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Feronia Petri

3 Hamburg Krimis

St. Pauli Baby, Leichenfeld, Bunkerleiche





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

St. Pauli Baby

Vorbemerkung

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.





Inhalt

Kriminalhauptkommissarin Isa Boysen von der Kripo Hamburg wird mit einer scheinbaren Routineuntersuchung betraut: Selbstmord einer überforderten Karrierefrau. Doch sehr schnell muss sie feststellen, dass der angebliche Freitod der Szene-Journalistin Nora Fabian nur vorgetäuscht wurde - oder? Die Kriminalistin gräbt tiefer und stößt auf einen Ex-Freund, der Nora das Leben scheinbar zur Hölle gemacht hat. Doch dieser Mann und sein geheimnisvolles Verschwinden werfen nur weitere Fragen auf. Im Handumdrehen befindet sich Isa Boysen inmitten eines verbrecherischen Ränkespiels, bei dem es um viel Geld geht und Menschenleben nichts zählen.





1

Nora Fabian, auch „die Nachtigall“ genannt, schrieb die Story ihres Lebens.

Mit vor Erregung geröteten Wangen hockte die junge Journalistin vor ihrem Computer. Die Welt um sie herum war versunken. Nora registrierte nicht, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Ihre Finger flogen über die Tasten. Sie hockte in ihrem Büro im Verlagsgebäude der Illustrierten NUMMER EINS. Ihre Kollegen hatten längst Feierabend gemacht.

Auch bemerkte Nora nicht den Neuschnee, der die Fahrbahn der Mönckebergstraße vor ihrem Bürofenster zu bedecken begann. Und sie registrierte ihren Besuch erst, als die Person bereits ihren Arbeitsraum betreten hatte.

Die Journalistin schaute beunruhigt auf. Aber dann erschien ein erleichtertes Lächeln auf ihrem schönen Gesicht.

„Ach, du bist es“, sagte sie. „Das ist ja eine nette Überraschung! Sei mir nicht böse, aber ich habe gerade wirklich überhaupt keine Zeit. Ich schreibe etwas wirklich Umwerfendes.“

„Ja“, lautete die Antwort. „Ich weiß.“

Und dann ging alles ganz schnell. Die Person trat auf Nora Fabian zu. Im nächsten Moment spürte die Frau am Computer einen stechenden Schmerz im Nacken. Sie wollte schreien, etwas sagen, irgendetwas tun. Doch sie war gelähmt. Voller Entsetzen musste Nora mit ansehen, wie ihr Besuch plötzlich eine Rasierklinge in der Hand hielt. Systematisch wurden Noras Pulsadern aufgeschlitzt. An beiden Armen. Das Blut strömte aus ihrem Körper, ergoss sich auf ihr elegantes Yamamoto-Kostüm, auf den Designer-Schreibtisch, den Velours-Teppichboden, die Manuskriptseiten.

Entsetzliche Minuten vergingen, bis Nora durch eine gnädige Ohnmacht erlöst wurde. Die Bewusstlosigkeit, die vor dem Tod kommt.

Während die Journalistin starb, löschte ihr Besuch in aller Ruhe die Datei, mit der Nora Fabian einen Skandal anprangern wollte. Natürlich wurden auch die Sicherungskopien nicht vergessen. Und das Recherchematerial der Toten nahm der ungebetene Besuch mit, als er unerkannt das blutige Büro verließ.


2

Die Kriminalhauptkommissarin Isa Boysen flitzte auf Schlittschuhkufen durch die Hamburger Innenstadt. Das wäre normalerweise gefährlich gewesen, denn es war ein Vormittag im Dezember, ein Werktag. Und da wurde das Zentrum der Metropolregion Hamburg mit ihren über vier Millionen Einwohnern nicht nur von unzähligen Berufspendlern, Touristen und einkaufswütigen Konsumenten bevölkert, sondern eben auch von Motorfahrzeugen aller Art. Doch dort, wo Isa ihre Runden drehte, waren die Schlittschuhfans unter sich.

Die Kriminalistin lief nämlich auf dem Dach von Sport-Karstadt!

Die Eislaufbahn hoch oben auf dem größten Sporthaus Europas war ein Geheimtipp. Dort hatte man beim Schlittschuhlaufen außerdem noch einen Panoramablick über die Hansestadt. Obwohl Isa in Hamburg geboren und aufgewachsen war, wurde sie immer wieder von der Skyline dieser Stadt in ihren Bann gezogen.

