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Westend Verlag

Ebook Edition

Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki im Streitgespräch –
moderiert von August Everding

Prima la musica, dopo le parole

Westend Verlag

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ISBN 978-3-86489-715-3

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Rechte: LOFT music GmbH, Dr. Manfred Frei, Gauting

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Die Richard-Strauss-Tage
Prima la musica
Eine Talkshow
Glossar

Die Richard-Strauss-Tage

in Garmisch-Partenkirchen wurden im Jahre 1989 gegründet und zum ersten Male durchgeführt. Im 7. Jahre ihres Bestehens gelang es, zwei Höhepunkte nach Garmisch zu holen: Zum einen die Oper »Salome« von Richard Strauss und Oscar Wilde. Dafür reisten mein Partner und ich nach New York und viele andere Orte, um mit Waleri Gergijew und seinem Mariinsky-Theater diese Oper zu realisieren. Es gelang nach vielen Verhandlungen dieses Werk im Rahmen der Richard-Strauss-Tage zum ersten Mal im Passionstheater Oberammergau aufzuführen. In dem heiligen Haus waren bis dahin nur die reinen Passionsspiele erlaubt. Und nun zum ersten Mal in der ca. 300-jährigen Geschichte des Hauses wurde ein »weltliches« Werk zugelassen. Wir waren sehr stolz darauf. Dieses Ereignis fand am 23. Juni 1995 statt.

Zum anderen gelang es mir, drei der bedeutendsten deutschsprachigen Musik- und Sprachwissenschaftler nach Garmisch einzuladen. Es waren die Professoren August Everding, Joachim Kaiser und Marcel Reich-Ranicki, die nach vielen Gesprächen das erste Mal zusammen auf einer Bühne diskutierten. Wir waren glücklich, dass der 3sat/ZDF sowohl die »Salome« als auch einen Tag später, am 24. Juni, das Gespräch der drei großen und eloquenten Meister aufzeichnete.

Die Oper »Salome«, ein Einakter von Oscar Wilde, erhielt ihr Libretto von Richard Strauss selbst (nach Oscar Wilde). Strauss hatte schon früher ganz eigenständige Libretti zu seinen Opern geschrieben: So z.B. für seine erste Oper »Guntram«, noch ganz im Stile Wagners, der ja auch der Verfasser seiner Opernlibretti war. Strauss änderte diese Praxis erst, nachdem er Hugo von Hofmannsthal als kongenialen Librettisten für seine Werke gefunden hatte.

Ein Blick zurück in die Frühzeit der Oper, als die Frage »Prima la musica« oder »Prima le parole« noch völlig ungeklärt war.

Seit Giulio Caccini zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Kontrapunkt als den Zerstörer des Wortsinnes attackierte, wurde der Leitsatz: »Prima le parole, dopo la musica« (zuerst der Text, dann die Musik) zum ästhetischen Postulat der Opernkomponisten, nicht nur Italiens. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts formulierte der Hamburger Opernlibrettist Berthold Franz nicht weniger lapidar: »Die Musik ist wegen der Verse da, nicht umgekehrt«, und kein Geringerer als Christoph Willibald Gluck argumentierte 1769 im Vorwort zur Oper »Alceste« eindringlich für den Vorrang der dichterischen Vorlage: »Ich suchte die Musik zu ihrer wahren Bestimmung zurück zu führen, die darin besteht, die Poesie zu unterstützen …«. Dennoch waren die Ansichten über das Verhältnis von Poesie und Musik nicht mehr so einhellig wie ehedem. Das Wort begann sein absolutes Primat über die Musik zu verlieren. Schon ab 1778 äußerte sich Mozart, unter dem Einfluss der modernen italienischen Oper seiner Zeit stehend, in einem Brief: »…und ich weiß nicht, bei einer Oper muss schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein …«.

