Magische Meriten

Dennis Frey

 

Magische Meriten

Nimmerland

 

 

Teil 2

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2018

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

 

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

Verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: Grit Richter

Cover-Illustration: Dennis Frey

E-Book-Erstellung: Grit Richter

Danke

 

Für Lucan und Aidan – wenn ihr eure Realität für schlimm haltet, seht euch mal ein paar andere an.

 

Für Annika – weil du mir klar machst, wie viel mehr Potenzial noch in mir steckt.

 

… und für jeden von euch, der nach Mehr sucht.

Non Debitum

 

Ich hob in einer abwehrenden Geste die Hände und sah, dass sie feuchte Abdrücke auf den Hosenbeinen meines teuren italienischen Anzugs hinterlassen hatten. Wie sehr ich mir wünschte, dass das meine einzige Sorge wäre. Die Panik bescherte mir jetzt sogar Schnappatmung, die es schwer machte, meine Entschuldigungen und Erklärungen hervorzupressen.

»Mr. Rosetti, ich hätte das wirklich nicht vorhersehen können! Die Wirtschaft der ganzen Welt ist zusammengebrochen – jeder Investor hat Geld verloren.«

Oh, ich hasste es, wie sehr meine Stimme zitterte. Ich hasste, wieviel Angst ich vor dem kleinen Mann hatte, der sich in seinem weichen Ledersessel zurückgelehnt hatte und mit seinem Brieföffner spielte. Seine Augen hatten die Farbe von Gewitterwolken und waren die Boten des bevorstehenden Unwetters. Hätte ich doch nur auf meine Ma gehört und die Farm übernommen. Hätte ich wenigstens einen Arbeitgeber gesucht, der nicht berüchtigt dafür war, dass Leute, die ihm in die Quere kamen, spurlos verschwanden.

Zusätzlich plagte mich die durchaus begründete Sorge, ich könnte vor lauter Angst in Rosettis Mülleimer kotzen.

»Das hattest du bereits gesagt«, schnarrte Rosetti und strich seine ölig glänzenden schwarzen Haare zurück. »Und ich hatte was darauf geantwortet?«

Ich murmelte leise und zuckte dann zusammen, als Rosetti kräftig mit der Faust auf den Tisch hämmerte und mich anschrie.

»Was habe ich darauf geantwortet!?«

»Dass das keine Entschuldigung ist«, sagte ich etwas lauter, aber noch immer mit brechender Stimme. Jesus, ich würde losheulen, wenn er mich weiter so anschrie.

Doch stattdessen glitt Rosetti wieder zurück in das Polster seines Sessels.

»Genau.«

Das dunkle Lächeln auf seinem Gesicht behagte mir gar nicht. Es gab mir das Gefühl, als wolle er jeden Moment zuzuschnappen.

»Ich …« Ich schluckte schwer. »Ich bin sicher, ich kann die Verluste größtenteils wieder reinholen, Mr. Rosetti, Sir. Ich kann auch mein eigenes Kapital mit einbringen, mein Haus, meinen Rentenfonds, ich …«

Er stoppte mich mit erhobener Hand und deutete mit dem Brieföffner auf mich. Das verfluchte Ding war aus Silber und über und über mit verschnörkelten Gravuren versehen. In der Mitte war ein schmaler Rubin eingelassen.

»Das würdest du tun?«, fragte Rosetti. »Für mich?«

Er klang beinahe gerührt, und ich beeilte mich, zu nicken.

»Natürlich, Sir. Man muss schließlich für seine Fehler geradestehen.«

Jetzt bekam sein Lächeln eindeutig etwas Raubtierhaftes.

»Das muss man allerdings.«

Er hielt seinen Brieföffner mit der Spitze nach oben, und ich machte mich bereit, zur Seite zu hechten, weil ich ihm und seinem Temperament durchaus zutraute, das spitze Ding nach mir zu schleudern. Doch er hielt nur seine freie Hand darüber.

»Unser Familienmotto ist ‚Non Debitum’. Man macht keine Schulden bei einem Rosetti. Niemand, niemals.«

Die Klinge ritzte seine Handfläche, und einige Blutstropfen bahnten sich ihren Weg nach unten, füllten die schmalen Bahnen der Gravuren und ließen sie wie feuchtrote Schriftzeichen wirken. Ich beobachtete gebannt, wie sie sich vorarbeiteten. Dann erreichten sie den Rubin, und meine Augen wurden groß, als der Stein aufglühte, als habe er nur auf einen Schluck frischen Blutes gewartet.

