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Ashley Carrington

Valerie

Erbin von Cotton Fields

Roman

hockebooks

Für
R. M. S.,
der mich lehrte, dass
der schwächste und zugleich
auch stärkste Teil des Körpers
die Seele ist.

England 1860

1.

Der Wind heulte um das einzeln stehende Wirtshaus an der Landstraße nach Bristol, rüttelte an den Fensterläden und tobte durch die ausladenden Kronen der drei Eichen, die das gedrungene Fachwerkhaus umstanden und der Taverne ihren Namen gegeben hatten: Three Oak Tavern. Wild schlug das Tavernenschild, dessen Aufschrift von Wind und Wetter verblichen war, an der Stange über der Eingangstür hin und her. Das Quietschen und Scheppern vermischte sich mit dem Toben des Märzunwetters, das sich am Abend über der Westküste Englands zusammengeballt hatte. Heftige Böen schleuderten die Regenfluten wie Peitschenhiebe gegen Dach und Mauerwerk. Der gelbliche Lichtschein, der durch die Türritze und einige Fensterläden in die Nacht hinausdrang, wurde schon nach wenigen Yards von der regendurchtränkten Dunkelheit verschluckt.

»Wir müssen es ihr sagen, Ruth!«, sagte Charles Fulham mit matter Stimme und richtete sich im Bett auf, das den größten Teil des oberen Eckzimmers der Taverne einnahm. Obwohl Charles Fulham ein massiger Mann von fünfundsechzig Jahren war, wirkte er in dem großen Bett mit seinen hohen geschnitzten Pfosten aus dunklem Holz wie verloren. Und die Blässe seines Gesichtes hob sich kaum von den blütenweißen Bezügen ab. Er fühlte sich sichtlich elend, und daran war nicht allein der plötzliche Schwächeanfall schuld, der sie knapp zwanzig Meilen vor Bristol gezwungen hatte, ihre Reise mit der Kutsche zu unterbrechen und sich in dieser Taverne einzuquartieren, bis er wieder bei Kräften war. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit!«

»Der Herrgott wird dir nicht mehr viel Zeit lassen, wenn du nicht ruhig liegen bleibst, Charles!«, erwiderte seine Frau energisch und reichte ihm den Tee, den die Tochter des Wirtes vor wenigen Augenblicken aufs Zimmer gebracht hatte. »Hier, trink das. Heißer Tee wird dir guttun. Er ist mit viel Zitrone. Das bringt die Farbe in dein Gesicht zurück. Du siehst schrecklich bleich aus.«

»Ein guter Brandy brächte mich schneller auf die Beine«, seufzte er, setzte die Tasse jedoch an die Lippen, weil er wusste, dass seine Frau nicht eher Ruhe geben würde, bis er getan hatte, was sie für richtig hielt. Nachdem er getrunken hatte, kam er wieder auf das zu sprechen, was ihm die letzten Stunden keine Ruhe gelassen und möglicherweise dazu beigetragen hatte, dass er in der Kutsche von Herzbeschwerden und einer drohenden Ohnmacht befallen worden war. »Es ist nicht richtig, dass wir Valerie so ahnungslos auf die Reise schicken. Sie ist neunzehn und längst kein Kind mehr. Noch haben wir die Chance, sie sanft darauf vorzubereiten. Sie wird es verkraften, wenn wir nur behutsam vorgehen. Ich habe lange darüber nachgedacht und …«

»Ich auch, Charles«, unterbrach sie ihn ohne Schärfe und griff nach seiner Hand. »Und ich wünschte, wir könnten es Valerie zusammen sagen. Aber wir haben auf die heilige Bibel geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren. Das war die Voraussetzung gewesen, sonst hätten wir nie das Glück gehabt, sie wie unser eigenes leibliches Kind aufziehen zu dürfen.«

»Aber sie weiß doch schon längst, dass wir nicht ihre leiblichen Eltern sind!«

»Ja, aber mehr auch nicht. Und mehr ist uns auch nicht zu sagen erlaubt. Wir haben stets gewusst, dass dieser Tag einst kommen würde, und wir haben dies von Anfang an in Kauf genommen. Jetzt müssen wir dazu stehen und stark sein – wie auch Valerie stark sein muss, wenn sich für sie die Schleier ihrer Vergangenheit lüften. Doch wir haben nicht das Recht dazu, wie du sehr wohl weißt. Wenn auch vieles, was im Brief stand, vage formuliert war, in diesem Punkt war er klar und nachdrücklich«, erinnerte sie ihn.

»Ich weiß«, sagte Charles bedrückt. »Aber es erfüllt mich mit Sorge, dass wir sie so gehen lassen müssen. Wir mögen sie nicht gezeugt haben, aber dennoch bleibt sie stets unser Kind. Wie können wir sie da unvorbereitet auf eine so lange Reise ins Ungewisse schicken?«

Ruth atmete tief durch. »Gerade weil sie unser Kind ist, müssen wir sie jetzt gehen lassen, Charles. Es ist ja nicht für immer. Valerie kehrt in ein paar Monaten wieder nach England zurück. Sie liebt uns, wie wir sie lieben, aber sie hat ein Recht darauf, alles über ihre Herkunft zu erfahren – doch nicht von uns.«

Charles sah Tränen in den Augen seiner Frau schimmern, und ihm wurde noch elender ums Herz. »Jetzt ist es uns noch nicht einmal vergönnt, sie bis aufs Schiff zu bringen.«

»Es ist egal, wo man Abschied voneinander nimmt. Wichtig ist nur, mit welchen Gefühlen man das tut – und da ist dieser Ort so gut wie jeder andere«, versuchte sie ihren Mann und sich zu trösten.

Es klopfte.

Charles vergewisserte sich, dass sein grau-seidener Morgenmantel geschlossen war. Dann ging seine Frau zur Tür und öffnete.

Es war Valerie. Sie hatte sich in der Zwischenzeit darum gekümmert, dass Isaac, ihr in treuen Diensten ergrauter Kutscher, auch die richtigen Gepäckstücke abgeladen hatte. Eigentlich wäre das Fannys Aufgabe gewesen. Doch da es sich um eine sehr weite Reise handelte, hatte sie das lieber selber in die Hand genommen. Als Zofe war die mollige Fanny eine Perle, doch manchmal fehlte es ihr am Überblick, wenn es zu viele Dinge auf einmal zu bedenken gab.

»Wie geht es ihm, Mama?«, fragte Valerie leise, und tiefe Sorge sprach aus ihrer angespannten Stimme. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Pflegeeltern anders als Mama und Papa zu bezeichnen, auch nicht, als sie ihr vor Jahren eröffnet hatten, dass sie nicht ihre richtigen Eltern waren. Und daran würde sich für sie auch nie etwas ändern. Niemand auf der Welt hätte ihr mehr Liebe schenken können als Ruth und Charles Fulham, davon war sie so felsenfest überzeugt wie von der Schönheit des herrschaftlichen Hauses in Bath, das immer ihr geliebtes Zuhause sein würde.

»Ich glaube, es geht ihm schon ein bisschen besser, mein Kind«, beruhigte Ruth sie und zwang sich zu einem Lächeln. Es war keinem damit gedient, wenn sie sich anmerken ließ, wie es in ihr aussah.

