Gesamtherstellung: Verlag Waldkirch KG
Satz & Gestaltung: Verena Kessel
Lektorat: Lisa-Marie Adams
ISBN Taschenbuch |
978-3-86476-104-1 |
ISBN E-Book EPUB |
978-3-86476-654-1 |
ISBN E-Book PDF |
978-3-86476-655-8 |
Seit 1542 |
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© Verlag Waldkirch Mannheim, 2018
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Stammbaum
Die Zeit von 1904 – 1906
Die Zeit von 1906 – 1914
Die Zeit von 1914 – 1920
Die Zeit von 1920 – 1925
Die Zeit von 1925 – 1930
Die Zeit von 1931 – 1939
Die Zeit von 1939 – 1941
Im Jahr 1939 Elisabeth
Im Jahr 1939
Im Jahr 1939 Elisabeth
Die Zeit von 1940 – 1941
Die Zeit von 1941 – 1942
Die Zeit von 1942 – 1943 Elisabeth
Die Zeit von 1943 – 1944
Die Zeit von 1943 – 1944
Die Zeit von 1944 – 1945
Die Zeit von 1945 – 1946
Nachkriegsjahre
Elisabeth
Die Zeit von 1952 – 1964
Die Zeit von 1964 – 1995
Danksagung
Am vierten September des Jahres 1904 bäumte sich der Sommer noch einmal mit Macht auf, bevor er das Feld dem Herbst überlassen musste. Die Natur zeigte kein Erbarmen mit der Gebärenden, die in der stickigen Hitze der Schlafkammer auf dem Bett lag.
In das ausgemergelte Gesicht, das im Kopfkissen versank, zeichneten sich Erschöpfung und Schmerz. Magdalenas Haarzopf hatte sich aufgelöst und klebte ihr strähnig am Kopf. Ihr langes Nachthemd, das sich über dem Bauch spannte, war von Schweiß durchtränkt. Wie eine alles vernichtende Welle schlug der Schmerz in immer kürzer werdenden Abständen über ihr zusammen. Die schwer herzkranke Magdalena stöhnte unter den Geburtswehen und hechelte nach Luft. Das zurückgeschlagene Federbett, dessen Federn mit den Jahren verklumpt waren, lastete auf ihren Füßen. Die Hebamme tupfte den unaufhaltsam fließenden Schweiß von Magdalenas Gesicht.
„Du schaffst das schon, hast es doch schon neunmal hinter dich gebracht“, machte sie der Vierzigjährigen Mut.
Die Schlafkammer war angefüllt mit einem Kleiderschrank, einem Waschtisch, auf dem eine Keramikschüssel mit einem Krug Wasser stand, und dem Ehebett unter der Dachschräge. Der betagten Hebamme blieb wenig Raum, sich zu bewegen. Sie hatte es in der Enge schwer, Magdalena beizustehen. Auch ihr standen die Schweißperlen auf der Stirn.
Magdalena kämpfte nun schon seit Stunden. Das Kind in ihrem Bauch wollte sich einfach nicht drehen. Ihre Schwägerin Anna stieg immer wieder die schmale Holztreppe hoch, die unter ihr ächzte, als klage sie mit der Gebärenden. Sie wollte wissen, ob denn das heiße Wasser noch immer nicht benötigt wurde.
Derweil ging Magdalenas Mann Georg bei seiner Schwester unten in der Küche auf und ab. Dann setzte er sich und stierte vor sich hin, um alsbald wie ein Stehaufmännchen seine Wanderung wieder aufzunehmen.
Die Kinder saßen erstaunlich ruhig um den Tisch. Angst schien alle zu lähmen, der Geburtsvorgang dauerte schon zu lange. Qualvolle Stunden reihten sich aneinander, ehe der Schrei des neuen Erdenbürgers zu hören war und alle erlöst aufatmeten.
Es war ein Mädchen mit einem Kopf voller schwarzer Haare, das die Hebamme Magdalena in den Arm legte, nachdem sie es gewaschen hatte. Georg trat an das Bett seiner Frau; verlegen strich er über ihr schweißnasses Haar.
„Es tut mir leid, Magdalena, ich verspreche, dass du solche Qualen nicht noch einmal aushalten musst“, flüsterte er ihr zu.
Die Geburt hatte Magdalena an den Rand des Abgrunds gebracht, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Doch die Hausarbeit wartete darauf, von ihr erledigt zu werden, und zehrte an ihren letzten Kräften. Das mühselige Wasserschleppen vom Dorfbrunnen nach Hause übernahmen zwar meist die Kinder, doch allein das Kochen und Waschen für die große Familie ließ Magdalena bei ihrem Tun oft stöhnend innehalten.
Am Abend, wenn die Sonne ihre letzten Strahlen auf die Erde sandte und sie dem Zusammenbruch nahe war, gönnte sie sich ein halbes Stündchen vor dem Haus, in dessen Hof ein großer Nussbaum Schatten spendete. Hinfällig und gebrechlich saß sie darunter auf der Bank, gekleidet in ein hochgeschlossenes, knöchellanges Kleid, auf dem sie stets eine Schürze trug. Die schwieligen Hände hielt sie im Schoß gefaltet und betete, dass ihr Gott Kraft geben möge für den nächsten Tag. Ihr Mann kam aus dem Haus, las ein paar Nüsse vom Boden auf und setzte sich zu Magdalena. Er wusste, wie gerne sie Walnüsse aß, drum knackte er einige und legte sie ihr in die Hand.