In unmittelbarer Nähe des Sporthauses befand sich der Hauptbahnhof, entstanden zwischen 1899 und 1906. Vor wenigen Jahren war er ganz im Stil seiner Erbauerjahre restauriert worden und verfügte nun über eine attraktive Shoppingmeile in der Wandelhalle.

Im Süden, hinter dem Kontorhausviertel, grüßten bereits die ersten Kräne des Hamburger Hafens. Auch die Kirchturmspitze von St. Jakobi konnte Isa erkennen, ebenso weiter hinten den „Michel“, das Hamburger Wahrzeichen. Nur das stolze Hamburger Rathaus wurde halb durch einen mächtigen Einkaufs-Komplex an der Mönckebergstraße verdeckt.

Isa konnte sich wunderbar entspannen, während sie mal langsam und mal schneller über das Kunsteis glitt. Ein arbeitsreiches und anstrengendes Jahr lag nun schon fast gänzlich hinter ihr. Wie in jedem Dezember beschäftigte sie die Frage, wie sie Weihnachten verbringen sollte. Die Kriminalistin lebte zwar allein, war aber alles andere als menschenscheu. Es wäre also für sie ein Leichtes gewesen, eine der zahlreichen Heiligabend-Veranstaltungen für Singles aufzusuchen. Doch das hatte Isa schon in der Vergangenheit mehrmals als öde und trostlos empfunden.

Am Schönsten wäre es natürlich gewesen, mit einem lieben Mann unter einem Christbaum zu sitzen und Weihnachten zu feiern. Der schlechte Witz des Lebens bestand darin, dass Isa einen solchen Mann sogar hatte. Er hieß Arne Weger und war bei der 3. Mordbereitschaft ihr Dienstpartner, mit dem gemeinsam sie ihre meisten Fälle löste.

Doch leider war Arne bereits verheiratet und hatte mit seiner Frau Svenja eine kleine Tochter, Lea. Und es gab keinen Grund anzunehmen, dass er nicht mit ihnen die Feiertage verbringen würde.

Isas Liebe zu Arne lag momentan auf Eis. Anders konnte man das nicht nennen. Im Sommer hatten sie eine heiße Liebesaffäre miteinander gehabt. Doch da sie ihr Gewissen nicht belasten wollten, hatten sie Arnes Frau alles gebeichtet. Es war eine Zeit, an die Isa sich nur ungern erinnerte ...

Das Schrillen ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken.

Isa fuhr auf ihren Kufen an die Seite, stoppte und aktivierte das Telefon.

„Boysen.“

„Endlich gehen Sie ran, Frau Boysen!“, blaffte Dr. Walter Kranach, Isas direkter Vorgesetzter. Sie hörte sofort, dass der Kriminaloberrat eine miserable Laune hatte. „Ich weiß, dass heute Ihr freier Tag ist. Aber was soll ich machen? Hier trudelt eine Krankmeldung nach der anderen ein. Nun sind schon Frau Roper, Herr Lehmann und Herr Prante ausgefallen. Diese momentane Grippewelle macht die 3. Mordbereitschaft noch völlig handlungsunfähig! – Jedenfalls haben wir eine Meldung von der Zentrale bekommen. In einem Büro an der Mönckebergstraße ist eine weibliche Leiche aufgefunden worden. Alles spricht für einen Freitod. Aber Sie kennen ja die Vorschriften, Frau Boysen. Jemand von uns muss einen Blick auf die Tote werfen. Es handelt sich eindeutig um einen Selbstmord. Daher werden Sie wohl nicht allzu viel von Ihrer Freizeit opfern müssen.“

„In Ordnung, Herr Kriminaloberrat“, erwiderte Isa. „Wie es der Zufall will, befinde ich mich momentan sowieso in unmittelbarer Nähe der Mönckebergstraße.“

Die Kriminalistin wollte ihrem Chef allerdings nicht sagen, dass sie gerade Schlittschuh lief. Sie fand nämlich, dass ihn das nichts anging.

„Dann macht es Ihnen wohl nicht allzu viele Umstände“, knurrte Dr. Kranach.

