Stumme Verzweiflung - Cappuccinoliebe

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Love in Boothbay Harbor - 3 und 4

Kerry Greine

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Inhalt

Stumme Verzweiflung

Cappuccinoliebe

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Über den Autor

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Stumme Verzweiflung

1

Noch eine Kurve und ich bin da, denke ich und biege auf den holprigen Zufahrtsweg ein, der zu meinem neuen Zuhause führt. Langsam umfahre ich die Schlaglöcher auf dem unbefestigten Waldweg und mache mir im Geiste eine Notiz, diesen Weg ein bisschen auszubessern. Wann ich dazu kommen werde, weiß ich nicht, denn das ist nur eine von vielen Aufgaben, die in den nächsten Monaten auf mich zukommen. Ich habe viel Arbeit vor mir.

Als ich zwischen den letzten Bäumen aus dem kleinen Wäldchen herausfahre und das große Haus in Sicht kommt, halte ich mit meinem Pick-up auf einer Anhöhe. Da ist es. Meine neue Heimat. Das Haus ist riesig, viel zu groß für eine Person, aber irgendwann wird es sich hoffentlich mit Leben füllen. Es ist aus dunkelrot gestrichenem Holz, mit einer großen überdachten Veranda an zwei Seiten und sieht von meiner Position aus, wie ein schräg liegendes L. Vor mir verläuft der große Haupttrakt des Hauses, links, von mir weg, der kleinere Nebentrakt, den ich zu meiner Wohnung umbauen will. Dazwischen befindet sich ein großer, gepflasterter Hof und dahinter mein persönliches Juwel, der Pferdestall. Rechts wird das Rechteck, das die Gebäude um den großen aber dennoch offenen Innenhof bilden, von einem Schuppen und einer alten Remise beschränkt und hinter dem Stall erstrecken sich die Weiden, bis in der Ferne der Wald beginnt und mein neues Reich endet.

Ich war schon immer ein Pferdenarr und bin schon in Boston von klein auf geritten. Zum Glück habe ich verständnisvolle Eltern, die kein Problem damit hatten, ihrem Jungen Reitstunden zu bezahlen, während meine Schwester lieber Basketball gespielt hat. Okay, Annie musste irgendwann damit aufhören, weil sie einfach zu klein war, aber ich bin dem Reiten bis heute treu geblieben und habe als Teenager schon mein Taschengeld damit aufgebessert, dass ich Kindern Reitstunden gegeben habe.

Nach meinem Studium habe ich mir in Boston eine erfolgreiche IT-Firma mit Schwerpunkt Sicherheitssysteme aufgebaut, aber das hat mich nicht erfüllt. Zu viel Arbeit am Schreibtisch und zu wenig an der frischen Luft. Auf die Dauer war das nichts für mich, ich brauche Bewegung und muss mich auch körperlich verausgaben können, ohne dafür immer ins Fitnessstudio rennen zu müssen. Daher habe ich mich entschlossen, meine Anteile an meinen Freund und Kompagnon zu verkaufen und habe meine Zelte in Boston abgebrochen. Ich, Christopher Briggs, habe es endlich geschafft, mir mit 33 Jahren meinen größten Traum zu erfüllen. Hier bin ich nun, in Boothbay Harbor. Na ja, zumindest in der Nähe. Bis zu dem kleinen Städtchen sind es knappe fünf Meilen, aber das ist mir dicht genug.

Vor ein paar Jahren, als meine kleine Schwester Annie hierher gezogen ist, habe ich mich in diesen Ort, 160 Meilen nördlich von Boston, verliebt und seitdem mit mir gehadert, wie ich es schaffe, hierher zu ziehen. Eine IT-Firma in so ein kleines Nest, weitab jeder größeren Stadt, zu verlegen hätte keinen Sinn gemacht. Zum Glück hat mein Freund mich ausbezahlt, so dass ich jetzt finanziell gut abgesichert bin. Ich werde aber sicher auch noch einen Haufen Geld brauchen, bis ich dieses kleine Gestüt wieder auf Vordermann gebracht habe. Schon von weitem sehe ich, dass die Zäune unbedingt ausgebessert werden müssen und ich weiß, dass das Haus und der Stall auch dringend einer Renovierung bedürfen. Der Vorbesitzer ist gestorben und die Gebäude haben über einen längeren Erbstreit hin leer gestanden.

Zum Hof gehört auch eine Art ehemaliges Pförtnerhäuschen, in dem ein älteres Ehepaar, Laura und Bill Baker, wohnt und die in der Zeit hier nach dem Rechten gesehen haben. Ich habe sie bei den Besichtigungsterminen ein wenig kennengelernt und sie scheinen wirklich nett zu sein, ruhige, umgängliche Leute.

Monatelang habe ich mich immer wieder mit den Erben getroffen und verhandelt, bis ich die alte Farm endlich kaufen durfte.

Es gibt noch reichlich zu tun, bevor nächste Woche meine drei vierbeinigen Mädels eintreffen. Schon zu meinem Highschoolabschluss bekam ich meine erste eigene Stute, die noch immer bei mir ist. Eine mittlerweile alte Dame von achtzehn Jahren namens Fanny.

Mein zweites Pferd ist Aram, auch eine Stute, aber vom Charakter her das genaue Gegenteil von Fanny. Jung, gerade erst vier Jahre und ein kleiner Heißsporn. Ich habe sie als Fohlen bekommen und selbst zugeritten, weil meine Fanny ja leider nicht mehr die Jüngste ist. Die beiden hatte ich in Boston schon im Reitstall stehen und jetzt habe mir noch eine vielversprechende und wunderschöne junge Stute namens Stormy für eine kleine Zucht dazugekauft. Ein anderer Pferdebesitzer bei uns im Stall musste beruflich nach Paris umziehen und konnte sie nicht mitnehmen.

Für den Anfang, bis der Hof fertig ist, sollten drei Pferde erst einmal reichen und wenn ich alle meine Wünsche und Pläne so umsetzen kann, wie ich es gern hätte, möchte ich das Haus in eine Ferienpension umbauen und ein paar weitere Pferde dazukaufen oder aus eigener Zucht behalten. Ich habe gern Gesellschaft und diese Gegend hier ist ideal. Zwischen den Wäldern von Maine und dem kleinen Hafen in der Stadt tummeln sich fast das ganze Jahr über viele Touristen.

