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Karl Plepelits

Die Paradiesesjungfrau





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1

Wie hätten wir auch ahnen sollen, dass nur zwei Tage später der Tod erbarmungslos zuschlagen sollte?

Natürlich ahnten wir es beide nicht. Und daher konnte nichts unser wahrhaft himmlisches Glück trüben, als wir in ihrem Hotelzimmer in Antalya lustvoll Abschied feierten. Es sollte ja nur ein vorläufiger Abschied sein. Und es war eine so wundervolle Liebesnacht, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ist ja auch kein Wunder. Denn auf dieser Reise durch die Türkei, die tags darauf zu Ende gehen sollte, hatte ich zum ersten Mal in meinem gar nicht mehr so jungen Leben eine wirklich große, starke, reine Liebe kennengelernt.

Und jetzt frage ich mich: Ist denn jeder großen, starken, reinen Liebe ein schneller Tod beschieden? Hat im menschlichen Leben nur die kleine, die gewöhnliche, die alltägliche Liebe Bestand wie die zwischen meiner Ehefrau und mir? Sind die großen, starken, reinen Lieben nichts als ein kurzer Vorgeschmack aufs Paradies? Fast kommt es mir so vor. Aber was musste ich mich auch, genauer, was mussten wir, meine wunderbare Geliebte und ich, uns auch kopfüber in eine solche Liebe stürzen, deren schneller Tod anscheinend absehbar war?

Nur, stürzten wir uns denn wirklich kopfüber in diese Liebe? Wurden wir nicht viel eher in sie gestürzt: von unseren Trieben, vom Schicksal, vom Liebesgott oder von welchem Gott auch immer? Und konnten wir den schnellen Tod meiner wunderbaren Geliebten und damit den schnellen Tod unserer Liebe wirklich absehen, also voraussehen?

Nun ja, sie selber hätte ihn vielleicht voraussehen können. Mehr noch, als Muslimin hätte sie ihn sogar voraussehen müssen. Aber noch einmal: Wir wurden ja in unsere Liebe gestürzt, mit elementarer Macht in sie gestürzt. Wie heißt es im Hohen Lied Salomos? Stark wie der Tod ist die Liebe. Und gemeint ist zweifellos auch hier die große, starke, reine Liebe, nicht die kleine, alltägliche, gewöhnliche.

Wie wahr: Stark wie der Tod ist die Liebe. Sie überwindet alles. Sie bezwingt alles. Sie ist mächtiger als jede Angst, auch etwa die vor Eltern und Lehrern, wohl auch die vor Gott (welchem Gott auch immer) und sogar vor dem Tod. Und sie bewog meine geliebte Fatima, sich über die strengen Gebote ihrer Religion hinwegzusetzen und sich in einen Christen nicht nur unsterblich zu verlieben, sondern sogar zu ihm nach Europa ziehen und ihn heiraten zu wollen, natürlich gegen den Willen ihres strengen Vaters. Sie hätte wissen müssen, und sie wusste es wohl auch, dass sie dadurch in den Augen ihrer nicht nur traditionsbewussten, sondern vor allem auch frommen Angehörigen dem Islam untreu wurde und nach dem islamischen Religionsgesetz als Abtrünnige getötet werden musste.

Wie gesagt, auf einer Studienreise durch die Türkei hatten wir uns kennen und lieben gelernt, ich als Reiseleiter und Fatima als einheimische Fremdenführerin. Und so groß, so stark, so rein war unsere Liebe, dass wir beschlossen, für immer beisammen zu bleiben – und dies, obwohl wir zu unserem anfänglichen Entsetzen entdeckten, dass wir in Wahrheit Vater und Tochter sind. (Aber die Liebe ist ja auch mächtiger als jedes Tabu.) Ich würde daheim in Graz unverzüglich eine Wohnung für uns suchen, Frau und Kind verlassen und auf Fatima warten. (Aber die Liebe ist ja auch mächtiger als jede andere menschliche Bindung, und sei sie noch so heilig.) Fatima sollte nur wenige Wochen später nachkommen. Unterdessen hatten wir beide noch mehreren Verpflichtungen als Reiseleiter beziehungsweise Fremdenführerin nachzukommen.