„Nein. Falls es übrigens Personalengpässe während der Feiertage gibt, bin ich gerne bereit, auch am Heiligabend und am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag Tatortdienst zu machen.“

Isa hatte soeben diesen spontanen Entschluss gefasst. Wenn sie schon nicht mit Arne Weihnachten feiern konnte – was sie am Allerliebsten getan hätte – dann konnte sie an den Feiertagen ebenso gut arbeiten. Wozu war sie schließlich bei der Kripo? Dort gab es immer etwas zu tun.

„Das würden Sie tun, Frau Boysen?“ Dr. Kranachs Stimme klang erleichtert. Isa wusste, dass er mit seiner Frau über Weihnachten und Neujahr in den Harz fahren wollte. Dafür musste natürlich in seiner Abteilung zuvor alles geregelt und organisiert sein. „Ich weiß Ihre Einsatzbereitschaft zu schätzen, das sage ich ganz offen. – Darf ich Sie dann bitten, sich diese Selbstmörderin einmal kurz anzuschauen? Die Tote heißt übrigens Nora Fabian. Ich gebe Ihnen noch die Adresse durch.“

Isa schrieb sich die Angaben auf einen Zettel. Dann beendete sie das Gespräch. Nora Fabian? Der Name kam Isa bekannt vor. Momentan konnte sie ihn allerdings noch nicht so recht zuordnen.

Die Sache ließ der Kriminalistin nun ohnehin keine Ruhe mehr. Sie entfernte sich gedankenverloren von der Eisbahn. Isa beglückwünschte sich selbst dazu, dass sie eine Sporttasche mitgenommen hatte. Darin konnte sie ihre Schlittschuhe versenken. Es würde doch ziemlich unprofessionell aussehen, wenn sie als Kriminalhauptkommissarin mit an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Schlittschuhen über der Schulter am Tatort erschien ...

Auch ihre rote Zipfelmütze verstaute Isa wohlweislich in der Sporttasche. Die Kopfbedeckung war zwar sehr nützlich für eine Schlittschuhfahrt auf dem Dach von Sport-Karstadt, wirkte aber an einem Leichenfundort ebenfalls deplatziert. Jedenfalls war das Isas Meinung.

Sie musste nicht weit gehen. Die Mönckebergstraße verband den Hauptbahnhof mit dem Rathaus. Mit ihren breiten Fußgängerwegen war sie dementsprechend als Flanierstraße anzusehen. Auf den Fahrbahnen waren nur noch Stadtbusse und Taxis erlaubt, so dass sich das Verkehrschaos in Grenzen hielt. Daher war die Mönckebergstraße teils Shoppingmeile, teils eine sehr repräsentative Firmenadresse mitten in der Hamburger City.

Letzteres traf jedenfalls auf das Gebäude zu, in dem die Selbstmörderin aufgefunden worden war.

Isa rief sich allerdings innerlich selbst zur Ordnung, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging. Sie teilte nämlich die Auffassung ihres Vorgesetzten nicht. Woher wollte Dr. Kranach überhaupt so genau wissen, dass die Frau freiwillig aus dem Leben geschieden war? Seit wann stellte die Kripo telefonische Ferndiagnosen?

Isa hatte dies zum Glück nicht von dem Kriminaloberrat wissen wollen. Durch ihre Bereitschaft zum Feiertagsdienst hatte die junge Kriminalistin momentan bei ihrem Vorgesetzten einen Stein im Brett. Nun kam es darauf an, diese Pluspunkte nicht wieder zu löschen ...

Aber dadurch würde Isa sich trotzdem nicht davon abbringen lassen, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

Sie betrat das Gebäude, an dessen Eingang der typische Schriftzug von NUMMER EINS prangte. Das war eine Illustrierte, die sich hauptsächlich mit Klatschgeschichten über mehr oder weniger Prominente aus dem In- und Ausland befasste. Die Sorte Zeitschrift eben, die Frauen normalerweise beim Frisör lesen.

Isa ging natürlich auch regelmäßig zur Kopfverschönerung. Doch sie ließ sich ihre brünette Kurzhaarfrisur von einem Meister schneiden, der aus seiner Vorliebe für gut gebaute junge Männer kein Hehl machte.

Da Isa kein Kind von Traurigkeit war, hatte sie ebenfalls nichts gegen die Abbildungen von sonnengebräunten jungen Bodybuildern einzuwenden, die allerhöchstens mit äußerst knappen Tangaslips bekleidet waren.

