Jana Frey

Kichererbsen mit
Schokolade

Vier Zwillinge und ein
Hochzeitspaar

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Mit Vignetten von
Isabelle Metzen

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Weitere Kinderbücher von Jana Frey im Arena Verlag:
Kichererbsen mit Schokolade. Familienchaos für Anfänger
Störenfrieda. Lauter Krachgeschichten

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Jana Frey
wurde 1969 in Düsseldorf geboren. Nach ihrer Schulzeit
in Wiesbaden studierte sie in Frankfurt, San Francisco und
Auckland/Neuseeland Literatur, Kunst und Geschichte. 1994
erschien ihr erster Jugendroman. Inzwischen hat sie zahlreiche
von der Presse hochgelobte Bücher für Kinder und Jugendliche
geschrieben. Ihr Roman »Höhenflug abwärts« wurde
für den Jugendliteraturpreis nominiert. Jana Frey lebt
mit ihren beiden jüngsten Kindern und dem
Familienhund Smilla am Rhein.

Isabelle Metzen
zeichnet, seit sie einen Stift in der Hand halten kann – also
eigentlich schon immer. Nach ihrem Diplom in Design an der
FH Münster hat sie sich selbstständig gemacht und illustriert
jetzt leidenschaftlich Kinder- und Jugendbücher.

Wer Freude genießen will,
muss sie teilen – das GLÜCK
wurde als ZWILLING geboren …

Meinen Zwillingen Linnea und Klara gewidmet

1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Vignetten: Isabelle Metzen
Umschlaggestaltung: Anja Götz
978-3-401-80781-2

1
Maus im Haus

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»Oh Mann«, sagte Ali und sah sich mit düsterem Blick um. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Hatte sie dort hinten an der alten Heizung eben tatsächlich zwei … MÄUSE entlanghuschen sehen?

»Wunderwunderschön!«, flötete Isabella rechts neben ihr im selben Moment begeistert. Es war ein unfreundlicher Februartag, an dem die Wolken sich benahmen, als ob sie sich am liebsten zum Schlafen auf den Boden gelegt hätten.

»Wie gesagt: Hier und da ist natürlich eine klitzekleine Kleinigkeit zu tun …«, rief der Häusermakler mit enthusiastischer Stimme und ging mit großen, federnden Schritten vor ihnen her durch das kalte, wie es aussah, seit Jahren nicht geheizte Haus. Die abgewetzten, schiefen und krummen Holzdielen des leer stehenden Kastens knarrten beängstigend laut, Flocken von Staub wirbelten auf und als der Makler schwungvoll die Tür zum großen Wohnraum (mit verrußtem Uraltkamin) öffnete, hielt er im selben Augenblick die Türklinke in der Hand. Er schaffte es, heiter aufzulachen, als sei gar nichts dabei, und steckte die Klinke kurzerhand an ihren Platz zurück.

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Ali warf Pau einen vielsagenden Blick zu.

Seit über einem Monat ging das nun schon so: WOHNUNGSSUCHE beziehungsweise Haussuche, den ganzen Januar und nun auch schon den Februar lang, weil sie ja jetzt immerhin zu sechst waren, seit ihre Mutter beschlossen hatte, sich ausgerechnet einen neuen Mann zuzulegen, der zwei zwölfjährige Söhne im Schlepptau hatte!

HALT, nein! Im Grunde genommen sogar zu siebt, wenn man Ibrahims leicht verrückte Mutter Hedia dazuzählte, die darauf bestand, von nun an nicht mehr von der Seite ihres einzigen Sohnes zu weichen.

»Wo doch bald das Baby kommt!«, erklärte sie stur wie ein bockiger Esel, sobald das Gespräch darauf kam, wann sie eigentlich vorhabe, zurück nach Hause in den Iran zu reisen. »Ein Baby braucht Großmutter – wie Luft zum Atmen! Ich werde bleiben! Für IMMER! Basta!«

Verflixt, de facto waren sie also so gut wie zu acht, denn in ein paar Monaten, wenn endlich wieder Sommer war, würde Isabella ja das besagte, neue Baby bekommen! Hilfe – eine GROSSFAMILIE!

Und da war es eben viel besser, gleich nach einem neuen Haus zu schauen, behaupteten Isabella und Ibrahim.