Katharina, ihre Älteste, kümmerte sich derweil um Bertha; so hieß das Mädchen, das so lange gebraucht hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Bertha schrie oft, weil sie hungrig war. Die Muttermilch, mit der Magdalena ihre Kleinste nährte, war für Bertha zu wenig und für Magdalena zu viel. Schon nach wenigen Wochen versiegte sie.
Magdalena wurde zusehends schwächer, ihr Herz hielt keiner Belastung mehr stand. Katharina war dreizehn Jahre alt und Marie zehn, als sie schon die meisten Pflichten im Haushalt übernehmen mussten.
Als Bertha zwei Jahre alt war, starb die Mutter. Katharina und Marie, denen sie wenigstens noch mit Rat hatte zur Seite stehen können, fühlten sich nach ihrem Tod verlassen und hilflos. Georg konnte nicht begreifen, dass seine Magdalena von ihnen gegangen war. Sie war mit ihren zweiundvierzig Jahren doch noch viel zu jung. Er haderte mit sich und der Welt. Als tiefgläubiger Mensch vertraute er aber darauf, dass er sich Gottes Willen fügen müsse und er ihn leiten würde.
Georg ließ sich von seiner Verzweiflung nicht unterkriegen. Voller Hingabe versuchte er, den Kindern die Mutter zu ersetzen. Sein Stolz hinderte ihn, eine andere Frau ins Haus zu holen. Mit seinen sechsundvierzig Jahren ließ Georg immer noch manch Frauenherz höher schlagen. Er war ein großer, hagerer Mann, dessen Haar frühzeitig schlohweiß geworden war, ebenso wie sein an den Enden hochgezwirbelter Schnauzer über den vollen Lippen. Seine dunklen Augen, denen selten etwas entging, blickten stets kritisch in die Welt. Selbst die großen Segelfliegerohren schmälerten nicht sein Aussehen.
An Bewerberinnen, die darauf warteten, von dem Witwer geheiratet zu werden, fehlte es in dem kleinen Ort nicht. Die Frauen hätten auch die neun Kinder in Kauf genommen; das Erstgeborene war schon im Kindesalter gestorben. Doch er dachte nicht im Traum daran, ihre Erziehung aus der Hand zu geben. Er wollte seinen Kindern Vater und Mutter zugleich sein und sie mit Strenge erziehen.
Rigoros schmiss er seine vier Söhne noch fast in der Nacht aus den Federn. Wehe, einer wagte aufzumucken, dann zog er ihnen die Decke weg und schimpfte los: „Wollt ihr etwa zu spät zur Arbeit kommen? Ich sage euch, nicht solange ich lebe! Ein Mann ist pünktlich an seiner Arbeitsstelle.“ Ein Brummeln war aus den Betten zu vernehmen. „Raus jetzt, oder soll ich erst den Riemen holen? Ein Mann ist auch nicht krank, ist das klar? Philip, damit meine ich vor allem dich, bei uns gibt es keine Drückeberger!“, befahl Georg streng.
Die vier Söhne im Alter von dreizehn bis zweiundzwanzig Jahren liefen täglich in das zehn Kilometer entfernte Pirmasens zur Arbeit. Dreißig Schuhfabriken und etliche Zulieferbetriebe boten den Menschen in der Region ein Auskommen.
Wehe Georgs Ältester, wenn sie nicht aufmerksam war und ihr der Brei anbrannte, den sie für die kleine Bertha kochen musste. Dann gab es eine hinter die Löffel. Katharina war ein schlaksiges Mädchen, wie ein Pflanzentrieb, der wild in die Höhe geschossen war. Wo andere Mädchen ihres Alters leichte Rundungen zeigten, schienen bei ihr zwei Erbsen auf ein Brett genagelt. In ihrem Gesicht war auch beim genauesten Hinsehen nichts Anziehendes zu entdecken. Nur ihr Haar in der Farbe reifen Korns, das ihr in zwei dicken Zöpfen fast bis zur Taille reichte, war einen zweiten Blick wert.
Katharina litt unter ihrem Aussehen. Ihre Bewegungen waren unsicher und linkisch. Vor allem, wenn der Vater in der Nähe war. Nie konnte sie ihm etwas recht machen.
Georgs Schwester, die ab und an nach dem Rechten sah, redete ihm ins Gewissen, nicht gar so streng zu sein. Sie hätte ihm gerne mehr unter die Arme gegriffen, doch musste sie ihre eigenen fünf Kinder versorgen. So konnte sie nur ab und an Katharina mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Auch die zwölfjährige Marie musste mit anpacken. Doch die war gewieft und wusste sich die leichten Arbeiten herauszupicken, ohne dass es dem Vater auffiel. Sie war ein robustes Mädchen und hätte so manchen Eimer Wasser vom Brunnen herbeischleppen können, um Katharina zu entlasten. Doch sie schob die kleine Bertha als Entschuldigung vor, um die sie sich lieber kümmerte. Das tat sie allerdings mit Liebe und großer Hingabe.
Die Jahre verstrichen. Schon war die so früh von ihnen gegangene Mutter für die Kinder eine ferne Erinnerung. Manchmal überfiel sie noch der Schmerz über den Verlust und das Verlangen, von ihr getröstet und in den Arm genommen zu werden. Doch diese Momente gingen vorüber, sie waren abgelenkt von den Anforderungen, die der Vater an sie stellte.
