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Nr. 2984

 

Projekt Exodus

 

Entscheidung auf Aurora – das Galaktikum wird bedroht

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Elidan

2. GALBRAITH DEIGHTON VII

3. BOX-11211

4. BELLÖRCY, derselbe Tag

5. Galakto City, derselbe Tag

6. Galaktikum: der Vorabend

7. Die Konferenz

8. Verschwunden

9. Angeklagt

10. BELLÖRCY

11. Hallo im Halo

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Davon ist er in diesen Tagen des Jahres 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung allerdings weit entfernt: In der von der Superintelligenz ES verlassenen Milchstraße machen sich Boten anderer Superintelligenzen breit, ebenso alte Feinde von ES und neue Machtgruppen.

Eine dieser Machtgruppen ist der sogenannte Techno-Mahdi, der das Solsystem unter seine Kontrolle gebracht hat. Sein wichtigster Repräsentant nennt sich Adam von Aures, und er scheint nach der völligen Unabhängigkeit von allen Hohen Mächten zu streben. Bei seinen Bemühungen hat er aber etwas ausgelöst, das den Untergang der Milchstraße nach sich ziehen kann: den Weltenbrand.

Der Weltenbrand wirkt sich auf die Sinne aller intelligenten Lebewesen aus – Licht wird zu grell, Wärme zu heiß, Kühle zu kalt, Geräusche zu laut. Nichts bietet echten Schutz dagegen, es gibt keine Vergleichswerte, keine echte Therapie, und nirgendwo einen Ort, der sicher ist. In dieser verzweifelten Situation plant Perry Rhodan das PROJEKT EXODUS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Kardinal-Fraktor wagt die Konfrontation und unterbreitet einen kühnen Plan.

Arval Las'Andossu – Der Vorsitzende des Galaktikums scheint ein wertvoller Verbündeter zu sein.

Anna Patoman – Die Kommandantin der GALBRAITH DEIGHTON VII hat eine eigene Meinung.

Anüyü-Trü-Zyr – Der Blues-Kommandant ist stolz auf einen delikaten Auftrag.

1.

Elidan

Das Ende naht

 

Daria Lambert, Persönliches Tagebuch, 27.4.1552 NGZ:

Der 25. April 1552 NGZ hat alles verändert. Ein einziger Tag!

Ich habe immer gedacht, bei den großen, den wirklich ganz großen Dingen geschähen die Veränderungen langsam. Doch das war ein Irrtum.

Da war dieses unglaubliche Himmelsspektakel, das uns alle aus den Häusern trieb und staunend zu den Sternen blicken ließ. »Ein Wunder«, flüsterte Mali, die gerade bei mir war.

Das fand ich nicht. Meine Welt lag seit 16 oder sogar schon 24 Stunden in Trümmern, da hatte ich keinen Sinn für solche galaktischen Ereignisse, an denen ich sowieso nur passiver Teilnehmer war und alles nehmen musste, wie es kam.

Ja, es sah toll aus, aber ein Wunder? Das fand ich in diesem Moment doch ein bisschen übertrieben.

Wir leben schließlich in einer Welt der Wunder. Wir haben alle technischen Errungenschaften, reisen überlichtschnell durchs All, haben uns auf Hunderten Welten ausgebreitet, haben Tausende Völker getroffen, und einer von uns sagt allen, wo es langgeht, und das schon seit Jahrtausenden, weil er unsterblich ist.

Ich dachte auch, ich würde die Unsterblichkeit in Händen halten, nämlich die ewige, wahre Liebe, die so viel gepriesen wird und von der ich glaubte, ich hätte sie gefunden.

Aber Kaniho hat Schluss mit mir gemacht. Alles beendet. Am 24. April.

Er sagte, er käme nicht. Nicht jetzt, nicht später, überhaupt nie mehr. Er sagte, er brauche Luft und müsse sich neu orientieren.

Am 23. April war alles so wunderbar zwischen uns gewesen, er schwor mir ewige Liebe und Treue. Und einen Tag später schickte er mir eine Sprachnachricht.

Er kam nicht persönlich vorbei oder rief an, nein, ich erfuhr es über eine gespeicherte Nachricht. Ohne Bild. Nicht mal in der Aufzeichnung wollte er, dass ich ihm in die Augen sehe, so unerträglich war ich ihm in knapp zwölf Stunden geworden.

