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Band 185

 

Labyrinth des Geistes

 

Michelle Stern / Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Thomas Rhodan

2. Thomas Rhodan

3. Perry Rhodan

4. Perry Rhodan

5. Thomas Rhodan

6. Thomas Rhodan

7. Perry Rhodan

8. Perry Rhodan

9. Thomas Rhodan

10. Thomas Rhodan

11. Perry Rhodan

12. Perry Rhodan

13. Thomas Rhodan

14. Thomas Rhodan

15. Perry Rhodan

16. Perry Rhodan

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das den Menschen kosmische Wunder offenbart, sie aber immer wieder in höchste Gefahr bringt. Zeitweilig hat sogar die gesamte Erde evakuiert werden müssen.

2058 ist die Menschheit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und findet immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Terranische Union, Motor dieser Entwicklung, errichtet bereits Kolonien auf dem Mars und dem Mond.

Auf Luna tauchen mysteriöse Fremdwesen auf. Sie können sich unsichtbar machen und werden deshalb Laurins genannt. Kurz darauf bläht sich die Sonne auf, ihre Glut bedroht die inneren Planeten.

Währenddessen hat sich Perry Rhodan auf die Spur der geflüchteten Laurins gesetzt, gerät aber in Gefangenschaft. Er und seine Begleiter verfangen sich im LABYRINTH DES GEISTES ...

1.

Thomas Rhodan

 

Ein Summen. Ein leichter Perlmuttglanz. Ein grenzenloser Raum.

Tom Rhodan da Zoltral fiel, stürzte durch ein Nichts ohne Oben und Unten. Er schlug um sich, wollte sich festhalten, doch da war kein Halt. Seine Finger griffen ins Leere, glitten durch Luft und farblosen Wind. Wo war er?

»Farouq?« Sein Adoptivbruder antwortete nicht. »Farouq, was passiert hier?«

Keine Reaktion. Tom war allein. Wohin war Farouq verschwunden?

Unter Tom lag eine unendliche Weite. Alles darin war gleichförmig, endlos, ewig. Ein Reich aus Eintönigkeit, das ihn verschlungen hatte wie eine Kristallkatze ihre Beute. Er würde Stunden weiterfallen, Tage, Wochen, Monate. Vielleicht für den Rest seines Lebens.

Tom sollte Angst haben, doch er hatte keine Angst.

»Ein Traum«, sagte er laut. »Ich träume.« Er wusste, das traf es nicht ganz, dennoch erwachte er.

Der perlmuttfarbene Raum war verschwunden. Tom lag auf dem Boden, irgendwo in den lunaren Anlagen, in NATHANS Reich. Sein Körper fühlte sich an wie nach einem Kampf.

»Farouq?« Tom versuchte aufzustehen, doch er war seltsam schwach. Aus seiner Nase lief ein dünnes Rinnsal Blut. Seine Stirn schmerzte. In seinem Schädel pochte es dumpf, als klopfe jemand von innen dagegen, auf der Suche nach einem Ausgang.

Was war mit ihm und seinem Adoptivbruder geschehen?

Furcht kroch in ihm hoch, wand sich durch die Adern, nahm ihm den Atem. Im Traum hatte sich Tom unsterblich gefühlt. Nun war er in die Realität ausgespuckt worden, hinein in eine Welt, die ihm fremd war; bedrohlich wie eine dünne Eisfläche, unter der tödlich kaltes Wasser lag. Wo war er?

Das war definitiv nicht die Stelle, an der er eingeschlafen war. Etwas war geschehen, und Tom wusste beim besten Willen nicht, was. Ihm war, als hätte er irgendeine Aradroge ausprobiert, die ihm Stunden der Erinnerung geraubt hatte. War er nicht am Nexus gewesen? Beim Zeitkreell?

Vorsichtig tastete er über sein Gesicht. Da waren Bartstoppeln, mehr als zuvor. Es mussten Stunden vergangen sein.

Ein fernes Pochen erklang. Keine Morsezeichen oder ein anderer Kommunikationsversuch. Einfach ein dumpfes Schlagen, das sich stetig wiederholte.

Tom sprang auf, wischte sich das Blut mit dem Handrücken von den Lippen und stolperte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Die düstere, orangerote Notbeleuchtung zeigte ihm einen Gang, den er nie zuvor gesehen hatte. Er war schlicht gehalten, in dunkel angelaufenem Silber und kaum höher als zwei Meter. Die Wände standen unangenehm nah zusammen, schienen Tom erdrücken zu wollen. Wenn er ging, berührten seine Arme die Metalllegierung.