Aber als Erstes sollte ich die Maklerin nicht länger warten lassen, fällt mir siedend heiß ein und ich starte den Wagen, um die letzten Meter hinter mich zu bringen. Nach einem kurzen Rundgang durch alle Gebäude, dem Ablesen der Strom- und Wasserzähler und dem Unterschreiben eines Übergabeprotokolls bekomme ich von ihr die Schlüssel für das Haus und die Stallungen. Dann fährt sie in ihrem kleinen, roten Chevrolet vom Hof und ich bin allein.


Es ist elf Uhr vormittags und ich bin voller Tatendrang. Schließlich freue ich mich seit Monaten auf diesen Tag. Tief durchatmend stehe ich im zukünftigen Wohnzimmer und sehe mich um, als es an der Hintertür zur Küche klopft. Ich bin ein wenig verwirrt, weiß ich doch nicht, wer mich hier besuchen könnte. Schließlich habe ich noch kaum jemandem von meinem Umzug erzählt. Als ich durch den oberen, verglasten Teil der Tür sehe, muss ich schmunzeln. Das Ehepaar Baker steht davor und Laura Baker winkt mir freudig zu, als ich an die Tür trete.

„Guten Morgen! Meine zukünftigen Nachbarn. Das ist aber nett, dass Sie vorbeischauen. Kommen Sie doch herein“, begrüße ich die beiden und trete beiseite.

„Hallo! Herzlich willkommen. Aber ich finde, mit diesem blöden ‚Sie‘ fangen wir gar nicht erst an, okay? Schließlich werden wir uns jetzt regelmäßig über den Weg laufen. Also, ich bin Laura und das ist Bill.“

Meine neue Nachbarin scheint sehr resolut zu sein, während ihr Mann eher wortkarg danebensteht und mir freundlich lächelnd zunickt. Schwungvoll stellt sie einen großen Plastikbehälter auf den Tresen der Küche und dreht sich wieder zu mir um.

„Äh, ja. Okay, gerne. Ich bin Chris“, fällt mir gerade noch rechtzeitig ein, dass ich ihr bisher nicht geantwortet habe. „Ich würde euch ja gern etwas anbieten, aber …“ Ich mache eine umfassende Handbewegung durch die leere Küche. „Ich hab noch nicht einmal Stühle hier. Obwohl, ich könnte schnell die Kaffeemaschine aus dem Auto holen, die steht griffbereit auf dem Beifahrersitz. Möchtet ihr einen Kaffee?“ Ich besinne mich auf meine gute Erziehung und gelernten Gastgeberqualitäten.

„Ja, Kaffee wäre prima. Wir brauchen auch keine Stühle, wir setzen uns einfach auf die Verandastufen. In der Dose da hab ich dir Kuchen mitgebracht. Eine Kleinigkeit zum Einstand quasi. Ich hoffe, du magst Mohnkuchen?“

„Oh, lecker! Vielen Dank! Na, dann kümmere ich mich mal um den Kaffee.“


Zehn Minuten später sitzen wir drei einträchtig auf den Stufen vor der Küchentür und lassen uns Lauras Kuchen schmecken. Er ist wirklich köstlich. Bill ist noch immer sehr schweigsam, aber vermutlich ist er einfach kein Mann großer Worte. Zumindest sind die beiden mir noch immer sehr sympathisch. Laura ist fast zwergenhaft klein, reicht mir kaum bis zur Brust, und mollig. Mit ihren grauen Haaren, dem lieben Gesicht und ihrer fröhlichen und aufgeschlossenen Art ist sie ein so mütterlicher Typ, dass man sich einfach nur wohlfühlen kann in ihrer Gegenwart. Bill ist auch nicht sonderlich groß, vielleicht knapp über einssiebzig, und von kräftiger Statur. Seine ehemals wohl dunklen Haare sind von dicken grauen Strähnen durchzogen und auch wenn er nicht viel sagt, man sieht mit jedem Blick, den er Laura zuwirft, die Liebe zu ihr in seinen Augen leuchten.


„Wir freuen uns wirklich, dass sich endlich jemand um diese vergessene Perle hier kümmert. Früher, weißt du, da war der Hof wunderschön. So idyllisch und ruhig und mitten in der Natur. Deshalb haben wir uns auch so gefreut, als das alte Pförtnerhäuschen vermietet wurde. Wir wohnen wirklich gern hier und ich hoffe …“ Laura sieht ein wenig unsicher zwischen mir und ihrem Mann hin und her. „Ach, egal. Du hast erst einmal genug um die Ohren.“ Jetzt hat sie mich neugierig gemacht, irgendetwas scheint ihr auf dem Herzen zu liegen.

„Nein, sag ruhig. Was hoffst du?“ Ich bin gespannt, denkt sie, ich würde hier alles niederreißen und einen modernen Komplex hier hersetzen? Hat sie Angst, dass ich gerade die schöne Umgebung, die Natur um uns herum nicht zu würdigen weiß? Sie zögert lange, bis sie mir endlich antwortet, während Bill nur angestrengt in seinen Kaffeebecher starrt.

„Naja, unser Häuschen. Also das Haus, in dem wir wohnen, gehört ja jetzt auch dir und ich frage mich, was du wohl damit vorhast?“

„Was soll ich denn damit vorhaben?“ Ich verstehe nicht so recht, worauf sie eigentlich hinauswill.

„Also, ich weiß nicht, ob ihr in den Verkaufsverhandlungen darüber gesprochen habt, aber unser Mietvertrag ist mit dem Tod des Vorbesitzers eigentlich abgelaufen. Wir wohnen nur noch hier, weil die Erben sich ja nicht einigen konnten und jetzt …“ Sie bricht ab und zuckt ein wenig ratlos mit den Schultern.

