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Band 186

 

Aufstand der Goldenen

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Erwachen

2. Zuvor: Die letzte Jagd

3. MAGELLAN

4. Monoceros-Ring, Ranaarsystem

5. Kontakt

6. Hoffnung oder nicht

7. Retroden-Alarm

8. DOLAN

9. Biofabrik, drei Stunden zuvor

10. »Wir wollen keine Feinde sein«

11. Ein anderer Plan

12. Am Abzug

13. Raumstation

14. Übernahme

15. Geschafft

16. Icho Tolot

17. Die Stille

18. Abschied

19. Kriiyrsystem

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das den Menschen kosmische Wunder offenbart, sie aber immer wieder in höchste Gefahr bringt. Zeitweilig muss sogar die gesamte Erde evakuiert werden.

2058 ist die Menschheit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und findet immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Die Terranische Union, Motor dieser Entwicklung, errichtet bereits Kolonien auf dem Mars und dem Mond.

Auf Luna tauchen mysteriöse Fremdwesen auf. Sie können sich unsichtbar machen und werden deshalb Laurins genannt. Kurz darauf bläht sich die Sonne auf, ihre Glut bedroht die inneren Planeten.

Während Perry Rhodan den Laurins nachspürt, fängt er einen verzweifelten Hilferuf auf. Dieser führt ihn zu einer untergehenden Welt. Dort gerät er geradewegs in den AUFSTAND DER GOLDENEN ...

1.

Erwachen

 

Der Schock brachte ihn zu sich.

Und den ersten Gedanken.

Wo ...?

Der zweite Gedanke folgte sogleich, der sehr viel wichtiger erschien.

Wer ...?

Beide Gedanken konnten nicht auf der Stelle beantwortet werden, und er konnte sich auch nicht weiter damit beschäftigen.

Etwas geschah mit ihm.

Das Gefühl des ... Anhebens. Und gleichzeitig floss etwas von ihm, wich und nahm die schützende Wärme mit sich. Kühl. Und ... trocken?

Ich ... bin ...

Leben. Ja. Das machte ihn aus. Vorher? Nichts. Keine Erinnerung an irgendetwas. Woher kamen die Erinnerungen nun?

Ich ... weiß ...

Es wurde immer besser mit den Gedanken. Und dann ... zu viel.

Trocken brachte noch etwas mit sich: Keine ... Luft ...

Er hustete, spuckte, keuchte, würgte. Es war ein schrecklicher, grausamer Moment.

Der verging. Hiiiiii ... Seine Lungen füllten sich mit Luft. Er begriff diesen Vorgang und konnte ihn benennen. Blut strömte durch seine Adern und versorgte sein Herz.

Aber sein Gehirn ... das kollabierte nun beinahe. Zu viele Eindrücke. Zu viele Erinnerungen, zu viel Wissen brach über ihn herein, alles durcheinander. Unmöglich, es zu sortieren, zu begreifen. Und das war längst nicht das größte Problem.

Die Koordination der Muskeln war es, die nun seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Bis er herausgefunden hatte, wie er die Lider öffnen konnte, vergingen sicherlich einige Minuten. Ein so einfacher Vorgang, aber Gehirn und Körper arbeiteten noch nicht miteinander, die Verbindungen mussten erst geschaffen werden.

Das schuf Zweifel. Wie konnte das sein? Das war so sicherlich nicht geplant gewesen. Dass es so schwierig sein würde. Sein Empfinden für Logik widersprach der Vorstellung, dass es immer so wäre.

Er wusste plötzlich, dass etwas schiefgegangen war.

 

Endlich! Die Lider hoben sich. Blinzelten dann die klebrige Feuchtigkeit beiseite. Zum ersten Mal blickten die Augen. Vorerst verschwommen, sie mussten zunächst lernen, scharf zu stellen. Zu fokussieren. Da war ... ein Licht über ihm. Grau. Kaum strukturiert. Unergründlich. Nichts, was in seiner Erinnerung verankert war.

Ich muss mich bewegen. Aufrichten. Umsehen.

Sein Körper lag in ... einer Box? Jedenfalls nicht frei. Das konnte er durch die Augenbewegungen wahrnehmen. Da er die Wände nicht an seiner Haut spürte, ging er davon aus, dass er genug Platz hatte, um sich aufrichten zu können.