Toms Furcht wandelte sich in Ärger. »Du gehst zu weit!«, rief er NATHAN entgegen. »Hör endlich auf mit dem Mist!« Die Mondintelligenz war verantwortlich für diese Situation. Sie testete ihn und Farouq, spielte mit ihnen. Aber war das noch ein Spiel?

Wie so oft seit der Entführung gab NATHAN keine Antwort. In Tom kam eine beunruhigende Frage auf. Was wäre, wenn NATHAN verrückt war, infiziert durch irgendeinen Virus, oder auf andere Weise ernsthaft beschädigt, ja, vielleicht sogar von Feinden der Menschheit infiltriert, um ihn gegen die Erde zu verwenden?

Nein. Er fing schon an wie Ngata und dieser widerliche Kerl Willem. NATHAN war auf ihrer Seite. Es musste einen verdammt guten Grund für NATHANS Verhalten geben. Jedenfalls hoffte Tom das. Der Gedanke, einer wahnsinnigen Maschine ausgeliefert zu sein, war schlimmer als jeder Albtraum. Nur dass NATHAN keine Maschine war, sondern ein komplexes, anorganisches Denksystem. Konnte die Mondintelligenz verrückt werden? Bei Posbis war es möglich.

Fest stand: NATHAN hatte Tom und Farouq entführt, und er war nicht bereit, preiszugeben, wie lange dieser Zustand noch andauern sollte.

Dunkel kamen alte Erinnerungen in Tom auf, von seiner Zeit als »Gast« bei Agaior Thoton. Er schob die verstörenden Bilder zur Seite. Was interessierte ihn der alte Kram von damals? Er musste Farouq finden! Und zwar schnell! Ehe NATHAN irgendeine neue Schikane ausprobierte.

Das Klopfen wurde lauter. Tom bog um eine Ecke und sah Farouq am Boden sitzen. Sein Adoptivbruder machte den Eindruck, als hätte er zusammen mit Leibnitz ein paar Nächte durchgefeiert. Nicht, dass Farouq in der Beziehung ein Kind von Traurigkeit gewesen wäre, doch so schlimm hatte es den Marsianer selten getroffen. Die Haut unter den Augen war beinahe so dunkel wie die übergroßen, schwarzen Pupillen. Der graubraune Teint hatte die Farbe von Asche.

»Farouq! Was ist passiert?«

»Das wollte ich dich fragen! Ich erinnere mich daran, dass wir am Nexus waren und NATHAN mit uns geredet hat und dann ... das! Ich liege im Nirgendwo auf dem Boden und fühle mich, als hätte ich Onkel Regs Whiskysammlung geplündert. Ich bin nicht mal sicher, ob ich aufstehen kann. Schon an die Wand zu klopfen, ist eine Qual.«

»Komm!« Tom bot Farouq die Hand.

Der zog sich ächzend hoch. Seine Beine zitterten, drohten nachzugeben. »Geht«, stellte Farouq fest. »Fühlt sich aber scheiße an. Was denkt sich NATHAN dabei? Was soll das?«

»Was auch immer NATHAN plant, es muss wirklich wichtig sein ...« Tom hielt inne. Etwas Rotes huschte im Gang an ihm vorbei. »Hast du das gesehen?«

»Was?«

Wieder sauste ein roter Schatten durch Toms Blickfeld. Ein helles Summen begleitete ihn.

»Na das! Dieses rote, summende Ding!«

»Da ist nichts.«

Verwirrt schloss Tom die Augen. Er war unsicher, ob der Schatten real gewesen war oder aus seiner Erinnerung kam. »Ob wir noch unter dem Asmodeuskrater sind?«

»Na, wo denn sonst? Die spannendere Frage ist: Wie kommen wir hier wieder ...« Farouq keuchte und brach zusammen. Er schlug schwer auf den Knien auf.

Obwohl Tom ihn halten wollte, gelang es ihm nicht. Auch seine Beine gaben nach. Rote Lichtblitze zuckten um ihn. »Siehst du's jetzt?«

»Nein. Aber ... ich erinnere mich! Ich ...« Farouq fasste sich an die Stirn. »Zum Nexus, tut das weh!«

Auch durch Toms Stirn rasten Schmerzen. Das Rot wurde greller, schloss ihn ein, riss ihn mit sich einen wild tobenden Fluss hinunter. Das Summen stach in sein Gehirn. Von einem Lidschlag auf den anderen war er an einem ganz anderen Ort, ein ganz anderer Tom. Er kämpfte dagegen an. Der Mond war die Realität! Tom steckte mit Farouq in der Klemme, getestet von NATHAN, der etwas mit ihnen vorhatte.