Daher hatte Isa im Laufe der Jahre gewiss schon mehrere Hundert amerikanische Schwulen-Softpornos durchgeblättert, aber höchstens zwei oder drei Ausgaben von NUMMER EINS.

Die Kriminalistin trat in den Empfangsbereich. Hinter einer Marmor-Empfangstheke thronte eine sehr gut aussehende junge Frau. Isa glaubte im ersten Moment, das deutsche Topmodel Claudia Schiffer hätte einen neuen Nebenjob angenommen. Aber die Schöne in dem Designer-Kostüm sah doch etwas anders aus als die weltberühmte Claudia.

Sie maß Isa mit einem leicht arroganten Blick. Die Kriminalistin war in einen sportlichen Ski-Anorak, Steghosen und Stiefel gekleidet. Offenbar nicht das Outfit, das in diesem Haus erwartet wurde. Aber Isa ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Bevor die Schöne den Mund aufbekommen konnte, hielt die Hauptkommissarin ihr den fälschungssicheren blauen Kripoausweis unter die Nase.

„Kripo Hamburg. Ich komme wegen der Leiche.“

Die Empfangsdame lächelte, als wäre ihr gerade eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt angekündigt worden.

„Ach, Sie gehören zu den ... Herrschaften. Ich verstehe. Bitte nehmen Sie den Lift bis zum vierten Stockwerk.“

Isa bedankte sich mit einem knappen Kopfnicken. Wen diese Tussi wohl mit Herrschaften meinte? Gleich darauf konnte Isa sich diese Frage selbst beantworten. Als sie nach kurzer Aufzugfahrt in der vierten Etage ankam, bewachten uniformierte Kollegen argwöhnisch den Fahrstuhl. Kein Unbefugter sollte an den Tatort gelangen. Schon gar kein Vertreter der Sensationspresse. Die Polizisten ließen aber Isa sofort passieren. Sie hatte ihren Ausweis an ihrem Anorak befestigt.

Von weitem erblickte sie die Männer von der Technischen Abteilung, die bereits vollauf beschäftigt waren. Isa sah auch Dr. Scholl, den Mann vom Gerichtsmedizinischen Institut.

Da er der ranghöchste anwesende Kollege war, begrüßte Isa ihn als Ersten.

„Guten Morgen, Herr Dr. Scholl.“

„Guten Morgen, Frau Boysen.“

Sie gaben sich die Hände.

„Ich bin mit der ersten Untersuchung fertig“, meinte der Pathologe. „Ich wollte gerade nach einem Blechsarg telefonieren, damit man die sterblichen Überreste von Nora Fabian ins Gerichtsmedizinische Institut bringt. Die Obduktion kann ich vielleicht sogar noch heute Abend vornehmen.“

Isa schaute ihn neugierig an.

„Gibt es erste Erkenntnisse, Herr Dr. Scholl?“

Der Gerichtsmediziner blätterte in seinen Aufzeichnungen.

„Tja, der Tod muss zwischen drei Uhr und vier Uhr heute früh eingetreten sein. Todesursache ist ganz eindeutig Blutverlust. Es ist kein schöner Anblick, ehrlich gesagt.“

„Ich werde als Kriminalhauptkommissarin vom Steuerzahler besoldet, um auch unschöne Anblicke ertragen zu können“, gab Isa trocken zurück. „Ich sehe mir die Leiche gleich mal an.“

„Tun Sie das, Frau Boysen, tun Sie das. Die Pulsadern an beiden Handgelenken waren aufgetrennt. Dadurch konnte das Blut so schnell ausströmen, dass eine fast vollständige Ausblutung stattfand. – Sobald ich nach der Obduktion Näheres sagen kann, werde ich Sie im Präsidium anrufen.“

Isa und Dr. Scholl hatten auf dem Flur miteinander gesprochen. Es war nicht zu übersehen, in welchem der verschiedenen Büros Nora Fabian aus dem Leben geschieden war. Ob nun freiwillig oder unfreiwillig. Die Tür dieses Raums stand nämlich weit offen. Kollegen von der Technischen Abteilung waren emsig am Werk.

Die Hauptkommissarin ging zu ihnen. Norbert Schröder, der Leiter des Spurensicherungsteams, blickte auf.