Kommen wir zurück zu Richard Strauss. Als der Dichter Stefan Zweig nach unverbrauchten Stoffen für Richard Strauss suchte, faszinierte ihn der Titel »Prima la musica e poi le parole«. Zweig erkannte instinktiv, dass dieser Stoff, der das Grundproblem der Opernästhetik anschnitt, einem Komponisten wie Richard Strauss glänzende Möglichkeiten zu einem künstlerischen Lehrstück bot. Als Strauss von dem neuen Plan seines Librettisten erfuhr, stimmte er spontan zu und bat Zweig, das Szenario zu entwerfen. Da dieser wegen der politischen Verfolgung als of­fizieller Mitarbeiter ausschied, wandte sich Strauss an Joseph Gregor und veranlasste ihn, sich mit Zweig in der Schweiz in Verbindung zu setzen. In gemeinsamen Gesprächen am Züricher See modellierten beide Szene um Szene der neuen Oper, die inzwischen den Titel »Capriccio« erhalten hatte. Als erste Figur entstand der gebärdenreiche Schauspieldirektor, dem sie stark karikierte Züge Max Reinhardts verliehen. Dann, 1935, brach die Zusammenarbeit ab. Erst im Jahre 1939 kam Strauss auf die Farce Castis zurück. Am 14. September 1939 wandte er sich hilfesuchend an Clemens Krauss: »…ich mag eigentlich keine Oper mehr schreiben, sondern möchte mit dem Casti etwas ganz Ausgefallenes, eine dramaturgische Abhandlung, eine theatralische Fuge schreiben.«. Krauss fing den Ball auf und entwickelte einen brauchbaren Plan, riet aber schließlich, Strauss solle das Stück selber schreiben, wie beim »Intermezzo«. Strauss folgte dem Rat, zog aber Clemens Krauss immer mehr in die Ausarbeitung hinein, so dass dieser schließ­lich vom bloßen Ratgeber und Mentor in historischen Detailfragen zum eigentlichen Librettisten avancierte. Strauss hatte den Dichter des »Capriccio« gefunden. In diesem Konversationsstück über die Abhandlung und Bedeutung von Musik und Wort bleibt schließlich die Frage offen, welche der beiden die Dominanz hat.

Das gilt auch für andere kongeniale Librettisten und Komponisten, für die Arbeiten von Lorenzo da Ponte (für Mozart), Arrigo Boito (für Verdi) oder Hugo von Hofmannsthal (für Richard Strauss). Ebenso unbestreitbar ist die Tatsache, dass ohne diese guten Texte die hierauf komponierte Musik nicht entstanden wäre. Es muss also irgendetwas an dem Stoff und seiner sprachlichen Verarbeitung den Komponisten zur Vertonung gereizt.

Und so schließt auch unsere hier vorgestellte Diskussion in kryptischer Betrachtung:

August Everding beschließt die Veranstaltung mit einem Zitat des Gesprächs zwischen Flamand und Olivier aus »Capriccio«: »Da sind wir also, verliebte Feinde, freundliche Gegner. Wort oder Ton? Wie wird er entscheiden: Prima le parole – dopo la musica! Prima la musica – dopo le parole!. Ton und Wort sind Bruder und Schwester. Ein gewagter Vergleich!«

Dem Westend Verlag und Herrn Karsten sei gedankt, dass er nach einer Fernsehübertragung im 3sat spontan beschloss, das Gehörte und Gesehene auch in Buchform herauszubringen.

Auch posthum ist es uns ein Anliegen, den drei großen Persönlichkeiten zu danken, dass sie uns ein schönes und lebendiges Beispiel einer Diskussion über ein Hauptthema der Oper hinterlassen haben.

Manfred Frei

Gautingen bei München, 2018

* gemeint ist 1989

** Marcel Prawy (1911–2003), der später noch zu Wort kommen wird, war ein österreichischer Opernkritiker und Dramaturg. Er war eng befreundet, mit vielen Künstlern, wie Leonhard Bernstein, Placido Domingo oder Robert Stolz. Die letzten zehn Jahre seines Lebens wohnte er im berühmten Hotel Sacher, direkt gegenüber der Wiener Staatsoper.