Ein schmerzlicher Stich durchfuhr Charles, als er Valerie an sein Bett eilen sah. Stolz und Liebe erfüllten ihn, und er schaute sie an, als wollte er ihr Bild für immer bis auf das kleinste Detail genau in seiner Erinnerung bewahren.

Valerie war eine Schönheit, bei Gott, das war sie! Schlank und doch nicht zu zierlich, um wie ein zerbrechliches Wesen zu wirken, entsprach sie dem europäischen Schönheitsideal auf fast perfekte Weise – auch was ihre fraulichen Formen betraf, wie er sich mit einiger Verlegenheit eingestehen musste. Zwar trug sie ein hochgeschlossenes Reisekostüm aus currybraunem Gabardine, das dem unfreundlichen Märzwetter angemessen war, doch ihre schlanke Taille und ihre volle, hohe Brust waren nicht zu übersehen.

Valerie gehörte überhaupt in keiner Hinsicht zu denjenigen, die leicht übersehen wurden. Dafür sorgte schon ihr üppiges, schwarzes Haar, das je nach Lichteinfall einen warmen Blauschimmer zeigte. Ihre Haarpracht wurde von einem elfenbeinernen Kamm mit Schließe im Nacken zusammengehalten und fiel ihr von dort wie eine schwarze Flut bis auf die Schultern.

Ihre Augen, die unter sanft geschwungenen Brauen und dichten Wimpern lagen, waren von einem ungewöhnlichen Grau, in dem winzige Goldflocken zu glitzern schienen. Eine wohlgeformte Nase und ein hübscher Mund vervollständigten ihr Gesicht, das kein Mann so schnell vergaß – und das traf auch auf ihre Haut zu, die von leicht cremefarbener Tönung war, wie Milch mit einem Tropfen heißer Schokolade vermischt. Sie sah nicht wie eine typische Engländerin aus, sondern eher wie eine exotische Schönheit aus dem südländischen Raum.

Valerie setzte sich zu ihrem Vater ans Bett. »Aber blass bist du immer noch, Papa«, sagte sie voller Sorge. »Du hättest gar nicht erst die Reise antreten dürfen. Es war leichtsinnig von dir.«

»Ach was! Unkraut vergeht nicht, schon gar nicht so ein gewichtiges«, gab sich Charles betont munter und verschloss seine quälenden Gedanken vor ihr. Nichts sollte die letzte halbe Stunde vor ihrem Abschied trüben. »Es war der Wetterumschwung, sonst nichts. Es wird Zeit, dass der Frühling kommt. Mach dir also wegen mir keine Sorgen. Ich bin schnell wieder auf den Beinen. Eigentlich gibt es gar keinen Grund, weshalb ich im Bett liege wie ein kranker Mann. Aber du kennst ja deine Mutter. Ein leichtes Hüsteln, und schon wähnt sie eine Lungenentzündung im Anmarsch.«

Ein schwaches Lächeln huschte über Valeries Gesicht. »Einer muss ja auf dich aufpassen.«

Charles Fulham machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sprechen wir nicht von mir und meinem leichten Unwohlsein. Krankheiten kann man auch herbeireden. Also Schluss jetzt mit dem Thema.«

»Hast du all dein Gepäck zusammen?«, fragte Ruth, immer auf das Praktische bedacht. »Dass du bloß nichts vergisst.«

»Fanny hatte schon den Koffer mit meinen Hutschachteln zu euren Sachen gestellt. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, wäre es sicherlich nicht bei dieser einen Verwechslung geblieben. Statt meiner Kleider hätte ich auf dem Schiff dann Papas Anzüge vorgefunden«, berichtete Valerie mit einem Kopfschütteln und fügte nachsichtig hinzu: »Die ganze Aufregung der Reise und dein plötzlicher Schwächeanfall haben sie wohl ein bisschen überfordert. Ihr wisst, Fanny liebt mehr das ruhige Gleichmaß.«

»Du lässt ihr zu viel durchgehen, mein Kind. Es täte Fanny ganz gut, wenn du ihr gegenüber manchmal etwas mehr Strenge an den Tag legen würdest«, mahnte Ruth. »Du musst dich auf sie verlassen können, ganz besonders jetzt, wo wir nicht bei dir sein können.«

Ein Schatten fiel über Valeries Gesicht. »Manchmal wünschte ich, der Brief aus Amerika wäre nie bei uns eingetroffen«, seufzte sie. »Dann bräuchte ich jetzt nicht von euch zu gehen, und alles würde so sein, wie es immer war.«

»Das Leben geht nun mal nicht immer den Weg, den man sich selbst am meisten wünscht«, erwiderte Charles.

»Was würde denn passieren, wenn ich das Schiff nach Amerika nicht bestiege?«, wandte Valerie ein.

»Lass uns nicht wieder davon anfangen, mein Kind«, bat Ruth. »Du weißt, es führt zu nichts.«

»Ich werde dir sagen, was dann passieren wird«, antwortete Charles ihr. »Erst einmal wird gar nichts passieren, Valerie. Du wirst vielleicht erleichtert sein, dass du diese lange Reise nicht antreten musst und dein Leben in Bath wie gewöhnlich gestalten kannst. Doch diese trügerische Erleichterung wird nicht ewig dauern. Früher oder später wirst du es bitter bereuen, dass du die Reise nicht angetreten hast. Du wirst dir den Kopf zermartern und dich fragen, was geschehen wäre, wenn du es getan hättest. Du wirst uns Vorwürfe machen, dass wir dich nicht stärker gedrängt haben …«

»Das werde ich nie!«, versicherte Valerie.

Er lächelte milde, doch in seinen Augen lag Schmerz. »O doch, das würdest du, und du hättest auch ein gutes Recht, es zu tun. Nein, mein Kind, du musst diese Sache hinter dich bringen, sonst würdest du bis an dein Lebensende niemals das quälende Gefühl loswerden, etwas ganz Entscheidendes leichtfertig verspielt zu haben.«

Ruth nickte bekräftigend. »Es ist, wie Charles sagt. Du musst es tun, Valerie, schon um deines Seelenfriedens willen.«

Valerie spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne, die sie um ihren Zeigefinger wickelte. »Es ist alles nur so merkwürdig, ja fast geheimnisvoll«, begann sie zögernd und bemerkte nicht den beunruhigten Blick, den Ruth und Charles sich zuwarfen. »Warum erfahre ich erst jetzt, dass mein … mein leiblicher Vater nicht vor neunzehn Jahren an Gelbfieber gestorben ist, sondern all die Jahre gelebt hat?«

Charles räusperte sich umständlich, um seine innere Unruhe zu verbergen, die der Zwang zur Lüge in ihm auslöste. »Das wissen wir auch nicht. Auch wir waren bisher der festen Überzeugung, dass dein Vater unter den zahlreichen Opfern war, die im Jahr deiner Geburt in New Orleans zu beklagen waren. Es ist in der Tat ein Geheimnis.«

»Warum hat er in seinem Brief an mich darüber kein Wort verloren?«, wollte Valerie wissen, einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht.