Gleichzeitig war da ein zweiter Tom, ein zweites Sein in einer ganz und gar anderen Welt.

Ihm war, als hörte er NATHANS Stimme: »Hab dich!«

»Was ...?«, brachte er hervor und versank in Rot.

 

Unter ihm breitete sich der unwirtliche Planet aus, gewaltig, Hoffnung und Träume verschlingend. Obwohl der Gleiter klimatisiert war, meinte Tom die Hitze zu spüren, die von der Wüstenwelt ausging. Das, was in der Tiefe lauerte, schien ebenso grenzenlos wie lebensfeindlich zu sein. Ein Planet, auf dem nur Auserwählte überlebten, Wesen, die sich der Umwelt entsprechend angepasst hatten: Naats. Drei Meter hohe, füllige Klötze mit kurzen Säulenbeinen und langen Armen, einem klobigen, haarlosen Kugelkopf, drei großen Augen und einem dünnlippigen, ovalen Mund, der beinahe ein Drittel des Gesichts ausmachte. Sie hatten drei Mägen, wobei einer davon nur dazu diente, den Sand auszuwerten, der auf ihrer Welt allgegenwärtig war.

»So viel Rot«, murmelte Tom.

Der Naat hinter Tom versetzte ihm einen Schlag gegen den Kopf, der Toms Schädel dröhnen und seine Ohren klingeln ließ. Tom biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen Tränen, die ihm im Reflex aus Schmerz und Aufregung in die Augen schossen. Es war ihm verboten, zu sprechen. Er war ein Gefangener. Ein Sohn von Perry Rhodan und ein Mitglied von Free Earth. Beides war den Arkoniden ein Dorn im Auge, und damit auch ihren Dienern, den Naats.

Verstohlen schaute Tom auf die Anzeigen. Draußen waren es 42 Grad Celsius. Sie waren im Gebiet der Wüste Sandhölle. Schon seit der Ankunft auf dem Planeten kämpfte Tom gegen die hohe Gravitation. Zwar hatte man ihm und Farouq einen Schutzanzug gegeben, der die Belastung durch einen Antigrav erträglich machte und es ihm erlaubte, nicht die vollen 2,8 Gravos aushalten zu müssen, doch auch mit diesem technischen Hilfsmittel fühlte sich Tom zusammengestaucht wie unter einem Haluterfuß.

Er wechselte einen Blick mit Farouq und wusste, dass sein Adoptivbruder das Gleiche dachte wie er: Man ließ sie leiden, weil sie Gefangene waren. Prominente Gefangene. Auf Naat würde man ihnen nichts schenken.

Die Farben unter ihm wechselten. Sie erreichten das Ende der roten Felsplatten, flogen nun über weißgelben Wüstensand. In der Ferne ragte ein bulliges Bauwerk auf, das an eine Festung erinnerte. Der Sand hatte es abgeschliffen, sodass man keine Kanten mehr erkennen konnte. Es wirkte wie ein Kasten mit gerundeten Ecken, auf dem eine trutzige Pyramide stand, deren Spitze jemand abgefeilt hatte.

»Home, sweet home«, spottete Farouq und kassierte dafür einen Schlag auf den Hinterkopf.

Der Gleiter sank tiefer, durchstieß die unteren Schichten des azurblauen Himmels. Es war ein Himmel, der seine Farbe selten wechselte. Es gab keinen Niederschlag auf dieser Welt, kein Wasser, das als Regen zur Oberfläche fiel. Die wenigen Wasserreservoirs waren in arkonidischer Hand. Giftkanister an den unterplanetaren Becken sorgten dafür, das Volk der Naats gefügig zu halten und im Fall eines Aufstands rasch die Oberhand zu gewinnen.

Wenn der Himmel sich überhaupt veränderte, dann deshalb, weil der Sand ihn verschluckte. Besonders morgens und abends kam es zu Stürmen, die die Wüste in die Lüfte trugen und jede Orientierung zunichtemachten.

Tom war schon bei ihrer Ankunft aufgefallen, dass die Naats, die ihn und Farouq bewachten, sehr klein waren. Offensichtlich waren sie Kinder oder Jugendliche, noch nicht ausgewachsen. Der arkonidische Adlige, der ihren Flug in das Gefängnis von Bezira organisiert hatte, mochte die haarlosen Riesen nicht. Vermutlich hatte er vor Kindern weniger Angst als vor ausgewachsenen Exemplaren.