Das letzte, was ich sah, war das vor Abscheu verzerrte Gesicht meines Bosses – nein, meines Exbosses, dann wurde ich wie an einem Angelhaken nach hinten gerissen, viel weiter, als es in dem kleinen Büro eigentlich möglich sein sollte.

Die Geschwindigkeit drückte mir die Luft aus den Lungen, meine Arme und Beine flatterten regelrecht. Die Umgebung nahm ich nur noch in verschwommenen Schlieren wahr, und dann … Ja, dann stoppte ich. Ich wurde nicht langsamer, sondern prallte gegen eine Art unsichtbare Wand, die jede Erinnerung an mein bisheriges Leben aus mir herausprügelte und mich verwirrt und voller Schmerzen in den Abgrund fallen ließ.

 

Ich wusste nicht mehr warum, aber ich erwachte mit dem Gefühl, den beschissensten Tag meines Lebens hinter mir zu haben.

 

Exoten

 

»Komm mal rüber, Jan. Ich habe hier genau die richtige Arbeit für einen langen Lulatsch wie dich.«

Jan lächelte müde und ging zu Peter hinüber. Wenn er neben seinem besten Freund stand, wirkten sie ein bisschen wie die Hauptdarsteller einer schlechten Komödie. Peter brauchte einen Stuhl, um in der Küche die oberen Regale zu erreichen, während Jan eher der Typ war, dessen Stirn viel zu häufig Bekanntschaft mit zu niedrigen Türrahmen schloss.

Sie arbeiteten gerade an der Kulisse für Titus Andronicus. Das Stück würde dieses Jahr zum Theatertreffen in Berlin vom Wiener Burgtheater aufgeführt werden. Überhaupt war das jährliche Treffen so ziemlich die einzige Zeit im Jahr, zu der die beiden sicher wussten, ob und welche Arbeit sie haben würden. Nicht dass ihre Eltern sie nicht davor gewarnt hätten, als sie sich entschlossen, ihre künstlerischen Karrieren zu verfolgen. Und das ›Ich hab’s dir doch gesagt‹ gab es immer wieder gratis dazu.

Peter stand an einer der Sperrholzaufbauten.

»Da oben fehlt noch ein bisschen Rot«, sagte er und deutete auf die Stelle, während er Jan mit der anderen den Pinsel hinhielt.

»Und du bist zu faul, eine Leiter zu holen?« Jan grinste, während Peter ein empörtes Gesicht machte.

»Und ich dachte, wir kennen uns. Natürlich bin ich zu faul! Außerdem, wer hat denn die ganze Bodenlinie gestrichen, damit du deinen Rücken schonen konntest?«

»Jedenfalls nicht du allein. Das haben wir zusammen gemacht.«

»Aber ich hätte es allein gemacht, wenn du gefragt hättest. Also komm schon.«

Der letzte Satz kam in derart leidendem Ton, dass Jan lachen musste.

»Ist ja gut. Spar dir den Hundeblick.«

Er nahm den Pinsel und begann zu streichen. Es machte ihm nichts aus, an Theaterkulissen zu arbeiten, aber die meiste Zeit war es keine große Herausforderung. Viele der modernen Inszenierungen hielten sich an minimalistische Bühnengestaltung, wahrscheinlich, um nicht von den Schauspielern abzulenken.

»Warum spielst du eigentlich nicht Basketball? So groß wie du bist.«

»Weil nicht jeder, der groß ist, Basketball spielt. Du versteckst doch auch keine Töpfe voll Gold.«

»Autsch!«

Jan lachte. Der Pinsel brachte eine zweite Schicht dunklen Rots auf.

Er spürte das Lächeln im Gesicht auch noch, als es wieder verschwunden war. Es war beinahe wie damals, als er sich den Arm gebrochen hatte und ihn nach vier Wochen im Gips wieder hatte bewegen dürfen. Genau so lange war es her, dass Marion ihn verlassen hatte, und seitdem war es schwer gewesen, überhaupt irgendeine Reaktion auf etwas von ihm zu bekommen. Vielleicht war dieses Lächeln ja die erste Schwalbe des Sommers, und er war endlich bereit, loszulassen.

