Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Aftermath (The Extinction Cycle, #6)

erschien 2016 im Verlag Createspace Independent Publishing.

Copyright © 2016 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-631-1

www.Festa-Verlag.de

Für Jeni Rico

Du hast diese Welt viel zu früh verlassen,

aber dein Lächeln und dein Andenken

werden ewig weiterleben.

Team Ghost salutiert vor dir, »Sergeant«.

Wir werden unsere Insel verteidigen, koste es, was es wolle. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landezonen kämpfen, wir werden in den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden niemals kapitulieren.

– Winston Churchill

Prolog

Eine Flutwelle von Dunkelheit schwappte über die kopfsteingepflasterten Straßen von Rom. Feldwebel Piero Angaran und Leutnant Antonio LoMaglio beobachteten, wie die Wand aus Schwärze Kirchtürme und Dächer verschlang, über die Skyline aufstieg und langsam der Brücke näher rückte, auf der sie standen.

Piero senkte sein Beretta ARX-160 Sturmgewehr, als sich die rötliche Scheibe hinter den Horizont zurückzog. Auch Piero und Antonio befanden sich auf dem Rückzug. Und ihnen lief bei der Rückkehr zu ihrem Unterschlupf die Zeit davon.

Piero warf den Kopf zurück, schluckte die letzten zwei Aufputschpillen, die er hatte, und spülte sie mit einem Schluck Wein aus seinem Trinkrucksack hinunter. Zum ersten Mal in seinem Leben sehnte er sich nach Wasser statt nach Wein. Allerdings war sauberes Wasser so wie alles andere in Rom Mangelware.

»Komm schon«, drängte Antonio. In seiner Stimme schwang Panik mit – ungewöhnlich für einen Mann, der sonst in der Regel lachte und Witze riss.

Antonio klappte sich die Nachtsichtbrille über die Augen und winkte Piero vorwärts. Seite an Seite rannten sie über die historische Brücke, die sich über den Tiber spannte.

Rom war im Verlauf der Jahrhunderte schon öfter eingenommen worden, hatte sich aber immer wieder aus der Asche der Unterwerfung erhoben. Die Gallier, die Westgoten, die Normannen und sogar die Truppen von Kaiser Karl V. hatten versucht, die Stadt zu unterjochen. Nun jedoch hatten Dämonen vollbracht, was Menschen nicht gelungen war. Die gottlosen Kreaturen beherrschten Rom und es gab nur noch zwei Männer zur Verteidigung der uralten Stadt.

Piero und Antonio verkörperten die letzten verbliebenen Mitglieder ihrer Einheit, des 4. Alpini Fallschirmjäger-Regiments. Sie hatten zusammen in Afghanistan gegen die Taliban und im Irak gegen Al-Qaida gekämpft und sowohl in der Wildnis als auch in der Wüste gegen eine überwältigende Überzahl von Feinden überlebt. Die jungen Varianti jedoch hatten nur eine einzige Nacht gebraucht, um Pieros und Antonios Brüder abzuschlachten.

Ihre Mission zur Rückeroberung der Stadt war gescheitert. Alle waren tot. Mittlerweile, zwei Wochen später, gingen Piero und Antonio auf dem Zahnfleisch. Sie waren erschöpft, ausgehungert und verletzt. An diesem Tag war ihnen der Anfängerfehler unterlaufen, nicht vor Sonnenuntergang zu ihrem Unterschlupf zurückzukehren. Nachts verhielten sich die Jung-Abartigen am aktivsten.

Obwohl Piero seinen Freund und Teamleiter an der Seite hatte, war er sich noch nie im Leben einsamer oder hilfloser vorgekommen. Bisher hatten sie nur eine Handvoll Überlebender entdeckt, die in der Stadt festsaßen. Die Letzten davon waren vor drei Tagen getötet worden, in Stücke gerissen von einem jungen Varianti, der ihnen zu ihrem Bunker gefolgt war.

Piero blinzelte die Erinnerung weg und fuhr sich mit einem ausgefransten Ärmel über die Stirn. Er würde später, wenn sie zurück im Unterschlupf wären, mehr Abwehrmittel auftragen müssen. Die in Deutschland hergestellte Flüssigkeit wirkte wie Insektenspray, bestand jedoch aus Chemikalien, die wesentlich übler rochen. Der Geruch bereitete ihm allerdings am wenigsten Kopfzerbrechen. Beide Männer hatten seit Wochen nicht geduscht, nicht mehr, seit sie mit dem Fallschirm in die Stadt abgesprungen waren. Sie trugen immer noch dieselben grünen Tarnanzüge von damals, wenngleich sie mittlerweile eher wie Lumpen aus irgendeiner Mülltonne aussahen.