Sie landeten auf einem staubigen Platz in einer Grube, umgeben von meterhohen, grauen Mauern. Ein einziger weiterer Gleiter stand dort, ansonsten war der Platz verlassen.

Die beiden Jungnaats krochen aus dem Gleiter und erhoben sich. Zuvor waren sie auf allen vieren gewesen. Einen Piloten gab es nicht. Der Gleiter war automatisch geflogen. Es zeigte einmal mehr, wie gleichgültig die Arkoniden den Naats gegenüberstanden. Sie sahen in ihnen nur Kanonenfutter, effektive, aber dumme Soldaten und Bedienstete, die bedingungslos zu gehorchen hatten. Ging einer von ihnen verloren, forderte man eben einen anderen an. Der Nachschub war fast grenzenlos.

Tom sprang die für ihn viel zu große Stufe hinunter. Seit er auf Naat war, fühlte er sich wie ein Zwerg in einem Land der Riesen. Sand peitschte gegen seinen Anzug, pfiff an ihm entlang, schmirgelte das Material ab, als wollte es die Verbundstoffe auflösen. Hätte Tom das Visier geöffnet, hätte er kaum etwas erkennen können. Er schwankte in einer Windböe, fing sich ab, wahrte mühsam das Gleichgewicht.

»Da lang!«, dröhnte einer der Naats und wies auf ein stählernes Tor.

Tom beeilte sich, darauf zuzugehen, ehe er einen weiteren Schlag erhielt.

Farouq dagegen ließ sich Zeit. Er grinste Tom an, doch seine Miene wirkte verbissen. »Findest du immer noch, es war eine brillante Idee, Kommandeur Chetzkel einen Besuch abzustatten?«

»Das war dein Einfall, Bruderherz.«

Sie kassierten beide Stöße in den Rücken, wobei Farouq einige Meter nach vorn stolperte und damit zu Tom aufschloss.

»Klappe halten!«, befahl der zweite Naat.

Tom sah Farouq an, dass sein Bruder etwas entgegnen wollte, und schüttelte warnend den Kopf. Sie durften ihr Glück nicht überstrapazieren. Wenn die schwarzhäutigen Kolosse die Geduld mit ihnen verloren, konnte das ernsthafte Verletzungen nach sich ziehen.

Die beiden Naats trieben sie durch das sich öffnende Tor, hinein in einen Gang, der nach unten führte. Überall ringsum waren engmaschige, metallene Gitter, dick wie ihre Unterarme. Es summte unheilverkündend elektrisch.

Hinter dem Gitter machte Tom eine Bewegung aus. Er blieb wie angewurzelt stehen, suchte eine Lücke zwischen den Streben. Obwohl er sich schwach fühlte, wenig Hoffnung für seine Zukunft hatte und das Schlimmste befürchtete, erlag er doch der Faszination, eine Kreatur zu sehen, von der er nie gedacht hätte, sie einmal zum Greifen nah vor sich zu haben.

»Wow!«, machte Farouq und hielt ebenfalls an.

Die beiden Naats ließen es ihnen durchgehen. »Kristallspinne«, sagte der Kleinere von ihnen. »Gibt hier mehrere. Wenn ihr zu fliehen versucht, fressen sie euch.«

»Bezaubernde Aussichten«, kommentierte Farouq.

Tom starrte das Wesen an, das auf der anderen Zaunseite hinter einem zweiten, deutlich dünneren Gitter verharrte. Der Körper war vergleichsweise klein, doch die Beine überspannten zwölf Meter Sand. Die vier armlangen Kieferzangen wurden Kristallzähne genannt. Als Junge hatte seine Mutter ihm eine einzelne dieser Zangen gezeigt, aus denen das Tier sein lähmendes Gift verspritzte. Tom hatte drei Nächte hintereinander Albträume gehabt.

Die Spinne hob die Vorderbeine zu den Zähnen, putzte sie, als wollte sie sich für eine Mahlzeit bereit machen.

Auf dem kristallinen, panzerartigen Körper spiegelte sich ein Teil der Umgebung, sodass die Spinne vor dem Sand und den zahlreichen Netzen hinter ihr fast verschwamm. Sie wirkte wie eine Urgewalt in ihrem Zentrum, wie die Königin eines Reiches, das aus Tod und Verderben bestand.