Nur Frieda, die zehn Jahre alt war, als die Mutter starb, fand nicht aus ihrer Trauer. Sie war ein zartes Mädchen, still und in sich gekehrt. Die Verlassenheit, die sie ausstrahlte, war greifbar. Die größeren Geschwister hatten andere Arbeiten zu erledigen und kümmerten sich lieber um Bertha als um Frieda. Nur der Vater versuchte, zu ihr durchzudringen, doch es gelang ihm nicht. Sie blieb verschlossen wie eine Auster.
Georg war Schuhmacher und reparierte die Schuhe der Leute aus dem Dorf. In der Hauptsache aber fertigte er Kinderschuhe. Vom Zuschneiden des Leders bis zur Entfernung des Leistens stellte er sie in reiner Handarbeit her. Außerdem erledigte er für eine Fabrik in Pirmasens Heimarbeit. All die Liebe, zu der er fähig war, gab er seiner Jüngsten.
Bertha saß als Kind oft bei ihm in der kleinen Kammer, in der der Geruch von Leder und Pech hing. Im Winter blubberte in einer Ecke ein Kanonenofen: ein gusseiserner Zylinder auf drei Füßen, an dem der Vater oben eine kleine Klappe öffnete, um ab und zu Holz hineinzuwerfen. Der Rauchabzug, ein schwarzes Rohr, das sich aus der Rückseite des Zylinders in die Höhe streckte und wie eine aufgeklappte Ziehharmonika im Kamin verschwand, erwärmte zusätzlich den kleinen Raum.
Stundenlang konnte Bertha ihm zusehen und mit Spannung verfolgen, wenn er Schaft und Sohle zusammenfügte. Mit der Ahle stach er zuerst Löcher in den Rand, so konnte er den mit Pech getränkten Faden leichter mit der Nadel durchziehen und die beiden Teile mit Steppstichen verbinden. Manchmal, wenn er guter Laune war, erzählte er seiner Jüngsten Begebenheiten aus vergangenen Zeiten.
Eine davon fand Bertha so gruselig, dass sie sie nie vergaß und später ihren eigenen Kindern erzählte:
Ein paar Freundinnen wollten sich gegenseitig beweisen, wie mutig sie waren. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie sich auf dem Dorfplatz unter den drei Linden trafen. Während sie noch beratschlagten, was sie tun wollten, senkte sich langsam die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über die Dächer. Die Mädchen schlenderten zum Friedhof, der am Ende des Dorfes lag. Dort angekommen einigten sie sich darauf, dass eine von ihnen ein Kreuz aus einem Grab ziehen sollte. Ein Mädchen namens Elisabeth wollte als Erste ihren Mut beweisen. Wispernd standen die anderen herum und ein Gruseln und Schaudern jagte ihnen Gänsehaut über den Rücken.
Nachdem die Sechzehnjährige die Trophäe herausgezogen hatte und in die Höhe hielt, so dass alle ihren Wagemut mit einem gehauchten „Oh“ oder „Ah“ bewundern konnten, steckte sie das Kreuz wieder in die Erde zurück.
Aber – oh Schreck! – der Saum ihrer Schürze, die sie auf dem knöchellangen Kleid trug, wickelte sich darum! In dem Glauben, der Tote würde sie in sein Grab ziehen, erschrak Elisabeth so sehr, dass sie in Ohnmacht fiel und nicht mehr daraus erwachte. Schreiend und heulend rannten die Mädchen nach Hause und berichteten, was geschehen war.
Solche Ereignisse aus dem 400-Seelen-Ort, von dem man in nur zwanzig Gehminuten Lothringen erreichte, erzählte der Vater seiner Jüngsten.
Mit den Jahren wurde Georg zum Eigenbrötler, der oft mit abwesendem Blick Monologe hielt. Bertha lauschte ihnen, obwohl sie vieles davon nicht verstand. Aber so viel war ihr klar: Der Vater hatte keine allzu gute Meinung von den Menschen aus dem Lothringischen.
„Das sind doch immer noch halbe Franzosen, auch wenn sie schon bald hundert Jahre zu Deutschland gehören. Für unseren Kaiser Wilhelm bringen sie kaum Bewunderung auf; die wissen nicht, wie stolz sie sein können, in einer Monarchie zu leben.“
Georg schlug noch ein paar Nägel in den Schuh, den er neu besohlt hatte, und stellte ihn zur Seite. „Wir sind von Feinden umgeben. Die ganze Welt ist gegen uns und will uns vernichten. Aber es wird ihr nicht gelingen, unsere herrlichen Truppen niederzuringen“, redete er sich weiter in Rage.
Wenn Bertha wissen wollte, was Truppen sind, sagte er nur: „Kind, das verstehst du noch nicht.“
Die Zeit, in der sie des Vaters Geschichten lauschen und ihm bei der Arbeit zusehen durfte, wurde jäh beendet. Bertha war noch keine zehn Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach und sie eine Ahnung davon bekam, was das Wort „Krieg“ bedeutete.
Im August 1914 waren auch Berthas Brüder Balthasar, Philip, Georg und Jakob bei den Truppen, die singend in die Schlacht zogen. Die Wohnung war mit einem Schlag groß und leer geworden. Kein Streiten und kein Lachen erfüllte sie mehr.
Bertha vermisste alle ihre Brüder, am meisten jedoch Jakob. Er war ein lustiger Geselle, immer saß ihm der Schalk im Nacken. Wenn er seinen hochgezwirbelten Schnurrbart hüpfen ließ, brachte er Bertha stets zum Lachen. Seine geliebte Mundharmonika konnte er blitzschnell aus der Hosentasche zaubern und eine Melodie zum Besten geben. Im Gegensatz zu seinen Brüdern wäre er lieber zu Hause geblieben, statt in den Krieg zu ziehen.