„Moment mal, Laura. Nur damit ich dich richtig verstehe, wollt ihr hier wegziehen?“

Erschrocken sieht sie mich an. „Um Gottes willen! Nein! Natürlich wollen wir hier nicht weg. Aber wir wissen ja nicht, was du mit dem Haus vorhast. Es kann ja sein, dass du es selbst nutzen willst oder … keine Ahnung.“

Bill ist mittlerweile unruhig geworden und aufgestanden. Nervös knibbelt er mit dem Daumennagel an der Holzbrüstung der Veranda und sieht in Richtung der Ställe. So langsam verstehe ich, was sie mir hier versucht zu sagen.

„Sag mal, Laura. Habt ihr Angst, dass ich euch rausschmeiße?“

Sie zuckt ertappt zusammen und nickt zögernd.

„Ganz ehrlich, ihr beiden!“ Jetzt beziehe ich auch Bill mit in das Gespräch ein. „Das habe ich nicht vor. Als ich das erste Mal hier war, hat mir die Maklerin schon gesagt, dass das Pförtnerhaus vermietet ist und warum sollte ich daran etwas ändern? Ich hatte sowieso vor, mir hier den Flügel des Haupthauses auszubauen. Wenn ihr hier weg wollt ist das natürlich okay, aber wenn ihr bleiben wollt, könnt ihr das Haus behalten so lange ihr wollt.“ Ich kann die Steine fast hören, die den beiden von den Herzen fallen. Laura strahlt mich an wie eine 100-Watt-Glühlampe und auch Bill verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

„Also, Chris“, spricht Bill mich mit seiner tiefen, etwas heiseren Stimme an. „Wenn du mal Hilfe brauchst. Hier auf dem Hof oder so. Ich weiß ja nicht, was du damit vorhast, aber ich hab jahrelang auf dem Bau gearbeitet. Ich kann dir gern mal zur Hand gehen.“

„Ach, du suchst ja nur Beschäftigung“, wirft Laura lachend ein. „Weißt du, Chris, Bills Firma ist letztes Jahr Pleite gegangen und er wurde sozusagen in Zwangsrente gesteckt. Die Umstellung fällt ihm noch schwer, nicht mehr den ganzen Tag an irgendwas herumzubasteln. Aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, mein Lieber“, weist sie ihren Mann grinsend zurecht.

In meinem Kopf entsteht gerade eine Idee, über die ich mir noch genauer klarwerden muss. Ich mag die beiden wirklich und vielleicht habe ich tatsächlich etwas für Bill und, wenn Laura mag, auch für sie zu tun. Zumindest auf längere Sicht. Aber dafür muss ich sie erst noch näher kennenlernen, um zu wissen, ob ich mir vorstellen kann, mit ihnen zu arbeiten.

Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt mir, dass wir hier schon über eine Stunde sitzen und quatschen.

„Ich möchte euch wirklich nicht rausschmeißen, aber so langsam sollte ich mal loslegen, wenn ich heute noch etwas schaffen will“, sage ich und stehe auf. „Ich muss meinen Pick-up noch leerräumen und drinnen zumindest das Bad und die Küche halbwegs schrubben, damit ich mir heute Abend wenigstens etwas kochen und duschen kann.“

„Oh, soll ich kurz mit anfassen, Junge? Zu zweit geht’s doch viel schneller und wir haben heute eh nichts mehr vor, oder Laura?“ Bill sieht kurz fragend zu seiner Frau, die bestätigend nickt.

„Ja, und wenn du magst, Chris, nehm ich mir das Putzen vor.“

Ich bin gerührt, als ich die beiden älteren Leute voller Tatendrang vor mir stehen sehe. Sie wollen mir tatsächlich helfen, es war kein Angebot der Höflichkeit geschuldet.

„Also, wenn ihr euch das wirklich antun wollt … Ich habe noch so viel zu tun, da nehme ich jede Hilfe gerne an.“

„Na dann, los geht’s!“ Laura klatscht in die Hände und wir wenden uns meinem neuen Ford Ranger zu, der voll bis unter das Dach – oder besser gesagt die komplette Ladefläche – vor dem Haus parkt.

Den Nachmittag über schleppen Bill und ich Kisten mit Lebensmitteln, Putzmitteln, Farbeimer und dem Nötigsten, was ich für die nächsten paar Tage und die Renovierung brauche, ins Haus, während Laura summend und mit Gummihandschuhen und Putzeimer bewaffnet durchs Haus wuselt und alles pikobello auf Hochglanz poliert. Na ja, soweit es machbar ist zumindest.

Das Badezimmer ist, wie alles andere, schon alt und bedarf bei Gelegenheit auch einer Generalüberholung. Die teilweise gerissenen Fliesen sind in einem altmodischen braunen Farbton, Waschbecken, Duschwanne und Toilette in einem 70er-Jahre-Grün, aber für mich allein reicht es so.

Ganz ähnlich ist es auch in der Küche. Die alten Kiefernholzschränke haben schon bessere Tage gesehen. Sie sind zerkratzt und zwei der Türen hängen schief in ihren Angeln. Nichts, was sich nicht schnell beheben ließe und vielleicht streiche ich die Fronten noch einfach weiß, um die Küche etwas einladender zu machen, habe ich mir überlegt

Nachdem alles hereingetragen und saubergemacht ist, verabschieden sich Laura und Bill gegen Abend und ich richte mich mit meinen wenigen Habseligkeiten häuslich ein.

Für den Übergang schlafe ich auf einer Luftmatratze im zukünftigen Wohnzimmer. Eine nackte Glühbirne an der Decke spendet grelles Licht, bis ich meine Lampen zusammen mit meinen Schränken und dem restlichen Mobiliar bekomme. Meine Reisetasche, mit Klamotten für die nächsten paar Tage, stelle ich in eine Ecke neben eins der großen Fenster.

Ich habe mir vorgenommen, morgen als erstes mit der Renovierung meiner Wohnräume anzufangen und Bill hat schon gefragt, ob er mir helfen darf. Ja, ob er darf, nicht soll! Seine Augen haben geleuchtet wie die eines Kindes am Weihnachtsmorgen und er hat mich so bittend angesehen, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, ihm abzusagen. Abgesehen davon kann ich wirklich jede Hilfe brauchen und zu zweit macht die Arbeit auch gleich viel mehr Spaß.

