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Und ewig murmelt das Tier

Jeder Mensch ist ein Sonnenstern am Himmel des
täglichen Einerleis. Ein Stern, der den Weg weist und
eine Sonne, die all die kleinen Dinge des Lebens
beleuchtet und ins rechte Licht taucht.

Alexa Förster

© 2017 tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld

Autor: Alexa Förster

Lektorat: Natalie Nicola – Projekt Herzenstexte

Cover: Stefan Poier

Housefly: pixabay.com

Verlag: J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld · www.tao.de Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

ISBN

Paperback: 978-3-96051-837-2
Hardcover: 978-3-96051-829-7
e-Book: 978-3-96051-830-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Eingang

Anders Welten

Eine für alle – alle für Eine

„Ich sehe was, was du nicht siehst!“

„Carpe diem“

Sonnenstern

Wabenwelten

Der Klang der Stille

Trampelpfade

Traumzeiten

Weltschmerz

Ausgang

Über die Autorin

Dank

Eingang

Herausgelockt. Endlich kann ich die zähe nasskalte Düsterkeit der langen dunklen Monate abschütteln, die Knospen öffnen für das, was die neue Zeit bringen mag. Leichtfüßig schreite ich den vom Winter gezeichneten Weg entlang. Zarte Düfte der aufkeimenden Natur dringen in meine Nase, erwecken die Lust auf mehr. Mehr Zeit draußen zu verbringen, mehr Licht und Grün einzuladen, das Dunkel und die Kälte eine Zeitlang aus dem Leben zu verbannen. Beschwingte Heiterkeit liegt in der Luft. Ob auch die Pflanzen sich freuen, endlich wieder ihr grünes Kleid präsentieren zu dürfen? Ob daher die Leichtigkeit rührt, die mich umgibt? Ich kann sie spüren, diese heitere Beschwingtheit, so als würde ich mit jedem Atemzug ein wenig Helium einatmen. Es lässt mich meinen Weg entlang schweben. Die Natur – erwacht zu voller Pracht reißt mich förmlich mit. Ich finde ihre Kraft in mir, könnte Bäume ausreißen oder ihnen einfach beim Wachsen zuschauen. Ich entscheide mich für das Zweite und finde sogleicheine Parkbank, die mich zum Verweilen einlädt. Noch ist die Sonne nicht kraftvoll genug, um mich in den Schatten zu zwingen. Mich ihr entgegenreckend genieße ich das wohlige Gefühl, von angenehmer Wärme umhüllt zu sein. Zarte Wölkchen an einem blassblauen Himmel fangen meinen Blick. Im leichten Blau könnte ich versinken. Versonnen betrachte ich das langsame Schweben des wattegleichen Weiß, gebe mich meinen Gedanken hin, schließe sie den Wolken an und spüre, wie die Friedlichkeit des Dahingleitens auch eine tiefe Ruhe in mir hervorbringt. Frühlingshafte Wonne gepaart mit gleichförmiger Gelassenheit. Ein sich langsam näherndes Abrollgeräusch auf dem Kiesweg holt mich sanft zurück. Ein älterer Herr schiebt seinen Gehwagen auf der Mitte des Parkweges vor sich her. Auch ihn hat möglicherweise die Sonne herausgelockt. „Wie schön“, denke ich, „sicher möchte auch er sich an der aufkeimenden Natur erfreuen.“ Mit zum Boden gerichtetem Haupt geht er unsicheren Schrittes seinem Vehikel hinterher. Mir scheint, als müssen sich seine Füße erst wieder an die ungewohnte, außerhäusliche Belastung gewöhnen. Das Betrachten des alten Mannes setzt eine liebevolle Bewegung in meinem Herzen frei und macht mir zeitgleich die Vergänglichkeit meines eigenen Seins bewusst. Ich schaue ihn an. Der Kies knirscht erneut. Rollgeräusche dringen an mein Ohr und nähern sich stetig -Gesprächsfetzen – ein Lachen. In gemäßigtem, nicht forschem Tempo überholen zwei vom Frühling beschwingte Radfahrer den Langsamen. „Könnt ihr denn nicht aufpassen? Immer diese Raserei!“, zetert der Alte sogleich. „Die haben auch keine Achtung mehr vor dem Alter!“, brummelt er, während er sich die letzten mühevollen Meter zur Nachbarbank erkämpft. „Oh“, denke ich, „das Alter trägt schwer!“ Auf mein Ohr hoffend, verfällt der Eingeschränkte in einen deutlich vernehmbaren Monolog über all das, was ihm auf der Welt missfällt. Nicht achtend dessen, was ihn umgibt, schimpft er beständig weiter. In Ermangelung eines gleichgesinnten Ansprechpartners verklingen langsam seine Ausführungen und auch er gibt sich der naturuntermalten Stille hin. Ein zarter Lufthauch trägt herausforderndes Gezirp an meine Ohren. „Oh, sie unterhalten sich“, denke ich. Ob auch sie sich freuen, sich gegenseitig ihre frühlingshafte Begeisterung zuzuträllern. Ich lausche, gebe mich ihrer Melodie hin. Für einen kurzen Augenblick glaube ich, ich könne sie verstehen, möchte gerne ein Teil ihres Gespräches sein, ihnenauch von mir etwas erzählen. Doch mein Verstand bremst mich aus: Du bist ein Mensch, du kannst doch gar nicht fliegen! „Wie schade“, denke ich! Dabei würde ich doch so gern die Welt aus anderen Augen sehen. Hoch oben kreisen, um meinen Horizont zu erweitern, neue Perspektiven einzunehmen, meine Sichtweisen zu verändern. Einmal von oben auf das Leben schauen, seinen Sinn und Zweck neu entdecken.