Wir hätten dieses Himmels»wunder« zusammen betrachten können und es wäre ein unvergesslicher Moment gewesen, wahrscheinlich einer der schönsten meines Lebens.

Wäre, wenn nicht ...

Wenn: Nicht einer, sondern viele Gründe ließen es nicht dazu kommen.

Der erste war klar: Ich war sitzen gelassen worden, und deswegen habe ich die zweite Milchstraße nur mit meiner Familie und meiner Freundin gesehen, ohne dass dieser Moment für mich eine besondere Markierung darstellte. Zumindest an dem Tag.

Und jetzt kommen wir dazu, warum es auch mit meiner großen Liebe letztendlich zwar ein unvergesslicher, aber im Nachhinein ganz gewiss nicht einer der schönsten Momente meines Lebens geworden wäre.

Er veränderte mein Leben grundlegend, nicht nur wegen der Trennung vorher. Und nicht nur meines.

Alles hat sich verändert.

Und mein gebrochenes Herz wurde unwichtig.

Kommen wir damit zurück zu dem, was man als »Wunder« bezeichnet. Mali hat ihren Ausspruch bestimmt schon sehr bald bereut.

Und ich frage mich: Gibt es eigentlich auch ein negatives Wunder?

Falls bisher nicht, wurde es am 25. April definiert.

 

*

Sesina von Gyrfal

 

Wütend spurtete Sesina über den sandbedeckten Boden. Die langen Krallen ihrer kräftigen Zehen gruben sich in den Boden und wirbelten Schluff auf. Viele kleine Wolken, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur, zeichneten ihren Weg Richtung Felsen.

Sesina war sehr schnell, sie gehörte zu den besten und ausdauerndsten Läufern. Niemand holte sie ein, sobald sie auf dem freien Land ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Sie lief in weiten Sätzen, die bis zu fünf Meter reichten, bis zu den Dünen und den Felsen.

Die Grenzwächter standen in Gruppen und bildeten skurrile, vielfarbige Formationen, die alle einen Namen bekommen hatten: Alter Värenwürger, Baumspreizer, Fünf Horner und viele mehr.

Sesinas Lieblingsfelsen war Schwarzer Glänzer, ein hoher Felsen aus seltsamem glattem Gestein, wie es sonst nicht vorkam. Eines der Geheimnisse Gyrfals war eindeutig, woher dieses schwarze Material stammte, das sich gar nicht wie ein Fels anfühlte. Da seine plattenartigen Schichten schräg lagen, war es mit ein wenig Geschicklichkeit möglich, die Kanten und Stufen entlang nach oben zu laufen.

Die Spitze war vor langer, langer Zeit abgebrochen und bildete nun einen kleinen Vorsprung, auf dem die Gyrfali sich bequem hinkauern und die atemberaubende Aussicht genießen konnte.

An diesen Ort kam Sesina, wenn sie in aufgewühlter Stimmung war – ob nun freudig oder erbost. Um die Gedanken zu ordnen, um sich zu beruhigen. Fest stand: Es tat ihr jedes Mal gut.

Rotauge war ein Stück weitergerückt, als Sesina oben ankam, außer Atem nach dem schnellen weiten Lauf und dem anstrengenden Aufstieg. Das erstaunte sie, denn sonst konnte sie eine doppelt so weite Strecke zurücklegen, bevor sie erschöpft war. Hinzu kam, dass ihre Augen tränten – das Licht schien zu hell. Es war unangenehm.

Sie hatte sich kaum hingekauert, da hörte sie ein Rauschen.

Ja, natürlich. Heutzutage bewegte man sich auf Schwingen durch die Luft, wenn man etwas auf sich hielt.

Gyrfali waren groß und schwer, ihre Flügel längst im Lauf der Evolution verkümmert. Sie hatten sich zu beweglichen Armen mit drei kräftigen Krallenfingern entwickelt. Dafür waren die Beine umso länger und kräftiger geworden. Aber das genügte manchen nicht mehr, von Fortschritt war die Rede, von einem neuen Zeitalter, in dem es Neuerungen geben sollte.