Bertha dachte auch oft an ihre Schwester Marie, die vor Kurzem Albert Schieberlé, einen Franzosen, geheiratet hatte und mit ihm nach Straßburg gezogen war. Sie würden sich nun nur noch selten sehen, die Entfernung war groß. Sicher lagen hundert Kilometer zwischen ihnen.
Außerdem verstand Marie sich nicht gut mit dem Vater. Er grollte ihr immer noch, weil sie den „Schieberlé“, wie er seinen Schwiegersohn abfällig nannte, gegen seinen Willen heiratete. Und jetzt, wo der Krieg einen tiefen Graben zwischen Deutschland und Frankreich zog, würde Marie überhaupt noch die Möglichkeit haben zu kommen? Bertha bewunderte ihre große Schwester, die stets das machte, was ihr gefiel und immer schick angezogen war. Keine von den Geschwistern hatte eine so lustige Stupsnase, übersät mit Sommersprossen, wie Marie. Mit ihren graugrünen Augen konnte sie so vernichtend schauen, dass keiner ihr zu nahe kam.
Auch Katharina lebte nicht mehr zu Hause. Sie hatte einen Mann gefunden und wohnte mit ihm am Waldrand am Ende des Dorfes. Doch es verging kein Tag, an dem sie nicht auf einen Sprung vorbeikam, um nach dem Rechten zu sehen. Noch immer glaubte Katharina, die Mutter ersetzen zu müssen. Wenn sie sich von ihrem Zuhause fortstahl, musste sie dafür eine Zeit abwarten, in der ihr Mann abwesend war, so dass er es nicht bemerkte. Wenn er mitbekam, dass sie ihrem Vater und Bertha half, schimpfte er sie aus: „Kümmere dich um deinen eigenen Haushalt und unseren kleinen August. Dein Vater und deine Schwester sollen sehen, wie sie zurechtkommen.“
Katharina war noch immer ein verhuschtes Wesen und ließ sich von ihrem Mann drangsalieren. Stoisch, ohne zu klagen, ließ sie seine Schikanen über sich ergehen. Ängstlich war sie darauf bedacht, ihrem Mann alles recht zu machen und ihm das Essen pünktlich auf den Tisch zu bringen. Obwohl sie erst fünfundzwanzig Jahre alt war, sah sie müde und abgekämpft aus.
Bertha liebte ihre Schwester, konnte aber nicht viel mit ihr anfangen; sie war ihr zu ernst und schweigsam. Sie war zu jung um zu begreifen, dass Katharina sich aufopferte und Mutterstelle an ihr vertrat. Marie war ihr lieber. Mit der konnte Bertha lachen und erzählen.
Frieda, die zierlichste – und inzwischen quirligste – der vier Mädchen, war nur selten zu Hause. Schon seit drei Jahren war sie in einem Apothekerhaushalt in Pirmasens in Stellung. Ab und an durfte sie für ein Wochenende nach Hilst zu ihren Liebsten fahren. Frieda fand ihre große Liebe im Nachbarort Eppenbrunn. Sie war überglücklich, als der Geliebte um ihre Hand anhielt und sie sich verlobten, bevor auch er Soldat wurde.
Nur Pirmin und Bertha waren noch zu Hause. Pirmin, von Bertha vergöttert, war ein schmächtiger Bengel mit dunklem Lockenschopf. Mit seinen fünfzehn Jahren war er zu jung, um in den Krieg zu ziehen.
Aus einem Stückchen Holz schnitzte er die schönsten Figuren und die Geschichten, die er dazu erfand, ließen sie bei ihm sitzen und staunend zuhören. Vor ihren Augen entstanden Königreiche, die von Zwergen bevölkert waren, Wälder, in denen Elfen mit vielen zahmen Tieren zusammenlebten und Engel, die auf einem Regenbogen zur Erde rutschten. Des Nachts erschienen all die Märchenwesen in ihren Träumen.
Wenn Pirmin mit seiner glockenklaren Stimme sang, ließ sogar der Vater für eine Weile die Hände im Schoß ruhen. Auf Berthas jungen Schultern lastete die Hausarbeit, so dass der Zehnjährigen oft die Zeit fehlte, mit ihrem Bruder zusammenzusitzen; meist blieben dafür nur die Abendstunden.
In dem Dörfchen Hilst schaute die Armut aus jedem Fenster. Noch immer mussten die Frauen alles benötigte Wasser von den vier Dorfbrunnen nach Hause schleppen, da eine Wasserleitung und die Kanalisation fehlten.
Ging der Sonntag zur Neige, graute es Bertha schon vor dem Morgen, denn dann war Waschtag – der mühsamste Tag der Woche. Gleich nach der Schule musste sie eimerweise Wasser vom Dellbrunnen herbeischleppen, um einen großen Waschkessel damit zu füllen. Dort gab sie die Weißwäsche und gehobelte Kernseife hinein und brachte die Wäsche auf dem Herd zum Kochen. In der Küche war es dann auch im tiefsten Winter heiß und feucht wie an einem schwülen Sommertag.