Ruth legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Das hat Mister Duvall, wie du sehr wohl weißt. Er hat geschrieben, dass er dir auf all deine Fragen Antworten wird geben können, die alles erklären und dich überzeugen werden, dass er nicht anders hatte handeln können, als er es getan hat. Und dass du ihm vertrauen sollst.«

»Wie soll ich ihm vertrauen, wo ich ihn doch gar nicht kenne?«, begehrte Valerie auf, und ihr hitziges Temperament, das manchmal mit ihr durchging, kam zum Vorschein. »Er ist ein Fremder für mich, nicht weniger fremd als Millionen anderer Amerikaner. Ich weiß nichts über ihn bis auf seinen Namen – Henry Duvall. Er kann tausendmal darauf pochen, dass er mein Vater sei. Ich werde ihn nie als solchen akzeptieren. Ihr seid meine Eltern und niemand sonst!«

»Zügle dein Temperament! Das geziemt sich nicht für eine junge Dame!«, tadelte Ruth sie, doch ein weicher Zug voll Zärtlichkeit lag um Mund und Augen. »Mister Duvall wird seine Gründe haben, und du bist zumindest dazu verpflichtet, sie dir anzuhören. Welche Schlüsse du aus seinen Erklärungen ziehst, das ist dann ganz dir überlassen.«

»Willst du denn nicht wissen, wer du wirklich bist und woher du kommst?«, fragte Charles forschend und wünschte im selben Moment, er hätte diese Frage nicht gestellt.

Valerie zögerte und biss sich auf die Unterlippe. Wie oft hatte sie in den Nächten der letzten Woche seit Ankunft der beiden Briefe, von denen einer an sie gerichtet gewesen war, wach gelegen und sich gefragt, wer ihre wirklichen Eltern waren und was für ein Geheimnis sich um ihre Herkunft rankte. O ja, diese Frage beschäftigte sie sehr. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie auch Angst, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Und sie hatte in letzter Zeit den verwirrenden Eindruck bekommen, als gäbe es da etwas, was Charles und Ruth wussten, ihr aber vorenthielten. Gewiss, solch ein Gedanke war eigentlich absurd, aber dennoch konnte sie sich dessen nicht erwehren.

»Ich werde immer die bleiben, die ich bin«, erklärte Valerie, und aus ihrer Antwort sprachen Stolz, Trotz und die Naivität einer jungen Frau, die bisher eine wohlbehütete, sorgenfreie Jugend in der Sicherheit eines begüterten Elternhauses genossen hatte und noch nicht mit den vielfältigen Widrigkeiten und Schattenseiten des Lebens in Berührung gekommen war.

»Das hoffen wir auch«, sagte Ruth.

Valerie sah sie eindringlich an. »Gibt es vielleicht noch irgendetwas, das ich wissen sollte, Mama?«

Ruth Fulham spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, hatte sich jedoch ausgezeichnet in der Gewalt. Ihrer Miene war nicht das Geringste anzusehen, bestenfalls perfekt gespielte Verwunderung über diese Frage. »Ich wüsste nichts, mein Kind.«

Charles griff nach seiner goldenen Taschenuhr, um dem Blick seiner Tochter nicht begegnen zu müssen. Er ließ den Deckel aufklappen und hielt die Uhr mit gefurchter Stirn an sein Ohr, als traute er dem gleichmäßigen Ticken nicht. »Es wird allerhöchste Zeit für dich«, sagte er dann und erstickte Abschiedsschmerz und Gewissensbisse in einer Flut von Worten. »Spätestens um Mitternacht musst du an Bord der Alabama sein, Valerie. So steht es in der Nachricht von Captain Melville. Mitternacht und keine halbe Stunde später. Ein Segelschiff wartet mit dem Auslaufen nicht auf einen verspäteten Passagier, wenn die Gezeiten günstig stehen. Du musst dich mit Fanny geschwind auf den Weg machen. Wer weiß, wie lange ihr bei diesem Wetter für den Rest der Strecke bis nach Bristol braucht. Und Isaacs Augen sind auch nicht mehr die besten.«

»Ja, du musst aufbrechen«, drängte nun auch Ruth und erhob sich. Valerie blickte zögernd von einem zum andern, dann fiel sie Charles mit Tränen in den Augen um den Hals und drückte ihn ganz fest. »Ich bin, so schnell es geht, wieder zurück, das verspreche ich euch«, sagte sie mit erstickter Stimme.

»Wir erwarten auch nichts anderes, Valerie. Aber jetzt lass mir noch etwas Luft, sonst bin ich gleich wirklich krank«, brummte Charles und schnäuzte in ein Tuch, um seine Rührung zu verbergen.

Auch Ruth war um Haltung bemüht. Sie umarmte Valerie und schloss die Augen, als diese es nicht sehen konnte. Als sie ihr Kind wieder freigab, war ihr Gesicht so beherrscht wie eh und je. »Ich wünsche dir eine gute Reise, und vergiss nicht, dich auf dem Schiff immer warm anzuziehen, damit du dir nichts holst! Und schreibe uns sofort, sowie du in New Orleans angekommen bist.«

»Ich werde euch schon vom Schiff schreiben«, versicherte Valerie. Es klopfte ungeduldig an die Tür.

»Ja?«, rief Ruth Fulham schroff, ungehalten über die Störung gerade in diesem Moment. Wer wusste, wie viele Monate vergehen würden, bis sie sich wiedersahen.

Frances Marsh, von allen nur Fanny genannt, steckte ihren rotblonden Kopf zur Tür herein. Sie war sechs Jahre älter als ihre Mistress und hatte mit Valerie auch sonst nicht viel gemein. Sie war von eher kleiner, untersetzter Figur und so mollig, wie Valerie schlank war. Gebäck und Süßigkeiten aller Art waren neben Klatsch und hübschen Kleidern ihre Leidenschaft. Sie besaß ein sehr fröhliches, ansprechendes Gesicht, das jedoch jetzt ernste Besorgnis zeigte.

»Bitte vielmals um Entschuldigung, aber Isaac lässt fragen, wann es denn nun weitergehe«, sagte Fanny und warf schnell einen Blick auf Charles Fulham, der mit vor der Brust verschränkten Armen aufrecht im Bett saß und sich ein grimmiges Aussehen gab, als verstünde er den Rummel, der seinetwegen gemacht wurde, überhaupt nicht. Fanny war auch gleich erleichtert, als sie sah, dass er noch weit davon entfernt war, einem Leichenbestatter Freude zu machen – wie Isaac vorhin im Stall voller Kummer befürchtet hatte.

»Sag ihm, dass er sich bereithalten soll«, trug Ruth ihr auf. »Valerie kommt sofort.«

Valerie nickte ihrer Zofe zu, und Fanny eilte davon, nachdem sie einen kurzen Abschiedsgruß an ihre Herrschaft gerichtet hatte.

»Alle Segnungen des Lebens – und möge Gott stets seine schützende Hand über dir halten«, sagte Ruth leise zu Valerie und drückte ihr dann ihren Umhang in die Hand. »So, und nun musst du gehen.«

Unschlüssig stand Valerie einen Augenblick in der Tür, dann gab sie sich einen Ruck und warf sich den warmen Umhang um.

»Ich komme, so schnell es geht, zurück«, sagte sie noch einmal, bevor sie den Gang hinunterlief, als hätte sie Angst, es sich doch noch anders zu überlegen. Hätte sie auch nur im Geringsten geahnt, was sie erwartete, hätte sie sicher keine Macht der Welt dazu bringen können, die Three Oak Tavern in dieser stürmischen Nacht zu verlassen.