*** Gemeint ist: Wiener Staatsoper

Eine Talkshow

– ist eine Talkshow ist eine Talkshow… Heutzutage oft gescholten ob ihrer Austauschbarkeit und Eindimensionalität des oberflächlichen Schlagabtauschs sich ähnelnder Floskeln. Früher hießen diese Sendungen nicht Talkshows, sondern Gesprächsrunden. Das waren noch Zeiten, in denen an einem runden Tisch mit klugen und widerstreitenden Argumenten gestritten, mit gepflegten und gut gesetzten Worten um den Kern gerungen wurde. Zuhören und ausreden lassen. Es herrschte noch Diskussionskultur.

1995 gemeinsam an einem Tisch: Drei herausragende Persönlichkeiten der damaligen kulturellen Welt. August Everding, der feinsinnige und verbindliche Kommunikator, Marcel Reich-Ranicki, der extrovertierte Rebell mit dem weichen Kern sowie Joachim Kaiser, der verschmitzte und blitzscharfe Denker.

Drei Koryphäen aus Musik und Literatur diskutieren einen Dauerbrenner. Ein zeitloses, immer wieder aktuelles Phänomen. Prima la musica, dopo le parole. Was ist wichtiger in der Welt der Oper? Was hat Vorrang? Die Musik – oder die Worte? Diese Konkurrenzsituation zwischen Musik und Wort wurden in der Opern von Antonio Salieri »Prima la musica, poi le parole« und »Capriccio« von Richard Strauss zum Thema gemacht. Durchdekliniert in zahlreichen Abhandlungen – aber nie so grundlegend und geistreich diskutiert wie in dieser Gesprächsrunde!

Ich hatte das Glück als junge Fernsehredakteurin diese einmalige Star-Formation, das Trio August Everding, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser im Rahmen der »Richard Strauss Tage« 1995 in Garmisch-Partenkirchen zu erleben und zu »bändigen«. Drei Alpha-Tiere im ZDF/3sat mit einem jeweils sehr hohen Grad an sympathischen Eitelkeiten. Wer sitzt wo am Tisch, welche Kameras sind in welcher Größeneinstellung auf wen gerichtet, welchen Redeanteil hat wer – gerade, was nachher auf dem Schirm scheinbar selbstverständlich zum Zuschauer dringt, bedarf der minutiösen Vorbereitung, genauen Absprachen mit den Protagonisten sowie dem Fernsehteam.

August Everding war als Moderator dieser Gesprächsrunde die perfekte Besetzung. Ich kannte ihn von zahlreichen Begegnungen. Verlässlich, charmant und mit allen musikalischen Wassern gewaschen. Er war regelmäßiger Gastgeber in unserer 3sat-Studiosendung Da capo. Hier interviewte er über viele Jahre Sängerinnen und Sänger, lebende Legenden. Von Birgit Nilsson über Kurt Moll und René Kollo bis zu Grace Bumbry.

Marcel Reich-Ranicki war ich vor dieser Veranstaltung noch nicht persönlich begegnet. Er faszinierte mich vor Ort mit seiner Spontaneität und seinem Humor. Später wurde er zur Legende als Gastgeber des Literarischen Quartetts im ZDF. Auch als Gesprächspartner in meinen eigenen TV-Dokumentationen war er mein Favorit. Keiner von den vielen »O-Ton-Gebern«, die ich jemals vor der Linse hatte, trat so leidenschaftlich auf, konnte so präzise auf den Punkt formulieren. Und: Er liebte die Musik mindestens ebenso wie die Literatur und das Leben.

Der damals dritte Musik- und Medienprofi im Bunde war Joachim Kaiser. Es ist ein Vergnügen seinen wohl gewählten Worten zu folgen und seinen feinsinnigen Zwischentönen nachzuspüren. Später war er auch für meine Dokumentationen einer meiner Lieblings-Gesprächspartner, unter anderem in meinem Film über die »Richard Strauss Tage 2005«. Keiner war in seinen Kommentaren so eloquent und hintergründig zugleich.