Nachdem der Vater ihr dabei geholfen hatte, den Bottich mit der kochenden Wäsche vom Herd zu nehmen und die Lauge mit der Wäsche abgekühlt war, ging es ans Rubbeln und Auswringen. Schürzen, Socken und Arbeitskleidung kamen nun in die Lauge, die sie mit einem Wäschestampfer bearbeitete. Um die Wäsche sauber zu bekommen, musste sie die einzelnen Stücke auf dem Waschbrett rubbeln und oft noch die Wurzelbürste zu Hilfe nehmen. Ihre Hände waren schrumpelig und aufgeweicht, manches Mal riss die Haut über den Knöcheln vom vielen Reiben. Schweiß rann ihr in Strömen übers Gesicht. Der Dunst und der Geruch nach Pottasche und Seife erschwerten ihr das Atmen. Sie glaubte, tausend Nadeln in ihren Knien zu spüren, die sie piksten, vom langen Knien auf den Steinplatten. Morgen würde es ihr schwerfallen, aufrecht zu gehen, weil der Rücken schmerzte. Am liebsten mochte sie dann gar nicht aus den Federn steigen. So war das immer nach dem Waschtag.
In der Schule war es ihr unmöglich, dem Unterricht zu folgen, weil ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen. Einmal hatte der Lehrer ihr deswegen eine schallende Ohrfeige verpasst, woraufhin ihr tagelang das Ohr wehtat. Doch davon durfte sie ihrem Vater nichts erzählen, denn der würde sagen: „Wirst sie schon verdient haben.“ Sie seufzte und schüttelte die Gedanken aus ihrem Kopf. „Hör auf zu trödeln“, ermahnte sie sich.
Widerwillig stemmte sie sich vom Stuhl hoch und machte sich wieder an die Arbeit. Um die Seife auszuspülen, musste sie einige Male zum Brunnen laufen, denn die nasse Wäsche war zu schwer, um sie auf einmal zu tragen. Aber das Gröbste hatte sie geschafft und die angenehmste Zeit vom ganzen Waschtag lag vor ihr.
Am Brunnen traf sie immer Frauen und Mädchen, die dieselbe Arbeit verrichteten, und dabei wurde meist erzählt und gelacht. Nur wenn die Tage kürzer wurden und die Kälte sich durch die Kleider fraß wie ein hungriges Tier und die Hände gefühllos wurden, da sah jede zu, dass sie schnell wieder nach Hause kam.
Zurück in der kleinen Wohnung, klammerte Bertha die Wäsche an die quer durch den Raum gespannten Seile, so dass bald kein Durchkommen mehr möglich war. Sie freute sich immer, wenn das Wetter es erlaubte, die Wäschestücke im Hof auf die Leine zu hängen, wo sie im Wind flattern konnten. Mit Stolz besah sie sich dann ihr Werk.
Von den grenznahen Dörfern Eppenbrunn, Kröppen, Schweix, Trulben und Hilst war letzteres das ärmste der sogenannten „Hackmesserseite“. Der Name entstand, weil einst im Jahr 1792 die Bürger dieser Gemeinden in Paris darum baten, in die französische Republik aufgenommen zu werden und dies auch bewilligt bekamen. Freiheitsanhänger aus der lothringischen Garnisonstadt Bitsch schenkten zu dem Anlass ihren pfälzischen Gesinnungsbrüdern eine Guillotine; fleißig nutzten diese das Instrument für Hinrichtungen.
Mit der Niederlage und Abdankung Napoleons im Jahr 1815 endete die Zugehörigkeit zu Frankreich. Die Bezeichnung „Hackmesserseite“ blieb im Gedenken an die Opfer erhalten.
Schon im ersten Kriegswinter hatten die Bürger in Hilst Mühe, genügend Nahrung auf den Tisch zu bringen. Sie empfanden die an den Häuserwänden befestigten Plakate mit dem Aufruf, nichts zu vergeuden, als blanken Hohn. Kartoffelschalen und Gemüseabfälle sollten sie sammeln und dem Vieh verfüttern. Auch sei es ratsam, die Kartoffeln mit der Schale zu kochen und überhaupt mit Lebensmitteln sparsam umzugehen. Das Papier, auf dem dies gedruckt war, hätte man sich sparen können, da dies ohnehin schon alle taten.
Bereits 1915 gehörte stundenlanges Anstehen für Lebensmittelkarten zum Alltag und der Schwarzhandel blühte. Mit ängstlichem Blick verfolgten die Bewohner den Postboten, wenn er durch den kleinen Ort ging. Erleichtert atmeten sie auf, wenn er keinen Brief für sie in seiner Tasche hatte, denn nur selten stand Erfreuliches darin zu lesen. Eine Glocke aus Angst und Sorge um die Söhne und Väter hing über dem Dorf.
Auch Berthas Vater musste die bittere Wahrheit durchleben, dass sein Sohn Balthasar auf dem „Feld der Ehre“ gefallen war. Nie würde er ihn wiedersehen.
„Warum mein ältester Junge, er war doch so tüchtig! Mit gerade mal neunundzwanzig Jahren muss er schon ins kühle Grab“, klagte Georg und grub die Hände in sein volles, weißes Haar.
Trauer machte sich breit in der kleinen Wohnung und nistete sich ein wie ein Schmarotzer.
Noch zwei weitere Male kam der Briefbote mit einer solch bitteren Nachricht in den folgenden Jahren. Auch Philip und Georg waren in dem verdammten Krieg, wie ihn nun auch der Vater nannte, gefallen. Längst war seine Begeisterung für den Kaiser erloschen.
Er vergrub sich in sein Elend und fragte sich, was er verbrochen hatte, dass so viel Leid über ihn kam.