»Der Bungalow gestern – der war wunderwunderschön«, regte sich Ali auf und machte Isabellas WUNDERWUNDERSCHÖN mit übertrieben schriller Stimme nach. »Der hatte diesen abgefahrenen Pool im Keller – und überhaupt …«

»Ich fand dieses Reihenhaus am Stadtrand gut«, unterbrach sie Roschan aus dem Inneren ihres Handys heraus. Er war via Facetime bei der Hausbegehung mit von der Partie und starrte ihr mit finsterer Miene aus dem Display entgegen.

Ali hielt das eingeschaltete Handy in die Höhe und drehte sich damit im Raum, um Roschan wenigstens einen kleinen Überblick über die Katastrophe zu geben.

»Boah! Runtergekommen wie nur was …! Die volle Bruchbude!«, stöhnte der, ganz wie Ali es erwartet hatte, und verzog das (leider umwerfend hübsche) Gesicht. »Wie gesagt – dieses Reihenhaus am Stadtrand, das wir letzte Woche besichtigt haben, war super: gleich nebenan der riesige Sportplatz! Und dazu dieses neue Freibad mit dem Zehnmeterbrett gleich die Straße runter!«

»Das Reihenhaus war zu klein, zu spießig, zu popelig, zu teuer, sagt Isabella«, erinnerte Ali ihren neuen Fast-Stiefbruder an das vernichtende Urteil ihrer Mutter. (Konnte man Stiefbrüder eigentlich eines fernen Tages … nun ja … heiraten?)

»Ich fand ja dieses lila Haus in der Straße hinter dem großen Einkaufszentrum gut«, erklärte Pau gerade und drehte auf ihrem neuen Hoverboard eine Runde durch die leeren, großen Räume. »Oma Hedia fand es auch prima da. – Und eine klasse Halfpipe gibt es da auch!«

Ali warf ihrer eineiigen Zwillingsschwester einen pikierten Blick zu. »Pau! Spinnst du jetzt komplett? Dieses lila Dingsbums steht in exakt derselben Straße wie die MOSCHEE, in die Oma Hedia dauernd zum Beten rennt! – Da willst du wohnen? Neinneinnein, nur über meine Leiche! Ibrahim will da auch nicht hin, sagt er.«

»Wo will ich nicht hin?«, fragte Ibrahim, der gerade pfeifend aus dem Obergeschoss wieder nach unten getrabt kam und sich mit einem halb ausgeklappten Zollstock die Staubflusen aus den schwarzen Locken stocherte. Oben war es anscheinend noch staubiger als im Erdgeschoss. Immerhin stand das Haus, wie der Makler erklärt hatte, ja schon ein paar Jahre leer.

»In dieses lila Haus, von dem deine – sorry, Ibrahim – wild religiöse Mutter so begeistert war.«

Ali warf dem Freund ihrer Mutter einen prüfenden Blick zu. Nahm er es ihr übel, wenn sie so über Oma Hedia sprach? Aber die alte, kugelrunde Frau war eben wirklich … leicht merkwürdig – um es mal höflich auszudrücken! Zum Beispiel trug sie sogar zu Hause ununterbrochen ein eng gebundenes Kopftuch und sobald sie das Haus mal verließ (und sei es auch nur, um den Müll nach unten zu bringen oder aus einem anderen Grund eine Zehe aus der Haustür zu strecken), hüllte sie sich zusätzlich sehr sorgfältig und sehr vollständig in einen weit wehenden nachtschwarzen Kopf-bis-Fuß-Schleier ein, damit nur ja niemand Fremdes versehentlich einen Zipfel von ihr zu sehen bekam. Aber das war noch lange nicht alles! Da war ja auch die Sache mit den Ohnmachtsanfällen …!

Aber Ibrahim lachte nur und unterbrach damit Alis düstere Gedanken. »Dieses kastige lila Haus? Uh, nein! Direkt an der Hauptstraße will ich nun wirklich nicht wohnen. Und dazu dieses nervige Einkaufszentrum gleich um die Ecke …«

Ibrahim schüttelte sich und steckte anschließend den Kopf tief in den uralten Kamin hinein.