Nächster Schritt: Verbindung zu den Extremitäten herstellen. Warum nur war das so schwer? Schiefgegangen. Ganz und gar schiefgegangen.

Geduld. Geduld. Sämtliche störenden Gedanken ausgeschaltet, konzentrierte er sich ausschließlich auf die Verbindung von Körper und Geist. Endorphine überschütteten ihn, breiteten sich mit großer Wärme in seinem Körper aus, als er das erste Muskelzucken aktiv erkannte, ausgelöst durch einen Gedankenimpuls. Kein Reflex. Ja! Nächster Befehl: Finger. Hand.

Er hob den rechten Arm, den linken. Bewegte vor seinen Augen die Finger. Tastete über das Gesicht. Dann berührte er seinen Körper, so weit er reichte – und das genügte, um den weiteren Prozess zügig in Gang zu setzen. Nun konnte er seinen Körper fühlen. Die Verbindungen kamen rasend schnell zustande. Wenige Augenblicke später setzte er sich auf und sah sich um.

Eine riesige, indirekt beleuchtete Halle. Durchsichtige Behälter wie seiner, Reihe an Reihe. Er sah undeutlich Körper, die in einer matt leuchtenden Flüssigkeit schwammen, so wie er noch vor wenigen Momenten. Eine Nährflüssigkeit, nahm er an. Schläuche und Drähte hingen überall heraus, die gläsernen Behälter waren übersät mit Buchsen und Kupplungen, von denen manche mit Kabeln und Schläuchen verbunden waren. Bei jeder Box stand ein Aggregat mit einem Terminal darauf, zu dem die Verbindungen führten. Leise piepte und summte es, die Monitoren zeigten diverse Linien und Kurven, Punkte und Messangaben. Manchmal rasten Listen von unten nach oben.

Manche Anzeigeschirme waren dunkel, ebenso die Boxen, von denen aber nicht alle leer waren. Bei anderen flackerte das Licht, ab und zu blitzte es sogar, und Funken stoben davon.

Das Gefühl, dass etwas nicht richtig war, bestätigte sich mehr und mehr.

Bewegung kam auf. Immer mehr Körper wurden aus ihrer Nährflüssigkeit gehoben. Manche husteten erstickt und wanden sich, andere lagen still wie er, entweder noch unfähig, den Körper zu kontrollieren, oder ... sie waren nicht fertig. Ja, das war es wohl.

Aber einige waren nicht fertig und bewegten sich trotzdem.

Der Nachbar des Erwachten setzte sich soeben mit einem Ruck auf. Dann drehte er den Kopf in seine Richtung. Nur ein Auge war voll entwickelt, das andere bildete gerade so den Schlitz. Die Nase fehlte.

Der Erwachte versuchte zu sprechen. Zuerst war es nur ein Krächzen, aber dann kamen wohlklingendere Töne über seine Lippen, die wiederum Worte formten. Sprechen. Sprache. Verständigung.

»Geht ... es ... dir ... gut?«, stammelte er mühsam. Es hörte sich seltsam an in seinen Ohren, aber sicherlich würde er sich schnell daran gewöhnen.

Hoffentlich konnte der andere ihn überhaupt verstehen. Zumindest ein Ohr war ausgebildet, aber ob das auch für den Gehörgang galt?

»Hab ... Geduld. Ich ... helfe dir.«

Der Zweite öffnete den lippenlosen Mund. Dann begann er zu schreien, so schrill, dass es in den Ohren des Erwachten schmerzte. Er versuchte, beschwichtigend die Hand zu heben, doch der Zweite schlug um sich, riss Schläuche und Drähte weg, erwischte schließlich den Rand des ... des Tanks, und dann ...

»Warte ...«

Aber der Zweite schrie weiter und hieb um sich. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stemmte er sich hoch, schwang sich über den Rand und landete mit einem hässlichen, platschenden Geräusch auf dem Boden. Auf dem Bauch, dem Gesicht. Die Schreie erstarben abrupt, und er regte sich nicht mehr. Eine dunkelrote Flüssigkeit kam unter seinem Körper hervor und breitete sich rasch aus.