Im zweiten Kriegsjahr erkrankte Pirmin schwer. Hustenanfälle, die sein Gesicht rot anlaufen ließen und an denen er zu ersticken glaubte, quälten ihn und waren mit nichts zu bekämpfen. Dazu kamen Fieberschübe und Appetitlosigkeit. Wochenlang saß Bertha ganze Nächte bei ihm am Bett. Immer wieder erneuerte sie die Wadenwickel und flößte ihm Tee ein. Doch alles Pflegen und liebevolle Umsorgen half Pirmin nicht, die Krankheit zu überwinden und wieder auf die Beine zu kommen. Bertha und der Vater mussten zusehen, wie das Leben in ihm Woche für Woche weniger wurde und der Tod seinem Leiden ein Ende setzte. Nur siebzehn Jahre durfte er erleben.
Der Vater und Bertha versanken in einem Sumpf aus Trauer. Bertha, die so gerne gelacht und gesungen hatte, fand lange Zeit nicht mehr zu ihrer Frohnatur zurück.
Der Krieg, der nach vier Jahren endete, hatte unsagbares Leid über die Bevölkerung gebracht. Hunger und Not waren allgegenwärtig. Von den vier Söhnen war nur Jakob lebend und körperlich unversehrt nach Hause zurückgekehrt. Doch seinen Übermut und Frohsinn hatte er verloren. Zu viele grausame Bilder hatte der Krieg in seine Netzhaut gebrannt.
Die Wohnung im Nachbarhaus mit drei Kammern hatte die Familie schon lange aufgegeben. Eine Schlafkammer, in der Jakob und der Vater schliefen, musste reichen. Für Bertha stand ein Bett in der Küche.
Das Lachen hatte dem Vater nie locker gesessen, doch jetzt war er auch noch schweigsam und in sich gekehrt. Oft ließ er die Arbeit ruhen, saß nur da und starrte ins Leere. Dann wieder war er unleidlich, hatte an allem und jedem etwas zu kritisieren und brummelte den ganzen Tag vor sich hin. Als gebürtiger Lemberger meckerte er über die Hilster Sturköpfe. „Halbe Heiden mit wildem Blut“ waren sie in seinen Augen. Nicht umsonst wurden sie von den umliegenden Gemeinden als „Hilster Wölfe“ bezeichnet.
Georg war zermürbt von dem vielen Leid, das ihm das Leben gebracht hatte. Er magerte ab und der Schlaf wollte sich auch nicht zu ihm gesellen. In so mancher Nacht, wenn Bertha aufwachte, sah sie ihn am Küchentisch sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben. Erschrocken, weil er sie aufgeweckt hatte, stand er dann auf, um wieder in seine Kammer zu gehen.
„Schlaf weiter, Bertha“, sagte er und strich ihr unbeholfen übers Haar.
Bertha streckte die Hand nach ihm aus und murmelte: “Vater, komm, setz dich ein bisschen zu mir, ich kann auch nicht schlafen.“ Sie fühlte die Trostlosigkeit, die ihn einhüllte, und bemühte sich mit aller Hingabe, dem gebrochenen Mann eine Stütze zu sein.
Die Jahre ließen Georg den Verlust seiner Söhne zwar nicht vergessen, aber sie linderten den Schmerz. Langsam nahm er wieder am Dorfgeschehen teil. Er staunte über die Initiative, die der neue Lehrer, der Bürgermeister und der Trulber Pfarrer ergriffen hatten: Endlich sollte eine Wasserleitung von der Trulber Mühlquelle herauf nach Hilst gelegt werden! Und das nach all den Querelen, die zwischen Hilst, Schweix und vor allem Trulben herrschten.
Auf die Initiative von Hilst hin bewilligte das Deutsche Reich, dass die drei Dörfer als ersten Zuschuss neunzigtausend Reichsmark aus dem Grenzfond erhielten. Das Geld würde jedoch nicht reichen, um die Wasserleitung zu legen, und das Projekt war zum Scheitern verurteilt, wenn die Bürger keine Eigenleistungen erbrachten. So spuckten die Männer in die Hände und packten es an.
Auch Georg nahm trotz seiner sechzig Jahre Schippe und Spaten zur Hand, um zu helfen, fehlten doch dem Dörfchen sechsundzwanzig junge Männer, die im Krieg gefallen waren und noch einige andere, die zwar den Krieg unversehrt überlebt hatten, aber vor der Not, die überall herrschte, nach Amerika geflüchtet waren. Doch die, die der Heimat treu blieben, wollten den Lothringern zeigen, dass die Deutschen nicht am Boden lagen.
Kein Wunder, dass Georg missfiel, als sein Sohn Jakob eine Frau aus dem Lothringischen heiratete. Wie konnte er dem Vater das antun, wusste er doch, wie sehr der die Lothringer ablehnte? Reichte es denn nicht, dass Marie mit einem Franzosen verheiratet war?
Mit Bangen verfolgte der Vater das Erwachsenwerden seiner Jüngsten, war sie doch alles, was ihm geblieben war. Trotz der Not, in der Bertha aufwuchs, sang sie bei jeder Arbeit und ihr häufiges Lachen steckte an. In ihren dunklen Augen blitzte stets der Schalk und um ihre vollen Lippen spielte ein Lächeln. Sah der Vater sie doch einmal nachdenklich und versonnen, sorgte er sich wegen ihres um zwei Zentimeter verkürzten Beines. Ob sie sich schämte, weil sie leicht hinkte – war es das, was sie quälte?
