehe hinauf zum kleinen Laden, der als Einziger über Generationen hinweg überlebt hat. Eine alte Frau in einer grünen Arbeitsschürze begrüßt mich freundlich hinter der Theke. Ich bestelle eine Wurstsemmel mit Essiggurken, die sie in einem gemächlichen Tempo, das dem Takt ihrer Sätze gleicht, zubereitet, und gehe hoch zum Friedhof. Kleinkinder schreien aus dem Hort direkt daneben, wo auch ich von meinem Vater abgesetzt wurde, wenn er eine Arbeit zu erledigen hatte.

Der Friedhof liegt auf einer Anhöhe am Südrand des Ortes. Er umschließt die mittelalterliche Kirche, die auf den Grundmauern eines römischen Kastells erbaut wurde. Ihr gotischer Wehrturm mit seinem achteckigen Aufsatz und Pyramidenhelm ragt in den Himmel.

Glockenschläge.

Die Blumen auf unserem Familiengrab sind verwelkt. Ich setze mich auf die Parkbank gegenüber, packe meine Jause aus und mache den ersten Biss, während der Wind über die Gräber peitscht.

An mein erstes Grab kann ich mich nicht erinnern. Die Gräber meiner Kindheit verwischen zu einem einzigen Ablauf, der sich ständig wiederholt. Es existieren für mich keine Menschen, keine Namen in der Erinnerung, nicht das Verständnis für die Tätigkeit. Mein Vater gräbt ein Loch. Mehr ist es nicht. Der Rest ist Faszination und Neugier eines Kindes; das gute Gefühl, Teil sein zu dürfen, einen Beitrag zu leisten und zum ersten Mal wie ein Erwachsener behandelt zu werden, der Verantwortung trägt, arbeitet und einen Zweck erfüllt.

Kurz nach sieben Uhr morgens kommen wir am Friedhof an und gehen zur Aufbahrungshalle, wo der Sarg bereits in der Kühlung liegt. Mein Vater nimmt ein Maßband zur Hand und kontrolliert die Breite: achtundsechzig Zentimeter an der Kopfseite, die auf zweiundsechzig Zentimeter zusammenlaufen. Das ist die Norm, die je nach speziellen Modellen und Übergrößen variieren kann. Vor allem bei Griffen an der Truhe, die meist überstehen, müssen wir aufpassen, damit wir nicht zu eng graben.

Aus der Totengräberkammer ziehen wir einen Anhänger, auf dem die Einzelteile unserer Erdkiste liegen. Vor dem Grab bleiben wir stehen. Stück für Stück bauen wir unsere Kiste auf, die sich aus schweren Eisenteilen für den Unterbau, zwei Holzböden und Wänden aus Aluminium zusammensetzt. Nachdem sie steht, gehen wir zurück in die Kammer und beladen die Scheibtruhe mit einer Rolle Dachpappe, zwei Schaufeln, einem Spaten, einem Krampen, einer Kelle, einem Kübel mit Hammer und Stemmzeug, einem Rechen, einer Axt, einem Besen und einer Messlatte.

Mein Vater sticht als Erstes die Blumen aus, während ich die Dachpappe auf die richtige Länge zuschneide und in der Kiste platziere. Ohne die Pappe würde die lehmige Erde beim Hinabkippen hängen bleiben. Vater zeichnet achtzig Zentimeter in der Breite an und beginnt zu graben.

Ich stehe daneben und warte auf Anweisungen. Reiche meinem Vater den Spaten, wenn er danach verlangt, gebe ihm die Axt, wenn die Wurzeln der umliegenden Bäume ins Grab gewachsen sind, und fahre mit der Scheibtruhe ab, sobald er sie mit Erde, Steinen und allem, was nicht ins Grab gehört, gefüllt hat. Zehn Scheibtruhen führe ich durchs Gräberlabyrinth, was in etwa dem Volumen eines Sarges entspricht und sonst beim Zuschütten einen zu großen Erdhügel hinterlassen würde. Mit der Zeit muss mein Vater kein Wort mehr sagen. Alle Bewegungen zwischen uns sind eingespielte Rituale.