Nach vielen Fehlschlägen war es gelungen, Flügelgestelle zu bauen, die stabil und beweglich genug waren. Die Hauptstütze ruhte auf den Schultern. Für die Steuerung musste der Gyrfali sich einer kleinen Operation am Nacken unterziehen, die künftig als »Stöpsel« eine neuralgische Verbindung zwischen den Rückennerven und dem aus Wurmzellen gezüchteten organischen Steuerstrang herstellte. Nach entsprechendem Muskeltraining und der willentlichen Steuerung waren die Flügel so beweglich, als wären sie auf natürliche Weise miteinander verwachsen.

Viele Gyrfali nutzten diese Möglichkeit, um schnell von Siedlung zu Siedlung zu fliegen, Handelsbeziehungen in kürzester Zeit aufzubauen und den Verlauf der Karawanen zu überwachen. Und natürlich auch, um Spaß zu haben.

Dagusi Abendrot Siebentöter war ihr gefolgt und landete kurz darauf flatternd und ein wenig ungeschickt neben ihr. Er rieb sich die Augen. »Das Licht ist heute unangenehm.«

Kurz überlegte Sesina, ob sie ihn einfach vom Vorsprung schubsen sollte, damit sie ihre Ruhe behielt. Doch sie ließ es sein. Dagusi Abendrot Siebentöter war ein Freund.

»Warum bist du fortgelaufen?«, fragte er.

»Weswegen wohl?«, gab sie zurück.

Ihr Zorn flammte erneut auf. Hier gestört zu werden, an ihrem heiligen Ort, und danach gefragt zu werden, weshalb sie dies oder jenes tat – das durfte sich wirklich nur ein sehr guter Freund erlauben!

»Willst du die Bewertung bestreiten?«

»Allerdings! Der zweite Name steht mir zu!« Sesina schüttelte die grünblau schillernden Federn und plusterte sie auf.

An den Armen waren sie am längsten, schön und glänzend wie Schwungfedern. Am Rest des Körpers dienten sie dem Schutz vor Hitze und Kälte, die Farben waren gedeckter. Die langen Schmuckfedern am Kopf hingegen leuchteten zumeist in allen Farben, weil sie die Stimmung wiedergaben. Sesina brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass die meisten Schmuckfedern gerade zornrot waren und wirbelviolett.

Dagusi Abendrot Siebentöter hatte sich letztes Jahr gewandelt und sich für Gelb entschieden, mit Schattierungen bis zu weichem Orange. Er war eine prächtige Erscheinung, hatte schon drei Namen in so kurzer Zeit, und zugegeben – die Flügel standen ihm ausnehmend gut.

Sesina war fast so weit für ihre Wandlung, hatte sich aber nicht endgültig entschieden, ob Grün oder Blau. Entsprechend hatte sie sich auch die Brustdaunen noch nicht ausgerissen.

An diesem Tag hätte ihr der zweite Name verliehen werden sollen. Je mehr Namen, umso höher das Ansehen. Man musste sie sich verdienen. Sesina hatte sich für »Morgensang« entschieden und ein Lied vorgetragen.

Streitlustig blickte sie zu Dagusi Abendrot Siebentöter auf, der neben ihr stehen geblieben war. Mit dem Gestänge war es nicht einfach, sich zu setzen. »Oder bist du der Meinung, mein Gesang sei schlecht?«

Er klapperte mit dem langen kräftigen Schnabel. »Im Gegenteil«, antwortete er sanft. »Deine Stimme ist ... einzigartig. Das meine ich ernst. Du musst weitermachen, es muss deine Berufung sein! Zieh von Siedlung zu Siedlung und bring unserem Volk den Gesang.«

»Aber warum ... wurde mir dann der zweite Name verweigert?«, pfiff Sesina mit scharfem Zischen.

»Weil du dich vorher wandeln musst«, antwortete Dagusi Abendrot Siebentöter. »Die Reihenfolge muss nun einmal eingehalten werden. Entscheide dich, sei endlich erwachsen, dann bekommst du deinen zweiten Namen. Das kann noch heute geschehen!«

Sesina dachte an ihre Eltern. Sie hatten inzwischen schon sieben Namen und waren hoch angesehen. Sie sahen es nicht gern, dass ihre Erstgeborene dem Alter nach zwar längst erwachsen war, aber nicht einmal einen zweiten Namen hatte.