Der Erwachte sah sich um. Immer mehr kamen zu sich und fingen an zu schreien, andere blieben stumm, weil sie keinen Mund hatten. Manche hatten nur rudimentäre Finger. Sie kämpften sich aus ihren Behältern. Manche brachen gleich zusammen, weil ihre Beine sie nicht tragen konnten. Andere konnten sich hinstellen und mühten sich ab, zu gehen.

Der Erwachte blickte an sich hinab. Bin ich der Einzige? Keiner schien so weit entwickelt zu sein wie er. Vielleicht hatte er deswegen so lange gebraucht, um die Kontrolle zu erlangen. Er wusste zwar noch nicht, was genau »fertig« bedeutete, aber zumindest musste er kurz vor der Vollendung gestanden haben. Alle Gliedmaßen ausgebildet, ebenso das Gesicht. Ah, doch etwas. Die Finger- und Zehennägel fehlten. Aber die waren nicht so wichtig.

Der eine oder andere richtete nun seine Aufmerksamkeit auf die übrigen Erwachten. Manche sprachen sich gegenseitig an.

Der erste Erwachte begriff noch immer nicht, was vor sich ging. Anfangs hatte er angenommen, er habe geschlafen und die Erinnerungen kämen erst nach und nach zurück. Aber es war ... ganz anders. Vor allem, wenn er die verschiedenen Entwicklungsstadien der Wesen ringsum betrachtete. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Er wartete auf eine Eingebung, doch die kam nicht. Noch nicht. Fest entschlossen, alles herauszufinden, kletterte der Erwachte vorsichtig aus seinem Tank. Mittlerweile hatte er eine recht gute Kontrolle über die Muskeln und darüber, welches Körperglied er einsetzen wollte.

Vorsichtig stellte er sich auf die Füße, spannte die Muskeln an – und stand. Hielt seinen Körper in der Senkrechten. Also wagte er einen Schritt, den nächsten. Das ließ sich gut an.

In der Halle herrschte inzwischen Chaos. Nicht alle, die erwacht waren, schafften es, ihre Tanks zu verlassen. Oder sich anschließend koordiniert weiterzubewegen. Manche schienen über den Schock des Erwachens den Verstand zu verlieren, der noch gar nicht voll erwacht war. Oder nicht voll entwickelt. Sie schrien und kreischten, bis andere sie niederschlugen oder sie sich selbst so sehr verletzten, dass sie starben oder zumindest das Bewusstsein verloren.

Einige wurden aggressiv und griffen blindwütig jeden an, der in ihre Reichweite geriet. Oder sie setzten alles daran, die Tanks systematisch zu zerstören – mit oder ohne Inhalt. Dabei stürzten einige Zuchtbehälter um und ergossen ihren fauligen, stinkenden, verdorbenen und glitschigen Inhalt über den Boden. Abgerissene Kabel lösten Kurzschlüsse aus, einige schwangen zischend herum und versetzten gerade Erwachten tödliche Elektroschocks.

Es gab auch welche, die standen still und ruhig da und warteten ab. Sie begriffen noch nicht, wussten aber, dass die Erklärungen nicht mehr fern waren. Genau wie der Erwachte gingen sie es langsam an. Die meisten von ihnen waren fast so gut entwickelt wie er.

Zu ihnen fühlte sich der Erwachte sofort hingezogen. Jeder Verbündete war eine Bereicherung. Sie hatten etwas zu erledigen, sie alle. Was das war, wollte er endlich herausfinden. Seine Zuversicht, dies auch bewerkstelligen zu können, wuchs im gleichen Maß, wie sein Gehirn immer besser arbeitete und Informationen bereitstellte, die vor ein paar Sekunden noch nicht da gewesen waren.

 

Der Erwachte wandte seinen Blick von dem Chaos ab, auch von den Ruhigen. Sie beobachteten ihn und warteten ab. Suchend sah er sich um. Vielleicht sein Terminal? Langsam näherte er sich dem summenden Aggregat und tippte versuchsweise mit dem Finger auf das Eingabefeld obendrauf. Sofort wechselte die Bildausgabe. Ein Gesicht erschien auf dem Schirm. Es war nur grob gestaltet, wirkte jedoch vertraut.