Ich starre gebannt ins Loch. Ein jeder Stich bringt Neues hervor. Die ersten Knochen, die ich sehe, gleichen abgebrochenen Ästen und haben nichts Fürchterliches an sich. Mir graust nicht vor ihnen. Meine Augen werden größer, wenn mein Vater auf die Tiefe des Sarges kommt.

Totenköpfe sind für mich am faszinierendsten. Ich betrachte sie lange, wenn mein Vater einen, zwei, manchmal sogar drei auf die Kiste wirft. Mit einem Stock schiebe ich den Kopf hin und her, um ihn von allen Seiten zu sehen. Manche haben eingeschraubte Zähne. Bei vielen sehe ich Narben auf der Schädeldecke. Gewisse haben einen feinen Schnitt von der Obduktion.

Die Schädel liegen oft als Ganzes oder nur noch in Fragmenten vor mir. Ich sehe Augenhöhlen, Nasenwände, Unterkiefer und Ohransätze. Mache es mir zum Spiel, die einzelnen Knochen beim Namen zu nennen und sie selbst in ihrer gebrochenen Form zu erkennen. Die Oberschenkelknochen sind am einfachsten zuzuordnen, und jene Knochen des Körpers, die auf Grund ihrer Größe und Dicke als Letztes verwesen. Die Wirbel und das Becken sind auch schnell gedeutet, aber beim Rest wird es schwierig: Schienbein, Rippe, Elle, Speiche oder doch ein Schlüsselbein? Manchmal kommt mir der Gedanke, Doktor zu werden, alleine aus dem pragmatischen Grund, dass ich mir kein Skelett kaufen muss, weil sie so oder so hier am Friedhof herumliegen. Wenn ich von jedem Grab ein paar Knochen mitnehme, dann habe ich bald einen ganzen Menschen zusammen, wie ich denke. Aber meine Faszination geht über die Knochen nicht hinaus.

Die meiste Zeit stehe ich schweigend neben dem Grab. Rette Regenwürmer, die auf der Kiste landen, und sehe gebannt der Schaufel meines Vaters zu. Ich versinke in seinen Bewegungen, bis alles um mich wie in einem Weichzeichner erscheint und ich nur noch das Aufschlagen der Erde in der Kiste höre.

Buff.

Ich ergebe mich dem Rhythmus und lasse meinen Blick über die Gräber schweifen, während mir die Sonne ins Gesicht scheint.

Buff.

Namen, Jahreszahlen und kurze Grabinschriften. Ich verstehe sie nicht und kann aus ihnen nichts, schon gar keine Leben deuten. Nur mein eigenes Spiegelbild sehe ich im hochpolierten Stein.

Buff.

Ich verliere mich in Geschichten, die ich mir zu den eingravierten Namen ausdenke, bis mein Vater mich aus meiner Trance reißt, indem er sich mit einem Lächeln zu mir wendet:

„Na, was sagst? Tief genug?“

Ich weiß, wir haben die richtige Tiefe erreicht, wenn mein Vater im Loch verschwunden ist. Er reicht mir seine Hand und ich ziehe ihn aus dem Grab.

Auch Totengräber sterben.

Als Kind kann ich mir das gar nicht vorstellen.

Wer soll sie denn begraben?

Ich verlasse den Friedhof und gehe langsam den Hügel hinunter, vorbei an der Aufbahrungshalle, die auf halber Strecke liegt. Haben sie meinen Vater schon gebracht? Ich kenne die Antwort. Den Schlüssel zur Kühlung habe ich eingesteckt. Wenn ich wollte, könnte ich ihn noch einmal sehen.