Als er den Pinsel sinken ließ, proklamierte Peter.

»Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern sind, muss auch kein Blick zurück mehr fallen! Was getan ist, ist getan und bleibt's.«

Da sie sich während der Aufführungen fast immer hinter der Bühne aufhielten, um im Notfall noch schnelle Reparaturen an den Kulissen durchführen zu können, hatten sie sich einen beachtlichen Schatz an Zitaten aus der Feder von Shakespeare und Konsorten zugelegt. Wobei Jan sich bei der Nutzung sehr viel zurückhaltender zeigte als Peter.

»Ja, wir sind dann wohl fertig.« Jan nickte und sah noch einmal zu der Stelle auf, die er gerade blutigrot gestrichen hatte. Sie hatten gute Arbeit geleistet, egal was Peter sagte.

Nachdem sie die Malerutensilien von der Bühne geräumt hatten, schnappte sich Jan seinen Rucksack.

»Ich bleibe noch. Die Generalprobe fängt bald an, und ich will jemanden begrüßen«, sagte Peter.

Jan legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Aber sei vorsichtig. Du weißt, die Österreicher können uns nicht leiden.«

Peter grinste.

»Ich werde schon klarkommen. Meine Schwester lebt in Wien und ist von den Einheimischen freundlich aufgenommen worden. Sie kommt mit der Truppe zu Besuch.«

Das brachte Jan ins Stocken. Er kannte Peter schon seit Jahren und war eigentlich davon ausgegangen, alle Familienmitglieder zu kennen.

»Seit wann hast du denn eine Schwester?«, fragte er verblüfft, und Peter zuckte mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern.

»Schon seit meiner Geburt. Sie ist älter als ich – und genau genommen meine Halbschwester. Du weißt ja, dass Richard nicht mein leiblicher Vater ist?«

»Ja, klar. Deine Eltern haben sich getrennt, als du ganz klein warst, oder?«

Peter nickte.

»Und mein Vater ist zurück zu seiner Exfrau, mit der er eine Tochter hatte. Ziemlich verworrene Situation, aber ich habe sie oft besucht, und für mich und Sil macht es keinen Unterschied, dass wir nicht dieselbe Mutter haben.«

»Und warum hast du sie nie erwähnt?« Jan zog einen Riemen seines Rucksacks über eine Schulter. »Hattest du Angst, ich würde sie dir wegnehmen?«

Peter lachte mit ihm, doch es klang nicht völlig überzeugend.

»Bleibt sie ein paar Tage? Ich würde sie gerne kennenlernen.«

Peter sah ihn an und sagte nichts. Jan hasste diesen Blick. Es war ein ganz spezielles Starren, das ihm verriet, dass er gerade etwas Dummes gesagt hatte. Und dann wartete Peter immer, bis Jan selbst darauf kam.

»Oh. Sie spielt in dem Stück mit. Sie ist hier, bis das Theatertreffen vorbei ist.«

Peters Gesicht rührte sich wieder, und er lächelte.

»Geht doch.«

»Ja, ja.« Jan winkte ab. »Ich geh auf dem Heimweg einkaufen. Brauchen wir noch irgendetwas?«

Eine von Peters Augenbrauen hob sich fragend.

»Heißt das, du willst dich wieder am normalen Leben beteiligen? Nicht mehr wie ein Einsiedler in deinem Zimmer versumpfen? Etwas anderes als Pizza, aufgewärmte Pizza und trockenen Pizzarand essen?«

Ja, Jan hatte sich in seiner Trauer etwas zurückgezogen. Es hatte wehgetan, Marion zu verlieren – bei ihr war er sich immer so sicher gewesen. Sein Lächeln verunglückte ein wenig.

»Ich glaube, heute wäre ein guter Tag, um mal wieder etwas zu kochen.«

»Gino wird wahrscheinlich denken, dass du tot bist, wenn du keine Pizza bestellst.«

Jan lachte. Es war erleichternd.

»Wahrscheinlich sollte ich ihm Bescheid geben, dass sein bester Kunde sich künftig etwas rar machen wird und er den vergoldeten Ferrari besser doch nicht bestellt.«

 

Auf dem Weg durchs Foyer sah Jan die Truppe des Wiener Burgtheaters hereinkommen. Sie waren deutlich am Akzent ihrer lautstarken Unterhaltung erkennbar – das ganze Rudel Schauspieler strahlte eher die fröhliche Stimmung einer Klasse auf dem Schulausflug aus als die einer düsteren, ernsthaften Theatertruppe.