Antonio hob eine Hand und sank im selben Bewegungsablauf auf ein Knie. Er richtete sein ARX-160 auf eine Statue dreier muskulöser Männer in Roben. Piero tat es dem Leutnant gleich und setzte das Zielfernrohr seines Gewehrs am Nachtsichtgerät an. Nichts rührte sich in der grünstichigen Ansicht. Er schwenkte die Waffe von links nach rechts, drittelte sein Sichtfeld und überprüfte jede Zone auf Bewegung. Das Fadenkreuz erfasste einen mit dem Gesicht nach unten liegenden Körper. Knochen ragten aus dem Hemd des Leichnams, wo ein Varianti die Lunge herausgeholt hatte wie beim Blutadler-Ritual der Wikinger. Der Anblick jagte einen Schwall von eisiger Kälte durch Pieros ausgelaugten Körper.

Nachdem sich Antonio vergewissert hatte, dass die Gegend frei von Feindkontakt war, gab er das Zeichen zum Vorrücken.

Die zwei Soldaten setzten den Weg über die Brücke fort. Unter ihnen zog die starke Strömung des Tiber dahin. Das Wasser teilte sich schäumend um den roten Rumpf eines gekenterten Schnellboots. Piero blickte prüfend über einen Park zu ihrer Rechten, in dem Vegetation wucherte, die nicht mehr gepflegt wurde. Ranken krochen über die Steinfassade eines angrenzenden Gebäudes. Es hatte nicht lange gedauert, bis das Gras und das Unkraut Teile von Rom zurückerobert hatten. Die Natur hatte einfach ohne die Menschheit weitergemacht.

Die nächste Straße führte sie über einen offenen Marktplatz, den Dutzende Restaurants und Geschäfte säumten. Leichen, von denen das gesamte Fleisch genagt worden war, übersäten den Boden zwischen umgekippten Tischen und zerfetzten Sonnenschirmen. Glasscherben türmten sich unter zerbrochenen Fenstern. An jeder Ladenfront, die Piero passierte, sah er Gesichter – die Gesichter von Menschen, die in den Geschäften und Restaurants einst eingekauft und gegessen hatten. Als er noch ein Kind gewesen war, hatten seine Eltern ihn und seine Schwester jeden Sommer nach Rom mitgenommen. Er hatte sich dann immer mit Carbonara vollgestopft, während seine Eltern Meeresfrüchte-Risotto genossen und sich eine Flasche Pinot noir geteilt hatten. Danach hatten sie sich Gelato von einem kleinen Laden in der Nähe des Trevi-Brunnens gegönnt.

Wenn du in Rom bist, mach’s wie die Römer.

Das Sprichwort hatte ihm von jeher gefallen. Bevor das Blutervirus vor sieben Monaten alles verändert hatte, war es in ganz Italien einfach gewesen, sich an die Lebensart anzupassen. Nun bedeutete das zu sterben.

Rom hatte es von allen italienischen Städten am härtesten getroffen. Und Italien gehörte insgesamt zu den Ländern in Europa, die es am härtesten getroffen hatte. Sie hatten zwar beide Biowaffen eingesetzt, die von den Amerikanern entwickelt worden waren, um die Abartigen zu töten, doch es war viel zu spät gewesen. Über 99 Prozent der Bevölkerung waren tot.

Als Piero die zertrümmerten Ruinen einer Bäckerei passierte, krümmte er sich beim Geräusch seines knurrenden Magens. Das Rumoren schien laut genug zu sein, um von Antonio – und etwaigen Varianti in der Nähe – gehört zu werden. Seit Tagen hatte keiner der beiden eine feste Mahlzeit zu sich genommen und die verwaisten Gebäude nach Lebensmitteln zu durchstöbern wurde zunehmend gefährlicher. Weil man nie wissen konnte, wo sich die Jung-Abartigen aufhielten.

Mehrere Sekunden lang standen sie schweigend da und lauschten. Der wie juwelenbesetzt wirkende Himmel und der Halbmond warfen genug Licht über die Stadt, um es Piero zu ermöglichen, die Nachtsichtbrille hochzuklappen. Antonio folgte seinem Beispiel.

Im Schein des natürlichen Lichts betrachtete Piero das Gesicht seines Freundes. Beide waren 35 und mit ihren nahezu identischen, ungepflegten Bärten und braunen Haaren hätte man sie für Zwillinge halten können. Trotz der Anspannung brachte Antonio ein Lächeln zustande. Wenn es in ihrer Einheit einen Komiker gegeben hatte, dann den Leutnant.

Er hatte immer gewusst, wie man die Stimmung mit einem Witz auflockerte.

»Was guckst du so? Hab ich was im Gesicht?«

»Eine Dummvisage«, schoss Piero zurück. Den Ausdruck hatte sein Großvater manchmal für ihn verwendet, wenn er als Kind etwas Törichtes gesagt oder getan und dann dumm aus der Wäsche geschaut hatte, und seither benutzte ihn Piero gern bei Freunden.

Entferntes Geheul – ein Mahnmal dafür, dass Monster die Gegend unsicher machten und jagten – ließ ihr gemeinsames Grinsen rasch verblassen.

Die Männer nickten einander zu. Antonio setzte das Gewehr an der Schulter an und bewegte sich in die von einer nahen Kirche geworfenen Schatten. Piero folgte ihm in knappem Abstand auf einen Hof, der früher einen täglichen Bauernmarkt beherbergt hatte. Die Stände selbst gab es sogar noch, die frischen Waren jedoch waren längst verrottet.