»Du hast eine Taste gedrückt.«

Die Stimme klang ein wenig blechern. Aber das Gesicht zeigte Bewegung, vor allem der Mund. Es sah ... ja, freundlich aus. Lächelte, erkannte der Erwachte die Mimik.

Der Erwachte versuchte es mit einer Antwort. »Ja.«

»Benötigst du Hilfe?«

»Ja.«

»Was möchtest du tun?«

»Ich weiß nicht ...«

»Was möchtest du tun?«

Hm. Das Bildschirmgesicht war also nur zu automatisierten Reaktionen imstande, die lediglich hinsichtlich der Wortwahl frei zusammengesetzt wurden. »Ich möchte Antworten. Über das, was gerade geschieht.«

»Das, was gerade geschieht?«

»Ja. Wir verlassen alle die Tanks. Warum?«

Eine winzige Pause. »Ich habe nachgeforscht. Ihr seid geweckt worden.«

»Was bedeutet geweckt? Ich kann mich nicht erinnern, schlafen gegangen zu sein.«

»Der Prozess war unterbrochen, doch nicht vollständig abgeschaltet. Das Erweckungsprogramm wurde eingeleitet.«

»Warum wurde das Erweckungsprogramm eingeleitet?«

»Meine Selbstdiagnose hat eine Funktionsstörung erkannt. Aufgrund eines noch näher zu spezifizierenden äußeren Einflusses. Es scheint sich um hyperenergetische Störungen zu handeln. Ich benötige einen Wartungstechniker zur weiteren Analyse.«

Der Erwachte überlegte. Es war also tatsächlich nicht beabsichtigt gewesen, dass sie alle aus dem Schlaf, oder was auch immer ihr Zustand gewesen war, geholt worden waren. Aber was bedeutete der Prozess war unterbrochen?

»Welcher Prozess hat hier stattgefunden?«

»Die Reifung. Kurz vor der Überstellung in den Finaltank. Dort werden die letzten Justierungen vorgenommen und wird die Geburt eingeleitet.«

Ergab das Sinn? Wahrscheinlich, sobald er die Zusammenhänge besser verstand.

Augenblick.

Geburt eingeleitet. Dem Erwachten wurde seltsam zumute. Das ergab doch bereits Sinn, wenn er das bisherige Geschehen zusammenfasste! Er hob die rechte Hand und betrachtete die nagellosen Finger. Er erinnerte sich an die Brüder, die sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befunden hatten.

»Wer bin ich?«, fragte er langsam.

»Ram Tar Yn.«

»Haben wir alle Namen?«

»Selbstverständlich.«

Immer mehr ordnete sich das Durcheinander in seinem Kopf, allmählich konnte er gezielt Informationen abrufen. »Wir sind Individuen?«

»Gewissermaßen.«

»Was soll das heißen: gewissermaßen?«

»Du bist Ram Tar Yn 28.«

»Was geschah mit den anderen?«

»Unbekannt. Ich finde nichts in meinem Speicher.«

Es spielte keine Rolle. Es gab die anderen 27 nicht mehr, nur ihn, dessen war er sicher. So wie bei allen anderen der Erwachten auch.

Es tat gut, einen Namen zu haben. Ram Tar Yn. Ja, das hatte Klang. »Was bin ich, und was ist meine Aufgabe?«

Die Antwort auf diese Frage sollte alles lösen, was noch in ihm verborgen war.

Das tat sie auch.

 

Ram Tar Yn wandte sich schließlich um. Die Überlebenden hatten sich hinter ihm versammelt, in respektvollem Abstand. Ein kurzer Überblick zeigte, dass der Rest es nicht geschafft hatte. Ein paar zuckten noch, aber sie würden bald sterben. Zu viele Fehler, zu wenig entwickelt.

Das machte nichts. Sie waren genug.

»Brüder!«, rief er. »Hört mir zu. Etwas Schreckliches ist geschehen. Wir haben in Stasis gelegen und wurden unerwartet daraus erweckt. Viele von uns haben dabei ihr Leben verloren. Ihr Überlebenden seid besser dran, jedoch nicht fertig. Auch ich bin nicht vollendet. Doch wir können damit leben. Unsere Fähigkeiten können auf andere Weise zum Ausdruck kommen. Wir sind eine perfekte Lebensform.«

Zustimmendes Gemurmel.

