Nach einem ausgiebigen Frühstück widme ich mich ganz meiner Wohnung und ihrer Sauberkeit und mache mir nebenbei eine Liste, was ich noch besorgen will, um meine Wohnung zu einem Heim zu machen, dann gehe ich in die Stadt, besorge mir Joggingschuhe und bummele noch ein bisschen durch den Hafen.
Auf der Promenade bleibe ich stehen und sehe über das Wasser. Möwen kreischen über mir auf der Suche nach Futter, ich höre das Rauschen der Brandung und es klingt wie Musik in meinen Ohren. Mein Blick schweift über den Strand und den Hafen, weiße Segelschiffe dümpeln neben vereinzelten Fischerbooten am Pier und Fahnen flattern im Wind. Auf einmal überkommt mich eine Ruhe, wie ich sie selten erlebt habe. Ja, hier ist mein Zuhause, hier gehöre ich her.
Allmählich wird mir kalt und ich mache mich langsam und so entspannt wie schon lange nicht mehr, auf den Weg zurück in meine Wohnung.
Nachdem ich meine Einkäufe nach Hause gebracht habe, muss ich mich schon wieder sputen. Annie hat mich eingeladen. Nach einem halben Jahr ohne sie, kann ich es kaum erwarten, sie zu sehen. Ich habe meine beste Freundin vermisst und ich weiß, dass sie mir wahnsinnig viel zu erzählen hat. Sie hat nach vier Jahren den Vater ihrer kleinen Tochter wiedergetroffen und wie ich ihren letzten E-Mails entnommen habe, sind die beiden bis über beide Ohren verliebt ineinander, wollen demnächst heiraten und erwarten ein Baby. Ich bin sehr gespannt auf ihren Colin, ihren E-Mails nach soll er ja ein Traummann sein.
Schnell ziehe ich mir eine enge Jeans und einen dicken, schwarzen Strickpulli mit Zopfmuster an. Nicht zu leger, aber doch bequem. Der Pullover reicht mir bis auf die Oberschenkel und kaschiert meine Hüften und die nicht gerade kleine Oberweite. Ich schlüpfe in meine hochhackigen Stiefel und mache mich auf den Weg. Anscheinend wohnt Annie im Moment nur ein paar Minuten von meiner Wohnung entfernt in Colins Penthouse am Hafen. Sie hat mir geschrieben, dass ihr Haus, das auf einem wunderschönen, großen Grundstück am Strand liegt, gerade umgebaut wird. Das Häuschen war zu klein und renovierungsbedürftig für die wachsende Familie. Problemlos finde ich den Weg zum Penthouse und klingele. Sofort wird der Summer gedrückt und ich höre Annies Stimme von oben.
„Jules, nimm den Fahrstuhl bis nach ganz oben.“
Okay, Penthouse. Ich habe mir schon so etwas gedacht, dass es ganz oben ist. Ist ein Penthouse nicht immer ganz oben? Ich grinse noch immer in mich hinein, als sich die Fahrstuhltüren öffnen und meine Freundin mich direkt heraus, in ihre Arme und weiter in die Wohnung zieht.
„Du bist zu Hause!“, quietscht sie in mein Ohr.
„Ich freu mich so! Ich habe dich so vermisst! Lass dich ansehen!“
Ich schiebe sie ein Stück von mir und wir mustern uns gegenseitig strahlend, während wir uns gleichzeitig versichern, wie gut wir aussehen. Hinter Annie tritt ein schwarzhaariger, gutaussehender Mann in den Flur und lächelt mich freundlich an.
„Hey, du musst Jules sein. Annie hat mir schon viel von dir erzählt. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen. Ich bin Colin.“
Während er spricht, reicht er mir die Hand und zieht mich gleich in eine herzliche, freundschaftliche Umarmung.
„Äh, ja, ich freu mich auch. Danke“, stammele ich, noch etwas verwirrt von der fast schon überschwänglichen Begrüßung.
Völlig selbstverständlich legt er einen Arm um Annies Schultern und gibt ihr einen Kuss auf die Schläfe. Die andere Hand streicht über ihren schon ganz leicht gewölbten Bauch. Für einen kurzen Moment habe ich einen Kloß im Hals, als ich diese Vertrautheit und den kleinen Babybauch sehe. Aber ich will nicht neidisch sein! Annie hat dieses Glück verdient wie keine andere. Es ist nur so, dass ich so etwas wohl nie erleben werde und das macht mich ein bisschen traurig.