Bis heute werde ich immer wieder von Zuschauern, Kollegen und Musikliebhabern auf diese lang zurückliegende Sendung angesprochen. Drei herausragende Persönlichkeiten diskutieren über ein in unserer heutigen Zeit scheinbar nebensächliches Thema. So profund und enthusiastisch, dass es eine Freude ist. Als Verbündete im Geiste schlagen sie Brücken in unsere Zeit, zum Zuschauer und nun auch zum Leser.

Danke von Herzen, dem Westend Verlag, für die »Neuentdeckung« der alten Runde.

Martina Mattick-Stiller

TV-Kulturredakteurin ZDF/3sat

Prima la musica

Everding:

Seit sieben Jahren,* meine Damen und Herren, wird auch bei den Richard-Strauss-Tagen gestritten; und so hoffentlich auch heute. 1989 haben wir gestritten, wie man Richard Strauss heute inszenieren sollte. Dann von der Elektra zum Rosenkavalier: Fortschritt oder Umkehr? Dann die Person Richard Strauss: Kein Heldenleben, ein Heldenleben? Die schlimmen Nietzsche-Brüder Philosophie und Religion bei Herrn Strauss. Und dann Richard Strauss: Ein Reaktionär inmitten der Moderne? Und: Richard Strauss und Bayreuth.

Aber heute geht es um Prima la musica, e poi le parole: Zuerst die Musik, dann die Worte? Ein langes Streitgespräch, seit Jahrhunderten diskutiert man darüber. Im 17. Jahrhundert in Italien hat man natürlich gesagt: »Nein, zuerst die Worte – prima le parole – und dann erst die Musik.« Aber Gluck hat ganz eindringlich für den Vorrang der Dichtung plädiert. Mozart, der schrieb 1778, dass bei einer Oper schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein müsse. Und schließlich hieß ein Libretto vom berühmten Giambattista Casti Prima la musica e peu de parole. Das hat Antonio Salieri dann übernommen und eine Oper komponiert, die mit Mozarts Schauspieldirektor zusammen uraufgeführt wurde. 150 Jahre später, da fand der Stefan Zweig dieses Textbuch Prima la musica und hat gesagt: »Mensch, das ist ein herrlicher Stoff für Richard Strauss«, und Strauss stimmte spontan zu. Daraufhin schrieb er Clemens Krauss, er wolle eigentlich keine Oper mehr komponieren, aber mit dem Casti möchte er etwas ganz Ausgefallenes, eine theatralische Fuge schreiben: Verstandestheater, Kopfgrütze, trockene Witze. Und heraus kam Capriccio. Und wie sagt der Theaterdirektor La Roche in Capriccio: »Der Arie ihr Recht, auf die Sänger nimm Rücksicht, nicht zu laut das Orchester.« Und was sagt der Diener in Capriccio? »Eine Oper, was ist das? Ein Unsinn, den man singt, weil er zu dumm ist, um gesprochen zu werden.« Aber, das kann man doch von Lorenzo da Ponte und von Hofmannsthal wohl nicht sagen. Gibt es überhaupt eine prima und eine secunda? Vor allem bei Strauss? Darüber diskutieren mit mir Professor Joachim Kaiser und Professor Marcel Reich-Ranicki. Ich begrüße voller Ehrfurcht zwei Börne-Preisträger. Sie wissen, Börne vereinte in seinem Leben, was unvereinbar schien, aber über seinen Preis hat er zwei vereinigt, Reich-Ranicki und Kaiser, das ist schon was. Meine Herren, gibt es eigentlich bei Börne so etwas wie ein Opern-Libretto?

Reich-Ranicki:

Nein.

Everding:

Nichts?

Reich-Ranicki:

Nein. Er hat sich viel mit Opern beschäftigt und auch allerlei darüber geschrieben. Wer hat nicht über Opern geschrieben? Das ist ja ein dankbares Thema, da kann jeder sagen, was er will.