 

2

Nur wenige Tage noch, und dann werden am Grazer Flughafen meine Fatima und ich aufjubelnd einander in die Arme sinken. Ich kann es kaum noch erwarten, vergehe von Tag zu Tag mehr vor Sehnsucht und freudiger Erregung. Wenigstens ist es mir vergönnt, täglich mindestens einmal mit Fatima zu telefonieren und ihre geliebte Stimme zu hören.

Nur heute – heute war es mir merkwürdigerweise noch nicht vergönnt. Ich befinde mich mit meiner Reisegruppe gerade in Lourdes und habe schon den ganzen Tag vergeblich versucht, Fatima zu erreichen. Und das verwundert mich über alle Maßen, mehr noch, es erfüllt mich mit zusehends wachsender Besorgnis. Unterdessen ist es später Abend geworden, und ich liege schon im Bett, nicht um zu schlummern, sondern in der verzweifelten Hoffnung, doch noch mit Fatima sprechen zu können. Und meine Besorgnis steigert sich allmählich zur Panik.

Und dann, ich traue meinen Augen nicht, ich glaube zu träumen, bin aber hellwach – und dann steht zu meiner maßlosen Verblüffung auf einmal Fatima leibhaftig vor mir. Einfach so. Ihr Kommen habe ich weder gesehen noch gehört. Die Tür meines Hotelzimmers hat sich, soweit ich es beurteilen kann, nicht im Geringsten bewegt.

Regungslos steht sie vor mir und lächelt mich süß an und verströmt einen lieblichen und zugleich höchst ungewohnten Duft wie etwa von Chrysanthemen. Und spricht kein Wort. Aber ihr Lächeln ist nicht nur süß, es ist zugleich unsagbar wehmütig. Ich stoße einen Schrei des Entzückens aus und springe, wie von einem Skorpion gestochen, aus dem Bett, um meine Arme um sie zu werfen und sie erleichtert an mich zu drücken.

Aber was ist das? Sie weicht zurück, entzieht sich meiner Umarmung.

Nun erst beendet sie das unbehagliche Schweigen und eröffnet mir die furchtbare Wahrheit: Sie sei gekommen, um Abschied zu nehmen. Diesmal Abschied für immer. Was ich vor mir sähe, sei nur ihr Geist, genauer, ihr verklärter Körper. Ihr irdischer Körper liege in ihrem Elternhaus und schlafe den ewigen Schlaf, zu Tode geprügelt von ihren frommen Angehörigen, weil sie den Islam verraten habe.

Außer mir vor Entsetzen, beschwöre ich sie wider alle Vernunft, bei mir zu bleiben, mich nicht zu verlassen, mich nicht ins Unglück zu stürzen. Lieber würde ich mit ihr kommen, und wenn wir in der Hölle schmachten müssten, alle beide..

„Liebster Markus“, erwidert sie, sichtlich beeindruckt, „das würdest du für mich tun?“

„Unbedingt.“

„Und deine Reisegruppe? Deine Familie? Deine Freunde? Deine diversen Freundinnen?“

Und dazu schmunzelt sie schelmisch.