»Ob da noch was geht?«, hörte Ali ihn murmeln. »Kamine habe ich nämlich wirklich gerne …«

»Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium …«, schmetterte genau in dem Moment sein Handy los. Ibrahim, der sehr schreckhaft war, fuhr zusammen und hob ruckartig den Kopf – was nicht unbedingt die allerbeste Idee ist, wenn man gerade tief in einem alten Kamin steckt. Es rumste und Ibrahim rieb sich, als er sich befreit hatte, jammernd den angeschlagenen Schädel.

»Autsch – herrje … Hallo?«, stöhnte er und lauschte in den Hörer. Ibrahims schrottiges Handy hatte die Macke, dass es alle Anrufe immer im Lautsprechermodus wiedergab und daher immer jeder mitbekam, wer anrief.

Am anderen Ende der Leitung war Roschans Zwillingsbruder Darius, der in der Nachbarstadt bei einem Mathematikwettbewerb war. Er nahm dauernd an Mathematikwettbewerben teil und sein Zimmer war vollgestopft mit Pokalen, Urkunden und Gewinnerwimpeln. Darius war eben ein zweiter Einstein!

»Erster Platz, Paps«, informierte er seinen Vater, der nichts anderes erwartet hatte. Dann fügte er neugierig hinzu: »Wie ist das Haus, das ihr heute anschaut? – Gut?«

Ali verpasste Ibrahims Antwort, weil sie in exakt diesem Moment erneut die beiden Mäuse hinter der altmodischen Rippenheizung entdeckte – diesmal huschten sie eilig an der verbeulten Fußleiste des Zimmers entlang und witschten eine Nanosekunde später durch die offen stehende Tür mit der losen Klinke. – Und gleichzeitig tauchten auch Isabella und der Makler wieder auf. Sie lächelten beide verklärt und tauschten ein paar zufriedene, vielsagende Blicke. Ali vergaß die Mäuse und fixierte stattdessen misstrauisch das beglückte Gesicht ihrer Mutter.

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Und da rückte Isabella auch schon mit der Neuigkeit heraus.

»Ibrahim, sag jetzt nichts und halte mich meinetwegen für eine komplette Närrin – aber ich habe gerade für dieses Haus zugesagt! ICH LIEBE ES!«

»Oh nein!«, entfuhr es Ali entgeistert.

Und unisono erklang es an ihrem Ohr: »Oh nein!« Roschans Stimme aus ihrem Handy klang nicht weniger entgeistert. »Paps!«, schrie er noch gellend hinterher. »Sag Nein! – Hörst du? Sag Nein!«

Darius, an Ibrahims Handy, stotterte nur: »Oha …«

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2
Familienkonferenz am Küchentisch

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»Haha, Familienkonferenz!«, knurrte Roschan und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Es war ein schöner, klarer, kühler, blauer Märznachmittag und die ersten Sonnenstrahlen wurden wieder wärmer. »Sie nennen es tatsächlich Familienkonferenz, dabei haben sie doch schon längst alles entschieden!«

Darius gab keine Antwort. Er tippte auf seinem Laptop herum und blätterte gleichzeitig in einem alten, dicken Mathewälzer, den er in der vergangenen Woche auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte …

Ali allerdings nickte erbost. »Aber echt! – Zuerst zwingen sie uns ungefragt, eine multikulturelle Großfamilie zu werden. Und dann sie zwingen uns auch noch, in eine absolute Bruchbude umzuziehen – anstatt in ein modernes Haus mit Pool im Keller!«

Ibrahim, der einen Stapel Papiere vor sich ausgebreitet hatte, überhörte das alles geflissentlich und räusperte sich. »Ihr Lieben, wie wunderbar, dass wir es heute Abend alle geschafft haben, hier pünktlich und vollzählig zusammenzukommen!«

Er strahlte in die Runde, beginnend bei Pau und endend bei seiner kuchenkauenden Mutter. Isabella, die dicht an ihn gekuschelt neben ihm saß, bekam einen Kuss.