2.

Isaac Holbrook erwartete Valerie mit einem großen Regenschirm an der Tür zum Hof, wo die Kutsche stand. Mit gesenkten Köpfen ließen die beiden Grauschimmel die Regenfluten über sich ergehen. Regendurchtränkt war auch der lange schwarze Mantel des Kutschers, und von der breiten Krempe seines Hutes rann das Wasser wie in kleinen Bächen herab.

»Es geht ihm wieder besser, ja?«, fragte er, begierig darauf, auch von ihr noch einmal die Bestätigung zu erhalten, dass er sich keine Sorgen mehr um Mister Fulhams Zustand zu machen brauchte.

»Ja, Isaac, es war nur die Aufregung. Seien Sie unbesorgt. Er braucht nur etwas Ruhe«, versicherte sie.

»Gott sei’s gedankt!«, murmelte er erleichtert und führte sie unter dem Schutz des Regenschirms zur Kutsche. Fanny öffnete ihr von innen den Schlag, und schnell nahm sie neben ihr auf der Rückbank Platz.

Die Zofe griff zu den Decken, die sie schon bereitliegen hatte, damit sie sich darin einwickeln konnten. Indessen hatte sich Isaac auf den Kutschbock geschwungen. Er löste die Bremse, ließ die Peitsche knallen, und die Grauschimmel legten sich ins Geschirr. Rumpelnd rollte die Kutsche aus dem Hof auf die Landstraße.

Valerie warf einen Blick durch das Rückfenster auf die Taverne, die hinter dem dichten Regenschleier verschwamm und bald von der Schwärze der Nacht verschluckt wurde.

Fanny gab einen Stoßseufzer von sich. »Fast möchte man meinen, die Reise stünde unter einem unguten Stern«, sagte sie bedrückt, was sonst gar nicht ihre Art war.

»Red keinen Unsinn, Fanny! Papa muss sich nur etwas schonen, und ein solches Unwetter im März ist ja nun wahrlich keine Seltenheit.«

»Wie wohl die Überfahrt wird«, sinnierte Fanny, die nun schon seit sieben Jahren Valeries Zofe war und nicht eine Sekunde gezögert hatte, als sie gefragt worden war, ob sie bereit sei, mit ihr nach Amerika zu segeln. Valerie allein ziehen zu lassen und in einem anderen Haushalt eine neue Stellung anzutreten, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, auch wenn sie der langen Seereise über den Ozean mit einer Mischung aus Bangen und Aufregung entgegensah. »Ich habe noch nie einen Fuß auf ein Segelschiff gesetzt.«

Valerie lachte unwillkürlich. »Da bist du nicht die Einzige, Fanny. Aber Papa sagt, dass die Alabama ein großer Dreimaster ist und uns sicher nach Amerika bringen wird. Täglich segeln Tausende Schiffe über die Meere. Es ist also nichts, wovor wir Angst zu haben bräuchten.«

»Solange wir nicht in einen Sturm geraten«, gab Fanny zu bedenken.

»Nun hör endlich auf zu unken. Du bist doch sonst nicht so leicht zu ängstigen!«

»Na, auf diese Weise werden Sie endlich James Colburn los, diesen affigen Langweiler«, wechselte die Zofe sprunghaft das Thema, als wollte sie sich auf andere Gedanken bringen.

»Aber, Fanny!«, gab sich Valerie empört, doch ein Lächeln teilte ihre Lippen. »So spricht man doch nicht von dem glühendsten Verehrer seiner Mistress!«

»Ich bitte vielmals um Vergebung, Mistress Valerie. Es steht mir in der Tat nicht zu, wortwörtlich wiederzugeben, was Sie mir mehr als einmal geklagt haben«, spielte Fanny die Zerknirschte, doch in ihrer Stimme schwang ein fröhlicher Unterton mit. »Auch wenn es nichts als die pure Wahrheit ist. Mir soll auf der Stelle die rechte Hand abfallen, wenn mir jemals ein Mann begegnet ist, der mit seinem pathetischen Gerede einen schneller einschläfern konnte als der hochwohlgeborene James Colburn! Aber nach Ihrer Zurechtweisung werde ich mich natürlich hüten, so etwas auszusprechen.«

Valerie musste lachen. »James ist wirklich ein aufgeblasener Langweiler, und wenn diese Reise etwas Gutes hat, dann wohl die Tatsache, dass ich ihn nun endlich los bin.«

»Sie wären zu beglückwünschen. Nur hat er hoch und heilig geschworen, auf Sie zu warten, wie lange es auch dauern möge, bis Sie ihn wieder mit Ihrer Gegenwart verzücken und zu seinen blumigen Floskeln inspirieren können, in denen er sich doch mit schöner Regelmäßigkeit verheddert wie ein zappelnder Fisch im Netz.«

Valerie dachte ohne Bedauern an James, der ihr in den letzten Monaten wirklich bis an die Grenze ihrer Geduld zugesetzt hatte. In einer allgemeinen Unterhaltung machte er gar keine schlechte Figur und verstand sich auch auszudrücken. Doch wenn er mit ihr allein außer Hörweite der anderen war, verstieg er sich, so wie Fanny es gesagt hatte, zu den überspanntesten Formulierungen. Ein bisschen Zucker war ja auch bekömmlich, aber wenn die ganze Speise aus purem Zuckerguss bestand, bedurfte es nicht viel, um ihre Abneigung zu erregen. Unter normalen Umständen hätte sie James schon längst eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie die absolut falsche Adresse für sein zuckersüßes Werben war. Doch unglücklicherweise war James der einzige Sohn eines Textilfabrikanten, zu dem Charles wichtige Geschäftsbeziehungen unterhielt, und darauf hatte sie Rücksicht zu nehmen gehabt. Viel zu lange. Sie konnte jetzt nur hoffen, dass James sein Interesse im Laufe der Monate verlieren und sich einem anderen Opfer zuwenden würde, das mehr Geschmack an Honig pur und in Mengen hatte.

»Heilige Schwüre aus dem Munde eines James Colburn haben vermutlich eine kaum längere Lebensdauer als Seifenblasen in der Sonne«, mutmaßte Valerie nüchtern und atmete tief durch. »Was für eine Erleichterung, sich sein Geschwätz nicht mehr anhören und dazu auch noch lächeln zu müssen, als hätte er etwas Geistreiches gesagt.«

Fanny horchte auf das Trommeln des Regens und der Hufe. »Aber was ist, wenn wir zu spät am Hafen eintreffen?«, sorgte sie sich.

»Wir haben noch Zeit genug. Es sind ja nur noch zwanzig Meilen bis nach Bristol. Isaac wird uns schon rechtzeitig zum Schiff bringen.«

»Amerika.« Fanny lauschte dem Klang des Wortes nach. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine so große Reise machen würde. Und ausgerechnet nach Amerika.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Valerie nachdenklich.