Tom schüttelte den Kopf. Es war nur eine Spinne. Tödlich, ja, aber eben ein Tier, das fraß, weil es Hunger hatte. Falls die Naats die Kristallspinnen gewählt hatten, um ihre Gefangenen zu demotivieren, ging dieser Plan auf. Tom fühlte sich noch ein Stück kleiner, als er es auf Naat ohnehin tat.

Farouq suchte seinen Blick. Ohne Worte teilte er Tom eine Botschaft mit: »Lass dich nicht unterkriegen!«

Tom nickte schwach. Die Arkoniden hatten ihnen noch nicht mal den Prozess gemacht. Ein Sonderfall, der sicher einmalig in der zwei Jahrzehnte langen Geschichte des Widerstands auf Terra war. Der Grund waren ihre Eltern und das Spiel der Kelche. Farouq und er waren keine normalen Gefangenen, sondern Trümpfe, die der eine oder andere zu ziehen gedachte, wenn es an der Zeit war.

Die Naats drängten sie weiter, hinein in das klobige Gebäude. Dicke Mauern sperrten die Gitter, die Netze und die Spinnen aus. Es gab keine Aufzüge, keine sichtbare Technik. Sie mussten riesige Stufen erklimmen. Der Anstieg ging in Toms Waden und Oberschenkel, bis er meinte, seine Muskeln stünden in Flammen. Endlich erreichten sie einen Gang, der wie der Hauptkorridor aussah und sogar ein wenig geschmückt war. Statt der ausgebleichten, sandfarbenen Gestaltung gab es rote Linien, die schwungvoll über Weißgold verliefen. Tom erkannte, dass es Buchstaben waren, die Namen bildeten. Einige davon wirkten irdisch, die meisten jedoch arkonidisch.

»Weiter!«, dröhnte der kleinere Naat, als Tom stehen bleiben wollte, um die Namen zu lesen. »Du da lang!«

In Tom gefror alles. Der andere Naat drängte Farouq von ihm fort!

»Nein!«, rief Farouq. »Lasst uns zusammen!«

»Geh!«, befahl der Naat hinter Farouq Rhodan da Zoltral. Er versetzte ihm einen Schlag mit der offenen Hand gegen den Rücken, der Farouq von Tom wegtrieb.

Tom stolperte durch den Gang. Sein Herz schlug hart gegen Rippen und Brustbein. Zum ersten Mal, seitdem sie gefasst worden waren, hatte er wirklich Angst. An der Seite öffnete sich eine schmale Tür, die automatisch aufglitt. Es gab also doch Technik in diesem Bau.

»Da rein!«, ordnete sein Bewacher an. »Warten!«

Tom Rhodan betrat den Raum, wurde langsamer, während der Naat die Tür hinter ihm schloss. Völlige Dunkelheit umgab ihn. Er hörte sein eigenes, viel zu hektisches Atmen. »Es ist gut«, sagte er laut. »Es ist gut. Niemand hat vor, mich umzubringen. Die Situation ist nicht toll, aber ich komme hier schon wieder raus.«

Die Worte wollten ihn nicht trösten. Allein in der Dunkelheit, mit dem letzten Eindruck der lauernden Kristallspinne, schrien ihn seine Gedanken förmlich an. Durch den Schutzanzug bekam er keine Reize von der Außenwelt, spürte weder einen Luftzug noch Wärme oder Kälte. War das seine Zelle? Wurden sie in Einzelhaft gesperrt, ganz ohne einen Prozess? Es hatte geheißen, dass sie am Zielort ein Verfahren bekommen würden. Es ging nicht darum, ihre Schuld zu beweisen, die stand fest. Doch die Höhe der Strafe war offen.

Hatten es sich die Ankläger anders überlegt? Würden er und Farouq einfach ohne Prozess für immer verschwinden?

2.

Thomas Rhodan

 

Tom schloss die Augen. Sie nutzten ihm ohnehin nichts. Langsam beruhigte er sich. Er tastete den Raum ab, der klein und vollkommen leer war. Sicher war das nicht seine zukünftige Zelle. Der Naat hatte gesagt, er solle warten, also war das ein Warteraum.

Erschöpft setzte sich Tom Rhodan auf den Boden. Er hatte viel in seinem Leben erlebt – einem Leben im Untergrund, gejagt und verfolgt. Er war an einer Menge schlimmer Orte gewesen, und er würde nicht auf Naat sterben. Nein, ganz bestimmt nicht.