Nachdem die Arbeit des Tages geschafft war, traf sich Bertha mit den Jugendlichen aus dem Ort auf dem Dorfplatz. Eine große Linde zierte den Platz, deren Rinde unzählige Wunden trug, von Liebenden beigebracht, die Herzen und Buchstaben eingeritzt hatten. Wie ein Ring umschloss eine Bank ihren Stamm. In den Sommermonaten sangen und tanzten die ausgelassenen jungen Leute bis in den späten Abend unter dem mächtigen Baum. Manches Techtelmechtel fand dort seinen Anfang.
Auch das zwischen Bertha und einem feschen Jungen, der sie umwarb. Er hieß Jakob, wie ihr Bruder, und konnte genauso gut Mundharmonika spielen wie er. Hoch aufgeschossen, überragte er sie locker um Kopfeslänge. Sein Haarschopf glänzte wie das Gefieder eines Raben. Die Siebzehnjährige schmolz dahin wie Eis in der Sonne, wenn er sie mit Augen dunkel wie Ebenholz anschaute und ihren Blick gefangen hielt. Sie konnte nicht glauben, dass ausgerechnet sie, die Hinkende, von ihm beachtet wurde und fühlte sich geschmeichelt. Ihr Herz hüpfte ihr bis in die Kehle, wenn sie ihn sah. Abwesend und mit einem Lächeln im Gesicht verrichtete sie die Hausarbeit und schrak zusammen, wenn der Vater sie ansprach. Am Abend konnte sie nicht schnell genug die letzten Handgriffe erledigen, um auf den Dorfplatz zu kommen.
Georg merkte die Veränderung, die mit seiner Jüngsten vor sich ging. Schnell fand er den Grund für ihre Wandlung und redete ihr ins Gewissen: „Bertha, schlag dir den Jakob aus dem Kopf. Der Luftikus ist nichts für dich. Jedes Wochenende spielt er in einem anderen Dorf zum Tanz auf. Er ist nichts weiter als ein hergelaufener Musikant.“
Verlegen, dass der Vater sie durchschaut hatte, schlug Bertha die Augen nieder.
„Schau doch, aus welchem Haus er kommt, die Mutter eine Französin aus dem tiefsten Frankreich und der Vater ein Straßenmusikant. Mit solchen Leuten macht man sich nicht gemein. Du wirst nun abends zu Hause bleiben und dich nicht mehr mit ihm treffen, es ist nur zu deinem Besten!“
Bertha war folgsam, denn sie wollte ihrem Vater keinen Kummer bereiten, und ging schweren Herzens Jakob aus dem Weg. Mit hängendem Kopf schlich sie durch die Wohnung, kein fröhliches Liederträllern kam mehr über ihre Lippen.
Eine Freundin steckte ihr heimlich Liebesbriefe von Jakob zu, in denen er sie bestürmte, dass sie sich unbedingt wiedersehen müssten und er ihr seine Liebe beteuerte. Bertha fiel es täglich schwerer, sich nicht über die Anordnung des Vaters hinwegzusetzen. Nur wenn sie heimlich Jakobs Briefe las, war für kurze Zeit ein Leuchten in ihrem Gesicht, das der Vater zum Glück nicht zu deuten wusste. Am Ende jedoch siegte ihre Liebe zu Jakob, sie war stärker als ihr Gehorsam. Zum ersten Mal widersetzte sie sich ihrem Vater.
„Ich will mich doch nur mit meinen Freundinnen treffen, bitte lass mich zu ihnen gehen“, schwindelte sie ihm vor. Er glaubte ihr und sah keinen Grund, seinem Mädchen zu misstrauen, war sie doch immer ehrlich gewesen. Überglücklich fiel sie am Abend Jakob in die Arme, als hätten sie sich Ewigkeiten nicht gesehen.
Leider war Berthas Glück von kurzer Dauer, da der Vater sie erwischte, als sie Hand in Hand mit Jakob in der Dunkelheit spazieren ging. Er prügelte sie nach Hause. Eine schallende Ohrfeige nach der anderen landete auf ihren Wangen. Sie duckte sich unter seinen Schlägen, weinte und jammerte.
„Ich werde dir nicht noch einmal erlauben, abends aus dem Haus zu gehen! Das hast du nun von deinem Ungehorsam, in Zukunft triffst du deine Freundinnen nur noch am Tag. Ich verbiete dir, den Hallodri noch einmal zu sehen“, drohte ihr der Vater. Sie flehte ihn an und versuchte ihn zu überzeugen, dass Jakob sie doch liebe und sie ihn, so sehr, wie sie nie einen anderen Mann lieben könnte. Doch er blieb unerbittlich bei seiner Meinung, dass er nichts tauge und nicht der Richtige für sie sei.
Aufsässig dachte sie: „Nun erst recht, wir werden schon Wege finden, uns zu sehen.“
Nie war Bertha lieber in den nahen Wald gegangen, wo sie Beeren pflücken musste, um Gelee daraus zu kochen. Ein anderes Mal war Brennholz zu sammeln – willkommene Gelegenheiten, sich mit Jakob zu treffen.
Unter einem Fels, verborgen und dicht mit Bäumen umstanden, hatte Jakob ein lauschiges Plätzchen für ihr Stelldichein gefunden. Der mit Moos bewachsene Waldboden breitete sich wie ein weicher grüner Teppich darunter aus. Ein Platz wie geschaffen für die beiden, die sich ewige Liebe schworen. Sie glaubten sich sicher und unbeobachtet, nur belauscht von den Vögeln, die in den Ästen ihre Liedchen trällerten.