»Ich will mich nicht entscheiden«, gab Sesina schnabelklickend zurück. »Ich mag beide Farben, und welches Geschlecht ich wählen soll, weiß ich einfach nicht.«

»Belass es bei dem, wie du geboren wurdest – wie die meisten von uns«, schlug ihr Freund vor. »Oder fühlst du dich nicht wohl als Frau?«

»Doch, sehr. Aber die Frage ist, welchen Einfluss die Wahl auf meinen Gesang hat. Es kann meine Stimme ruinieren – nach der Wandlung! Und ich will das nicht aufgeben, niemals! Kunst ist ... ist das, was ich will. Diese Entscheidung habe ich getroffen. Wie kann ein zweiter Name davon abhängig sein, welche Farbe ich trage und ob ich endgültig männlich oder weiblich bin? Warum kann ich nicht einfach bleiben, wie ich bin?«

»Das ist nun einmal nicht üblich. Nicht unsere Art. Wieso stellst du das infrage?«

»Was ändert es, wenn ich es ablehne?«, hakte sie streitlustig nach.

Dagusi Abendrot Siebentöter spreizte die Schulterfedern. »Wahrscheinlich an dir selbst nichts«, antwortete er. »Aber du wirst eben nur einen Namen haben, keine Familie gründen, und die anderen werden dich als seltsam einstufen. Wenn nicht meiden.«

»Und was würdest du tun?«

»Dein Freund sein, selbst wenn ich deine Entscheidung nicht verstehe. Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass es immer so bleiben wird ... ich weiß nicht, was aus dir wird. Wie du dich verändern wirst.«

»Ich will mich doch gar nicht verändern, darum geht es ja!«

»Alles um dich herum verändert sich, Sesina. Und du kannst dich davon nicht ausnehmen, egal ob du nicht erwachsen wirst und weder Farbe noch Geschlecht wechselst. Die Leute werden sich dir gegenüber anders verhalten, das hat Auswirkungen. Ob unsere Freundschaft das übersteht, weiß ich nicht. Aber das weiß man ja nie.«

Sesina dachte nach, und Dagusi Abendrot Siebentöter störte sie nicht dabei.

 

*

 

Die meisten modernen Gyrfali entschieden sich früh fürs Erwachsenendasein und ergriffen eine handfeste Berufung. Sie bauten neue Häuser, die an die Landschaft und die Wetterverhältnisse angepasst waren, aber zugleich Stil hatten. Sie dachten über schnellere Transportwege nach – etwa mit Dampfmaschinen als Zugmittel und als Lastenträger, anstatt wochenlang mit den starken, aber vergleichsweise langsamen Harmaulen unterwegs zu sein. Kleine Dampfmaschinen gab es längst, die beispielsweise größere Hallen beleuchteten und erwärmten, die Riesenflöten antrieben und einiges mehr. Doch an große Transportwagen hatte sich noch niemand gewagt.

Es gab immer mehr Erfinder und spezialisierte Handwerker, Händler, Architekten. Die Gyrfali wollten den Luftraum zurückerobern und zugleich Verbindungen herstellen zwischen den verstreuten Siedlungen, die langsam zu Städten wuchsen.

Ganz besonders Kühne träumten sogar von Personentransporten mit Luftschiffen. Großflügler hierbei war Karek Himmelsschwärmer Sternensprecher Zukunftbauer. Seine Pläne konnte man nur Visionen nennen, sein mathematisches Verständnis war einzigartig. Er galt als das größte Genie dieser Zeit – bei den einen. Die anderen hielten ihn für einen Spinner.

Der große Erfinder, Bastler, Philosoph und Physiker hatte behauptet, Kontakt mit einem Wesen gehabt zu haben, das nicht von dieser Welt sei. Wenngleich es teilweise von einem weichen, federartigen Flaum bedeckt sei, aber ganz ohne Schnabel und auch ansonsten nicht im mindesten den Gyrfali ähnlich.

Von wo es denn gekommen wäre, dieses seltsame Wesen?

Von weit hinter den Sternen.

Und warum solle jemand von weit hinter den Sternen, der in der Lage war, durch den Himmel zu reisen, sich für bescheidene Gyrfali interessieren?

Weil er Großes in den Gyrfali sähe.

Wochenlang war das im Gespräch gewesen – Sesina hatte sich nicht daran beteiligt, aber für sich gedacht, dass dieses universelle Genie vor lauter Verstand schlichtweg übergeschnappt sein musste. Allerdings baute er eifrig an diversen Maschinen, und er hatte genug kaum weniger intelligente Anhänger, die ihm dabei behilflich waren.