Fanny sah sie im Dunkel der Kutsche an und versuchte in Valeries Gesicht zu lesen, doch sie vermochte nur die vage Silhouette ihrer Mistress auszumachen. »Es muss schlimm für Sie sein«, sagte sie mitfühlend. Valerie hatte vor ihr keine Geheimnisse; was sie bedrückte oder mit Freude erfüllte, teilte sie mit ihr, seit sie in ihren Diensten stand. Zwar war sie ihre Zofe, doch ihre Beziehung war mehr von gegenseitigem Vertrauen und Freundschaft geprägt, auch wenn sie darüber nie vergaß, wer von ihnen die Herrin und wer die Bedienstete war.

»Es ist nicht schlimm, Fanny«, antwortete Valerie nach einer guten Weile des Schweigens. »Es ist nur so … verwirrend und scheinbar ohne jeden Grund. Warum ist es diesem Henry Duvall«, sie vermied das Wort »Vater« ganz bewusst, als könnte sie das vor etwas schützen, was sie nicht wahrhaben wollte, »auf einmal so wichtig, mich zu sehen und mit mir zu sprechen? Hat er nicht neunzehn Jahre lang die Täuschung aufrechterhalten, er sei kurz nach meiner Geburt gestorben? Neunzehn Jahre hat er geschwiegen und sein eigenes Leben geführt, in dem ich keinen Platz hatte. Doch nun auf einmal kann es ihm nicht schnell genug gehen, mich in New Orleans zu sehen. Warum ist er denn nicht nach England gekommen? Bin ich ihm etwas schuldig oder er mir?«

»Stand im Brief nicht, dass er krank ist und der Arzt ihm verboten hat, sich der Strapaze einer so langen Reise zu unterziehen?«, wandte Fanny ein.

»Papier ist geduldig«, erwiderte Valerie argwöhnisch. »Warum soll ich ihm jetzt glauben, nachdem auch alles andere eine Lüge war?«

»Aber möglich ist es schon, dass er wirklich sehr krank ist und nicht mehr lange zu leben hat.«

»Möglich ist wohl fast alles.«

»Und wenn man den Tod so nahe weiß«, fuhr Fanny verständnisvoll fort, »bereut man doch oft Dinge, die man getan hat, und versucht, etwas gutzumachen.«

»Er braucht an mir nichts gutzumachen!«, entgegnete Valerie heftig. »Mir hat es nie an etwas gefehlt. Ich habe die besten Eltern, die man sich nur wünschen kann!«

»Aber dennoch sind Sie jetzt auf dem Weg zu ihm«, machte Fanny sie auf ihre scheinbare Inkonsequenz aufmerksam.

»Ja, das bin ich, und ich weiß selbst nicht, warum ich es tue«, gestand Valerie ein. »Es ist wie ein innerer Zwang, als müsste ich Antworten auf Fragen finden, die ich jetzt noch gar nicht zu formulieren vermag. Als gäbe es ein Geheimnis, das es zu enträtseln gilt …« Ihre Stimme verlor sich in einem Flüstern, während ihre Gedanken sich von ihrem Gespräch mit Fanny entfernten.

Die Zofe spürte, dass Valerie die Unterhaltung nicht mehr fortsetzen, sondern mit ihren Gedanken allein sein wollte, und versank auch in Schweigen. Sie lehnte den Kopf gegen die weich gepolsterte Seitenwand der Kutsche und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, und das monotone Rattern der Räder hatte sie in den Schlaf gelullt.

Valerie zog die Decke höher. Von irgendwoher drang kühle Luft durch eine Ritze ins Innere der Kutsche. Sie wünschte, sie hätten zwei im Ofen aufgeheizte und in Tücher gewickelte Bettsteine zur Hand, um sich die Füße zu wärmen. Doch dann dachte sie an Isaac, der wohl zusammengekauert auf dem Kutschbock saß und dem strömenden Regen schutzlos ausgeliefert war. Dagegen hatte sie es hier drinnen noch ausgesprochen behaglich.

Sie legte ihre Beine auf die gegenüberliegende Sitzbank und lauschte dem Heulen des Windes und dem eiligen Hufschlag der Grauschimmel. Dann und wann hörte sie Isaacs Stimme, Wortfetzen, die der Wind zu ihr trug. Er sprach mal wieder mit sich selbst, wohl um sich wachzuhalten.

Henry Duvall.

Was mochte er für ein Mensch sein, ihr leiblicher Vater, der sie weggegeben hatte, als wäre sie nichts weiter als ein Stück Möbel oder ein Haustier? Was verbarg sich hinter diesem Namen, der gewiss französischen Ursprungs war. Hatte sie die getönte Haut von ihm oder ihrer Mutter geerbt, die im Kindbett gestorben war, wie es hieß. Aber was konnte sie davon glauben? Lebte ihre Mutter vielleicht auch noch? Aber wie war das dann mit der Geschichte zu vereinbaren, die Charles und Ruth ihr erzählt hatten? Musste sie auch an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln? Und warum hatte Henry Duvall seinen Brief an sie so knapp gehalten, statt ihr schon schriftlich eine erste Erklärung für sein unverständliches Verhalten zu geben? Aber vermutlich vermochte er auch keine einsichtige Begründung anzuführen, die sein Handeln rechtfertigen konnte, obwohl er genau das behauptete. Was hatte in dem Brief gestanden, der an ihre Eltern gerichtet war? Wirklich nur die flehentliche Bitte, Valerie nach New Orleans reisen zu lassen, und die Darlegung der Reisearrangements, die er schon im Voraus bezahlt hatte? War es nur ein Zufall gewesen, dass Ruth den Brief nicht mehr hatte finden können, als sie sie darum gebeten hatte, sie dieses Schreiben lesen zu lassen?

Die zahllosen Ungereimtheiten und Fragen bedrängten sie und machten sie ganz wirr im Kopf. Schließlich zwang sie sich, nicht weiter darüber nachzugrübeln, wusste sie doch, dass sie die Antworten erst jenseits des weiten Atlantiks finden würde – wenn überhaupt. Sie machte es sich so gemütlich, wie es die Umstände zuließen, schloss die Augen und versuchte ein wenig Schlaf zu finden. Isaac würde sie schon wecken, wenn sie Bristol erreicht hatten.

Der Wind ließ an Heftigkeit nach, und das wütende Prasseln des Regens auf das Dach der Kutsche verwandelte sich in ein ruhiges, gleichmäßiges Pochen. Sie döste eine Weile vor sich hin, bis die Müdigkeit sie sanft in den Schlaf und in eine Welt wirrer Träume zog.

Ein helles, durchdringendes Geräusch ließ sie zwei Stunden später aufwachen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie sich befand und um was es sich bei diesem Geräusch handelte.

Kopfsteinpflaster!

Die Räder ratterten über Kopfsteinpflaster! Sie mussten Bristol also erreicht haben. Sie fuhr sich über die Augen und schob den Vorhang vom Türfenster zurück. Dunkle Häuserfronten huschten zu beiden Seiten der Kutsche vorbei.

Valerie beugte sich vor und öffnete das winzige Schiebefenster zum Kutschbock hin, während Fanny jetzt auch aufwachte und schläfrig gähnte.

»Sind wir in Bristol, Isaac?«, rief sie zu ihm hinaus.

»Ja, Miss Valerie«, kam die Antwort vom Kutschbock. »Wir haben’s geschafft, dem Herrn sei’s gedankt. Wenn er mich jetzt nur noch geradewegs zum Hafen leitet, will ich mich nicht beklagen.«

»Ich denke, Sie kennen den Weg?«

»Nach Bristol schon, aber in einer so großen Stadt kann man leicht den falschen Weg einschlagen«, rief er.