Kindergeschrei reißt mich aus meinen Höhenflügen. Zum noch laubfreien Baum, der förmlich zum Klettern einlädt, rennen, gefolgt von der Obacht gebenden Mütterschar, eine Horde Knirpse. Mit Leichtigkeit erklimmt einer schon bald eine beachtliche Höhe, andere nesteln haltsuchend im unteren Geäst des kraftvollen Gewächses. Sorgenvolle Blicke sind auf die gerichtet, die sich außerhalb der Griffweite der hinaufstarrenden Mütter befinden. Ermahnungen, Rückrufe, aber auch Ansporn sind ihren Zurufen zu entnehmen. Schnell findet jedes der Kinder einen Platz auf dem Baum und die Situation beruhigt sich. Einige sind auf den Boden zurückgekehrt. Sie spielen Fangen um den Baum herum, während die sicheren Kletterer sich mit ihren Konkurrenten wetteifernd noch höher hinauftasten. Ich bin stiller Beobachter, niemand beachtet mich, selbst der Alte hat die Ruhe in sich gefunden. „Bin ich schon mit der Natur, der Bank verschmolzen?“, geht es mir durch den Kopf. „Sicher nicht, denn sonst würde ich nicht das harte Holz der eher unbequemen Parkbank in meinem Rücken spüren.“ Meine körperliche Wahrnehmung rückt in den Hintergrund, denn ein neues Geschehen bindet meine Aufmerksamkeit. „Das ist ja spannender, als fern zu sehen“, denke ich, „was für eine Vielfalt!“ Ein Rascheln in der Hecke, kratzende Schritte, eine kleine schwarze Nase ist das Erste, was sich in mein Blickfeld drängt. Es folgt ein weißer, flauschiger Körper auf vier Beinen. „Fuchur, der Glücksdrache“, ein Erinnerungsbild an die unendliche Geschichte schießt durch meinen Kopf. Verzückt stelle ich fest, dass das weiße Fellknäuel ihm verblüffend ähnlich sieht. Seinem wichtigsten Organ folgend, lässt sich der Vierbeiner vom ansprechenden Duft seiner zahlreichen Vorgänger leiten. Völlig versunken in seiner Welt gleitet sein Riechorgan den Boden entlang. Er verharrt kurz, um sich gleich wieder fortreißen zu lassen. Am anderen Ende der schwarzen Leine hängt ein junges Mädchen. Auch sie scheint tief versunken zu sein. Völlig eingetaucht in eine Welt, die ihre Aufmerksamkeit vollständig absorbiert, versinkt sie förmlich in ihrem Smartphone und lässt sie sich von dem Hund durchs Leben ziehen. „Ob sie wohl in ihrem Handy die von anderen Menschen eingefangenen und hochgeladenen Frühlingsimpressionen anschaut und sich an ihnen erfreut?“, frage ich mich. Es ist ihre Entscheidung und somit immer die richtige Wahl. Auch ich habe die Wahl und so besinne ich mich zurück, schließe meine Augen und lausche dem Vogelkonzert. Lasse mich von dem melodischen Zwiegesang in eine andere Welt hineintragen.