Es waren einige schöne Frauen unter ihnen. Jan entdeckte sogar ein paar außergewöhnlich schöne, doch keine sah Peter auch nur im Geringsten ähnlich. Soll heißen, keine war ungewöhnlich klein und hatte Geheimratsecken im karottenroten Haar. Hätte auch komisch ausgesehen.

Er ging jetzt rückwärts auf die Tür zu, um der Truppe hinterherzusehen.

»Vorsicht.«

Die Stimme war ruhig, aber so bestimmt, dass sein Körper automatisch reagierte und anhielt. Als er sich umdrehte, sah er sich einer Frau gegenüber, die ihn abschätzend über die Gläser ihrer schwarzgerahmten Brille ansah.

»Oh, Entschuldigung. Ich war etwas abgelenkt.«

»Offensichtlich.« Ein schmales Lächeln zeigte sich, und sie ließ ihren aschblonden Pferdeschwanz durch die Finger der rechten Hand gleiten. »Welche hat es Ihnen denn so angetan?«

Jan lachte.

»Das ist es nicht. Ich war nur neugierig – man sieht hier in Berlin doch so selten Ausländer.«

Er zwinkerte, und ihr Lächeln wurde etwas wärmer.

»Klar, wir Österreicher sind schon ziemlich exotisch.«

»Hat mich mit Zwölf die ganzen zwei Wochen Skiurlaub gekostet, bis ich eure Sprache endlich verstanden habe«, erklärte Jan und nickte zustimmend, obwohl die Frau vor ihm noch einen wirklich harmlosen Dialekt sprach. »Und der alte Wirt hat mir immer gesagt, dass ich am Watschnbam beidl. Ich glaube, er mochte mich.«

Jetzt lachte sie. Es stand ihr gut. Die braunen Augen blitzten auf, und das Lachen zeigte hübsche, weiße Zähne. Das war etwas, worauf Jan immer achtete, weil ihn die Erinnerung an seinen ersten Kuss – mit der kettenrauchenden Anke – noch immer wie ein Alptraum verfolgte.

Die Frau sah ihm prüfend ins Gesicht, wie jemand, der überlegt, ob er auf ein Pferd wetten soll.

»Kommst du zur Aufführung heute Abend?«

»Ach, ich weiß nicht. Ich habe mir wirklich Mühe mit der Kulisse gegeben, und wenn ihr Titus aufführt, spritzt ihr bestimmt alles mit Blut voll. Ich weiß nicht, ob ich das ertrage.«

Sie versuchte, ein ernsthaftes Gesicht zu wahren, doch es gelang ihr nicht ganz.

»Ich werde versuchen, möglichst sauber zu sterben, versprochen.«

»Ich wäre dir sehr zu Dank verpflichtet«, erwiderte Jan und deutete eine Verbeugung an, wofür er ein weiteres Lächeln erntete.

»Ich muss zu den anderen Exoten aufschließen«, sagte die Frau und ging an ihm vorbei, »aber falls du es doch über dich bringst, wiederzukommen, kannst du mir ja vielleicht danach ein bisschen von Berlin zeigen.«

Jan blieb allein vor der Tür stehen und starrte ihr nach. Seit wann flirtete er denn wieder? Seit wann flirtete er überhaupt, ohne vorher mit dem Zaunpfahl links und rechts das Interesse der Dame übergebraten zu bekommen?

Das Foyer war bis auf ihn leer, als er diese Fragen mit einem Schulterzucken auf später verschob und sich aufmachte, um die verwaiste Hälfte des Kühlschranks aufzufüllen.

 

***

 

Silvia trug bereits ihr Kostüm, als Peter hinter die Bühne kam.

»So, da bin ich wieder«, sagte er fröhlich. »Hast du etwas zu essen bekommen, Sil? Falls nicht, habe ich eine Notfallstulle mitgebracht.«

Sie lächelte. Kaum jemand kümmerte sich so fürsorglich um sie wie ihr kleiner Bruder.

»Wir sind versorgt worden, danke.« Sie zögerte einen Augenblick. »Sag mal, Peter, ich habe vorhin jemanden kennengelernt. Er hat gesagt, er hat an den Kulissen gearbeitet. Kennst du ihn vielleicht?«

Peter sah nachdenklich an die Decke.