»Du weißt, was du tun kannst«, flüsterte eine vertraute, tröstliche Stimme in seinem Geist. Die Stimme seiner Mutter.

Thora da Zoltral hatte ihm und seinem Adoptivbruder Dagor beigebracht. Wahrscheinlich tat Farouq das Gleiche wie er, nachdem er seine Fäuste an den Wänden getestet hatte.

Tom richtete sich auf, leerte den Geist und vertraute sich Darth-Norh an – der Stille in sich. In dieser Stille war Weite, war Unendlichkeit. Da gab es keine Zweifel, weder Angst noch Zorn. Am Anfang hatte Tom Mühe, in den gewünschten Zustand zu finden, doch nach einigen Minuten glitt er immer tiefer hinein, vergaß, wer er war, was er an diesem Ort tat. Sein Atem beruhigte sich, der Herzschlag wurde langsamer. Es hieß, dass erfahrene Dagorista ihren Herzrhythmus auf nur einen Schlag pro Minute verlangsamen konnten. Ob das die Wahrheit war, wusste Tom nicht. Je mehr er einfach war, desto weniger interessierten ihn solche Fragen. Selbst die Zeit verlor an Bedeutung.

Als der Naat die Tür wieder öffnete und Licht eindrang, fühlte sich Tom erholt.

»Mitkommen!«, ordnete der dreiäugige Klotz an.

Tom stand auf und folgte ihm. Sie nahmen eine weitere Treppe, kamen an anderen Namen auf der Wand vorbei. Der Naat führte ihn in einen hellen Raum mit schlichter, aber geschmackvoller Einrichtung, die eindeutig arkonidisch war. Auf einer Art goldener Couch saß eine hochgewachsene Arkonidin mit leicht gebogener Nase und feuerroten Iriden.

Sie blickte kaum auf, als Tom eintrat. »Da ist er ja«, sagte die Arkonidin. »Kommen Sie in den Schutzschirm und setzen Sie sich, Rhodan.«

Tom tat ihr den Gefallen und ging auf sie zu. Ein Flirren vor ihm zeigte, wo er in die Strukturschleuse eintreten konnte. Nachdem er sie passiert hatte, war der Schirm unsichtbar, doch der Projektor stand weiß und kunstvoll ummantelt mitten im Raum. Tom setzte sich an das andere Couchende, öffnete den Helm. Staubtrockene Luft kratzte in seinem Hals und zeigte ihm, wie durstig er war. Die Luft schmeckte sonderbar, würzig und fremd. Eigentlich hatte Tom erwartet, dass sie geruchlos wäre, doch stattdessen dachte er an die Exkremente von Wüstenwürmern.

Die Arkonidin winkte dem Naat gönnerhaft zu. »Du kannst vor der Tür warten. Ich rufe dich, wenn wir fertig sind.«

Die Art, wie sie den Naat behandelte, strahlte Arroganz aus. Sie hatte das Gebaren einer Adligen.

Tom zwang sich, zu lächeln. »Wie es aussieht, kennen Sie meinen Namen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Tanura da Gamurel. Ich bin Ihre Thi-Essya – die Beraterin im Fall gegen Chetzkel.«

»Dann gibt es einen Prozess?«

»Aber natürlich! Ihre Schuld steht zwar bereits fest, doch es hat enorme Auswirkungen auf die Dauer der Strafe, wie Sie sich verhalten.«

»Wie ich mich verhalte? Das verstehe ich nicht.«

»Es kommt darauf an, ob Sie Ihre Tat und die damit verbundene Absicht gestehen oder nicht gestehen. Es steht fest, dass Sie gemeinsam mit ihrem Adoptivbruder Farouq Rhodan versucht haben, auf das private Gelände von Reekha Chetzkel einzudringen. Ihnen wird vorgeworfen, dies getan zu haben, um Chetzkel zu entführen. Unter uns – wenn es Ihnen gelungen wäre, diese missratene Kreatur in Ihre Gewalt zu bringen, hätten Sie eine Audienz im Kristallpalast verdient.«

Tom reagierte nicht auf den Satz. Er kannte Arkoniden, und er war nicht in der Position, dieser Frau zu vertrauen. Das mochte seine Lage schnell dramatisch verschlechtern.