»Ich bin Ram Tar Yn«, fuhr er fort. »Wir werden jetzt aufbrechen, denn die weiteren Antworten können wir nur draußen erhalten. Ich warte am Ausgang auf euch. Geht an diesem Terminal vorbei und lasst euch euren Namen geben. Das Hilfsprogramm funktioniert noch einigermaßen. Es ist speziell dafür geschaffen, uns bei allen Fragen zu unterstützen, sollte etwas Unerwartetes geschehen und niemand sonst für uns da sein. Allerdings gibt es Störungen, sodass wir unsere Informationen anderswo einholen müssen. Lasst euch nun eure Namen geben und folgt mir. Finden wir heraus, was geschehen ist.«

Er drehte sich um und fühlte, wie sich seine Gesichtsmuskeln anspannten, verzerrten. Seine Fingerkuppen tasteten über sein Antlitz. Er brauchte es nicht zu sehen, um zu erkennen, welche Mimik er zeigte. Der Ausdruck war in seinem aktivierten Gedächtnis enthalten. Ein wesentlicher Zug seiner Art.

So also war es, wenn man finster lächelte.

2.

Zuvor: Die letzte Jagd

 

»Nun hab dich nicht so, Julen!«, sagte Derio Uxue und stellte die Ausrüstung zusammen. »Komm einfach mit.«

»Vater, ich habe dir schon wiederholt gesagt, das geht nicht.«

»Bist du der Mastir oder nicht?«

»Eben! Ich bin das Oberhaupt der Regierung. Was, glaubst du, werden mir die Kariden und das Parlament erzählen, wenn ich einfach verkünde: Ich habe heute keine Lust aufs Regieren und nehme mir frei?«

»Du hörst es ja nicht, denn du bist mit mir auf der Jagd und erfreust dich an der Natur und einem herrlichen Imbiss mitten darin.« Derio hielt kurz inne und grinste breit. »Es ist ja nicht das erste Mal. Du tust gerade so, als hättest du dein Amt erst vor Kurzem angetreten.«

Julen Uxue verdrehte die Augen. Er war groß und schlank, überragte seinen Vater um fast einen Kopf. Derio war mehr in die Breite gewachsen, weil er dem Essen sehr zugetan war. Und er scherte sich nicht darum, seinen wissenschaftlichen Posten zu verlassen und spontan einen Ausflug zu unternehmen. Obwohl er der Chef der höchsten staatlichen Forschungsabteilung war und aktuell eigentlich sehr viel zu tun hatte.

»Wir haben unsere Verantwortung zu tragen«, versuchte Julen, auf seinen Vater einzuwirken.

»Und müssen neue Impulse sammeln. Sei nicht so zimperlich, komm endlich mit!«

Neue Impulse sammeln? Julens Misstrauen war geweckt. Das brach zugleich seinen Widerstand endgültig; er konnte sich gegen seinen Vater ohnehin nicht durchsetzen. Julen regierte seit hundertzwanzig Jahren fünf Milliarden Ranaarer in oberster Instanz mit klugem Verstand und fester Hand, ließ sich nichts vormachen und trat mit der gebotenen Autorität auf – kuschte jedoch immer noch vor seinem alten Herrn. »Also schön, für ein paar Stunden«, sagte er lahm. »Ich verschiebe die Termine auf den Nachmittag. Aber dann muss ich zurück sein.«

»Perfekt!« Derio belud den Jipper und schwang sich für sein Alter und Gewicht erstaunlich behände ins Innere. Er startete den Motor und fuhr an.