»Groß, hager, Haare so unordentlich, dass man fast glauben könnte, er hätte sie absichtlich so frisiert?«

»Genau der.« Vorfreude breitete sich in ihr aus.

»So jemanden hab ich noch nie gesehen.«

Silvia schloss für einen Moment die Augen.

»Peter«, sagte sie gedehnt.

»Ja, ja, schon gut.« Er lachte. »Das ist mein Freund Jan. Wir wohnen zusammen. Eigentlich sollte er auch bald hier sein.«

»Er kommt also?«

Ihr Bruder sah sie forschend an.

»Du bist aber sehr interessiert.«

»Und du bist eifersüchtig?«

»Ich brauche ihn. Wir brauchen uns gegenseitig! Wir sind eine symbiotische Verbindung eingegangen. Jan holt mir die Kekse aus dem obersten Regal, und ich melde ihm, wenn irgendwo Grubengas austritt. Du kannst ihn nicht mit nach Österreich nehmen. Er mag weder Käse noch Uhren.«

Nachsichtig tätschelte sie ihm die Wange.

»Du denkst gerade an die Schweiz, Peter. Und nach zwei Minuten reden nehme ich jemanden noch nicht einmal mit ins Bett, geschweige denn mit nach Wien.«

Jetzt kniff er die Augen zusammen.

»Sag doch nicht sowas. Ich will nicht wissen, unter welchen Umständen du wen mit ins Bett nimmst.«

Einer der Schauspieler näherte sich. Er war nicht ganz so groß wie Jan, aber breiter gebaut, und der Blick, den er Peter zuwarf, sagte deutlich, dass er sich ihm überlegen fühlte. Silvia fing schon an, genervt die Augen zu verdrehen, als er den Mund aufmachte.

»Belästigt dich der Kleine, Silvia?« Er hatte einen breiten Wiener Akzent, den er selbst auf der Bühne kaum unterdrücken konnte, und sie sah sofort, wie es in Peters Gesicht zu arbeiten begann. Er war nicht wütend. Wenn Leute beleidigend wurden, weil sie dachten, er könne sich nicht wehren – und das passierte leider häufiger –, begann er eher, sich über sie lustig zu machen. Silvia war klar, dass das in Verbindung mit dem wandelnden Ego vor ihr echte Probleme geben konnte. Sie seufzte schwer.

»Nein, Bruno, mein Bruder belästigt mich nicht.«

Bruno strich sein dunkles Haar aus der Stirn und warf einen prüfenden Blick auf Peter.

»Ah ja«, war alles, was er sagte. Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, da öffnete sich die Tür zum Bereich hinter der Bühne, und Jan kam herein. Er warf einen Blick auf die drei Leute vor ihm, und seine Haltung veränderte sich unmerklich. Silvia hatte das Gefühl, dass er die Situation genau richtig eingeschätzt hatte.

»Hallo«, sagte er unverbindlich und nickte in die Runde, wobei er Bruno im Blick behielt. Natürlich konnte er es nicht wissen, aber der Schauspieler war bekannt dafür, herumzupöbeln und auch schon einmal handgreiflich zu werden, wenn er jemanden weit genug provozieren konnte, den ersten Schlag zu führen. Natürlich war es nie seine Schuld – er war schließlich ein Star.

»Und wer bist du? Was hast du hinter der Bühne verloren?«, fragte Bruno streng, als ständen sie hier in seinem eigenen Vorgarten.

»Bühnenbild«, sagte Jan schlicht und zog ein wenig den Kopf zwischen die Schultern, um sich kleiner zu machen. Peters Mundwinkel zuckten jetzt.

»Du verstehst ihn, Jan? Ist ja Wahnsinn.«

Brunos Kopf ruckte herum, und seine Augen verengten sich.

»Wie war das?« Jetzt gab er sich plötzlich Mühe, deutliches Hochdeutsch zu sprechen, als hätte Peter ihn auf etwas aufmerksam gemacht, das ihm unangenehm war.