»Wie spät haben wir es denn?«

»Die Turmuhr zeigte gerade zwanzig vor zwölf.«

»Dann sehen Sie bloß zu, dass Sie nicht in die Irre fahren, Isaac!«

»Ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen, Miss Valerie!«

Sie schloss den Schieber wieder. »Das fehlte uns gerade noch, dass Isaac mit uns durch dieses Gewirr von engen Gassen und Straßen irrte«, sagte sie beunruhigt.

»So genau auf die Minute wird es der Captain schon nicht nehmen«, versuchte Fanny sie zu beruhigen.

»Verlassen würde ich mich darauf jedoch nicht!«

Sie wurden hin und her geworfen, als Isaac Holbrook die Kutsche mit kaum vermindertem Tempo in die Kurven riss und die Pferde fast im Galopp durch die menschenleeren Straßen trieb. Das Trommeln der Hufe schallte durch die Nacht.

»Gütiger Gott! Er will doch wohl nicht, dass die Reise für uns schon beendet ist, bevor wir auch nur das Schiff zu sehen bekommen haben!«, stieß Fanny erschrocken hervor, als die Kutsche erneut mit rasender Geschwindigkeit um eine Straßenecke bog und dabei bedenklich ins Schwanken geriet. Sie hätte Stein und Bein geschworen, dass die Räder auf der rechten Seite für einen Augenblick in der Luft hingen.

Valerie wollte etwas erwidern, kam jedoch nicht mehr dazu. Denn im selben Augenblick hörten sie, wie der Kutscher einen lästerlichen Fluch ausstieß. Und während er mit der linken zur Bremse griff und sie mit aller Kraft anzog, zerrte er mit der rechten Hand an den Zügeln, um die Pferde zum Stehen zu bringen.

Valerie und Fanny wurden bei diesem abrupten Bremsmanöver unsanft von der Sitzbank gerissen und nach vorn geschleudert. Valerie konnte sich gerade noch an der vorderen Wand abstützen.

»Bist du noch bei Sinnen?«, rief Valerie wütend und riss den Schieber auf. »Isaac! Willst du, dass wir uns die Knochen brechen? Was hat das zu bedeuten?«

»Entschuldigen Sie, Miss. Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste so abrupt bremsen. Die Gasse ist blockiert«, antwortete er mit heiserer Stimme.

»Mein Gott, dann rasen Sie nicht so wie der Teufel! Wenden Sie!«

»Das geht nicht. Dazu ist die Gasse zu eng!«

»Wieso kann die Gasse blockiert sein, Isaac? Sind Sie vielleicht doch falsch gefahren?«

»Nein, Miss, wir sind hier schon richtig. Nur haben ein paar Männer Fässer mitten auf die Straße gestellt und machen sich nun irgendeinen Spaß, mag der Teufel wissen, was für einen!« Und mit erhobener Stimme rief er: »He, Mister! … Ja, Sie da! Weg mit den Fässern! Sie blockieren die Durchfahrt!«

Derbe Männerstimmen antworteten ihm, doch was sie dem Kutscher zuriefen, konnten Valerie und Fanny nicht hören, denn die Antwort ging in fröhlichem Gelächter unter.

»Was mag da bloß los sein?«, fragte Fanny beunruhigt. »Man wird uns doch wohl nicht ausrauben wollen, oder?«

»Das werde ich ja gleich sehen!«

»Miss Valerie! Um Gottes willen, Sie wollen doch nicht etwa zu den Männern da hinaus?« Fanny war entsetzt. »Das können Sie unmöglich tun!«

»Und warum nicht?«

»Wer weiß, was das für raue Gesellen sind und was Sie Ihnen antun werden! Das hier ist die Hafengegend!«

»Ich bin nicht auf den Mund gefallen und weiß mich schon meiner Haut zu wehren«, erwiderte Valerie ungeduldig. »Und jetzt lass mich vorbei. Ich bleib ja bei der Kutsche!«

»Ich dürfte es ja nicht gestatten! Ihre Eltern haben mir tausendmal eingetrichtert, dass ich gut auf Sie achtgeben soll!«, protestierte ihre Zofe.

»Dann tu das mal«, sagte Valerie unbekümmert und stieg über sie hinweg. Mit einer energischen Bewegung stieß sie die Tür auf, raffte ihre Röcke zusammen und sprang aus der Kutsche. Zum Glück hatte sie sich am Griff neben der Tür festgehalten, denn das Kopfsteinpflaster war nach den Regengüssen der letzten Stunden glatt wie mit Schmierseife eingerieben. Bis auf einen feinen Nieselregen hatte sich das Unwetter gelegt, und die Luft war von einem frischen, herzhaften Duft erfüllt, den sie im ersten Augenblick nicht zu deuten vermochte. Doch dann wusste sie, dass das der Geruch des nahen Meeres sein musste, den der Wind von der offenen See in die Stadt getragen hatte.

Valerie blickte sich um. Es war, wie Isaac gesagt hatte. Die Gasse war gerade breit genug, dass zwei Fuhrwerke aneinander vorbeikommen konnten, wenn die Kutscher ihr Handwerk verstanden. Doch jetzt versperrten vier dicke Fässer, die in einem Quadrat vor einer Taverne aufgestellt waren, die Fahrbahn. Über die Fässer waren Vierkanthölzer gelegt, die kaum breiter als zwei Finger waren. Und während ein gutes Dutzend Zecher sich an der Tür zur Taverne drängte, balancierte ein Mann über diese schmalen Balken, auf dessen plattem Ende ein gefülltes Glas stand. Der Mann schwankte auf dem Balken bedenklich hin und her, ruderte mit den Armen durch die Luft und gab erstickte Laute von sich. Ein Teil der Zuschauer feuerte ihn lauthals an, während die anderen ihm nicht weniger lautstark ein schnelles Abrutschen wünschten.

Etwas vor der Gruppe der Zuschauer, näher bei der Kutsche, stand ein zweiter Mann in schwarzen Hosen und einem weiten weißen Hemd, der sich kurz zu ihr umgedreht hatte und den Balanceakt des Mannes auf den Balken nun mit gutmütigem Spott kommentierte.

»Nur nicht so zaghaft, Danny!«, rief er. »Du wirst dich doch nicht vor einer jungen Lady blamieren wollen. Komm schon, zeig, dass du noch nichts verlernt hast!«

»Du kommst auch noch dran, Matt!«, rief jemand von der Tavernentür.

Zorn stieg in Valerie auf. Sie trat zum Kutschbock und streckte die Hand aus. »Geben Sie mir die Peitsche, Isaac!«, verlangte sie.

Bestürzt sah der Kutscher sie an. »Miss Valerie! Steigen Sie, um Gottes willen, wieder in die Kutsche! Mit Betrunkenen wie diesen da ist nicht zu spaßen!«

»Die Peitsche, habe ich gesagt!«

»Das kann ich nicht!«

»Wollen Sie, dass ich Sie mir holen komme?«

Zögernd zog Isaac Holbrook die Peitsche aus dem Metallschaft neben sich. »Lassen Sie mich das besser machen, Miss! Das ist wirklich nichts für eine junge Lady wie Sie!«, beschwor er sie.