Als ich nach einer zeitlosen Dauer meine Augen wieder öffne, erblicke ich, wie sich in unendlicher Langsamkeit zwei Gestalten nähern. Sich das Leben in winzigen Schritten erschließend, erkundet ein kleines Mädchen die Welt an der Hand der geduldigen Oma. Den kurzen Zeigefinger in die Luft gestreckt, scheint ihre Neugier grenzenlos zu sein. Leise dringen auch ihre Fragen an mein Ohr. „Datt denn?“, fragt die Entzückte die Oma. „Ein Vogel – eine Blume – ein Baum“, antwortet die Geduldige. In der unnachahmlichen Art, wie nur kleine Kinder sich bücken können, nimmt das Mädchen einen Kiesel in die Hand und betrachtet ihn von allen Seiten. Wie einen Rohdiamanten wendet sie ihn vor ihren alles aufsaugenden Augen. In einem unachtsamen Moment der Älteren verschwindet der Stein im Mund der Erforschenden. „Mit allen Sinnen wahrnehmen“, geht es mir durch den Kopf. Als die Oma, die üblichen „Ihh“ und „Bah“ Laute ausstößt, kann ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Nach einigem Hin und Her wird die steinerne Errungenschaft widerwillig gegen einen Keks ausgetauscht. „Ausgetrickst“, denke ich. Stolz die Leckerei in Händen haltend, wird die Erkundungstour im Kinderwagen sitzend fortgesetzt. Alle sind zufrieden – ich auch. Die Zeit rinnt dahin, ich habe das Gefühl für sie verloren. „Habe so viel gesehen und doch nichts erlebt, dabei intensiv gelebt“, denke ich. Verspüre keinen Drang, meinen Platz zu verlassen, Dinge zu tun, die vermeintlich wichtiger sind als das, was mir der Moment zu bieten hat. Ob jemand meine Sicht teilt? Sich wie ich am Kleinen erfreuen kann? „Braucht es immer die großen Reize, die spektakulären Geschichten, um etwas zu erzählen?“, durchstreift es meinen Kopf. Meine Gedanken haben mich wieder auf ihre Seite gezogen. Ich bin mir ihrer bewusst. Sie ziehen lassend richte ich meinen Blick in die Ferne.

Gekicher holt mich ins Hier zurück. Die fest ineinander verwobenen Hände nehme ich als erstes wahr. Sich albern neckend, tänzelt ein Liebespaar den Weg entlang. Als würde ich einen mit Liebe gefüllten Raum betreten, wird auch mein Herz ganz weit. Liebvolle Blicke fliegen zwischen den voneinander Angezogenen hin und her, sagen: „Ich mit dir – du mit mir – nah bei dir – ich bin hier – sei mit mir!“ Rosazarte Hingabe gepaart mit frühlingsleichter Verspieltheit. Wunderbar! In mir regt sich etwas, Sehnsucht keimt auf. Ein kühler Lufthauch durchstreift mein Inneres und hat ein zartes Gefühl der Einsamkeit im Gepäck. Für einen kurzen Moment fühle ich mich unvollständig und allein. Mein rechter, rechter Platz ist frei, auch ich wünsche mir meinen Liebsten herbei. Damals, als wir dieses Spiel spielten, eilte sogleich der Gewünschte an meine Seite. Doch heute? Du bist nicht dort, wo ich bin, bist in deiner Welt, mit deinen Themen beschäftigt. Ein Hauch von Wehmut macht sich breit und doch spüre ich, dass gleichgültig wo du bist, dein Herz dem meinen nahe ist. Wohlgefühl – ein Augenblick der Seligkeit erfüllt mich. Die Sonne folgt ihrem Lauf, auf der Bank wird es langsam kühl. Ein frischer Lufthauch streift meine Haut, die Härchen stellen sichauf, mir ist kalt. Friedlich verlasse ich meinen Platz. „Sonne getankt, Wonne gefühlt, Welten gesehen. Nun ist der rechte Moment, nach Hause zu gehen und Geschichten zu schreiben, die Herzen erwärmen und Träume nähren“, denke ich und lasse mich von meinen Füßen den vertrauten Weg nach Hause führen.