Roschan stöhnte genervt auf. »Paps, keine peinlichen Knutschereien in der Öffentlichkeit – das hast du mir hoch und heilig versprochen. Schon vergessen?«

Ibrahim warf seinem Sohn einen strengen Blick zu. »Öffentlichkeit …«, wiederholte er dozierend, »bedeutet meinetwegen die Innenstadt, eure Schule, Restaurants und Ähnliches. Aber nicht Isabellas Küchentisch!«

Darius, der bis eben nur mit halbem Ohr zugehört und in seinem dicken Mathewälzer geblättert hatte, hob langsam den Kopf. Sein Hirn schaltete vom Zahlenmodus in den Alltagsmodus um und sein noch leicht matheformelverschleierter Blick wanderte dabei zum Bord der Dies-und-das-Kommode. Dort stand für alle gut sichtbar die Schachtel mit Isabellas Schwangerschaftsvitaminen. Es war eine eindeutige Schwäche der schwangeren Freundin seines Vaters, dass sie es andauernd vergaß, ihre Folsäure-Schwangerschaftstabletten einzunehmen. Auch heute war die Schachtel noch zu und Darius wusste, hätte Isabella sich schon daraus bedient, stünde sie jetzt offen. So war Isabella. Immer leicht verpeilt! Erstaunlich, dass die Einwohner der Stadt sie dennoch vor gar nicht allzu langer Zeit zur Bürgermeisterin von Neustadt gewählt hatten!

Während das Hin und Her am Familientisch noch ein bisschen weiterging, stand Darius seufzend auf, angelte besagte Vitaminschachtel vom Bord, fischte die zwei Tagesrationstabletten heraus und reichte sie mit leicht vorwurfsvoller Miene an Isabella weiter.

»Oje, oje, die hatte ich mal wieder ganz vergessen …« Isabellas Stimme klang zerknirscht. »Sorry, Darius, liegt vermutlich daran, dass ich Tabletten eigentlich hasse und ihnen weitestgehend misstraue …«

Darius zog eine Augenbraue nach oben, füllte einen Schwall Rosenquarz-Energiewasser in Isabellas Super-Mom-Becher und stellte ihn polternd vor ihr auf den Tisch.

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»Die Tabletten sind ja auch nicht wirklich für dich – sondern für das Baby«, erklärte er eine Spur gereizt. »Das habe ich doch schon zigmal erklärt: Ungeborene brauchen Folsäure zur Entwicklung und zur Schließung ihres Neuralrohres.«

Darius wollte sich zurück auf seinen Platz zwischen Pau und Roschan quetschen. Wie er feststellen musste, hatte Runtervomsofa die Gunst des Momentes genutzt, als er die Tabletten geholt hatte, um es sich dort bequem zu machen.

»Runter vom Stuhl, Runtervomsofa«, brummte Darius der Katze zu. Dann schaute er prüfend zu Isabella hinüber. Hatte sie die Pillen genommen? Es schien so. Na also. Darius seufzte ein zweites Mal. »Echt, Isabella, du musst die Dinger regelmäßig nehmen! Das Neuralrohr ist die erste Entwicklungsstufe des Nervensystems und Folat ist das einzige bekannte Vitamin, das Spina bifida verhindern kann! – Und Spina bifida ist echt eine üble Sache!«

Roschan grinste. »Neuralrohr? Folat? Spina WAS? Ey, Darius, du bist echt ’ne schräge Nummer! Du führst dich auf, als ginge es um sonst was! Im Grunde solltest DU diesen verflixten Säugling ausbrüten! Du würdest unter Garantie einen zweiten Einstein zustande bringen! Und wir würden RTL2 zur Geburt einladen, jede Menge Kohle kassieren und weltberühmt werden! Dazu einen eigenen Youtube-Kanal, Instagram, jede Menge Follower, eine Milliarde Abonnenten …«

»Roschan, jetzt hör mal für einen Moment mit dem Quatsch auf!«, rief Ibrahim entnervt. Seine Finger trommelten bedeutungsvoll auf dem Berg Immobilienunterlagen herum.

Oma Hedia hatte sich bereits die Grundrisse der alten Bruchbude herausgefischt und ihre Lesebrille aus den Tiefen ihres Kleides gezogen.

»Wo Osten? Wo östlichster Raum …?«, murmelte sie Baklava kauend und beugte sich tief über den knittrigen Papierbogen. Winzige Baklavabröckchen landeten zuckrig auf den aufgemalten Zimmern. Oma Hedia aß immerzu Baklava. Sie backte es fast jeden Tag.