Die Verbindungen zum Haus sind getrennt – weder Strom noch Wasser laufen. Ich zünde eine Kerze an, um zumindest im schwachen Licht die Umrisse der Dinge zu erkennen. In der Küche liegt ein unberührter Laib Brot, von dem ich ein Stück abschneide und daran herumkaue. Mit einer halben Flasche Rotwein, die noch annähernd genießbar ist, spüle ich es die Kehle hinunter.

Die Luft ist kühl. Ich sitze auf der Türschwelle und blicke in den Garten. Geräusche der Vögel, des Windes – es ist friedlich hier. Ich habe ganz vergessen, wie hell an diesem Ort die Sterne leuchten.

Meine Augen fallen immer wieder zu und ich gehe die Treppen hoch ins Kinderzimmer meines Vaters, das ich, ohne Aussicht auf Erfolg, versuche, vom gröbsten Staub und Spinnweben zu befreien.

Unruhig schlafe ich und wache immer wieder auf. Bilder der Vergangenheit drängen in mein Bewusstsein. Den ganzen Tag über konnte ich sie abwehren, in eine Richtung drängen, in der sie mir nichts antun, mich nicht berühren können, aber hier bin ich ihnen völlig ausgeliefert. Geöffnet oder geschlossen, meine Augen liegen in der Finsternis gefangen und mir bleibt nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen. Habe keine Kraft mehr, um meine Mauern aufrecht zu halten. Wie Blitze fahren die Bilder in mich ein, bis ich im Anblick meiner ersten Leiche verharre.

„Großvater“, höre ich eine Stimme flüstern und schrecke auf.

Großvater lebt wie ein Geist auf unserer Landwirtschaft. Jeden Tag fährt er aus, zieht von Wirtshaus zu Wirtshaus und verkriecht sich danach wieder in seiner Wohnung. Ich rede kaum etwas mit ihm und spüre nur, wie zerstritten er und mein Vater sind. Es gibt keine normale Unterhaltung zwischen ihnen. Auf beiden Seiten schwingt ein anklagender Ton mit. Wenn einer etwas sagt, dann schreit und schimpft der andere. Sie verteidigen sich, wie in die Ecke getriebene Tiere.

Großvater hat sich damals in große Schulden gestürzt, um den Bauernhof außerhalb der Ortschaft aufzubauen, und seinen Sohn gezwungen – in der am Land üblichen Subtilität des Schweigens – ihm dabei zu helfen. Vater musste seinen Lehrberuf aufgeben und zum Bauer werden.

Mangels Alternativen trete ich gelegentlich in die Wohnung meines Großvaters, während er seinen Mittagsschlaf hält, und bitte ihn, mich in die Stadt zu bringen. Er schnarcht nicht und es ist totenstill in seinem Zimmer. Jedes Mal, wenn ich die Glastür öffne, denke ich, dass er tot ist. Ich bereite mich stets darauf vor, jetzt und jetzt einen Toten im Bett liegen zu sehen. Kurz halte ich die Luft an, bevor ich zu ihm blicke, und sehe dann, dass Großvater einfach ruhig schläft.

Ich bleibe ein wenig im Türrahmen stehen und beobachte ihn. Er atmet im Schlaf kaum und hat seine Hände auf der Brust verschränkt. Nur wenn ich genau hinhorche, höre ich leisen Atem aus seinem Mund dringen. Seine faltigen Augenlider zucken wie eine wilde See im Sturm der Nacht, während sein Körper friedlich schlummert.

Ich trete einen Schritt näher und der Holzboden knarrt so laut, dass er hochspringt. Für einen Moment weiß er nicht, wo er ist, und schaut mich mit weit aufgerissenen, stählernen Augen an, die mich nicht erkennen.

Mit gebrochener Stimme trage ich mein Anliegen vor. Großvater antwortet nicht und steht benommen auf. Mechanisch schlüpft er in seine blaue Arbeitshose aus Leinen, zieht seine ebenfalls blaue Arbeitsweste über den vom Krieg steifen linken Arm und setzt seine grüne Militärkappe auf. In seinem roten Volkswagen fahren wir in die Stadt, ohne ein Wort zu sagen.