Anders Welten

„Mein Name ist Anders Anderson – was haben sich meine Eltern nur dabei gedacht? Ich hätte doch auch Torben oder Ole heißen können, aber nein – Anders musste es sein.“ „Es hätte so schön geklungen, so wie eine eingängige Melodie“, sagt meine Mutter mit der Inbrunst der Überzeugung, immer wenn ich mich über meinen Namen beklage. „Anders – Anders“, denke ich oft, „wie soll jemand mit einem solchen Namen je die Chance haben, gewöhnlich zu sein.“ Vor einiger Zeit las ich im Wartezimmer beim Zahnarzt in einer Zeitschrift, dass viele Eigenschaften der Eltern auf das Kind übergehen. Wenn die Eltern die Eigenschaften eines Elefanten mit denen eines Löwen gepaart hätten, dann würde daraus ein robustes, schnelles, starkes und widerstandfähiges Kind werden. „Was aber, wenn die Eltern eine Maus und ein Hase sind?“, dachte ich voller Selbstmitleid. Was soll dabei schon herauskommen – eine Hasenmaus?! Meine Mutter, Elvira, kurz Elvi genannt, ist eine kleine unscheinbare graue Maus, schnell da, schnell wieder weg, mit piepsiger Stimme und in ständiger Sorge. Gerade an Tagen wie diesen, wenn die letzte winterliche Kälte den ersten Frühlingslüftchen weicht, dann strapazieren ihre überfürsorglichen Sätze mein Nervenkostüm: „Anders, mein Liebling, es ist kühl draußen, trägst du auch ein Unterhemd? Schatz, zieh dir Hausschuhe an, du wirst dich sonst erkälten! Andilein, es ist immer noch Mützenwetter.“ Wie ich diese Sätze hasse! Sobald ich die nächste Straßenecke erreicht habe, verschwindet das scheußliche Ding in meiner Schultasche. Aber damit nicht genug. Die Maus hat Adleraugen. Mit größter Wachsamkeit hat sie jede meiner Handlungen im Blick. Nichts bleibt unkom-mentiert. Ständig gibt es Aufforderungen etwas tun, zu lassen oder auf etwas besonders Acht zu geben: „Anders, tu dies – Anders, mach das. Komm heim, bevor es dunkel wird, ich mache mir sonst Sorgen. Sei vorsichtig, fahr nicht so schnell mit dem Rad, der Untergrund könnte rutschig sein. Sprich nie mit fremden Menschen, wer weiß, was da alles passieren kann! Ich muss dir sicher nicht sagen, was alles für schreckliche Dinge in der Welt geschehen können – oder? Versprichst du mir, ein anständiger Junge zu sein, ja?“ Wie ein Leierkasten trichtert diestets Besorgte gebetsmühlenartig ihre Sätze in mein Unterbewusstsein ein. Meine unmissverständliche Zustimmung erwartend schaut sie mich, während ihre Sätze an mir hinabgleiten, mit sorgenvoll aufgerissenen Augen an. Und was sage ich natürlich: „Ja, Mama. Ja, mache ich … – ja Mama, ich bin…!“ Wohlwissend, dass jeglicher Widerspruch aus ihrer Sicht völlig inakzeptabel ist. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass mein Leben einfacher ist, je öfter ich ihr kommentarlos zustimme. In manch stillen Momenten frage ich mich allerdings, warum mir eigentlich niemand vertraut oder etwas zutraut? Warum niemand davon ausgeht, dass ich selbst weiß, wann mir zu kalt ist oder die Ohren frieren. Oder, dass ich mit meinen elf Jahren alt genug bin, um Gefahren abzuschätzen? Warum nur? Glaubt die Elvi wirklich, dass sie mich mit ihrer Übervorsorge vor den Erfahrungen des Lebens bewahren kann? Manchmal – ganz manchmal denke ich darüber nach, ob ich vielleicht einmal „Nein“ statt immer nur „Ja“ sagen müsste und einfach abwarten sollte, was dann passiert. Doch es erscheint mir leichter, einem Vorbild zu folgen – dem Vorbild des Hasen im Bunde. Auch er kann der Maus kein Paroli bieten. Mein Vater, der Ulf, ist eher ein Hasenfuß. Er ist jemand, der schnelldie Beine in die Hand nimmt, wenn es einmal ernst wird. Wie ein mümmelndes Kaninchen stellt er seine Beschäftigung nur dann ein, wenn er abends todmüde zu Bett geht oder vor Erschöpfung auf dem Sofa einschläft, sobald sein Körper die Liegefläche berührt. Immer auf dem Sprung, kann er nie verweilen. Auch findet er nie die Muße, sich meinen Fragen zu stellen. Alles muss zügig gehen, denn das nächste Projekt, was dringend erledigt werden muss, wartet bereits. Zu mühevoll ist es ihm, Dinge zu erklären. Stillschweigend geht er immer davon aus, dass man alles aus sich selbst heraus kann. „Anders“, betont er überdeutlich, wenn er mich zur Mitarbeit zitiert hat, „du bist überhaupt nicht wie ich, gar nicht handwerklich geschickt. Da kommst du ganz nach deiner Mutter. Geh zur Seite und lass mich das mal schnell selber machen“, ist einer seiner meist benutzten Sätze. Und des Übels nicht genug, setzt er gern noch einen oben drauf: „Du bist auch zu nichts zu gebrauchen – hattest schon immer zwei linke Hände. Geh du nur zu deinen Büchern, da kannst du wenigstens nichts kaputt machen!“ „Tja, Anders, du Hasenmaus“, denke ich dann resignierend und resümiere die Vielzahl meiner Unzulänglichkeiten, „was hast du nur für tolle Grundlagen, um mutig und kraftvoll durchs Leben zu gehen.“