Mein grober Plan sieht vor, zuerst nur drei Zimmer als Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer fertigzustellen und dann mit dem Stall und dem Weidezaun weiterzumachen. Aber ich muss es wohl auch ein bisschen auf mich zukommen lassen. Ich bin zwar keine Niete als Heimwerker, aber so einen großen Hof in Eigenregie herzurichten, flößt mir doch ein wenig Respekt ein. Ich weiß nicht, wie gut Bills handwerkliche Fähigkeiten tatsächlich sind und ob er mir weiterhin zur Hand gehen möchte, aber ich werde ihn auf jeden Fall fragen. Meine Idee von vorhin nimmt immer mehr Gestalt an. Über kurz oder lang werde ich jemanden einstellen müssen, der mich ein wenig unterstützt. Jemanden, der bereit ist, eine Art Hausmeister und Pferdepfleger in einem zu sein. Und eigentlich würde sich Bill für den Job ja geradezu anbieten, noch dazu, wo er hier auf dem Hof wohnt. Wenn ich dann irgendwann tatsächlich meinen Traum von einer Ferienpension wahrmache, brauche ich noch mehr Personal, aber für den Anfang würden mir zwei weitere tatkräftige Hände schon reichen.

Als die Sonne untergeht, bin ich hungrig und setze mich mit einem Sandwich, einer Tüte Chips und einer Flasche Bier auf die Veranda. Die Stille kommt mir laut vor. Nur ein Vogel zwitschert in der Ferne und ich höre das Rauschen der Blätter in den Bäumen hinter meinem Haus fast extrem deutlich. Ich bin die Geräusche der Großstadt gewohnt und muss mich an die Ruhe hier draußen noch gewöhnen.

Heute Abend gehe ich früh schlafen, die nächsten Tage werden anstrengend und ich möchte früh morgens loslegen, um so viel wie möglich zu schaffen.


Nach einer etwas unruhigen Nacht auf meiner nicht ganz so bequemen Luftmatratze erwache ich bereits in der Morgendämmerung und koche erst einmal Kaffee. Mit einem Becher in der Hand, trete ich auf die Veranda und sehe mich um. Es scheint ein schöner Frühlingstag zu werden. Der Himmel ist wolkenlos und auch wenn es hier Ende März morgens noch ziemlich kalt ist, über den Tag hat der Wetterbericht angenehme 15 Grad und Sonnenschein angekündigt. Im Moment glitzert der Tau noch auf den Gräsern und Nebelschwaden steigen über den Feldern auf. Ich sehe in Richtung Wald und überlege, dass ich bei Gelegenheit einmal die Waldwege erkunden muss. Im Sommer ist es bestimmt angenehm, dort auszureiten und der Hitze zu entgehen. Ein bisschen versteckt zwischen den ersten Bäumen am Waldrand entdecke ich eine kleine Hütte. Sie ist kaum zu erkennen, verschwindet fast im Unterholz und sieht nicht sonderlich stabil aus, aber sie scheint tatsächlich bewohnt zu sein. Rauch steigt aus einem kleinen Schornstein in den morgendlichen Himmel und vermischt sich mit dem Nebel. Ein idyllisches Bild, ich könnte ewig hier stehen und die Natur betrachten.

Aber dafür habe ich leider keine Zeit. Mein Becher ist leer und ich gehe wieder rein, um mit der Arbeit loszulegen.

Bill gesellt sich eine halbe Stunde später dazu und macht sich auch gleich tatkräftig ans Werk.

Zuerst wollen wir die alten und schon ziemlich zerkratzten Dielenböden abschleifen und neu versiegeln, so dass sie einen schönen honigfarbenen Schimmer bekommen. An den Wänden müssen zum Glück nur ein paar Ausbesserungen vorgenommen werden, wie alte Nägel entfernen, Löcher zuspachteln und frische Farbe an die Wände bringen. Die Grundsubstanz des Hauses ist gut. Ich war seit letztem Herbst immer wieder hier und habe das Haus während der Verkaufsverhandlungen auf Herz und Nieren von Fachleuten prüfen lassen. Die Heizung funktioniert, das Dach ist dicht und hält noch ein oder zwei Jahre und die elektrischen Leitungen und Wasserrohre sind in tadellosem Zustand.

Gegen Mittag haben wir alle Böden fertig geschliffen. Wir legen eine Pause ein und Laura kommt mit einem großen Topf Chili con Carne und frischem Weißbrot zu uns herüber.

Gemeinsam sitzen wir in der Küche, in der mittlerweile zumindest schon ein paar Klappstühle stehen, und genießen das hervorragende Essen. Vielleicht ist jetzt eine gute Gelegenheit, Bill auf meine Pläne anzusprechen. Er hat mir heute Vormittag schon eindeutig bewiesen, dass er Ahnung hat und wirklich geschickt mit Werkzeug umgehen kann.

„Sag mal, Bill. Meinst du, du könntest dir vorstellen, für mich zu arbeiten?“, fall ich gleich mit der Tür ins Haus. Lange drum herumreden liegt mir einfach nicht. Klare Fragen, klare Antworten.

Ungläubig sieht er mich an. Seine Hand mit dem Löffel verharrt auf halbem Weg zum Mund, bevor er ihn zurück auf den Teller sinken lässt.

„Meinst du das ernst?“

Ich muss lachen, als ich seinen Gesichtsausdruck sehe.

„Ja, natürlich. Sonst würde ich wohl kaum fragen. Ich brauche Hilfe hier. Ach, da fällt mir ein, ich habe euch noch gar nicht erzählt, was ich mit dem Hof vorhabe.“ Und so erzähle ich den beiden erst einmal ausführlich von meinen Plänen mit der kleinen Pferdezucht und der Idee, eine Pension zu eröffnen. Bill und Laura sind sofort begeistert und haben auch gleich viele Einfälle für die Umsetzung. Begeistert planen wir gemeinsam und schreiben diverse Listen, was noch alles erledigt werden muss. Ich freue mich wirklich, die beiden hier um mich zu haben. Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber irgendwie habe ich das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. Es gibt einfach so Menschen, zu denen man von Anfang an einen besonderen Draht hat und die Bakers gehören für mich absolut dazu, obwohl ich sie eigentlich gestern erst so richtig kennengelernt habe. Wir liegen einfach auf einer Wellenlänge.