Julen konnte seinem Büro gerade noch Bescheid geben, während er hineinsprang. Seine Mitarbeiter nahmen es gelassen; wie Derio gesagt hatte, es war nicht das erste Mal. »Hast du denn an alles gedacht?«, fragte er seinen Vater. »Und was jagen wir überhaupt?«

»Ja, habe ich. Und völlig egal.«

Derio lenkte den Jipper in voller Fahrt über die große Ausfallstraße in die Wildnis hinaus. Er hatte den Grundbesitz am Rand der Hauptstadt Raaniu von seinem Großvater übernommen, der noch Farmer gewesen war, hatte ihn ausgebaut und erweitert und ein gut florierendes Gut daraus gemacht. Julen besaß dort sein eigenes Haus, in dem er nach seiner sechsten Scheidung momentan allein lebte. Nur ab und zu nächtigte er in der Stadt, wenn ihn die Regierungsgeschäfte dort festhielten und es sich nicht lohnte, nach Hause zu fahren. Oder wenn er vor seinem Vater flüchtete, der ihn zu sehr in Anspruch nehmen wollte.

Allerdings liebten beide die Jagd, wobei es ihnen hauptsächlich darum ging, in der Natur zu sein. Sie hatten zwar stets Waffen dabei, die kamen jedoch selten zum Einsatz.

Julen hatte sofort nach seinem Amtsantritt gegen alle Widerstände dafür gesorgt, dass sich kein Konzern im Umland ausbreitete. Die üppige Wildnis bei Raaniu sollte unangetastet bleiben – als Erholungsregion für alle Städter. Julen hatte im Zuge der fortschreitenden Entwicklung der Technik im Allgemeinen und der Raumfahrt im Speziellen vor hundert Jahren das Projekt Exploration ins Leben gerufen. Die Ranaarer hatten seither eine Menge Raumschiffe gebaut, mit denen stattdessen im System und außerhalb davon nach Rohstoffen geschürft wurde.

Seit einiger Zeit wurden in aller Eile noch größere Frachter gebaut. Dabei wurde vor allem Wert auf Robustheit gelegt.

 

Sie hatten die Hauptstraße bald hinter sich gebracht und polterten mit dem geländegängigen Jipper nun quer durchs Land. Einige Grasspringer, die sich gestört fühlten, hüpften mit empörtem Quieken davon, aber die meisten Tiere hoben nicht mal den Kopf. Nach einer Stunde hielt Derio an und schlug vor, sich erst mal ein Päuschen zu gönnen.

Julen hatte nichts dagegen, denn er hatte noch nichts zu sich genommen. Allein zu frühstücken, war immer noch nicht angenehm, weswegen er das zumeist im Präsidium nebenbei erledigte. Derio aktivierte den Picknickkorb, der aus dem Wagen schwebte, am bezeichneten Platz verharrte und sich dort nach und nach entfaltete. Diverse Leckereien und Getränke wurden auf dem Tisch präsentiert. Die beiden Männer setzten die stark verdunkelnden Brillen auf, machten es sich auf Schwebepolstern gemütlich und ließen es sich schmecken.

Die Landschaft um sie herum erglühte in Schattierungen roter Töne, das Gras war violett, viele Bäume hatten weiße Stämme und goldfarbene Blätter. Der Himmel zeigte sich wie fast jeden Tag in wolkenlosem, hellem Rot.

»Täusche ich mich, oder ist es schon wieder greller geworden?«, fragte Julen zwischen zwei Bissen und rückte die Brille zurecht. Bald würde er die nächste Verdunkelungsstufe benötigen. »Ranarot scheint mir schon wieder gewachsen zu sein.« Seine Blicke schweiften über den Himmel. »Ranaweiß ist inzwischen nicht mehr zu sehen.«

»Du täuschst dich nicht, Junge.« Derio nahm genüsslich einen Schluck Sommerrubinwein. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Scheint mir auch so. Ich hatte vor, heute Nachmittag eine baldige Konferenz mit den Hauptkonzernen und den größeren Provinzregierungen anzuregen. Wir müssen handeln.«

Julen beobachtete eine sechsstrahlige Garrx, deren Haus mit langen Stacheln ausgestattet war und die erstaunlich schnell herankroch, eine breite Schleimspur hinterlassend. Das Gras darunter verdorrte augenblicklich. Jedes Insekt, das darin lebte und zu entkommen versuchte, wurde mit zwei hervorschnellenden Pseudopodien geschnappt und kurzerhand gefressen.

Die meisten Vertreter der Gattung waren nur handtellergroß, diese Garrx jedoch maß gut einen halben Meter in der Länge. »Die sind schon wieder gewachsen«, stellte Julen angeekelt fest und schwebte ein wenig höher.