„Hallo, Isa. Ich habe schon gehört, dass du deinen freien Tag opfern musstest.“

„Ich werde drüber hinwegkommen, Norbert. Gibt es schon erste Erkenntnisse?“

„Ja. Das Opfer hat sich vor ihrem Tod die Pulsadern mit einer handelsüblichen Rasierklinge geöffnet. Erst am rechten Handgelenk, dann am linken. Jedenfalls hielt sie die Klinge in der rechten Hand, als sie gefunden wurde.“

„War Nora Fabian Linkshänderin?“, fragte Isa. Norbert Schröder zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung, Frau Kollegin.“

„Ich habe auch eigentlich nur laut nachgedacht, Norbert.“

Während sie mit dem Leiter des Spurensicherungsteams sprach, trat Isa näher an die Tote heran. Das war gar nicht so einfach, denn natürlich wollte die Hauptkommissarin die Arbeit der Technischen Abteilung nicht behindern.

Das Blut war jedenfalls überall. Es bedeckte die Schreibtischplatte, die Computertastatur, den Teppich und natürlich Körper und Kleidung der Toten. Isa schaute sich stirnrunzelnd um, ohne etwas anzufassen.

„Also, falls das Opfer Linkshänderin war, ist davon hier nichts zu sehen. Stifte, Papierlocher, Büroklammern, Notizzettel, Visitenkarten – alles liegt auf der rechten Schreibtischhälfte. Links sehe ich nur irgendwelche Papierstapel, die sie offenbar mit Nichtachtung gestraft hat.“

„Worauf willst du hinaus, Isa?“

„Ganz einfach. Nora Fabian war meiner Meinung nach Rechtshänderin. Ich werde natürlich noch ihre Freunde, Kollegen und ihre Familie danach fragen. Aber gehen wir zunächst mal davon aus. Ich finde es unwahrscheinlich, dass sich eine Linkshänderin zunächst die rechte Pulsader aufschneidet. Und dann erst die linke.“

„Warum?“

„Weil man unbewusst alle wichtigen Sachen mit der Hand macht, mit der man besser zurechtkommt. Und was könnte wohl wichtiger sein als der eigene Tod?“

„Ich ahne, worauf du hinaus willst, Isa. Aber wenn ein Mörder ihr die Handgelenke verletzt hat, würde sie sich doch gewiss gewehrt haben.“

„Ja, falls er sie nicht vorher betäubt hat.“

„Das klingt für meinen Geschmack zu konstruiert“, brummte Norbert. „Aber eine Betäubung müsste sich ja bei der Obduktion nachweisen lassen.“

„Ja, natürlich.“

„Na, also!“ Der Leiter des Spurensicherungsteams klopfte Isa kollegial auf die Schulter. „Das wäre doch der beste Beweis für deine Theorie von der Fremdeinwirkung. Du musst nur das Obduktionsergebnis abwarten.“

„Es gibt noch andere Hinweise“, meinte Isa. „Zum Beispiel, ob die Bürotür von innen abgeschlossen war oder nicht.“

„Das war sie eindeutig nicht“, sagte Norbert Schröder. „Wie du siehst, musste das Schloss nicht aufgebrochen werden. Nora Fabian wurde von einer Praktikantin gefunden. Sie wartet übrigens nebenan. Der Notarzt hat ihr eine Beruhigungsspritze verpasst.“

Isa nickte. Um diese Zeugin wollte sie sich als Nächstes kümmern.

„Jedenfalls war die Tür unverschlossen. Nora musste also damit rechnen, bei ihrem Vorhaben gestört zu werden. Warum hat sie nicht abgeschlossen, bevor sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hat?“

„Ich finde, du setzt viel zu viel voraus“, meinte Norbert Schröder achselzuckend. „So eine Selbstmörderin ist doch wahrscheinlich zutiefst verzweifelt. Da wird sie nicht an solche Details denken.“

„Dann gehst du also auch von einem Freitod aus, Norbert?“

Der Leiter des Spurensicherungsteams hob abwehrend die Hände.