„Also, was den Job angeht. Ich weiß selbst noch nicht so genau, was alles zu deinen Aufgaben gehören wird, wenn du das machen willst, aber ich glaube, das wird sich finden. Wahrscheinlich einfach ein Mann für alle Fälle. Hilfe bei der Stallarbeit, Reparaturen, vielleicht ein bisschen Gartenpflege – sollte ich irgendwann einen Garten anlegen. All sowas halt. Meinst du, das wär was für dich? Du könntest dir deine Zeit ziemlich frei einteilen, Hauptsache, es wird alles erledigt“, beende ich meine Ausführungen, nachdem wir wieder auf das eigentliche Thema gekommen sind und Bill nickt begeistert.

„Auf jeden Fall! Dann hab ich endlich wieder etwas zu tun. Ich habe vor lauter Langeweile sogar schon darüber nachgedacht, ob ich nicht lerne, wie man Socken strickt“, lacht er und Laura stimmt nicht minder begeistert ein: „Ja, schaff ihn mir aus dem Haus, Chris. Irgendwann macht er mich sonst noch wahnsinnig. Ständig steht er hinter mir und weiß nichts mit sich anzufangen. Bill ist kein Mensch, der seinen Ruhestand genießen kann, er braucht die Arbeit.“

Nachdem das geklärt ist, machen wir uns allmählich wieder an die Arbeit. Wie gesagt, es gibt viel zu tun.


Am späten Nachmittag machen wir Feierabend, wir haben deutlich mehr geschafft, als ich zu hoffen gewagt hätte. Die Sonne geht allmählich unter und ich streife noch ein wenig über den Hof, bevor ich mich um mein Abendessen kümmern muss. Ich gehe zu den Stallungen hinüber und lasse mich auf den harten Betonboden der Stallgasse gleiten. Gedankenverloren sehe ich mich um und vor meinen Augen entsteht das Bild, wie es hier bald aussehen wird. Die Fenster über den Boxen beidseits der Stallgasse werden das Sonnenlicht hereinlassen, die dunklen Boxentüren aus Holz mit den metallenen Gittern werden hoffentlich eine ruhige Gemütlichkeit ausstrahlen, die Sattelkammer mit der direkten Außentür ist sicher praktisch, dann muss ich nicht immer durch das große Haupttor an der Stirnseite des Stalles. Außerdem ist sie groß genug, um Sättel, Trensen, Putzsachen und diverse andere Kleinigkeiten darin zu verstauen. Wahrscheinlich bleibt sogar noch Platz für eine kleine Sitzecke.

Ich habe es als Kind geliebt, in der Sattelkammer meiner Reitschule mit meinen Freunden zu sitzen, eine Dose Limo in der Hand und umgeben vom Geruch nach Sattelfett und Leder. Bei den Gedanken daran steigt ein bisschen Wehmut in mir auf. Ich vermisse meine alten Freunde von damals. Wir haben zwar noch immer Kontakt, aber sie wohnen alle in Boston und somit 160 Meilen entfernt. Trotzdem, ich habe es so gewollt und ich weiß, dass ich auch hier in Boothbay Harbor bereits sehr gute Freunde habe, auf die ich im Notfall immer zählen kann. Bevor ich zu trübselig werde, raffe ich mich lieber auf und gehe ins Haus. Als ich nach dem Essen vor Müdigkeit fast die Augen nicht mehr aufhalten kann, falle ich völlig erschlagen auf meine Matratze.

Im Morgengrauen werde ich von den zwitschernden Vögeln geweckt. Wieder genieße ich meinen Kaffee auf der Veranda und setze mich auf die Stufen, die hinunter auf den Hof führen. Ich glaube, das könnte ein morgendliches Ritual für mich werden. Ich liebe es, den Sonnenaufgang zu sehen. Mein Blick schweift umher und bleibt an einer Spiegelung am Waldrand hängen. Zumindest halte ich es im ersten Moment dafür. Aber dann sehe ich, wie sich etwas bewegt. Ein Mensch tritt aus dem Wald in das erste Sonnenlicht. Auf diese Entfernung kann ich kaum etwas erkennen, aber ich vermute, dass es eine Frau ist, zumindest ist die Person klein und zierlich. Sie schaut in meine Richtung und erstarrt. Sekundenlang sehen wir uns über die Weite der Weiden an. Ich hebe meine Hand zum Gruß. Da dreht sie sich plötzlich um und verschwindet zwischen den Bäumen. Was war das denn? Irgendwie war das gerade merkwürdig. Ist das etwa meine Nachbarin aus der alten Hütte am Waldrand? Kopfschüttelnd stehe ich auf, vielleicht sollte ich Bill oder Laura mal fragen, wer eigentlich da oben wohnt.

Bevor ich wieder hineingehe, sehe ich noch einmal zum Waldrand. Ich finde die Begegnung gerade noch immer merkwürdig und überlege, wer sie wohl sein mag. Vielleicht ist das eine Ferienhütte und Touristen machen sich dort ein paar schöne Tage, sozusagen in der freien Natur, ohne Strom und fließend Wasser. Zumindest sieht die Hütte nicht so aus, als würde es da derlei Annehmlichkeiten geben. Ich grinse in mich hinein, während ich darüber nachdenke. Das wäre für einen Großstadtmenschen dann schon so etwas wie Survivaltraining. Feuer machen und Wasser aus einem Brunnen hochpumpen. Na ja, es wird sich zeigen.

Den ganzen Tag über arbeiten Bill und ich genau wie gestern Hand in Hand und Laura versorgt ‚ihre Männer‘, wie sie uns inzwischen nennt, mit Essen. Abends sind die beiden noch eingeladen und so mache ich allein weiter. Ich muss heute unbedingt fertig werden, morgen steht der Möbelwagen vor der Tür.