In diesem Moment schoss aus dem Erdboden ein anderes Wesen hervor, mit starken, schweren Greifzangen und riesigen Mandibeln. Ungeachtet der mörderisch spitzen Stacheln griff das doppelt so große Insekt die Garrx an. Die Molluske wich jedoch aus, zog sich in ihr Haus zurück.

Julen war fassungslos. »So einen großen Sherk habe ich noch nie gesehen!«

Derio war schon dabei, Aufnahmen zu machen.

Der Sherk schleuderte seine Greifzangen immer wieder knallend gegen den Panzer der Garrx. Deren Stacheln wurden von der harten Schale der Greifzangen zerschmettert, die wie ein Trommelfeuer dagegenschlugen. Das gepanzerte Haus der Garrx zerbrach nicht, sondern kippte durch den Druck nur ein wenig zur Seite. Sofort schossen die Mandibeln des Sherk nach vorn, packten das weiche Fleisch des Opfers und fingen an, die Garrx aus dem Haus zu ziehen. Die Molluske wusste sich aber zu wehren, indem sie aus mehreren Drüsen ein Sekret versprühte, das feine Löcher in die Insektenpanzerung des Angreifers fraß.

Der Sherk ließ los und zog fauchend die verletzten Mandibeln zurück, setzte das Trommelfeuer gegen den Panzer der Beute jedoch fort. Gleichzeitig streckte er die Beine hoch und bog seinen fetten Unterleib unter dem Garxxgehäuse hindurch, krümmte sich immer stärker zusammen, bis es nicht mehr weiterging – und dann schoss ein Stachel daraus hervor, der sich in den weichen Molluskenleib bohrte.

Die Garrx wiederum antwortete mit einem ätzenden Sprühregen.

Am Ende des Kampfs erlagen beide Tiere, hoffnungslos ineinander verkeilt, ihren Verletzungen.

Julen bemerkte, dass sein Vater eifrig Notizen machte und die Aufnahme permanent mitlaufen ließ. »Aha, daher weht der Wind«, stellte er fest. »Hat sich was mit Jagd!«

»Nicht im ursprünglichen Sinn«, gab Derio zu. »Bevor ich dir einen langen, offiziellen Bericht schreibe und es öffentlich wird, solltest du dir das ansehen. Die Mutationen nehmen bei den niederen Tieren in der Geschwindigkeit und den Auswirkungen exponentiell zu. Meine zwanzigste Generation im Labor ist bloß halb so groß wie dieser Sherk hier. Ich schätze, in einer Woche sind es hier draußen schon weitere fünfzig Generationen, und dann reicht er dir ans Knie. Und die Garrx wird gelernt haben, ihre Stacheln zu schleudern.«

Julen verging der Appetit. »Ich muss zurück«, murmelte er.

»Das ist noch nicht alles, Sohn«, sagte Derio. »Und es macht mir Angst.« Er wies zum Himmel, an dem einige Vögel unterwegs waren. »Lass uns schnell abbauen und in den Jipper zurück. Ich schließe das Dach.«

»Aber das sind doch nur Vögel.«

»Du solltest besser auf meinen Rat hören.«

Julen folgte seinem Vater in den Wagen, der sich kurz darauf hermetisch abriegelte. »Aber was ...«

»Still! Beobachte einfach.«

Derio startete den Jipper und fuhr weiter, tiefer ins Land hinein.

»Wohin fahren wir denn?«, hakte Julen zusehends ungehaltener nach. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass sein Vater ihm etwas vorführen wollte, was er zunächst als harmlosen Jagdausflug getarnt hatte. Nicht unter Laborbedingungen oder in einer ermüdenden Konferenz mit vielen gescheiten Wissenschaftlern, die gescheite Reden schwangen.

Statt einer Antwort deutete der alte Wissenschaftler durch die Scheibe nach oben.

»Ein Vogelschwarm, ja und?«

Weiteres wortloses Deuten seitens Derio. In einer Senke vor ihnen grasten Hereduli, friedliche Pflanzenfresser. Deren Lebenszyklus verlief wie bei den meisten höher entwickelten Tieren so langsam, dass bislang keine Mutationen erkennbar waren. Das mochte noch einige Generationen dauern.