Vielleicht schuf er tatsächlich Großes? Dann gäbe es kein Halten mehr für die technisierte Zukunft.

Und Sesina ahnte, dass die neue Welt Künste brauchen würde, vielleicht mehr denn je. Mit Gesang arbeitete es sich leichter, die Inspirationen kamen schneller.

Sesina wusste nicht, welche Welt sie sich wünschen sollte – eine moderne, aufstrebende, mit aufwendiger Technik, die mehr Wissen brachte, das Leben erleichterte und es komfortabler machte. Oder sollte die gegenwärtige Ordnung bestehen bleiben, die den Gyrfali ein gutes, ausgeglichenes, beschauliches Leben bescherte?

»Warum können wir nicht einfach zufrieden sein mit dem, was wir haben?«, beschwerte sich Sesina. »Gyrfal ist eine Welt voller Abwechslung und Reichtum. Wir leiden keine Not.«

»Das genügt uns aber nicht.« Dagusi Abendrot Siebentöter legte den Kopf schief und klapperte einen bestimmten Rhythmus mit dem Schnabel.

Sesina stand auf. »Also schön. Ich komme mit zurück, werde ein paar Tage nachdenken und dann die Entscheidung treffen.«

»Sehr gut.« Er forderte sie auf, sich mit dem Rücken zu ihm vor sich zu stellen. Dann klappte er den zweiten Bügel des Gestänges aus und klemmte ihn über ihre Schultern. Die Schwingen waren dafür ausgelegt, zwei Personen tragen zu können, steuern konnte allerdings nur einer. Sesina verfügte ohnehin nicht über einen Stöpsel.

Sesina wäre lieber gelaufen, aber sie wusste, dass ihr Freund keine Ruhe geben würde, es endlich einmal auszuprobieren. Sie war noch nie geflogen. Aber am Scheideweg für ihre Zukunft sollte sie es kennenlernen – auch das gehörte zur Entscheidungsfindung dazu.

Dagusi Abendrot Siebentöter gab das Kommando. Sie stießen sich gemeinsam ab, er breitete die gewaltigen Flügel aus – und dann stiegen sie empor.

Sesina konnte nicht anders, sie schrie vor Freude, der Flug weckte eine tiefe kollektive Erinnerung in ihr, die allen Gyrfali in den Genen lag. Sie konnte gar nicht mehr verstehen, weshalb sie sich die ganze Zeit über dagegen gesträubt hatte.

Sie flogen Rotauge entgegen, und das war ein erhabener Moment.

Bis sie von dem flammenden Blick verbrannt wurden.

 

*

 

Sesina überlebte den Absturz, doch mit schweren Folgeschäden. Sie verlor nach und nach ihre Federn und war fast blind.

Die wahre Tragödie kam jedoch erst noch.

Zunächst nahmen diejenigen, die den Unfall untersuchten, an, dass die Flügel nicht stabil genug gewesen wären. Oder das Gestänge. Doch beides stellte sich als falsch heraus.

Waren sie etwa Rotauge zu nahe gekommen?

Einige Gyrfali hatten davor gewarnt, sich jemals wieder in den Himmel zu erheben. So etwas würde der Schöpferin dort oben nicht gefallen, und sie würde jeden verbrennen, der ihr zu nahe kam.

Sesina glaubte nicht an solchen Unsinn. So sehr sie den Fortschritt ablehnte, war sie doch nicht abergläubisch und vertraute den Fakten der Wissenschaft, nicht irgendwelchen verwirrten Interpretatoren, die für alles eine mystische Erklärung parat hatten.

Rotauge war nicht heißer gewesen als sonst.

Und dennoch war es wie ein Brand gewesen. Das Licht war so grell geworden, dass es ihre Netzhaut angegriffen hatte. Ihre Federn fielen aus, weil ihre Haut ebenfalls auf das Licht reagierte.

Wie konnte das geschehen?

Und vor allem: Warum hörte es nicht auf?

 

*

 

In den folgenden Tagen breitete sich die Seuche, wie sie bald mit leisem Klicken bezeichnet wurde, rasend schnell aus. Zunächst hielt man Sesina für die Verantwortliche und isolierte sie, doch dann kamen die Nachrichten von überallher – nach und nach wurden offenbar alle Gyrfali von jener geheimnisvollen Krankheit befallen.