„Es ist die Aufgabe von euch Ermittlern, das herauszufinden. Aber aus Sicht der Technischen Abteilung spricht nichts für ein Fremdverschulden. Auf der Rasierklinge sind keine Fingerabdrücke außer denen des Opfers zu erkennen. Nora Fabian ist an ihrem Schreibtisch zusammengesunken, wie du selbst sehen kannst. Nichts deutet auf einen Kampf hin.“ Bartel zögerte einen Moment. „Allerdings ...“

„Ja?“ Isa beugte sich gespannt vor.

„Wir haben hier einen Gegenstand in Nora Fabians Jackentasche gefunden, für den wir keine rechte Erklärung haben.“

Der Spurensicherer zeigte Isa eine der Plastiktüten, in denen Beweisstücke gesammelt werden. In diesem Fall war es ein kleines rosa Stück Textil.

„Das ist ein Babysöckchen, Norbert. Lass’ es dir von einer Frau gesagt sein.“

„Ich bin stolzer Großvater, Isa. Ich weiß sehr gut, wie ein Babysöckchen aussieht. Aber warum trug diese Nora Fabian ein einzelnes Babysöckchen in der Jacketttasche mit sich herum? – Na, dieses Rätsel müsst ja ihr von der Mordbereitschaft lösen.“

Isa machte sich in Gedanken eine Notiz. Ein Babysöckchen also. Die einfachste Erklärung war eine Schwangerschaft der Toten. Aber darüber würde die Obduktion Auskunft geben. Oder war vielleicht eine ungewollte Gravidität der Grund für den Selbstmord?

Ärgerlich schob Isa diesen Gedanken beiseite. Das war eine Überlegung von Anno dunnemals. Schon seit mehreren Jahren schrieb man das 21. Jahrhundert. Nora Fabian war ganz offensichtlich eine berufstätige und unabhängige Frau gewesen. Dieses Motiv erschien bei einer Frau wie Nora mehr als unwahrscheinlich!

Isa verabschiedete sich einstweilen von den Spurensicherern. Sie ließ sich von einem uniformierten Kollegen zu der jungen Frau führen, die Nora Fabian gefunden hatte.

Die Praktikantin hockte in einem kleinen Raum am Flurende, der ganz offensichtlich als Teeküche diente. Isa schätzte sie auf höchstens zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre. Die Zeugin unterschied sich äußerlich in nichts von Tausenden anderer junger Frauen in dem Alter. Sie war modisch gekleidet, mit Hüftjeans und trotz winterlicher Kälte einem Kurzpullover. Jedenfalls konnte man ihren gepiercten Bauchnabel sehen, als sie aufstand.

Isa stellte sich mit Namen und Dienstrang vor. Sie machte eine auffordernde Handbewegung.

„Nimm doch bitte wieder Platz. Ich darf dich doch duzen, oder?“

„Ja, sicher, Frau Kommissarin. Ich habe es auch gerne, wenn es locker zugeht. Nora dachte genauso. Sie ... sie war so voller Power ...“

Isa glaubte, ihr Gegenüber würde wieder zu weinen anfangen. Die geröteten Augen der jungen Frau zeugten jedenfalls davon, dass ihr die Tränen gekommen waren. Aber das war in Isas Augen eine ganz normale menschliche Reaktion angesichts einer blutüberströmten Leiche ...

„Zu Nora Fabian kommen wir gleich“, sagte die Kriminalistin. Sie versuchte, ihrer Stimme einen möglichst beruhigenden Unterton zu geben. „Das heißt, falls du dich in der Lage fühlst, meine Fragen zu beantworten.“

„Doch, schon.“ Die Praktikantin schniefte, putzte sich die Nase. „Der Doc hat mir ja eine Spritze gegeben. Seitdem geht es einigermaßen. Ich wäre ja fast umgekippt, als ich heute Morgen in Noras Büro gekommen bin.“

„Am Besten erzählst du der Reihe nach. Ich habe mich ja schon vorgestellt. Aber du hast deinen Namen noch gar nicht verraten.“

„Oh, Entschuldigung. Ich bin so durcheinander. Also, ich heiße Jasmin Ehlers. Ich bin einundzwanzig Jahre alt und studiere Medien. Hier an der Universität Hamburg. Bei NUMMER EINS mache ich ein einmonatiges Praktikum.“

Isa nickte. Sie kritzelte Jasmins Angaben auf die Rückseite einer Postwurfsendung, die sich in ihrer Jackentasche angefunden hatte. Normalerweise hatte die Kriminalistin ihr dickes gebundenes Notizbuch bei sich. Aber das schleppte sie nicht mit sich herum, wenn sie auf die Eisbahn ging.