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Ali und Pau hatten sich längst an den Geruch von diesem süßen orientalischen Gebäck, der dauernd in der Wohnung hing, gewöhnt. Und Oma Hedia war eine wirklich gute Baklavabäckerin. Da gab es nichts zu meckern. Sie behauptete immer gerne, ihr Vorfahre sei Muhammad bin Hasan al-Baghdadi gewesen, in dessen persischem Kochbuch aus dem Jahr 1226 das allererste Baklava-Rezept gestanden habe! Damals hieß der süße Blätterteigkuchen allerdings Lauzinaq, aber darauf kam es ja wohl nicht an.

Und ihr persönlich seien die vielen Baklava-Variationen, die es mittlerweile gab, zu verdanken: es gab nämlich bekannterweise Baklava aus unterschiedlichen Teigsorten und mit unterschiedlichen Füllungen wie Walnüssen, Mandeln, Mohn und Pistazien und was auch immer.

»Nicht doch, Mutter«, jammerte Ibrahim allerdings jetzt und wischte hastig mit dem Hemdsärmel über die baklavabekrümelten Zimmergrundrisse.

Darius und Pau kicherten.

»Da gibt es gar nichts zu lachen«, fauchte Ali. »Ich will jedenfalls NICHT in dieses blöde, verlotterte Haus ziehen! Mich hat keiner gefragt!«

»Das Haus ist alles andere als blöd und verlottert, Ali-Schatz«, sagte Isabella rasch. »Es ist fantastisch! Über hundert Jahre alt! Voller Geschichten! Voller Erinnerungen! Und dazu aus guten, alten, natürlich atmenden Baustoffen! Außerdem mit drei antiken Kaminen und einer gewundenen, knarrenden Holztreppe gesegnet! Im Winter werden wir am offenen Feuer sitzen – stellt euch das mal vor!«

Isabellas Stimme wurde immer schwärmerischer und glücklicher. Ali dagegen machte ein höchst skeptisches Gesicht.

»Und deine Bienen werden einen tollen Garten zum Herumsummen haben! Denk doch nur an Runtervomsofas wackelige Psyche, Alimäuschen! Es wird ihr fantastisch guttun, dort draußen in Ruhe herumzustreunen! Sehr katzig! Sehr naturverbunden! Völlig ungestört! Dort wird ihr unter Garantie niemand zum SCHERZ leere Blechdosen um den Bauch binden …«

Darius wusste inzwischen auch, dass genau das Runtervomsofa als kleinem Katzenkind einmal passiert war, und so hatte Ali sie eines Tages gefunden: in Todesangst am Straßenrand einer vielbefahrenen Straße, geduckt und zitternd und voller Panik unter einem parkenden Wagen. Ali war niemand anders als Runtervomsofas höchstpersönliche Lebensretterin.

Isabella beugte sich über den Tisch und streichelte mit dem Zeigefinger für einen Moment aufmunternd Alis sommersprossige Nasenspitze.

Darius fand, dass das nett aussah, und überlegte sekundenlang, ob er selbst unter Umständen ein anderer Mensch geworden wäre, wenn seine Mutter nicht gestorben wäre, als er noch ganz klein gewesen war. Und wenn sie stattdessen auch hin und wieder seine Nasenspitze gestreichelt hätte (natürlich nur, als er noch klein war!). Aber solche Gedanken brachten ja nichts. Seine Mutter war eben tot. Und das schon seit über zehn Jahren! Darius seufzte leise in sich hinein.

»Lass das, Mama«, fauchte Ali unterdessen. »Du versuchst nur, dich einzuschleimen!«

»Wo ist östlichstes Zimmer?«, fing Oma Hedia von Neuem an.

Darius warf nun, um sich abzulenken, ebenfalls einen Blick auf die ausgebreiteten Papiere. »Alles zusammen – cirka … 100 Quadratmeter?«, fasste er, was er dort sah, mit einem Blick zusammen und hob den Kopf. »Äh, nicht sehr riesig für acht Leute, oder?«

Ibrahim winkte ab. »Da werden wir noch dran … äh … feilen«, erklärte er unbestimmt. »Ausbauen, umbauen … Und einer von den acht Menschen ist ja noch sehr … nun ja … klein.«

Er deutete mit einem Augenzwinkern seiner schwarzen Käferaugen auf Isabellas Kugelbauch.