»Von welcher Strafe reden wir? Wie lange?«

»Dass Sie Ihre Strafe auf Naat absitzen sollen, ist Ihnen bekannt. Unklar ist, ob es zwei, vier oder sechs Jahre werden, oder ob Sie straffrei ausgehen und sofort nach Hause fliegen dürfen, vielleicht mit einem kurzen Umweg über Arkon.«

Jeder Tag in dieser Hölle war ein Tag zu viel. Tom graute vor einer Zeitspanne von vier oder sechs Jahren. Er schluckte, als er darüber nachdachte, was da Gamurel gerade gesagt hatte. »Was für Jahre?«

Auf Naat dauerte ein Tag stolze zweiundneunzig Stunden und ein Jahr knapp 687 Tage.

»Die Jahre der Kolonie Larsaf Drei natürlich.«

»Gut. Und wovon hängt es ab, ob ich nun null, zwei, vier oder sechs Jahre auf dieser Welt verbringe?«

Da Gamurel klatschte in die Hände, worauf ein Servoroboter hereinrollte. Die Maschine brachte ein Tablett mit zwei Kristallkelchen, in denen eine goldgelbe Flüssigkeit schwappte. Tom erkannte das Getränk: Silbaran, eine erfrischende Kräutersaftmischung, angereichert mit Vitaminen und Spurenelementen. Er hielt sich zurück, um nicht gierig danach zu greifen. Es gab Spielregeln selbst in dieser Lage.

Da Gamurel hob ihr Glas vom vielfach geschliffenen Kristalltablett und nahm einen Schluck. »Das hängt von Ihnen und Ihrem Adoptivbruder ab, den ein anderer Thi-Essya betreut. Wenn sowohl Sie als auch Ihr Adoptivbruder Farouq Rhodan leugnen, dass Sie Reekha Chetzkel entführen wollten, erhalten Sie beide hierfür zwei Jahre, außerdem je zwei Jahre für das Eindringen auf das Privatgelände des Kommandeurs sowie den Versuch, sich der arkonidischen imperialen Gewalt durch Flucht zu entziehen. Gestehen Sie beide, erwarten jeden nur vier Jahre Haft. Ein Geständnis erspart Ihnen also die Höchststrafe.«

»Warum sollte ich etwas gestehen, was ich nicht getan habe?«, fragte Tom.

»Ach bitte! Wir wissen, dass Sie bei Free Earth sind, dieser verrückten Spinnerorganisation, die sich seit Jahren gegen das Protektorat auflehnt. Zu Ihrem Glück ist Free Earth nicht wirklich terroristisch. Stünde der Verdacht im Raum, dass Sie Chetzkel hätten töten wollen, würden die Kristallspinnen da draußen schon mal die Klauen wetzen.«

»Das tun sie auch so.«

»Wie auch immer.« Die Arkonidin nippte erneut am Getränk. Sie nahm kleine, nahezu possierliche Schlucke, die Toms Durst verhöhnten. Wenn er nicht unhöflich sein wollte, durften seine Trinkzüge nicht größer sein als ihre. »Ich war noch nicht fertig. Sie wollen wissen, warum Sie gestehen sollten? Ganz einfach. Wenn Ihr Adoptivbruder gesteht, Sie jedoch nicht, wird Farouq Rhodan als This'Sanntor straffrei ausgehen. Ich glaube, auf Larsaf Drei gibt es eine vergleichbare Regelung, wenn einer der Täter Kronzeuge wird. Sie würden in dem Fall als nicht geständiger Täter die Höchststrafe von sechs Jahren erhalten.«

»Das heißt«, begriff Tom sofort, »wenn ich gestehe, aber Farouq nicht, dann gehe ich straffrei aus und Farouq muss sechs Jahre in diesem Gefängnis bleiben.«

»Exakt. Sie sind rascher von Begriff als so mancher Essoya.«

»Wir haben Chetzkel nicht entführen wollen.«

»Selbst wenn nicht – bedenken Sie die Konsequenzen, falls Ihr Adoptivbruder gesteht! Farouq Rhodan ist ein Marsianer. Er ist umweltangepasst. Sicher kommt er auf dieser Welt deutlich besser zurecht als Sie. Haben Sie die Namen an den Wänden gesehen, als Sie durch das Gebäude geführt wurden?«

»Ja.«

»Das sind die Namen der Arkoniden und Menschen, die ihren Aufenthalt hier nicht überlebt haben. Es ist keine Seltenheit, dass die Naats vergessen, den Gefangenen die notwendigen Schwerkraftminderer zu reparieren. Viele bringen sich auch nach wenigen Monaten oder Jahren um, weil sie das ständige Leben in den Anzügen nicht ertragen. Manche halten keine sechs Wochen durch.«