Colin dirigiert uns den Flur entlang, während wir ununterbrochen reden und ihm hinterherlaufen. Er führt uns in ein riesiges Wohnzimmer, die gegenüberliegende Wand ist komplett verglast und bietet einen atemberaubenden Ausblick auf den Hafen. Vor den Fenstern steht ein dunkelhaariger Mann und sieht reglos, uns den Rücken zugewandt, hinaus. Als Colin den Raum betritt, dreht er sich langsam zu uns um und ich bleibe wie angewurzelt in der Tür stehen. ER ist es, der Typ vom Taxistand am Flughafen und sieht mit zusammengezogenen Augenbrauen aus den eigentlich warmen braunen Augen zu uns herüber. Als er mich sieht, runzelt er die Stirn und verschränkt die Arme vor der breiten, muskulösen Brust. Er sieht nicht sonderlich begeistert aus, hier zu sein und ich frage mich, was er überhaupt hier macht, als Colin uns schon vorstellt.
„Jules, das ist mein bester Freund Gabriel Jackson. Gabe, das ist Annies beste Freundin, Jules Ramieri.“
Während Colin gesprochen hat, ist Gabriel zu uns getreten, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt, und sieht auf mich hinab ohne mit der Wimper zu zucken.
„Hallo. Nett, Sie kennenzulernen“, sage ich und will ihm die Hand geben. Im ersten Moment rührt er sich nicht, dann ergreift er sie zögernd, lässt sie aber sofort wieder los, als hätte ich ihm einen toten Fisch gereicht. Na super, das kann ja ein toller Abend werden, denke ich, als nur ein knappes „Hallo“ kommt und er sich wieder wegdreht. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Annie Colin einen fragenden Blick zuwirft und auch ich bin mehr als erstaunt. Habe ich diesem Typen etwas getan? Ich zucke innerlich mit den Schultern und wende mich wieder Annie zu.
„Wo ist Lilly?“, frage ich sie nach ihrer dreijährigen Tochter.
„Lilly kommt erst übermorgen wieder, sie ist bei meinen Eltern.“
Eigentlich schade. Ich liebe diesen kleinen Wirbelwind. Aber gut, ich habe in den nächsten Monaten genug Zeit für die Kleine, da ich ja erst einmal nicht arbeiten werde.
Annie hat für uns vier gekocht und wir setzen uns an den großen Esstisch. Gabriel sitzt mir gegenüber und beachtet mich nicht. Ich weiß wirklich nicht, was für ein Problem er mit mir hat. Ich kenne den Mann ja nicht einmal. Aber mit Annie und Colin unterhält er sich die ganze Zeit freundlich und lacht sogar ein paar Mal. Nur wenn er in meine Richtung sieht, verdüstert sich sein Gesicht. Ich mustere ihn verstohlen während des Essens. Er hat braune, leicht wellige Haare bis zum Kinn, die er sich bestimmt schon zum Pferdeschwanz binden könnte. Seine schokobraunen Augen sind mir ja schon am Flughafen aufgefallen. Er trägt einen gepflegten Drei-Tage-Bart, der einen sinnlichen Mund freilässt und hat ein energisches Kinn. Gabe sieht wahnsinnig gut aus und mir wird der Mund trocken, bis seine tiefe Stimme mich aus meinen Gedanken reißt.
„Gefällt dir, was du siehst, Mädchen?“, fragt er leise.
Mir stockt der Atem und die Röte schießt mir ins Gesicht. Mist, erwischt! Ich hab ihn wohl etwas zu deutlich angestarrt. Moment mal, Mädchen? Nennt er jede Frau so oder hat er mich wiedererkannt? Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er: „Ich vergesse nie ein Gesicht.“
Ups, schon wieder erwischt. Mittlerweile bin ich knallrot und beiße mir auf die Lippe, so peinlich ist mir das Ganze. Schnell greife ich nach meinem Weinglas und nehme hastig einen viel zu großen Schluck von dem guten Rotwein, bevor ich angestrengt auf meinen Teller starre. Ich kann seinem durchdringenden Blick nicht standhalten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Annie und Colin uns schon zum zweiten Mal an diesem Abend fragende Blicke zuwerfen, aber keiner der beiden sagt etwas dazu. Vielleicht haben sie Gabriels Worte nicht verstanden, so leise, wie er gesprochen hat. Ich hoffe es! Der Appetit ist mir vergangen, obwohl ich das köstliche Rinderfilet auf meinem Teller kaum angerührt habe. Ich schiebe es noch ein paar Minuten hin und her, ohne wirklich einen Bissen zu essen, dann werde ich zum Glück von Annie gerettet, die mich bittet, ihr beim Nachtisch zu helfen. Schnell greife ich mir ein paar Teller und verschwinde in der Küche. Wir räumen das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und Annie holt die Schälchen mit Zitronenmousse aus dem Kühlschrank.
„Wann soll eigentlich eure Hochzeit stattfinden?“, frage ich. „Du hast in deiner letzten Mail gar nichts geschrieben.“
„Nein, das war Absicht. Ich wollte dich persönlich fragen, deshalb habe ich dich in die Küche gebeten. Also, wir wollen morgen in vier Wochen schon heiraten und ich wollte dich fragen ... Also ...“
Sie verstummt und blickt wie suchend in der Küche umher, bis ich sehe, dass sie Tränen in den Augen hat. Sanft fasse ich sie an den Oberarmen.