2

Am nächsten Morgen werde ich vom Hupen des Möbelwagens geweckt. Ich habe letzte Nacht bis weit nach Mitternacht gearbeitet und prompt heute verschlafen. Es ist schon zehn Uhr vormittags und die Sonne scheint strahlend vom Himmel. Schnell schlüpfe ich in eine Jeans und ziehe mir im Laufen das erstbeste T-Shirt über, das ich im Vorbeirennen gegriffen habe. Obwohl es eigentlich fast Quatsch ist, überhaupt ein T-Shirt anzuziehen, ich werde es innerhalb einer Stunde sowieso komplett durchschwitzen beim Schleppen der Möbel und Kartons. Zum Glück bin ich gestern tatsächlich noch mit den Wohnräumen fertig geworden.

Neben dem Lastwagen steht schon Bill und grinst mich an, als ich völlig abgehetzt und mit ungekämmten Haaren aus dem Haus trete.

„Tschuldigung. Hab verschlafen“, murmele ich und reibe mir über die Augen.

„Geh doch erst einmal Kaffee kochen, Chris. Die Jungs hier trinken bestimmt auch einen mit und du siehst aus, als würdest du ihn dringend brauchen. Wir fangen schon mal langsam an, ich kenn mich ja ein bisschen aus hier und dass ein Sofa ins Wohnzimmer gehört, kann ich mir auch denken“, schickt er mich grinsend wieder zurück. Ich bin ihm dankbar, dass er einfach so das Kommando übernimmt, ich brauche wirklich erst einmal ganz dringend Koffein. Und eine Zahnbürste …


Ein paar Stunden später ist der Lastwagen leer und mein Haus zugestellt mit Schränken und Kisten. Bill und ich schleppen und schieben die schweren Schränke, bauen die auseinandergenommenen Möbel wieder zusammen und räumen, bis alles an seinem Platz steht. Zwischendurch kommt Laura, um zu sehen, wie wir vorankommen.

„So, Chris. Was kann ich machen?“, fragt sie gleich und reibt sich voller Tatendrang die Hände.

„Laura, gar nichts musst du machen, wirklich. Ich kann das ganze Zeug später wegräumen, das muss nicht alles heute schon sein.“

„Ne, Junge, so geht das nicht. Ein bisschen wohnlich soll es doch sein. Stell mir einfach die Kisten in jedes Zimmer und ich fang schon mal an, die Schränke auszuwischen. Und wenn du mir sagst, was wo hin soll, räum ich einfach schon ein. Zu dritt sind wir damit doch ratzfatz fertig!“

Sie lässt sich nicht reinreden, was ich auch versuche. Aber möchte ich wirklich, dass eine knapp Sechzigjährige meine Kleidung auspackt? Vor allem meine Unterwäsche? Ich glaube nicht …!

Meine Gedanken müssen mir vom Gesicht abzulesen sein, denn Laura fängt herzhaft an zu lachen.

„Chris, ich meine doch Bücher und Geschirr und sowas. Nicht dein Schlafzimmer! Da würde ich dir höchstens dein Bett beziehen.“ Sie zwinkert mir zu und ich merke, wie ich ein bisschen rot werde. Okay, ertappt.

„Ja, ne. Was anderes hatte ich auch nicht angenommen“, murmele ich vor mich hin, fange an, die Umzugskartons zu sortieren und ignoriere ihr Gekicher einfach. Natürlich glaubt sie mir kein Wort.


Abends gehe ich nach oben in mein zukünftiges Arbeitszimmer und öffne die Fenster, um ein bisschen der frischen Frühlingsluft ins Haus zu lassen. Ich bleibe eine Weile stehen und betrachte den knallroten Sonnenuntergang, da sehe ich am Waldrand wieder eine Bewegung. Die Frau von gestern Morgen geht dort spazieren. Ich beobachte sie einen Moment, bis sie im Dunkel der Bäume verschwindet. Ich habe Laura und Bill noch immer nicht nach ihr gefragt, fällt mir dabei ein. Dann gehe ich nach unten und fange an zu kochen. Ich koche unheimlich gern und es entspannt mich, in der Küche zu stehen und Gemüse und Fleisch zu schnippeln. Als Kind wollte ich Koch werden, aber die Arbeitszeiten haben mich abgeschreckt. Und mein heimlicher Traum war es immer, mit Pferden zu arbeiten. Den erfülle ich mir jetzt.


Bei Sonnenaufgang am nächsten Morgen gehe ich die Weidezäune entlang und schreibe eine Liste, was ich im Baumarkt alles besorgen muss. Immer wieder sehe ich zum Waldrand und frage mich, ob sie heute auch wieder dort auftaucht. Ich weiß nicht warum, aber ich bin neugierig, wer sie ist.

Auf einmal ist sie da. Sie steht an derselben Stelle wie neulich und sieht zu mir herüber. Langsam gehe ich auf sie zu, aber sie dreht sich sofort um, als sie es bemerkt und verschwindet wieder. Anscheinend ist diese Frau nicht sonderlich kommunikativ und will nichts mit mir zu tun haben.

Ich zucke die Achseln und arbeite weiter. Nachdem ich alles aufgeschrieben habe, was ich für die Zäune benötige, fahre ich zum Baumarkt. Der Verkäufer, Tim laut dem Namensschild an seiner Hemdtasche, weiß anscheinend genau, wer ich bin, denn er spricht mich direkt an.

„Hallo, Sie sind doch der Kerl, der den alten Hof oben am Waldrand gekauft hat, oder? Da haben Sie ja noch einiges zu tun.“

„Ja, das stimmt, aber ich habe ja Zeit.“

„Was haben Sie denn vor damit? Zum Hotel umbauen? Mit den Touristen kann man hier ja gutes Geld verdienen.“

„So ähnlich“, antworte ich und erzähle ihm von meinem Plan mit der Pferdezucht und der Pension. Er ist genauso begeistert, wie Laura und Bill und hilft mir, alles zusammenzusuchen, während wir uns weiter unterhalten.

„Ganz schön einsam da oben, oder?“, fragt er. Das sehe ich als Gelegenheit, ihn ein bisschen auszufragen.

„Das macht mir nichts. Und ich bin ja auch nicht ganz allein. Laura und Bill Baker haben das kleine Pförtnerhaus gemietet. Außerdem steht da eine kleine Hütte, fast im Wald versteckt, die ist ja anscheinend auch bewohnt. Wissen Sie, wem die gehört?“

„Klar.“ Ah ja, ich sehe seinem Gesicht an, dass jetzt der typische Kleinstadttratsch kommt.