»Nun geben Sie schon her!«

Resigniert den Kopf schüttelnd, reichte er sie ihr. »Wenn das Mister Fulham erfährt …«, begann er.

»Wenn Sie es ihm nicht erzählen, wird er es nie erfahren«, erwiderte Valerie, packte die Peitsche mit festem Griff und ging auf den Mann zu, den einer der Zuschauer mit Matt angesprochen hatte.

»Hören Sie sofort mit dieser lächerlichen Vorstellung auf und geben Sie die Gasse frei!«, sprach sie ihn mit schneidender Stimme an.

Der Mann drehte sich ohne Hast zu ihr um. Er war groß und schlank, und unter dem offenen Hemd zeichnete sich eine muskulöse Brust ab. Um den Hals trug er eine Goldkette mit einem ebenfalls goldenen Anhänger, der eine merkwürdige Form hatte und wie der verschrumpelte Kern einer Nuss aussah. Er musterte sie mit einem spöttischen Lächeln auf dem markanten Gesicht, das Valerie unter anderen Umständen gewiss sympathisch gefunden hätte. »Sie scheinen wenig Sinn für harmlose Vergnügungen zu haben«, sagte er dann gelassen, während der Mann das Ende des letzten Balkens erreicht hatte. Er nahm das Glas vom Löffelende und hielt es in die Höhe. »Noch halb voll! Das mach mir erst einmal nach, Matt!«, rief er und sprang hinunter.

»Das habe ich auch nicht!«, erwiderte Valerie scharf. »Sehen Sie nicht, dass Sie die Gasse blockieren? Die Kutsche kommt hier nicht durch, und zum Wenden ist die Gasse zu eng. Ich habe es eilig!«

»So?«, fragte der Mann mit hochgezogenen Augenbrauen. »Eine so schöne Frau wie Sie sollte sich für alles im Leben viel Zeit lassen.«

»Sparen Sie sich Ihre billigen Schmeicheleien für Ihre Tavernenfreunde! Bei mir verfangen sie nicht!«, herrschte sie ihn zornig an. »Ich denke nicht daran, wegen Ihnen mein Schiff zu versäumen!«

»Schau an, Sie wollen sich aufs Meer hinauswagen, ja? Mit was für einem Schiff denn?«, fragte er, als hätte er alle Zeit der Welt.

»Mit der Alabama, die um Mitternacht ausläuft, aber was geht Sie das an?«

»So, die Alabama«, sagte er gemächlich und spielte mit dem merkwürdigen Anhänger. »Kein übler Kahn. Gibt wahrlich schlimmere Seelenverkäufer. Glaube jedoch nicht, dass der Captain es so genau nimmt. Soll ein wenig zuverlässiger Bursche mit einem fragwürdigen Charakter sein.«

»Lassen Sie Ihre einfältigen Scherze, und räumen Sie gefälligst die Fässer aus dem Weg!«

»Nur mit der Ruhe, Lady. Sie kommen bestimmt noch rechtzeitig auf Ihr Schiff, bevor der Anker hochgeht«, sagte er und quittierte das zornige Funkeln ihrer Augen mit einem unbeschwerten Lächeln. »Aber wer hat Ihnen denn erzählt, dass Sie an Bord eines Schiffes eine Peitsche brauchen? Wenn es mal Hiebe setzt, dann mit dem Tauende und von der Hand des Bootsmanns, habe ich mir sagen lassen.«

»He, Matt! Wie lange willst du denn noch da rumstehen und Sonntagsreden halten? Jetzt bist du an der Reihe!«, rief der Mann, der soeben über das Balkenquadrat geturnt war.

»Sie sehen, man verlangt nach mir«, sagte Matt zu Valerie mit einem breiten Lächeln und zuckte mit den Achseln. »Warten Sie einen Augenblick, es dauert nur ein paar Minuten. Und wenn Sie noch eine Wette abschließen wollen, ob ich weniger verschütte als Danny, der dicke Bursche da, mit der Tätowierung auf dem Arm, nimmt Ihre Wette gern an.« Er zwinkerte ihr zu. »Riskieren Sie ruhig ein paar Shilling. Sie haben gute Aussichten, einen hübschen Gewinn zu machen!« Damit ließ er sie einfach stehen, sprang auf das erste Fass und nahm den Löffel und das volle Wasserglas, das ihm einer der Männer hochreichte.

Einen Augenblick stand sie sprachlos über die Unverschämtheit dieses Mannes da. Es kümmerte diesen Kerl überhaupt nicht, ob sie wegen seiner lächerlichen Wette ihr Schiff verpasste!

Der Zorn in ihr wurde übermächtig. Und bevor sie sich bewusst wurde, was sie tat, schwang sie auch schon die Peitsche. Das dünne Leder schnitt durch die Luft und traf die Hand des Mannes.

Schmerzhaft schrie er auf, verlor das Gleichgewicht, stolperte vom Fass und wäre fast aufs Kopfsteinpflaster gestürzt. Der Löffel polterte auf die Steine, während das Glas zersplitterte. Sich die Hand haltend, fuhr er zu ihr herum, starrte sie mehr fassungslos als wütend an.

Valerie hörte, wie Isaac hinter ihr einen erstickten Schrei des Erschreckens ausstieß, und ihr selbst fuhr nun der Schreck über ihre unbeherrschte Tat in die Glieder.

Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und kam mit wutverzerrtem Gesicht auf sie zu, riss ihr die Peitsche auf der Hand. »Sind Sie noch ganz bei Trost?«, fuhr er sie an.

Isaac Holbrook kletterte nun mit steifen Gliedern vom Kutschbock, leise vor sich hin fluchend, weil er glaubte, jetzt zwangsläufig in eine handgreifliche Auseinandersetzung eingreifen zu müssen. Er musste Valerie zu Hilfe eilen, ob er nun eine faire Chance gegen diese rauen Burschen hatte oder nicht. »Wagen Sie es ja nicht, ihr etwas anzutun!«, rief er drohend und war sich selbst nur zu bewusst, wie lächerlich seine Drohung angesichts der Übermacht war.

»Lass sie in Ruhe, Pete!«, rief Matt nun scharf. »Und Sie steigen wieder auf Ihren Bock zurück, Kutscher! Es wird ihr nichts geschehen, Mann. Oder glauben Sie, wir vergreifen uns an einer Frau?« Isaac blieb abwartend stehen.

»Verdammt, dieses Weibsstück hat mit der Peitsche nach dir geschlagen! Sie hätte dich am Kopf treffen können! Du hast Glück gehabt, dass sie dir kein Auge ausgeschlagen hat!«, begehrte Pete auf.

Matt trat zu ihnen und nahm seinem Zechkumpan die Peitsche ab. »Das ist meine Angelegenheit, Pete, also misch du dich nicht ein!«, sagte er mit befehlsgewohnter Stimme.

»Wie du meinst«, brummte Pete.

»Sag den anderen, sie sollen die Fässer wegrollen und die Gasse freimachen«, trug Matt ihm auf.

»Aber dann hast du die Wette verloren!«

»Ihr werdet schon auf eure Kosten kommen, und nun tu, was ich gesagt habe!«, verlangte Matt.