„Meine einzige Freundin heißt Fatima. Und die anderen? Pah!“

„So lieb hast du mich?“

„So lieb hab ich dich.“

„Und wenn ich wirklich in die Hölle müsste? Den Islam wollte ich ja wirklich verraten.“

„Aber nein. Wenn es nach mir ginge, müsstest du den Islam überhaupt nicht verraten. Ich hätte nicht das Geringste dagegen, dass du ...“

Fatima lässt mich gar nicht ausreden. Sie weiß schon, was ich sagen wollte. „Sicher. Aber trotzdem. Was wäre, wenn ich tatsächlich in die Hölle geworfen würde?“

„Dann käme ich mit dir.“

„So lieb hast du mich?“

„So lieb hab ich dich.“

„Nun, eine Möglichkeit gäbe es.“

„Ja?“

„Ja. Dein irdischer Körper läge im Koma, wäre scheintot, und dein verklärter Körper ...“

„Käme mit dir?“

„Käme mit mir, und wir könnten zusammenbleiben, zumindest solange dein Körper im Koma liegt.“

„Und wie ...“

„Du siehst ihn nicht. Aber hinter mir steht mein Todesengel, der mich auf meine Bitten hierher zu dir gebracht hat, bevor ... Der würde deinen Körper ins Koma versetzen.“

„Soll er doch.“

„Ganz sicher?“

„Ganz sicher.“

 

3

Im selben Augenblick umfängt mich unverhofft der Schlafgott mit seinen weichen Armen, und mir schwinden mir die Sinne, und ich träume von Fatima und jener verzauberten Nacht, in der wir ein Liebespaar wurden. Dies geschah in ihrem Hotelzimmer in Konya, der berühmten Stadt der tanzenden Derwische. So intensiv träume ich, dass ich vor Lust förmlich zu vergehen glaube. Einen solchen Traum habe ich in der Tat noch nie geträumt. Bisher wachte ich jedes Mal auf, sobald mich die Lust zu überwältigen drohte, und bedauerte es sehr, dass mir dadurch gerade der Höhepunkt des Traums (und wohl auch der Lust) entging. Aber diesmal wache ich nicht auf, sondern träume auch noch den Höhepunkt und höre sämtliche Engelchöre frohlocken und lieblich jubilieren. Und noch erstaunlicher: In diesem Traum erlebe ich gar viele Höhepunkte, und die Engelchöre jubilieren von Mal zu Mal lieblicher.

Doch schließlich wache ich auf. Und mir steht das Herz still. Denn siehe da, wer thront auf mir? Nicht etwa Fatima, o nein. Auf mir thront eine mir völlig Unbekannte. Ist das eine Halluzination? Wahrscheinlich ja. Nur, der phantastische Duft, den sie verströmt und der mich an Rosen oder Lilien denken lässt, der ist absolut echt. Und sie ist es offenbar, die mir solche paradiesischen Lustgefühle bereitet hat. Und übrigens immer noch bereitet. Denn wir liegen auf einem herrlich weichen, oder wie man früher sagte, wollüstigen Bett und sind (um die Worte der Bibel zu gebrauchen) immer noch ein einzig Fleisch.

Ungeachtet dessen werfe ich, kurz entschlossen, dieses unbekannte Betthaserl ab wie ein scheuendes Pferd seinen Reiter oder seine Reiterin, blicke mich suchend um und rufe, verwirrt, empört und zugleich zerknirscht ob meiner ungalanten Aktion: „Wo ist meine Fatima?“

Mein suchender Blick entdeckt eine herrliche Blumenwiese, blühende Bäume, ein rauschendes Bächlein, einen lieblichen See, pittoreske Berge in der Ferne und lüstern glotzende Zuschauer in der Nähe. Nur keine Fatima.

„Ha, was ist mit denen? Haben die uns etwa schon die ganze Zeit zugeschaut?“

Das von mir so ungalant abgeworfene Betthaserl blickt mich mit großen Augen an, wie eine Mutter ihren Sprössling anblickt, der erste Anzeichen des Trotzalters erkennen lässt, und scheint mir meinen Mangel an Galanterie nicht einmal übel zu nehmen. Sie ist übrigens unglaublich hübsch, weit hübscher noch als Fatima, man könnte sagen, ein Traum auf zwei Beinen oder, etwas vornehmer ausgedrückt, ein Bild für Götter. Von ihrem Anblick, noch dazu im Evaskostüm, bin ich mehrere Herzschläge lang total fasziniert. Noch faszinierter bin ich, das kann ich nicht oft genug betonen, von dem geradezu paradiesischen Rosen- und Lilienduft, den sie verströmt, und dann auch von ihrer Stimme. Denn unterdessen hat sie zu sprechen begonnen. Aber wie gesagt: So fasziniert bin ich, dass nichts von dem, was sie sagt, in mein Bewusstsein dringen kann. Und da ich nicht reagiere, fühlt sie sich offenbar veranlasst, ihre Rede zu wiederholen.