„Da wohnt die Nichte vom alten Winslow. Aber die scheint nicht ganz richtig im Kopf, also, erzählt man sich so.“ Immerhin hat er den Anstand ein wenig betreten zu gucken, bei seinem letzten Satz, bevor er weiterspricht. „Sie spricht nicht, also, mit niemandem, und bleibt immer da oben. Ihr Onkel versorgt sie wohl mit Lebensmitteln und was sie so braucht. Ein ganz scheues Ding ist das.“

Aha, das erklärt zumindest, warum sie immer gleich wieder verschwindet. Als ich alles habe, frage ich noch, wo ich hier am besten Stroh und Futter für die Pferde bekomme, dann fahre ich zurück und mache mich an die Reparatur der Zäune. Bill arbeitet heute im Stall und putzt ihn gründlich durch und so kann ich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Die Worte des Verkäufers gehen mir nicht aus dem Kopf. Meine Schwester Annie behauptet immer, ich hätte ein Helfersyndrom und einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt. Vielleicht hat sie Recht, vielleicht ist es aber auch nur Neugierde, die mich immer wieder zu der kleinen Hütte sehen lässt. Ich säge und hämmere den Rest des Tages. Die Sonne hat schon ordentlich Kraft und brennt mir heiß auf den nackten Rücken. Ich arbeite wieder bis die Sonne untergeht und gehe dann ins Haus.

Nach dem Essen rufe ich meine Schwester an. Annie hat neulich schon angerufen, aber ich habe das Handy nicht gehört und ich wollte sie längst zurückgerufen haben. Sie weiß, dass ich hierher ziehen will, aber ich habe ihr nicht gesagt wann. Sie denkt, ich wäre noch in Boston. Auch vom Verkauf meiner Firma habe ich ihr nichts erzählt. Mein Plan war eigentlich, mich hier ein bisschen einzurichten und sie dann zusammen mit ihrem Mann Colin, ihrer Tochter Lilly und unseren Freunden Gabe und Jules hierher einzuladen. Zu einer Einweihungsfeier sozusagen.


„Hey, Großer! Schön, dass du auch mal wieder von dir hören lässt. Ich dachte schon, ich müsste eine Vermisstenanzeige aufgeben, so lange hab ich nichts von dir gehört. Was gibt’s Neues?“

Sie fällt gleich über mich her, sobald sie nach dem dritten Klingeln den Hörer abgenommen hat. Meine Handynummer hat ihr wohl verraten, wer sie hier sprechen will.

„Hi Süße! Joah, soweit ist alles gut … Es ist nur …“ Okay, jetzt kommt wohl die Stunde der Wahrheit. Ich kann es meiner Schwester nicht verheimlichen und irgendwie will ich das plötzlich auch nicht mehr. Ich bin so überglücklich hier zu sein, ich muss es ihr einfach erzählen.

„Ich bin umgezogen. Nach Boothbay Harbor, na ja, eher in die Nähe. Ich wohne ungefähr fünf Meilen von euch entfernt.“

„Was? Mann, Chris, warum hast du denn nichts gesagt? Ich hatte ja keine Ahnung, dass du schon so weit bist. Ich dachte, du suchst immer noch nach einem Häuschen.“ Ihre Stimme überschlägt sich fast und die Worte purzeln in solch einer Geschwindigkeit durch den Hörer in mein Ohr, dass mir fast schwindelig wird.

„Nein, das … äh … Haus habe ich schon vor längerem entdeckt, aber ich konnte es jetzt erst kaufen. Ist `ne lange Geschichte. Erzähl ich dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen, okay?“

„Gut, was machst du morgen?“ Oh nein! Bitte nicht! Nicht schon morgen!

„Annie, hier herrscht noch totales Chaos, ich hab wahnsinnig viel zu tun. Ich glaube, morgen ist keine gute Idee …“, versuche ich sie davon abzuhalten, aber zwecklos. Wenn Annie sich einmal etwas in ihr hübsches Köpfchen gesetzt hat, bringt sie nichts und niemand so schnell davon ab. Wie ein D-Zug rauscht sie über meine Einwände hinweg und lässt meine Argumente einstürzen, wie Schaumstoffmauern in einem schlechten B-Movie.

„Na und, so etwas stört mich doch nicht, das weißt du doch, Chris. Dann zieh ich mir halt alte Klamotten an. Und vielleicht haben ja Jules und Gabe auch spontan Zeit.“

Aufstöhnend gebe ich mich geschlagen, ich weiß, jeder Widerspruch wäre zwecklos. Außerdem habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen und sie fehlt mir. Seufzend nenne ich ihr meine Adresse. Ich erzähle ihr nicht, was ich hier für einen Hof gekauft habe, das soll eine Überraschung werden. Erst im Nachhinein ärgere ich mich etwas, dass ich mich habe breitschlagen lassen, sie morgen schon zu empfangen, aber jetzt ist es zu spät. Somit kann ich morgen nicht an den Zäunen weitermachen, sondern muss einkaufen und etwas zu essen vorbereiten, bevor sie nachmittags alle hier aufkreuzen.


Punkt drei Uhr am nächsten Tag fahren sie alle bei mir auf den Hof. Annie schiebt ihren hochschwangeren Bauch als Erste aus dem Auto, noch bevor ihr Mann Colin ihr helfen kann. Ich gehe ihr entgegen und grinse, als sie sich verwundert umsieht. Hinter ihr kommen auch die anderen. Ich nehme sie in die Arme und drücke sie herzlich. Als ich sie von mir schiebe, hat sie Tränen in den Augen.

„Oh, Chris, du hast dir tatsächlich deinen Traum erfüllt. Ich freue mich so für dich.“ Strahlend dreht sie sich zu den anderen um.

„Chris wollte schon immer eine eigene Pferdezucht aufmachen. Diese IT-Sache war nur Mittel zum Zweck. Los, ich will alles sehen. Mach eine Führung mit uns.“ Die letzten Worte sind an mich gerichtet. Ich bremse sie.