Doch damit nicht genug. Hasenmäusen präsentiert das Leben ständig neue Herausforderungen, so dass sie immer wieder spüren, wie sehr sie sich doch von den anderen unterscheiden. „Anders, komm und spring doch heute auch mal vom Dreimeterbrett!“, rufen meine Klassenkameraden, die höhnisch lächelnd schon die schwindelerregende Höhe erklommen haben. Am Beckenrand stehend fällt mir jegliche Farbe aus dem Gesicht, denn was die anderen sicher ahnen und doch nicht wissen: Hasenmäuse springen grundsätzlich nicht von Dreimeterbrettern, die kommen um vor Angst. Betreten haftet mein haltsuchender Blick am gekachelten Boden. „Warum bin ich eigentlich nicht unsichtbar“, denke ich fröstelnd. Viel zu leise murmele ich: „Ach nee, heute nicht, mir ist nicht wohl, ich habe Bauchschmerzen.“ Mein Worte – ein gefundenes Fressen für die Klassengroßschnauze, die gerade an mir vorbeischliddert. Sofort posaunt er heraus: „Ach Anders, der Ärmste – Bauchschmerzen hat er – so wie letzte Woche und die davor!“ Für alle hörbar dringt sein schriller Ruf durch die luftige Halle. Trophäengleich genießt er das Gelächter und die anschließenden Schulterklopfer seiner Kumpanen. Derweil stehe ich mit ampelrot angelaufenem Gesicht und gesenktem Haupt wie festgeklebt am Beckenrand. Von Unbehagen vollständig eingenommen kommen sich meine Füße auf den blassblauen Fliesen seltsam verloren vor. Absorbiert von einem mausgrauen Hasengefühl merke ich zu spät, wie unweit vor mir, die Wassermassen drastisch verdrängend, ein Klassenkamerad in das nasse Unbehagen einschlägt. Kaltes Nass ergießt sich unvorbereitet über meinen noch trockenen Körper. Erschrocken durch die feuchte Kälte dringt ein spitzer Schrei aus meiner rauen Kehle. Haltlos stolpere ich zurück, falle über meine eigenen Füße und lande unsanft auf dem harten Stein. Durch mein Ungeschick befeuert, bricht ein Sturm lauten Gelächters los. Ziel erreicht – alle schütteln sich vor Lachen. An solchen Tagen wünsche ich mir, im Erdboden – dem Zuhause der Hasenmäuse – zu versinken und erst wieder aufzutauchen, wenn ich erwachsen bin. Ungelenk vom Sturz und schwer getroffen durch die Schmach, schleppe ich mich zur Bank am Beckenrand. Dort sitzt bereits eine Gruppe von Mädchen, die heute auch nicht ins Wasser mögen. Ich wage keinen Blick in ihre Richtung. Um mein Unbehagen für alle sichtbar zu demonstrieren, halte ich schützend die Hände vor meinen Bauch. Mein Gesicht spiegelt meinen Schmerz. Nicht des Sturzes oder der Bauchschmerzen wegen zeigt sich das Elend in meinen Zügen, sondern vielmehr bahnt das Gefühl der Hilflosigkeit sich einen Weg nach außen. Es lässt mich angreifbar und schwach erscheinen. Als mich die Lehrerin fragt, ob ich wegen des Bauchwehs lieber nach Hause gehen möchte, schießen mir die Tränen in die Augen. Und als mich der angewiderte Blick der Mädchen trifft, ist die Spitze meines inneren Eisberges erreicht. Bevor ich vollständig zusammenbreche, springe ich von meinem Platz auf, verlasse fluchtartig die Schwimmhalle und renne schutzsuchend in eine der Umkleidekabinen. Die Rufe der Lehrerin, die mich auffordert, stehen zu bleiben, vermischen sich mit den qualvollen Tränen, die verzweifelt in meine bloßen Hände rinnen.