„Du? Geliebter? Ich sagte: Natürlich haben sie uns schon die ganze Zeit zugeschaut. Wie denn auch nicht?“

„Weil ...“, stammle ich, „weil ... Na ja, da fragst du noch? Was sind das überhaupt für Leute?“

„Deine Schicksalsgefährten, geliebter Markus. Ehrwürdige Märtyrer. Genau wie du.“

„Ich? Ein ehrwürdiger Märtyrer? Seit wann bin ich denn ein ...“

An dieser Stelle wird meine wohlgesetzte Rede von lautem Hallo übertönt und unterbrochen. Ich blicke in die Runde und erkenne, dass die lüstern Glotzenden, lauter bärtige Typen, mindestens ein Dutzend an der Zahl, noch näher gekommen sind und ein ohrenbetäubendes Gebrüll angestimmt haben. Mit der Zeit beginne ich zu verstehen, was sie brüllen: Sie begrüßen mich als ihren Mitmärtyrer, der im Heiligen Krieg für Allah sein Leben hingegeben habe und sich nun zum Lohn für sein Opfer der ewigen Freuden des Paradieses erfreuen dürfe. Dann verstummen sie und schauen mich erwartungsvoll an. Bin jetzt ich dran, um mich für den freundlichen Empfang in ihrer Runde zu bedanken, oder was?

„Aber ... Aber ich bin doch kein ... bin doch kein Märtyrer“, stammle ich, sobald ich mich von meiner grenzenlosen Verwirrung erholt habe. „Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, für Allah ... Außerdem bin ich ja gar kein ...“

„Aber ja“, ruft einer von ihnen. „Wir haben dich doch an der Grenze übernommen, dort, wo der Engel mit dem lodernden Flammenschwert das Paradies bewacht und jedem, der kein ehrwürdiger Märtyrer ist, den Zutritt verwehrt. Ein Todesengel hatte sich eingefunden mit dir und dazu einer Abtrünnigen.“

Wie ich das höre, zucke ich zusammen und reiße die Augen auf. Er meint ohne Zweifel meine Fatima.

„Ach, mach dir nichts draus, dass es nur eine einzige Feindin der Religion erwischt hat. Alle können nicht so erfolgreich sein wie wir.“ Und als er meinen fragenden Blick bemerkt: „Wir sind nämlich die Märtyrer des elften September, musst du wissen. Aber noch einmal: Bei Allah zählt der gute Wille, nicht das Werk.“

„Ha, wo ist sie jetzt? Wo hat man sie hingebracht?“

Und ich blicke neuerlich umher, um Fatima zu erspähen. Und o Schreck, hat etwa auch sie mir zugeschaut, während ich ...

„Die Abtrünnige? Na, wohin wohl? In die Hölle natürlich.“

„Was? Seid ihr verrückt? Sie ist doch keine Abtrünnige.“

„Keine Abtrünnige? Ja, warum hast du sie dann getötet und obendrein dein eigenes Leben geopfert?“

„Aber ich habe sie nicht getötet. Ich bin doch kein Mörder. Und ich bin weder ein Muslim noch ein ...“

Den Rest meiner Rede verschlucke ich, weil mir mein bezauberndes Betthaserl die Hand auf die Lippen legt und sich gleichzeitig an mich schmiegt, offenbar um mich am Weitersprechen zu hindern.

Aber: Zu spät.