Sie verlief nicht bei allen genau gleich, jedoch ausnahmslos jeder verlor am Ende die Federn und büßte mehr und mehr von seinem Augenlicht ein.

Die Ursache war eindeutig Rotauge. Wer sich in den Schatten aufhielt, wurde länger verschont.

Also versuchten sie sich mit dicken Stoffen und Hüten zu schützen. Zogen sich tagsüber in die Häuser zurück, verdunkelten alle Fenster, hielten die Türen stets geschlossen und gingen erst nachts hinaus.

Die Karawanenführer, die sonst neben oder vor den Harmaulen hergegangen waren, legten dicke Planen über die Wagen und ließen die Tiere mit festgelegter Leine weiterlaufen, bevor sie nachts herauskamen.

Die Harmaulen waren von der Seuche nicht betroffen, so wenig wie alle anderen Tiere. Es hatte nichts mit Federn zu tun, denn die meisten Tiere trugen welche.

»Weil wir ... denken können?«, sprach jemand eine furchtbare Überlegung aus, als sich herausstellte, dass ausschließlich Gyrfali befallen waren. Das klang nach wirrem Gefasel, blieb jedoch als einzige Möglichkeit übrig.

Nach einer Woche erkannten die Siedlungsführer, dass der Zustand nicht so schnell vorübergehen würde. Im Gegenteil: Alles wurde immer schlimmer. Eltern wurde es unmöglich, ihr Gelege warmzuhalten oder die Schlüpflinge zu füttern, weil sie die Berührungen nicht ertragen konnten.

Sesina, die sich selbst die Schuld an Dagusi Abendrot Siebentöters Tod gab, machte sich auf den Weg, nach einem Schutz zu suchen. Denn trotz der Abschirmungen in den Häusern wurde dem Fortschritt der Krankheit auf Dauer kein Einhalt geboten. Er wurde lediglich verlangsamt.

Sie bepackte sich mit Proviant und suchte in den Felsen. Suchte und suchte, bis sie den Eingang zu einer Höhle entdeckte, und von dort aus ein ganzes Höhlensystem.

Sesina fand auch Wasser, einen unterirdischen Flusslauf. Kaum war die Dunkelheit hereingebrochen, rannte sie in höchster Eile zur Siedlung zurück und berichtete flötend und von Gesang begleitet, was sie entdeckt hatte. Sie bewegte instinktiv auch die Arme, als ob sie flattern würde, obwohl sie keine Federn mehr hatte.

Die Alten, die Räte, dazu Handwerker und Erfinder und Architekten, sie alle setzten sich zusammen und beratschlagten, was sie aus Sesinas Fund machen könnten.

Zunächst sollte eine kleine Gruppe vorgeschickt werden, um das Gelände in Augenschein zu nehmen – und festzustellen, ob dieses subplanetare System genug Schutz vor dem zornigen Rotauge bot.

 

*

 

Und dann fiel alles auseinander.

Die Vorhut stellte fest, dass sie tatsächlich einige Zeit in den Höhlen überleben konnten und dass diese einigermaßen Schutz vor Rotauge boten. Nachts konnten sie jagen, in einigen Nebenhöhlen ließen sich Nutztiere züchten. Vielleicht ging das, was so plötzlich gekommen war, genauso plötzlich wieder vorüber, sodass alle in absehbarer Zeit wieder in ihr normales Leben zurückkehren konnten.

Angst hatten alle. Der Gedanke, dort unten leben zu müssen, in Dunkelheit, Kälte und Feuchtigkeit, war ein lebendig gewordener Albtraum.

Ein paar Hundert folgten Sesina trotzdem, die jeden Tag einen neuen Gesang fand, um diese Pioniere anzuspornen, zu beruhigen, aufzumuntern. Mit Sack und Pack wanderten sie zu den Felsen und richteten sich darunter wohnlich ein. Die Erfinder waren mehr denn je gefragt – für Licht und Wärme und dergleichen mehr.

Andere weigerten sich. Manche sahen es als Strafe der Schöpferin an, weil sie sich zu viel angemaßt hatten. Sie legten die Flügel ab, gingen hinaus in die Steppe und wollten Buße tun.

Weitere – und das waren ebenfalls ein paar Hundert –unten