»Aye, aye!« Valerie einen erbosten Blick zuwerfend, zog er sich zurück.

Matt wandte sich nun Valerie zu, fixierte sie scharf. »Ist das Ihre Art, sich durchzusetzen?«, fragte er. »Bei aller Großzügigkeit, aber ausgesprochen damenhaft ist es wohl nicht, was Sie da getan haben! Ich hab’ zwar schon eine Menge erlebt, aber dass eine Frau mit der Peitsche auf mich losgegangen wäre, diese zweifelhafte Ehre ist mir bisher noch nicht zuteilgeworden.«

Valerie versuchte, ihre Betroffenheit hinter einer trotzigen Miene zu verbergen. »Erwarten Sie nicht, dass ich mich bei Ihnen entschuldige! Sie haben es herausgefordert! Warum haben Sie die Gasse nicht gleich freigegeben?«

»Ich bin nicht gewohnt, sofort zu springen, wenn jemand mit den Fingern schnippt!«

»Und ich lasse mich nicht von rücksichtslosen Männern wie Ihnen zum Narren halten! Ich wollte Sie nicht verletzen, aber offenbar verstehen Sie keine andere Sprache!«

»Sie scheinen zu wissen, was Sie wollen, und stets Ihren Willen zu bekommen«, bemerkte Matt spöttisch und drückte ihr die Peitsche in die Hand. »Doch Sie könnten mit Ihrem Temperament auch mal an den Falschen geraten, und das könnte dann bittere Folgen für Sie haben.«

»Ich werde mir Ihre Worte zu Herzen nehmen!«, gab sie sarkastisch zurück und wandte sich abrupt ab, um wieder in die Kutsche zu steigen. Die Fässer waren inzwischen an die Hauswand der Taverne gerollt, sodass sie endlich weiterfahren konnten.

»Gute Reise, Miss!«, rief Matt ihr spöttisch nach.

»Himmelherrgott, was haben Sie bloß getan?«, stieß Isaac gedämpft hervor, während er ihr den Schlag aufhielt. Er war ganz blass im Gesicht. »Das hätte ins Auge gehen können, Miss Valerie! Ich hatte entsetzliche Angst, die Männer könnten Ihnen etwas tun.«

»Machen Sie nicht so ein Gesicht, Isaac! Ich kann schon selbst auf mich aufpassen«, erwiderte Valerie, doch es klang mehr verteidigend als zurechtweisend. In Wirklichkeit war ihr nämlich reichlich mulmig zumute, weil auch ihr inzwischen klar geworden war, dass der Zwischenfall einen weniger guten Ausgang hätte nehmen können. Sie hatte mit dem Feuer gespielt, und dass sie sich nicht die Finger verbrannt hatte, verdankte sie nicht ihrer gedankenlosen Unerschrockenheit, sondern der Beherrschung dieses Mannes. Aber das vor Isaac und ihrer Zofe einzugestehen, brachte sie nicht fertig.

»Machen wir, dass wir weiterkommen! Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren!«, drängte sie und ließ sich neben Fanny auf die Sitzbank fallen.

»Tausend Tode wäre ich an Ihrer Stelle gestorben!«, sagte Fanny halb bewundernd, halb schaudernd, als die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte. »Nicht mal aus der Kutsche hätte ich mich gewagt, geschweige denn mit der Peitsche auf diese brutalen Kerle loszugehen.«

»Nun übertreib mal nicht«, sagte Valerie, und ihre innere Anspannung löste sich, als die Taverne hinter ihnen zurückblieb. »Das waren ja keine Straßenräuber.«

»Aber so haben Sie sie behandelt.«

»Es war reine Glückssache, dass ich ihn getroffen habe«, gestand Valerie und musste nun unwillkürlich lachen. »Du hättest ihre verdutzten Gesichter sehen sollen. Ich glaube, das werden sie so schnell nicht vergessen. Aber geschieht ihm auch ganz recht. Mich wie ein dummes Kind zu behandeln, das man ungestraft auf später vertrösten kann, wo ich ihm doch klar gesagt habe, dass wir in Eile sind und womöglich unser Schiff verpassen, wenn er uns nicht durchlässt! Das war schon eine Frechheit. Na ja, er hat seine Quittung bekommen.«

»Aber dass er Ihnen nichts getan hat, war doch anständig von diesem Mann«, meinte Fanny. »Jeder hätte sich das bestimmt nicht bieten lassen, ohne aus der Haut zu fahren. Denn bei allem, was recht ist, unvernünftig war es schon, was Sie da getan haben!«

»Anständig wäre es gewesen, wenn er die Gasse sofort geräumt hätte. Und jetzt lass uns nicht mehr davon reden. Es war ein unerfreulicher Zwischenfall, und ich mag ein wenig die Beherrschung verloren haben …«, räumte Valerie schuldbewusst ein.

»Ein wenig?«

»… aber es ist ja alles gut ausgegangen, und allein das zählt jetzt«, fuhr Valerie unbeirrt fort.

Wenige Minuten später hatten sie den Hafen erreicht. Isaac brachte die Kutsche vor dem Schuppen eines Schiffsausrüsters zum Stehen, der noch geöffnet hatte. Mehrere Männer luden im hellen Schein großer Laternen dicke Taurollen auf ein Fuhrwerk. Er fragte nach dem Liegeplatz der Alabama.

»Die liegt drüben an der Westindien-Pier! Ganz am Ende. Können Sie gar nicht verfehlen. ’n schlanker Baltimore-Clipper, wie er im Buche steht«, lautete die Antwort, gefolgt von einer knappen Wegbeschreibung.

Kurz darauf bog die Kutsche auf die Pier ein.

»Da ist es!«, rief Fanny aufgeregt, die den Vorhang weggeschoben hatte. »Sie liegt noch da, und es sieht nicht so aus, als würden sie sofort lossegeln wollen. Wir haben es also doch noch rechtzeitig geschafft!«

Valerie gab einen Stoßseufzer der Erleichterung von sich. »Ich glaube, diese Nacht werde ich so schnell nicht vergessen, Fanny.«

Isaac brachte die Kutsche direkt vor der breiten Gangway, die auf das Schiff führte, zum Halten und ließ die Bremse einrasten. Er sandte ein stummes Dankgebet gen Himmel, dass er seine kostbare Fracht doch noch pünktlich und vor allem wohlbehalten zum Schiff gebracht hatte.

»Von wegen kein übler Kahn«, murmelte Valerie, als sie ausstieg und die Alabama einer kritischen Musterung unterzog. Sie war ein schlanker, geradezu schnittiger Dreimaster und unterschied sich von vielen anderen Schiffen, die im Hafen von Bristol lagen, wie ein rassiges Rennpferd von einem groben Ackergaul. Die hohen Masten schienen fast endlos in den Himmel aufzuragen, über den noch immer dunkle Wolken zogen. Leinen, Taue, Takelage, Taljen, Blöcke und tausend andere Dinge verbanden die Masten und Rahen miteinander und ergaben ein faszinierendes Gewirr, sodass Valerie sich fragte, wie ein Mensch all das bloß auseinanderhalten, geschweige denn zu seinem Nutzen einsetzen konnte.

»Ich verstehe ja nichts von Segelschiffen, aber die Alabama