„Und Nora war deine Praktikumsbetreuerin, Jasmin?“

„So kann man das nicht sagen, Frau Kommissarin. Der Chefredakteur, Herr Wecker, wollte mir sehr viele unterschiedliche Aufgaben bei der Illustrierten zeigen. Ich durfte den Fotografen helfen, war bei der Redaktionskonferenz und habe dem Knaben assistiert, der Skandalstorys aus dem Ausland ankauft. Aber ehrlich gesagt hat es mir bei Nora am Besten gefallen!“

„Warum?“

Jasmin schaute sich um, senkte ihre Stimme.

„Sie war die Einzige, die ich bei NUMMER EINS gut leiden konnte. Alle anderen, die ich hier kennen gelernt habe, sind Angeber, Wüteriche oder auf eine andere Art widerlich. Aber Nora ... sie war ja ziemlich berühmt. Keine Ahnung, ob Sie das wissen. Aber sie hat mich nie wie eine kleine Praktikantin behandelt, kapieren Sie? Eher wie eine Freundin.“

Isa nickte langsam. Das klang wirklich danach, als ob die Verstorbene eine sympathische Frau gewesen war.

„Jasmin, kannst du dir einen Grund denken, warum Nora freiwillig aus dem Leben scheiden wollte?“

Die Praktikantin schüttelte wild den Kopf.

„Keinen einzigen, Frau Kommissarin! Nora steckte voller Pläne. Sie hatte noch so viel vor. Beruflich und privat, wenn ich das richtig sehe. Sie wollte nach Nepal reisen und nach Peru. Und ein Interview mit einem echten sibirischen Schamanen machen. Eine Sache hat sie allerdings vor mir geheim gehalten.“

Isa horchte auf.

„Und was?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wie gesagt, ich sollte nichts davon wissen. Einmal habe ich Nora direkt darauf angesprochen. Da wurde sie ganz ernst und sagte, dass ich nicht noch einmal nach ihrem Geheimnis fragen sollte. Es wäre zu gefährlich für mich.“

„Waren das ihre genauen Worte, Jasmin?“

Die Praktikantin starrte auf die auberginenfarbenen modernen Küchenmöbel in dem kleinen fensterlosen Raum. Sie schien angestrengt nachzudenken.

„Nein, Frau Kommissarin. Sie sagte so in etwa: ,Ich riskiere selbst Kopf und Kragen. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt, Jasmin. Das könnte ich nicht verantworten’.“

„Wann war das?“

„Vor drei oder vier Tagen.“

Isa stieß langsam die Luft aus den Lungen. Angenommen, Jasmin sprach die Wahrheit. Nora hatte also als Journalistin ein brandheißes Thema bearbeitet. Wenig später starb sie eines gewaltsamen Todes. Das sah für Isa Boysen keinesfalls nach einem Selbstmord aus.

Sondern nach einer besonders heimtückischen und grausamen Tötung!

„Nora hat sich doch gewiss auch mit Themen beschäftigt, die nicht geheim für dich waren, Jasmin ...“

„Ja, Frau Kommissarin. Es ging in den letzten Tagen hauptsächlich um das Interview mit diesem amerikanischen Fernsehstar Matt Howard. Er trifft morgen mit dem Flieger von Los Angeles auf dem Flughafen Fuhlsbüttel ein. Er soll eine Gastrolle in einer deutschen Fernsehserie spielen.“

Ein typisches Thema, das die Leser von NUMMER EINS offenbar fieberhaft beschäftigte. Isas persönliches Interesse daran hielt sich in Grenzen. Vor allem aber konnte sie sich nicht vorstellen, dass die junge Journalistin wegen einer solchen Harmlosigkeit sterben musste.

Wenn überhaupt, dann war das „geheime“ Thema gleichzeitig das Mordmotiv. Isa versprach sich einiges von der geplanten Schnüffelei in Nora Fabians Wohnung. Norbert Schröder hatte die Schlüssel der Toten an sich genommen und wollte noch am gleichen Nachmittag mit seinem Spurensicherungsteam dort auflaufen. Ein offizieller Hausdurchsuchungsbefehl war in solchen Fällen sehr leicht zu bekommen.