Wenn ich die Demütigungen gar nicht mehr aushalten kann, dann gehe ich manchmal auch nach Hause, doch oft fühlt sich das, was mich dort erwartet, auch nicht besser an – nur anders. Sobald die Tür zu einem unerwarteten Zeitpunkt in Schloss fällt, steht sogleich meine Mutter mit einem von Mitleid triefenden Blick vor mir, zerrt mich in den Hausflur hinein, öffnet meine Jacke und schiebt mich voller Besorgnis in das schützende Haus hinein. „Ach mein armer Liebling, ist dir wieder nicht wohl?“ Ihre sorgenschwangere Stimme beschwört mein Elend noch deutlicher hervor. Alsbald schon schwirrt die sorgsame Elvi nahezu pausenlos um mich herum. Eifrig kocht sie Tee, trägt Wärmflaschen hinter mir her, zwingt mich mit ihrer Überfürsorge ins Bett hinein. Versucht in aller Eile einen Arzttermin zu ergattern, erkundigt sich in kurzen Abständen nach meinem Befinden und flößt mir zu allem Überfluss übelschmeckende Medizin ein. Ohne mich aus den Augen zu lassen, wendet sie mir ihren Blick doch nicht wirklich zu, schaut nicht in mich hinein. Fragt nie nach, was mich wirklich bewegt, denkt lediglich, ich sei ein anfälliges Kind und mutmaßt, dass mein Bauchweh bestimmt an den vielen Süßigkeiten läge, die ich heimlich in der Schule vertilgen würde. Versteht nicht, dass all ihre Maßnahmen, bei dem Kummer, der nicht nur in meinem Bauch wohnt, wenig hilfreich sind.