An einem Morgen kommt mein Großvater nicht aus seiner Wohnung. Gegen acht ist er üblicherweise bereits unterwegs, aber sein Auto steht noch in der Halle. Mein Vater hat wohl schon gewusst, was ihn erwartet, sobald er sein Zimmer betritt, und ruft anschließend den Bestatter.

Es klingelt und ich frage ihn, was passiert ist. Ohne Regung in seinem Gesicht, sagt er, dass Großvater tot sei. Nach dem Bestatter wählt er die Nummer des Dorfdoktors. Während Vater das Organisatorische löst, ist endlich meine Chance gekommen, einen Toten zu sehen.

Wenn ich bei der Arbeit am Friedhof helfe, komme ich nicht mit toten Menschen in Berührung, obwohl ich ihnen kaum näher sein könnte. Ich schaue nur dabei zu, wie wir eine Truhe aus Holz begraben. Mehr nicht. Immer muss ich mich wegdrehen, wenn Vater einen Sarg nochmals öffnet oder auf etwas Interessantes im Grab stößt, wo mehr als Knochen zu erkennen sind.

„Schau jetzt weg!“, höre ich ihn aus dem Loch sagen.

Ich weiß so viele Jahre nicht, was in den Truhen liegt, weiß nicht, wie so eine Leiche aussieht, weiß nur, dass ich sie nicht sehen darf, und so bergen die Särge Welten des Verbotenen für mich, die meine Fantasie in alle Richtungen treiben.

Mein Großvater ist gestorben. Ich müsste traurig sein, müsste ein Gefühl von Verlust spüren, aber nichts anderes kommt in mir hoch als die Neugier. Würde ich meinen Vater fragen, ob ich noch einmal zu Großvater gehen dürfte, dann würde er nein sagen, würde mich wie immer davor beschützen, vor dem Anblick bewahren wollen, so lange es möglich ist. Ich sage ihm nichts und nütze die erste Stunde der Alltagsirritation, um heimlich in die Wohnung von Großvater zu gehen.

Langsam drücke ich die Glastür nach innen und senke den Kopf. Seine Decke liegt am Boden. Ich wandere mit dem Blick nach oben. Angst schleicht sich ein. Traue mich nicht, ihn als Ganzes zu sehen, und konzentriere mich auf einzelne Punkte, Fragmente.

Seine Hände ragen steif in die Luft, und die Finger sind gebeugt, als hätten sie im letzten Moment nach etwas gegriffen. Großvaters Brust ist regungslos. Ich höre nichts anderes, als die Stille des Raumes. Sobald ich einen Schritt nach vor wage, knarrt der Boden.

Nichts! Keine Regung.

Die Augen meines Großvaters sind weit aufgerissen und starren an die Holzdecke – sie sind leer und jeglichen Ausdrucks beraubt. Seine Lider sind verschwunden. Seine Zähne liegen in einem Wasserglas neben dem Bett. Seine Lippen sind zurückgezogen und fallen in den Rachen hinein. Sein Gesicht ist zu einer bleichen Maske im letzten Aufschrei erstarrt.

Mein Vater schickt mich mit bestimmten Worten aus dem Zimmer, während er mit dem Doktor eintritt, der meinen Großvater für tot erklärt. Vor unserer Einfahrt warte ich auf die Ankunft des Leichenwagens. Als er einbiegt, laufen Tränen über mein Gesicht.

Gemeinsam mit meinem Vater trägt der Bestatter einen provisorischen Metallsarg in die Wohnung und nach wenigen Minuten kommen sie wieder heraus. Sie tun sich leicht. Großvater hat kein Gewicht.

Kurz vor Sonnenaufgang werde ich wach.

In der Nacht habe ich versucht, mich möglichst wenig zu bewegen, damit ich nicht den Staub und den Dreck aufwühle, aber es ist mir nicht gelungen.