Vorerst wandte Isa sich wieder an ihre junge Zeugin.

„Bitte schildere mir mit deinen eigenen Worten, wie du Nora vorhin aufgefunden hast, Jasmin!“

„Ja, Frau Kommissarin. – Also, es war kurz nach neun heute Morgen. Wir Praktikanten fangen immer um diese Zeit mit der Arbeit an. Ich fuhr mit dem Lift hoch und ging zu Noras Büro. Mir fiel auf, dass die Tür geschlossen war.“

„Ist das ungewöhnlich?“

„Bei NUMMER EINS schon. Die meisten Journalisten, die hier arbeiten, haben immer ihre Bürotür sperrangelweit offen stehen. Ich finde das auch manchmal nervig, weil man ständig Stimmen hört, die durcheinander reden. Aber die Leute arbeiten viel zusammen, das habe ich schon mitgekriegt. Da wäre es wohl blöd, wenn man jedes Mal an der Tür klopfen müsste, wenn man von dem anderen was will.“

Isa nickte. Sie selbst saß bei der 3. Mordbereitschaft in einem Großraumbüro und nahm die Stimmen ihrer Kolleginnen und Kollegen im Hintergrund schon gar nicht mehr wahr.

„Die Tür war also verschlossen, Jasmin ...“

„Ja. Ich habe geklopft. Es kam keine Antwort. Ich dachte mir, dass Nora vielleicht noch gar nicht da war. Aber dann habe ich mich doch getraut, die Tür aufzumachen. Ich wollte einfach wissen, was los ist. Und dann ... dann habe ich gleich das Blut gesehen.“

Die junge Praktikantin atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Es war Isa natürlich nicht entgangen, dass Jasmin unter Beruhigungsmitteln stand. Aber wenn das nicht so gewesen wäre, hätte sie ihre Zeugenaussage wohl nicht durchgestanden. Da war sich Isa sicher.

„Ich wollte Hilfe holen. Da kam zum Glück gerade der Bildreporter, der im Büro gegenüber residiert. Er hat auch nur kurz durch die Tür gelinst und dann gleich die Polizei und den Notarzt verständigt. Und ... und dann hat er sie fotografiert.“

„Wie bitte?“

„Ja, er meinte, es wäre für alle Fälle gut, ein paar Aufnahmen zu haben.“

Isa nickte. Da sie noch niemals Respekt vor Skandaljournalisten empfunden hatte, konnte sie diesen auch gar nicht verlieren. Entsprechend der zynischen Logik dieser Leute hatte der Mann das einzig Richtige getan. Nämlich für eine sensationelle Story gesorgt ...

„In Ordnung, Jasmin. Kannst du dir vorstellen, warum Nora ihrem Leben selbst ein Ende setzen wollte? Oder hatte sie Feinde, denen du zutrauen würdest, dass sie die Journalistin lieber tot als lebendig sehen wollten?“

Die Praktikantin schüttelte leidenschaftlich den Kopf.

„Nein, Frau Kommissarin. Nora wollte nicht sterben. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Diesen Eindruck hat sie überhaupt nicht auf mich gemacht. Und Feinde? Sorry, da muss ich passen. Sie war ja Klatschjournalistin. Da wird sie wohl dem einen oder anderen auf den Schlips getreten sein. Aber Namen kann ich Ihnen nicht nennen. Ich habe Nora ja erst vor einer Woche kennen gelernt.“

Isa überreichte der Praktikantin eine ihrer dienstlichen Visitenkarten, die sie immer bei sich hatte.

„Bitte ruf’ mich an, wenn dir noch was einfällt, Jasmin. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“

„Logo, das mache ich, Frau Kommissarin. Ich will ja auch, dass Sie den Mistkerl fangen, der Nora das angetan hat.“

Isa nickte der jungen Frau noch einmal zu und verließ die Teeküche. Auf dem Korridor sprach eine Dame in typischer Sekretärinnen-Aufmachung mit einem der uniformierten Polizeikollegen.

„Jedenfalls möchte unser Chefredakteur, Herr Wecker, sobald wie möglich mit dem leitenden Ermittlungsbeamten sprechen.“

Isa trat auf die beiden zu.

„Das lässt sich einrichten. Ich bin Kriminalhauptkommissarin Isa Boysen. Und ich leite die Ermittlungen im Mordfall Nora Fabian.“