»Ich vertraue meinem Bruder. Er wird nicht gestehen, nur um freizukommen.«

»Wie sicher können Sie da sein? Sie sind ein Sohn von Thora da Zoltral! Ihr Großvater war Imperator. Er hat die Welt des Ewigen Lebens gefunden. Wollen Sie Ihr Schicksal wirklich den She'Huhan und einer fremdartigen Vorstellung von Treue überlassen?«

»Sie kennen meine Antwort.«

»Aber Sie kennen die Botschaft von Satrak noch nicht, Larsafs Fürsorger. Ich werde Sie Ihnen abspielen. Bitte hören Sie aufmerksam zu. Sie sollten sein Anliegen ernst nehmen.«

Da Gamurel berührte einen Gegenstand, der wie eine Vase aussah, sich jedoch mit der Berührung veränderte. Die hohen Ränder glitten nach unten, in den Bauch hinein, bis das Gerät beinahe die Form einer Kugel hatte. Über der Öffnung erschien ein Hologramm, das Fürsorger Satrak in Miniatur zeigte. Der Istrahir war fast komplett von grauen Haaren bedeckt. Seine Körperhaltung war leicht gekrümmt, als wäre die Last seines Amts ihm mit den Jahren zu schwer geworden. Doch der lange Schwanz, der an einen Koboldmaki erinnerte, war ungemein aktiv. Er wischte hinter Satraks rundlichem Kopf durch das Bild. Satrak hob die großen Hände, streckte sie Tom entgegen. Die scheibenförmigen Fingerballen wirkten, als wollten sie sich an Toms Körper festsaugen.

»Tom Rhodan. Dies ist eine Nachricht für Sie. Ich hätte gern auf Ihrem Heimatplaneten mit Ihnen Kontakt aufgenommen, doch dort gibt es keine Sicherheit. Das Große Imperium überwacht auch mich. Was ich Ihnen durch Tanura da Gamurel anbieten möchte, ist ein höchst brisantes Angebot. Ich vertraue da Gamurel, weil sie wie Sie und ich nur zur Hälfte arkonidisch ist.«

Satrak machte eine kurze Pause, die übergroßen, in Orbitatrichtern liegenden Augäpfel bewegten sich gut sichtbar. Wie der kurze Hals und die fledermausartig vergrößerten Ohren waren sie extrem rotationsfähig. »Wie Sie vielleicht wissen, leben Istrahir in Sippen von und für die Gemeinschaft. Das Ganze ist mir sehr wichtig. Ich habe stets versucht, Gerechtigkeit walten zu lassen, gerade als Fürsorger. Nun nähert sich meine Zeit auf diesem Planeten dem Ende zu. Mein Heimweh ist unerträglich geworden, und das Imperium lässt mich endlich gehen, sodass ich die letzten Jahre nach Hause zurückkehren werde, selbst wenn man mich dort für einen Arkoniden hält. Sie kennen das Dilemma halben Blutes, doch ich schweife ab.«

Er machte eine weitere Pause, holte Luft. »Was ich Ihnen anbiete, ist meine Nachfolge. Wenn Sie gestehen und sich unter meinen Schutz stellen, werde ich Sie zu meinem Mündel machen. Ihr Vater hat immer wieder gezeigt, dass ihm das Wohl der Menschheit am Herzen liegt. Auch in Ihnen sehe ich diese Bestrebungen. Gestehen Sie Ihre Tat, und kommen Sie nach Hause zurück, um die Geschicke der Menschheit zu lenken. Das ist Ihre wahre Bestimmung. Sie werden der neue Fürsorger des Protektorats sein, ein Enkel des ehemaligen Imperators und dennoch ein Mensch unter Menschen. Bitte denken Sie gut über dieses Angebot nach. Es würde mich freuen, wenn Sie es annehmen.«

Das Bild erweiterte sich, zeigte den Wald hinter Satrak, die zahllosen Bäume aus seiner Heimat, die in seinem Palast standen, dann wurde es heller und heller, bis nichts mehr zu erkennen war. Die Projektion erlosch.

Tom saß ganz still auf der Couch, als könnte eine Bewegung die Welt in Teile zerbrechen lassen. Das war eine unerwartete Wendung, mit der er nie gerechnet hätte. Er könnte eines Tages selbst zum Protektor werden, ja, ziemlich bald sogar. War das nicht genau das, was sich Free Earth wünschte? Eine Welt, auf der Menschen das Sagen hatten, nicht Arkoniden?