3Ernst Bloch

Geist der Utopie

Erste Fassung

Suhrkamp

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11Absicht

Wie nun?

Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.

Was jetzt war, wird wahrscheinlich bald vergessen sein. Nur eine leere, grausige Erinnerung bleibt in der Luft stehen. Wer wurde verteidigt? Die Faulen, die Elenden, die Wucherer wurden verteidigt. Was jung war, mußte fallen, aber die Erbärmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube. Von ihnen ist keiner verloren gegangen, aber die andere Fahnen geschwungen haben, sind tot. Die Maler haben die Zwischenhändler verteidigt und den Seßhaften das Hinterland warm gehalten. Es lohnt sich nicht mehr, darüber zu reden. Ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigen verhängt, von Mittelmäßigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschützt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern.

Und dieses allein ist wichtig. Wes Brot ich eß, des Lied ich sing. Aber dieses Versagen vor dem Kalbsfell war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die warmen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir bringen der Gemeinde nicht mit, weswegen sie sein soll, und deshalb können wir sie nicht bilden. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet — incipit vita nova.

13Die Selbstbegegnung

15Ein alter Krug

Ich sehe ihm gerne zu.

Fremd führt er hinein. Die Wand ist grün, der Spiegel golden, das Fenster schwarz, die Lampe brennt hell. Aber er ist nicht nur einfach warm oder gar so fraglos schön wie die anderen edlen alten Dinge.

Man hat ihn jetzt vielfach nachgeahmt. Das ist ungefährlich, aber es gibt auch kostbare antike Exemplare, glänzend erhalten, enghalsig, bewußt modelliert, mit vielen Rillen, schön frisiertem Kopf auf dem Hals und einem Wappen auf dem Bauch, und diese stellen den einfachen Krug in den Schatten. Doch wer ihn liebt, der erkennt, wie oberflächlich die kostbaren Krüge sind, und er zieht das braune, ungeschlachte Gerät, fast ohne Hals, mit wildem Männergesicht und einem bedeutenden, schneckenartigen, sonnenhaften Zeichen auf der Wölbung, diesen Brüdern vor.

Sie stammen zumeist aus der rheinfränkischen Gegend. Vielleicht sind sie schon römisch. Wenigstens erinnert der Ton, aus dem sie gebrannt sind, an billige römische Stücke. Auch klingt irgendwie eine italische Form in ihnen an, wenn auch noch so kräftig, zuerst soldatenhaft und dann nordisch vergröbert. Und nun sind sie weiter gewandert, aus der Taverne in die reichsstädtische Schenke, weingefüllt ringsum auf Regalen stehend, die Teniersschen Bauern mit den großen Nasen halten sie noch hie und da in den Fäusten, bis sie mit dem anderen verschwinden mußten, als alle gute bodenständige Handarbeit verschwand. Was an ihnen am meisten auffällt, das ist der Mann, der wilde Bartmann auf dem Bauch des soliden nordischen Gebildes. Damit spinnt sich ein seltsames Garn zu uns herüber. Denn die Toten sind trocken und müde, das mitgegebene Krüglein im Grab ist bald versiegt. Aber drüben verwahren wilde Männer neue Krüge, magische Krüge mit Lebenswasser. Sie sind zumeist an einsamen Hügeln zu treffen; noch heute heißen, verrufenerweise, einige solcher Stellen, vor allem in niederdeutschen Gegenden, Nobiskrug, und das Totenwirtshaus soll nicht weit davon gelegen sein. Die Männer weiden eine Herde, unfern dem Brunnen der Urd, dem das goldene Wasser entspringt, und geben auch wohl dem fragenden Toten Bescheid, damit er den Weg zur Heimat nicht 16verfehle. Derart ist der wilde Mann mit dem entwurzelten Tannenbaum in der Hand noch auf Gasthausschildern, desgleichen, da er die Geheimnisse des ewigen Schatzes behütet und kennt, auf Münzen und Geldscheinen, vor allem aber als Schildhalter niederdeutscher Fürstenwappen, auch des preußischen, allegorisch sichtbar geblieben. Doch hier, auf unserem Krug, blickt das Bärtige der Waldschratte noch unmittelbar heraus, die feuchten und dunklen Urwälder ältester Zeiten sind ganz nahe herangerückt, der Kopf des riesigen Troll spendet seinen faunischen, amuletthaften, alchimistischen Anblick. Sie sprechen aus der Zeit, die alten Krüge, da noch der Schlappohr und der feurige Mann auf den abendlichen Feldern der rheinfränkischen Gegend gesehen worden sein sollen und haben das Alte bäurisch, buchstäblich, unallegorisch bewahrt.

Es ist schwer zu ergründen, wie es im dunklen, weiträumigen Bauch dieser Krüge aussieht. Das möchte man hier wohl gerne inne haben. Die dauernde, neugierige Kinderfrage geht wieder auf. Denn der Krug ist dem Kindlichen nahe verwandt. Und zudem, hier geht das Innere mit, der Krug faßt und hat sein Maß. Aber nur noch der Geruch vermag einen feinen Duft von längst vergessenen Getränken mehr zu erraten als zu empfinden. Und dennoch, wer den alten Krug lange genug ansieht, trägt seine Farbe und Form mit sich herum. Ich werde nicht mit jeder Pfütze grau und nicht von jeder Schiene mitgebogen, um die Ecke gebogen. Wohl aber kann ich krugmäßig geformt werden, sehe mir als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen, und dieses nicht nur nachahmend oder einfach einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher, gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde. Das ist bei allen Dingen so, die gewachsen sind, und hier hat das Volk daran gearbeitet, seine Lust und tiefere Behaglichkeit in einem Trinkkrug auszuprägen, sich auf dieses Haus- und Schenkengerät aufzutragen. Alles, was derart jemals liebevoll und notwendig gemacht wurde, führt sein eigenes Leben, ragt in ein fremdes, neues Gebiet hinein und kommt mit uns, wie wir lebend nicht sein könnten, geformt zurück, beladen mit einem gewissen, wenn auch noch so schwachen Symbolwert. Auch hier fühlt man sich, in einen langen sonnenbeschienenen Gang mit 17einer Tür am Ende hineinzusehen, wie bei einem Kunstwerk. Das ist keines, der alte Krug hat nichts Künstlerisches an sich, aber mindestens so müßte ein Kunstwerk aussehen, um eines zu sein, und das wäre allerdings schon viel.

19Die Erzeugung des Ornaments