»Ah, okay.« Darius lächelte seinem Vater zu. In dem Moment piepste sein Handy einen Erinnerungspiepser.

Ibrahims glücklich lächelnder Blick verwandelte sich in einen lächelnd fragenden Blick. »Was liegt an, Sohn zwei? Hast du noch Termine heute?«

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Darius stand rasch auf, klemmte Laptop und Mathewälzer unter den Arm und zwängte sich erneut zwischen Roschan und Pau hindurch. »Nee, nur eine überregionale Mathemeisterschaft morgen. – Ich muss noch ein bisschen üben gehen, wenn’s okay ist?«

Er war bereits an der Tür zur Dachmansarde, die er und Roschan derzeit bewohnten, seit ihr ausländerfeindlicher Vermieter Herr Müller-Mueller ihnen endgültig die alte Wohnung gekündigt hatte, als auch Alis Handy aufsummte.

Isabella verdrehte die Augen. »Was ist das nur für eine Welt? Immer diese idiotischen Mobiltelefone! Könnt ihr die nicht mal für eine Weile ausmachen? Früher, bevor dieser Handy-Terror anfing und uns den Alltag vergällte, konnte man sein Leben noch …«

»Nein!«, schrie Ali auf. Sie war aufgesprungen und starrte ungläubig auf ihr Handy.

»Was, Herrgott noch mal?« Isabella kniff die Augen zusammen. »Ein echtes Problem? Oder nur wieder so ein Pipifax-Drama wie neulich, als Isis verrückter Youtube-Kanal für ein paar Minuten versehentlich off line gegangen war, oder wie man das nennt?«

Isi war eine der beiden besten Freundinnen von Ali und ein wahrer PC-Crack.

Darius war stehen geblieben. Was hatte Ali denn schon wieder? Er betrachtete Paus Zwillingsschwester neugierig und fror dabei ein, wie Ibrahim es nannte, wenn Darius – abgelenkt von irgendwas – mitten in einer Bewegung innehielt und dann alles um sich herum vergaß und einfach blieb, wo er war.

Ali winkte ab und tippte wie verrückt auf ihr Handy ein. »… das darf doch wohl nicht wahr sein! Das darf doch wohl ECHT NICHT WAHR SEIN! Das muss ein GERADEZU LÄCHERLICHER IRRTUM SEIN …«, murmelte sie dabei stakkatoartig vor sich hin.

»Alice Schmidthuber!«, rief Isabella ärgerlich, aber Ali wedelte nur wieder mit der Hand, als wäre Isabella nichts weiter als ein Schwarm lästiger Stechmücken, den es zu vertreiben galt. »Pssssst!«, machte sie dazu ungehalten. Sie lauschte in ihr Handy hinein. »Warum geht sie denn nicht dran? Warum geht sie denn jetzt nicht dran? Sie ist doch online! DAS SEHE ICH DOCH!«

»Gehe beten!«, trompetete Oma Hedia und erhob sich ächzend. »Allah ist groß – bis später …«

Sie trottete schwerfällig an dem steif gefrorenen Darius vorbei und verließ das Zimmer.

In dem Moment klappte es endlich mit Alis Telefongespräch.

»Isi?«, schrie Ali erleichtert und ließ sich wie erschlagen auf das alte rote Samtsofa sinken. Dort saß sie im Schneidersitz und bekam ihr Sommersprossengesicht, das sie immer bekam, wenn sie sich sehr aufregte. Das Sommersprossengesicht entstand zwangsläufig immer dann, wenn Ali blass wurde. In diesen Momenten traten ihre Sommersprossen viel deutlicher als sonst hervor und veränderten ihr Aussehen enorm, fand Darius.

»… nee, oder?«, regte sie sich jetzt gerade auf und fuhr sich durch die immer noch ungewohnt kurzen Strubbelhaare.

Darius dachte an die verrückte Blitzaktion zurück, in der Ali sich die Haare selbst abgeschnitten hatte, um nicht länger wie ein Abziehbild von Pau auszusehen, sondern ein Individuum zu werden.