Mit der Zeit wurde Jakob fordernder, er wollte mehr als sie nur küssen und streicheln. Nach langem Zögern und Zaudern gab Bertha sich ihm hin. Sie erschrak über den Schmerz und später über das Blut in ihrem Schlüpfer, aber es war auch lustvoll, so eng mit dem Liebsten zusammen zu sein. Es verlangte sie immer mehr nach ihm.
Der Sommer war voller heißer Tage, die das Blut in Wallung brachten und das Begehren übermächtig werden ließen. Jung und verliebt wie sie waren, verschmolzen ihre Körper in Liebe, wann immer sie sich trafen.
Der September war gerade angebrochen, in den Brombeersträuchern glänzten üppig die schwarzen Beeren. Eifrig zupfte Bertha sie von den dornigen Hecken in die Kanne. Dass sie sich dabei die Arme zerkratzte, war ihr egal. Sie musste sich beeilen, den Behälter schnellstmöglich zu füllen, so dass sie danach noch Zeit hatte, sich mit ihrem Liebsten zu treffen.
Ihr Herz schlug vor Aufregung wie ein lautes Uhrwerk, als sie aus der sengenden Sonne in die schattige Kühle des Waldes trat. Der würzige Duft vom Harz frisch geschlagener Tannen und Fichten umgab sie. Lautlos ging sie auf einem Teppich aus Nadeln den vertrauten Weg. Eine leichte Brise spielte mit ihrem langen, dunklen Haar. Sie ließ sich auf den Boden nieder, aus dem ein dumpfer Hauch von Moder und Pilzen stieg.
Ihre Erkennungsmelodie pfeifend, näherte sich der Ersehnte. Als er sich zu ihr setzte, kitzelte der herbe Duft seines Schweißes ihre Nase. Sie fühlte seine warmen, trockenen Lippen auf ihrem Mund und schmeckte seine Küsse, die süß waren wie Karamellbonbons. Sie sank zurück auf den watteweichen Boden und er streichelte mit seinem kratzigen Kinn über ihre Wangen. Heiß streifte sein Atem über ihr Gesicht. Ein geheimnisvolles Wispern und Raunen lag in der Luft. Sie sog die Liebesbeteuerungen, die er ihr ins Ohr flüsterte, ein wie eine Verdurstende. Die Welt erstrahlte in ungewohntem Glanz, wenn sie mit ihm zusammen sein konnte. Sie küssten und liebkosten sich in der kurzen, gestohlenen Zeit.
Bertha wusste, dass sie Verbotenes tat und lebte in der Angst, schwanger zu werden. Der Pfarrer schimpfte mit ihr und nannte sie zügellos, wenn sie beichtete, dass sie mit Jakob Unkeusches getan hatte. Nur wenn die Freundinnen unter sich waren, sprachen sie über das Kinderkriegen.
Das Thema war heikel, jede wusste etwas anderes dazu zu sagen. Manche waren der Meinung, dass man schon von einem Zungenkuss schwanger werden konnte. Da dachte Bertha: „Dann erst recht von dem, was Jakob und ich tun“, und sie fragte sich, ob der Pfarrer am Ende recht hatte – war sie in der Tat zügellos?
Als ihre Periode ausblieb, war Bertha sofort klar: Nun ist es passiert. Panik ergriff sie. Was sollte sie tun, wen nur sollte sie fragen? Der Vater würde toben und sie schlagen, das war sicher. Außerdem würde sie sich schämen, ihm etwas von ihrer Periode zu erzählen. Die Einzige, der sie sich anvertrauen konnte, war weit weg.
Ihre Schwester Marie wohnte noch immer in Straßburg und wollte auch nicht zurück, obwohl sie Probleme mit der Sprache hatte. Oft stieß Marie auf Ablehnung von Seiten der Franzosen, die den Elsässern das Leben schwer machten und sie am liebsten alle nach Deutschland ausgewiesen hätten. Marie sprach nur wenig Französisch, wie hätte sie es auch lernen sollen? Bis 1918 sprachen alle in ihrer Umgebung das „Elsässer Dütsch“. Aber nach dem Krieg durfte in der Öffentlichkeit nur noch Französisch gesprochen werden.
Bertha wusste nicht, von wem sie sich sonst Rat erhoffen konnte. Sie schrieb Marie gleich am Abend einen Brief. Bertha befühlte ihren Bauch. Noch war er flach. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie die Schande verbergen konnte. Jeden Tag wartete sie nun auf den Postboten und war bitter enttäuscht, wenn er keine Post für sie hatte.
Nach vierzehn grausam langen Tagen erhielt sie Antwort von ihrer Schwester. Marie gab ihr den Rat, Jakob sofort von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, und dass dieser beim Vater um ihre Hand anhalten solle. Schon am nächsten Tag folgte Bertha dem Rat ihrer Schwester.
Jakob freute sich über die Nachricht und wäre am liebsten auf der Stelle zu Berthas Vater gerannt. Mit Engelszungen redete sie auf ihn ein, noch zwei, drei Tage zu warten. Ihre Regel war schon drei Wochen überfällig und doch hegte sie, gegen jede Vernunft, die Hoffnung, dass sie noch einsetzen würde. Nachdem Bertha ihren Kummer an Jakobs Brust ausgeweint hatte, trennten sich die beiden. Sie trottete nach Hause, noch keineswegs erleichtert; er nahm beschwingt einen anderen Weg ins Dorf.