»Wie bitte?«, Peter sah Bruno ernsthaft verwirrt an. »Vernuschelst du deine Worte auf der Bühne auch so?«

Bruno wurde etwas rot, und Silvia bemerkte, wie Jan unruhig auf der Stelle trat, als könne er sich nicht entscheiden, ob er sich zwischen die beiden stellen oder lieber ganz weit weg sein wollte. Silvia konnte es ihm nicht verdenken. An Brunos Schläfe pochte eine Ader, doch Peter setzte trotzdem nach.

»Hast du mal über eine Sprachtherapie nachgedacht? Ich habe gehört, das kann Wunder wirken. Vielleicht rettet es deine Schauspielkarriere.«

»H…H…Hör mir mal gut z…zu, Kl…Kleiner …« Bruno unterbrach sich selbst. Nicht nur, dass er plötzlich stotterte, er hatte beim ›zu‹ auch so stark gelispelt, dass es Spucketröpfchen geregnet hatte. Schockiert hielt er inne, blickte nervös zwischen ihnen hin und her und machte dann auf dem Absatz kehrt. Jan und Silvia atmeten gleichzeitig auf.

»Irgendwann wirst du mal ganz üble Prügel beziehen, Peter«, prophezeite Jan. »Aber trotzdem beeindruckend, wie du wieder genau das Richtige gefunden hast.«

Silvia merkte auf.

»Wieder?«

»Da ich den meisten überheblichen Mistkerlen körperlich unterlegen bin, besiege ich sie mit Worten«, erklärte ihr Bruder mit einem Achselzucken. »Meistens reicht es schon, wenn ich das Ego von einem in Rauch aufgehen lasse, damit auch seine Freunde begreifen, dass sie mich besser in Ruhe lassen.«

»Es ist eine Gabe«, sagte Jan im Tonfall eines Mannes, für den gerade Wasser in Wein verwandelt worden war.

Peters Blick war jetzt kalt. So kannte Silvia ihn nicht.

»Oh bitte, so jemanden zu durchschauen, ist kinderleicht. Ist ja nicht so, als ob der gute Bruno einen allzu tiefgängigen Charakter hätte.«

»Das war aber doch sehr zielsicher«, mischte sich eine weitere Stimme ein, und Melanie, eine von Silvias Schauspielkolleginnen, trat zu ihnen. »Wusstest du«, fuhr sie leise fort, »dass Bruno damals an der Schule für seine Sprachfehler gehänselt wurde? Ich war in der Stufe unter ihm, und selbst bei uns Jüngeren wurden Witze über ihn gemacht. Er hat das dann mit einer Therapie überwunden.«

Peter wirkte nicht beeindruckt.

»Ich habe eben eine gute Menschenkenntnis. Solche Dinge fallen mir auf.«

 

»Also?«, fragte Melanie, als sie unter donnerndem Applaus die Bühne verlassen hatten. Silvia wischte sich etwas Theaterblut von der Wange.

»Also was?«

»Ich habe gesehen, wie du mit dem Freund von deinem Bruder geflirtet hast – nein, streit es gar nicht erst ab! Jedesmal, wenn du von der Bühne gegangen bist, habt ihr euch angelächelt.«

Silvia spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Plötzlich war sie froh über die dicken Lagen Schminke, die sie für die Aufführung trugen.

»Ich mag Jan«, gab sie zu. »Aber das war es auch schon. Ich kenne ihn gar nicht richtig, und für eine Fernbeziehung bin ich nicht gemacht.«

Melanie schnaubte enttäuscht.

»Mensch, Silvia, du denkst vielzuviel. Willst du dein Leben lieber mit Logik als mit Romantik füllen?«

»Wenn ich mich für eins von beidem entscheiden muss … Ja.« Sie lachte. »Ich bin noch ein paar Tage hier, vielleicht kann ich mal mit ihm ausgehen, wenn dich das glücklich macht.«

Melanie verdrehte die Augen.

»Oh ja, das habe ich mir schon immer gewünscht. Danke.« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus, aber Silvia und sie neckten einander ständig und wussten, dass es freundschaftlich gemeint war. »Wie wäre es, wenn du jetzt gleich zu ihm gehst?«

»Wie wäre es, wenn ich mich erst mal abschminke und etwas anziehe, das nicht voller Blut ist?«

Melanie lehnte ihren Kopf kurz an Silvias Schulter.

»Du verstehst doch etwas von Romantik!«

»Nein, das war Logik. So wie ich jetzt aussehe, würde ich mich selbst nicht auf eine Verabredung mitnehmen wollen.«

Melanie lachte.