Sie waren durchaus wehrhaft mit ihren hoch stehenden Rückenplatten und den vierfachen, gebogenen Hörnern. Manche Ranaarer jagten sie gern, weil ihr Fleisch sehr schmackhaft war, aber Vater und Sohn hatten sich nie für sie interessiert. Sie legten sich lieber mit aggressiveren Wesen an, die nachts in Nutztierherden einbrachen und das Vieh dezimierten. Energiezäune konnten wegen der vielen Störungen seit einiger Zeit nicht mehr eingesetzt werden und die Angriffe von Räubern hatten entsprechend zugenommen.

Derio hielt an. »Und jetzt schau!«

Julen zuckte die Achseln, allmählich war er verärgert über diese Geheimniskrämerei. Sein Vater hielt schon wieder die Aufzeichnungsgeräte bereit.

Der Mastir wollte etwas sagen, doch da erstarrte er. Der Vogelschwarm hielt auf die Hereduli zu und verlor zusehends an Höhe. Es schien fast, als hätten die Flugtiere gemeinsam ein Ziel erkoren. Es waren Funkelkrecks, die aufgrund ihrer eher geringen Größe sonst lediglich Insekten erbeuteten. Die Hereduli beherbergten in ihrem dichten Fell sicherlich so manches Krabbelzeug, aber die Funkelkrecks waren nicht bekannt dafür, sie von den Schmarotzern zu befreien.

Schon gar nicht im Schwarm. Sie waren Einzelgänger.

Julen stellte die Fernbeobachtung auf seiner Brille ein und zoomte die vordersten Vögel heran. »Bei allen Taumlern, was ist das ...?«, flüsterte er.

In ihren Fängen transportierten die Funkelkrecks ... Schlangen.

»Ja, das sind Faquer, das habe ich befürchtet«, antwortete sein Vater.

»Die Springschlangen? Aber wie ...?«

»Sie haben sich ebenfalls rasant weiterentwickelt. Und zwar nicht in der Größe, sondern in der Anpassung ihrer Gifte und der Manipulation von nützlichen Wirten.«

Die Faquer lauerten normalerweise in Bäumen auf vorbeikommende Beute, auf die sie sich herabfallen ließen. Manchmal gelang es ihnen auch, Vögel anzuspringen, die dann erschrocken aufflatterten und wegflogen. Zuweilen ließen sich die blutsaugenden Springschlangen sogar von Flugtieren transportieren und dann auf Beute fallen, wie die Hereduli etwa. Oder sie bissen die Vögel später, etwa in deren Nest, und saugten dann das Blut der Brut.

Ihr Gift war absolut tödlich. »Und mittlerweile gibt es kein Gegenmittel mehr, denn mal ist es ein Nervengift, dann ein hämolytisches ... Wir können uns auf nichts mehr einstellen. Ihre Blutgier hat ebenfalls zugenommen, und die Faquer vermehren sich inzwischen rasend schnell. Innerhalb von Tagen gebären sie ovovivipar, meist in großen, zuvor getöteten Beutetieren. Die Nachkommen fressen sich durchs verwesende Fleisch und brauchen nur eine Woche, um auf volle Länge zu kommen und den Blutkreislauf zu erneuern.«

»Aber wie steuern sie die Vögel?«

»Anscheinend haben sie noch ein weiteres Gift entwickelt, um die Funkelkrecks zumindest in die gewünschte Richtung zu lenken. Und sie arbeiten in Gruppen, wie du siehst.«

»Das ist ...«, setzte Julen an.

»... schauerlich? Und ob!«

Tatsächlich: Die Funkelkrecks flogen in wenigen Metern Höhe über die Hereduli hinweg, die Schlangen wanden sich aus den Fängen der Flugtiere und ließen sich auf die Pflanzenfresser herabfallen. Diese bemerkten das wegen ihres dichten Fells wahrscheinlich nicht mal. Bald würden sich die Springschlangen zur Haut vorgearbeitet haben, zuerst Blut trinken, dann ihr Gift injizieren ...

»Und das macht dir Angst, weil ...?« Das konnte nicht alles gewesen sein. Sein Vater war jemand, der unerschütterlich, um nicht zu sagen ignorant in sich ruhte.