„Naja, erst einmal gibt es noch viel zu tun. Meine Pferde sind noch in Boston und kommen am Samstag. Bis dahin muss ich noch den Stall und die Weidezäune fertig machen. Also wundert euch nicht über den Dreck hier und das Chaos.“

Ich sehe mich stirnrunzelnd um. Es liegt wirklich überall noch etwas herum. Gabe sieht zu Colin und die beiden klatschen in die Hände.

„Na dann“, sagt Gabe. „Sag uns, was wir machen sollen. Zu dritt sollten wir das doch hinkriegen. Du kannst doch sicher jede Hand gebrauchen.“

„Deshalb habe ich euch nicht eingeladen“, lache ich und winke ab.

„Das wissen wir, aber wo wir schon hier sind …“, mischt nun auch Gabe sich ein.

„Hm, na gut, wenn ihr meint. Ich glaube, ich kann wirklich ein bisschen Hilfe gebrauchen. Wenn den Mädels nicht langweilig wird.“

Jetzt meldet sich auch Gabes Verlobte Jules zu Wort. Sie ist, genau wie Annie, auch schwanger, hat aber noch bis Ende Juli Zeit, bis ihr Baby kommt.

„Im Haus gibt es doch sicher auch etwas zu tun für uns, oder? Und wenn es nur essen machen und euch mit Getränken versorgen ist. Wir sind schließlich nicht krank, sondern nur schwanger.“

Ich sehe sie zweifelnd an.

„Ich weiß nicht … Nicht, dass ich mit euren Männern Ärger bekomme“, zwinkere ich ihr zu, ernte aber nur ein spöttisches Lachen. Schon klar, Colin und Gabe können ihren Frauen sowieso nichts abschlagen, was die zwei sich erst einmal vorgenommen haben.

„Lasst uns doch einen Rundgang durchs Haus machen, dann wisst ihr, was da noch so zu machen ist“, schlage ich vor und zeige den vieren meine Wohnung. Danach bleiben die Frauen voller Tatendrang im Haus und bereiten verschiedene Salate für ein Barbecue vor, während wir uns mit Werkzeug ausstatten und uns die Zäune vornehmen. Die Hilfe kommt mir ganz gelegen, vor allem, da Bill heute nicht da ist. Mein Jobangebot kam ja doch ziemlich überraschend für ihn und so hat er natürlich noch nicht jeden Tag Zeit zum Arbeiten, sondern auch noch andere Termine, die er einhalten muss.


Die nächsten Stunden arbeiten wir konzentriert und kommen gut voran. Als hätten wir schon immer zusammen Weidezäune repariert, arbeiten wir Hand in Hand und befestigen einen Pfosten, ein Brett nach dem anderen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viel ausmacht, wenn man mit mehreren Leuten Hand anlegt. Abends heizen wir den Grill an und essen gemeinsam auf der Veranda. In den letzten Tagen ist es immer wärmer geworden und auch wenn die Abende noch frisch sind, sitzen wir in Decken gewickelt draußen, bis die Sonne längst untergegangen ist. Im letzten diffusen Licht des Tages erscheint die Frau am Waldrand. Unbewegt steht sie da und schaut zu uns herüber. Ich kann nicht anders, ich beobachte jede ihrer Bewegungen. Ich kann mich kaum erinnern, je so neugierig auf einen unbekannten Menschen gewesen zu sein. Nach ein paar Minuten verschwindet sie und Annie stupst mich an.

„Wer war das?“, fragt sie und nickt mit dem Kopf in Richtung Wald.

„Sie wohnt in der alten Hütte da oben. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist, aber sie kommt anscheinend immer im Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an den Waldrand. Fast ein bisschen unheimlich. Sobald man sich ihr nähert, verschwindet sie.“

Ich weiß nicht warum, aber ich möchte nicht erzählen, was ich von Tim aus dem Baumarkt erfahren habe.

Jules streckt sich und gähnt herzhaft. „Na Jungs, wollen wir langsam mal zurück?“, fragt sie und kann ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken.

„Ja, klar. Wie sieht`s aus, Chris. Brauchst du morgen wieder ein wenig Unterstützung? Ich hab diese Woche frei und Colin …“ Gabe sieht ihn augenzwinkernd an. „Naja, wir wissen ja beide, dass er als Chef sich jederzeit freinehmen kann, nicht wahr, Colin?“

„Ja, es hat so seine Vorteile, eine eigene Firma zu haben … Ich wäre auf jeden Fall dabei“, grinst Colin zurück.

„Na, wenn das so ist. Bevor ihr euch zu Hause langweilt, freue ich mich natürlich. Dann werden wir morgen sicher mit den ersten beiden Weiden fertig. Danke!“

Dann verabschieden sie sich endgültig und bringen ihre Frauen nach Hause.


Am nächsten Morgen kommen Gabe und Colin wieder zum Helfen und auch Bill ist mit von der Partie. Zu viert kommen wir gut voran und die Arbeit macht unheimlich Spaß. Wir scherzen und lachen über zotige Witze, die Bill zum Besten gibt. Das hätte ich dem ruhigen Bill gar nicht zugetraut, denke ich mehrfach und genieße es, mit meinen Freunden zusammen zu sein.

Als ich zwischendurch zum Wald hinüberschaue, glaube ich, sie dort stehen zu sehen. Es ist mitten am Tag. Bisher hat sie sich nur früh morgens oder spät abends gezeigt. Vielleicht legt sie ihre Scheu ja doch irgendwann ab, denke ich und mache mich wieder an die Arbeit. Nachmittags sind wir mit den Zäunen fertig und machen eine Bestandsaufnahme im Stall. Morgen wollen wir hier weitermachen und alles so weit vorbereiten, weil übermorgen das Stroh, Heu und Futter geliefert wird. Am Tag danach kommen meine Pferde. Ich bin guter Dinge, dass wir bis dahin mit allem fertig sind, und selbst wenn nicht, können die Pferde erst einmal auf die Koppel. Der Wetterbericht hat weiterhin schönes Wetter mit fast schon sommerlichen Temperaturen angekündigt. Zufrieden mit dem Fortschritt gönne ich mir einen freien Abend. Nach einer ausgiebigen Dusche fahre ich in die Stadt und verbringe einen netten Abend bei meiner Schwester und ihrer Familie.

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