„Annie, was wolltest du mich fragen?“
Sie atmet noch einmal tief durch und sammelt sich kurz.
„Okay. Jules, du weißt, du bist meine allerbeste Freundin und ich wollte dich fragen, ob du meine Trauzeugin werden möchtest.“
Jetzt fangen ihre Tränen an zu fließen und ich bin gerührt.
„Natürlich will ich!“ rufe ich, falle ihr um den Hals und jetzt kann auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Annie ist meine beste Freundin seit wir uns im ersten Semester auf der Uni ein Zimmer geteilt haben. Wir sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen, haben zusammen gelacht, unsere Tränen getrocknet, über unsere Kommilitonen hergezogen und uns zusammen auf Partys betrunken. Wir wissen über den anderen genauso viel, wie über uns selbst und als Annie nach ihrer Vergewaltigung hierher nach Boothbay Harbor ans Meer gezogen ist, bin ich mitgegangen, um sie zu unterstützen.
Für mich war es früher egal, wo ich meine Wohnung hatte, da ich in den letzten Jahren ja sowieso beruflich viel unterwegs war, aber diese kleine Stadt am Meer hat mich vom ersten Augenblick in ihren Bann gezogen. Ich möchte nie wieder woanders wohnen.
Auf einmal kommt mir ein Gedanke.
„Sag mal, dein Zukünftiger fragt nicht zufällig gerade Gabriel, oder?“
„Doch, aber wie ich die Männer kenne, geht es dabei nicht halb so rührselig zu wie bei uns“, lacht sie und wischt sich das letzte Tränchen ab.
Na, das kann ja heiter werden. Dann sehe ich diesen Typen wohl noch häufiger.
Beim Nachtisch reden wir noch eine Weile über die Hochzeitsplanung. Gabe spricht mich nicht wieder an und auch ich versuche ihn nicht weiter zu beachten. Nach dem Essen verabschiede ich mich allmählich. Der Jetlag schlägt wieder zu und ich gähne, als ich in meine Jacke schlüpfe und mich verabschiede. Als ich in den Fahrstuhl trete, steht Gabe auf einmal neben mir. Ich habe nicht mitbekommen, dass auch er gehen wollte und sehe ihn überrascht an.
„Keine Sorge, ich beiße nicht“, sagt er nur und sieht mich grimmig an.
Endlich finde ich meine Schlagfertigkeit wieder.
„Ach nein? Aber ich vielleicht!“
Okay, nicht der beste Spruch, aber immerhin das letzte Wort. Sein Gesichtsausdruck wird noch grimmiger, aber er sagt nichts mehr und ich drehe ihm den Rücken zu, um ihn nicht ansehen zu müssen.
Langsam macht mich seine schlecht gelaunte Art wütend. Ich atme tief durch um mich zu beruhigen und mir stockt der Atem. Der ganze Fahrstuhl ist erfüllt von seinem Duft. Er riecht nach Seife und Pfefferminz, ein wunderbarer Geruch. Auf der Straße will ich den Weg zu meiner Wohnung einschlagen, als mich jemand unsanft am Arm packt.
„Ich fahre dich nach Hause, Mädchen“, sagt Gabe in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt. Aber, oh nein, nicht mit mir.
„Ich kenne den Weg, ich laufe“, antworte ich pampig und reiße meinen Arm los. Als ich mich umdrehen will, um zu gehen, packt er mich wieder und zieht mich zu sich heran.
„Kleine Mädchen sollten bei Nacht nicht allein zu Fuß durch die Stadt laufen“, knurrt er mit zusammengebissenen Zähnen. Wieder steigt sein Duft in meine Nase und mein Herz schlägt schneller.
„Ich habe keine Angst vor Ihnen, also hören Sie auf, mich einschüchtern zu wollen.“
Ich stoße ihn von mir, während er mich gleichzeitig abrupt loslässt. Durch den Ruck taumele ich zurück und pralle mit der Schulter heftig gegen die Ecke der Hauswand. Keuchend versuche ich, den Schmerz zu ignorieren, der mir durch die Schulter, den Arm und bis in die Fingerspitzen fährt.
„Hast du dir wehgetan, Mädchen?“, sein eiskalter Blick wirkt auf einmal ganz besorgt.
„Nein! Es ist nichts passiert. Und hören Sie auf, mich Mädchen zu nennen, aus dem Alter bin ich schon lange raus. Ich weiß nicht, was Ihr Problem ist, aber ich habe nichts damit zu tun, also sehen Sie mich nicht immer so an, als hätte ich gerade Ihr Auto zu Schrott gefahren!“
Jetzt bin ich echt stocksauer! Ich drehe mich um und gehe los. Diesmal hält er mich nicht zurück.
Noch zu Hause im Bett habe ich das Gefühl, seinen Duft zu riechen und seine kräftigen Hände auf meinen Oberarmen zu spüren, während meine Schulter schmerzhaft pocht.