»… HALLO? Das ist ein Irrtum! Das MUSS ein Irrtum sein! So ein Superquatsch! Wer kam denn auf diese bekloppte Idee? Und das steht jetzt auch noch online auf der Schülerseite der Schule?« Sie lauschte einen Moment. Der Rest der Familie lauschte inzwischen ebenfalls gebannt dem Telefongespräch. »Hä? Ich dachte, es wäre ein Voting über die LEHRER unserer Schule wie in Fack ju Göte 1? – Oh, Kacke, so ein Mist …«

Ali fuhr sich erneut durch die Haare, die allmählich aussahen wie ein altes verlassenes Vogelnest im Stadtpark.

»Was soll das heißen: Ich soll mal chillen?«, ätzte sie bereits im nächsten Moment. »Weißt du, was das für … mein Leben bedeutet?«

»Ob sie heimlich Zuckerzeug zu sich nimmt?«, murmelte Isabella nachdenklich an Ibrahim gewandt. »Sie ist doch völlig überzuckert! So war sie schon als Kleinkind, wenn meine Mutter ihr heimlich billige Süßigkeiten zusteckte! – Pau, futtert Ali heimlich billigen Industriezucker oder so?«

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Schmidthubers kauften insgesamt wenig Süßes – aber wenn, dann nur aus dem Biosupermarkt.

Pau hob die Schultern. »K-keine Ahnung …«

Sie nahm Runtervomsofa, die ihr maunzend um die Beine strich, auf den Arm.

Darius hatte sich längst wieder von der Tür gelöst und über seinen Laptop am Tisch gebeugt. Es hatte keinen Sinn, seine Chaosfamilie in diesem Zustand allein zu lassen, er würde sich in seinem Zimmer nicht konzentrieren können. Und so bekam er wenigstens mit, was das aktuelle Problem war. Er starrte auf ein Gewirr aus Zahlen … »Könntet ihr vielleicht etwas leiser diskutieren?«, bat er matt. »Ich würde gerne noch ein paar partielle Differenzialgleichungen lösen …«

Aber auf einmal schien ihm doch noch etwas Familienbetreffendes in den Sinn zu kommen und er hob den Kopf und suchte Isabellas Blick.

»Du hast morgen früh übrigens einen Vorsorgetermin bei deiner … nun ja – Frauenärztin, vergiss das nicht!«

Er deutete auf das kleine gelbe Post-it, das am Kühlschrank prangte und auf dem die Tage notiert waren, an denen Isabella ihre Schwangerschaftsvorsorgetermine im Gesundheitszentrum hatte.

»Stimmt!«, rief Ibrahim an Isabellas Stelle dankbar. »Hey, Darius, wenn wir dich nicht hätten! Danke, mein Ich-denke-an-alles-Sohn.«

Isabella warf ihm dankbar eine Kusshand zu und Darius senkte schnell wieder den Kopf.

»O Mann, was für ein Irrenhaus hier«, murmelte Roschan kopfschüttelnd und peinlich berührt vor sich hin. Musste Darius unbedingt über so was wie Frauenärztinnen quatschen? Das war echt nicht sehr männlich von ihm! Roschan schnappte sich den obersten Bogen der Immobilienunterlagen und wedelte damit.

»Und diese Bruchbude hier …«, er wedelte erneut, »… die ist jetzt echt gekauft, oder was?«

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Ibrahim seufzte. »Nenn es gekauft, Sohn eins. In Wahrheit gehört das Haus jetzt erstmal der Bank, die so nett war, uns einen Kredit zu geben. Und wir stottern das Ganze dann nach und nach ab. – Wenn er oder sie …«, er tippte auf Isabellas Bauch, »… so Mitte zwanzig ist, könnte es geschafft sein. DANN gehört die Bruchbude wirklich uns …«

Roschan nickte mit gerunzelter Stirn. »Dann ist die sogenannte Familienkonferenz also fertig und ich könnte … Net flix gucken? Oder Playstation spielen? Oder was anderes Abgefahrenes tun?«

»So haben wir nicht gewettet, Sohn eins«, sagte Ibrahim gerade, als Ali ihr Telefongespräch beendete. Sommersprossengesichtig saß sie da und starrte vor sich hin.

»… und? Welt untergegangen?«, fragte Isabella Anteil nehmend.

»Wenn’s das bloß wäre«, gab Ali matt zurück. »Aber es ist noch viel SCHLIMMER!«

Sie sprang auf und glättete sich mit einer Hand das Vogelnestgestrüpp auf ihrem Kopf.

Sexiest Boy Alive