In der Mitte des Platzes befand sich ein Springbrunnen mit der Statue eines nach Osten zeigenden römischen Soldaten. Das Weiß von Vogeldung überzog die Rüstung. Piero und Antonio schwenkten die Gewehre über den Hof.

Sie hatten es fast zurück zu ihrem Unterschlupf geschafft und Piero hatte in der Tasche nicht nur die geschmolzenen Schokoriegel, die er erbeutet hatte, sondern auch die Funkgerätteile, die es ihnen ermöglichen würden, Verbindung mit der Zentrale aufzunehmen. Er war sich nicht sicher, worauf er sich mehr freute.

Der Gedanke an die Schokolade brachte seinen Magen erneut zum Knurren. Ein anderes Geräusch jagte seinen Puls schlagartig in die Höhe.

Antonio erstarrte, hörte es im selben Moment.

Zuerst erinnerte das Geräusch Piero an Stromschnellen, doch es ging rasch zu etwas über, das mehr nach einem vollwertigen Wasserfall klang.

Was zum Geier ist das?

Piero bewegte den Finger vom Abzugsbügel zum Abzug selbst. Er ließ den Blick auf der Suche nach Anzeichen von Jung-Abartigen durch die Gegend wandern, aber das Geräusch stammte nicht von den Straßen oder Gebäuden. Es kam vom Himmel.

Auf einmal erhoben sich Hunderte – nein, Tausende – Vögel in die Lüfte. Ihre schwarzen Schwingen bildeten ein so dichtes Geflecht, dass sie den Mond wie eine wabernde Decke der Dunkelheit verhüllten.

Pieros wild pochendes Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Etwas Ähnliches hatte er in der ersten Nacht beobachtet, als sie mit Fallschirmen in die Stadt abgesprungen waren. In der Nacht, in der sie ein Nest von Jung-Abartigen in deren Bau geweckt hatten.

Antonio schaute zurück zu Piero.

»Lauf«, flüsterte er.

Piero zog den behelmten Kopf ein und rannte hinter seinem einzigen auf der Welt verbliebenen Freund her. Ihr Unterschlupf befand sich zwei Häuserblocks entfernt in einem Wartungstunnel, den man in die uralte, entlang des Tiber verlaufende Mauer gebaut hatte. Statt die Route den Fluss entlang einzuschlagen, hatte sich Antonio für eine Abkürzung entschieden. Eine Abkürzung, die sie zurück in die Stadt geführt hatte. Dadurch mussten sie einem der unterirdischen Baue zu nah gekommen sein.

Die kopfsteingepflasterten Straßen begannen, unter ihren Stiefeln zu vibrieren, doch es handelte sich um kein Erdbeben. Das Erzittern des Bodens erinnerte Piero an die Stierläufe in Spanien. Der Kick, zusammen mit Hunderten anderen Menschen vor einer Herde Stieren davonzurennen, galt als unvergleichlich – bis man erlebte, wie es sich anfühlte, vor einer Herde Jung-Abartiger der Größe von Nashörnern zu flüchten.

Er drückte sich das Gewehr an die Brust. Schweiß lief ihm in die Augen, doch er ignorierte das Brennen und den Drang, die Tropfen wegzuwischen. Mit verschwommener Sicht nahm er Bewegung entlang der Dächer im Osten wahr.

Antonio zeigte auf drei Reihenhäuser. Mehrere kleine Jung-Abartige hatten die Außenmauer des mittleren Gebäudes erklommen. Sie kauerten auf der Dachterrasse und schnupperten die Nachtluft mit knolligen, von Warzen übersäten Nasen. Es dauerte nur Sekunden, bis ihn Reptilienaugen der Größe von Espresso-Untertassen sichteten. Das Klappern der Panzerplatten ihrer Körper ertönte, als sie auseinanderstoben, um die Meldung über Frischfleisch zu verteilen.

Diese Monster bildeten lediglich die Aufklärungseinheit – die Kleinsten und Schwächsten, nur ungefähr halb so groß wie ihre älteren Brüder und Schwestern. Aber sie waren genauso schnell, wenn nicht noch schneller, und besaßen eine genauso dicke Panzerung.

Piero hatte Mühe, Luft zu bekommen, während er rannte. Antonio befand sich bereits 30 Meter vor ihm. Sein Freund war schon immer schneller als er gewesen, aber für gewöhnlich wartete er auf Piero.

Nicht in dieser Nacht – nicht wenn die Gefahr drohte, von Hunderten überaus hungrigen Varianti in Stücke gerissen zu werden.

An der nächsten Ecke bog Antonio nach links, hielt aber nach wenigen Schritten an.

Eine Sackgasse.

Die Wolke aus Vögeln flatterte über die Straßen und warf einen großflächigen Schatten auf die beiden Männer. Piero machte kehrt, lief den Weg zurück, den sie gekommen waren, und rutschte in einer Pfütze aus. Er krachte zu Boden, spürte jedoch sofort, wie ihm Antonios Hände auf die Beine halfen.

»Beeilung!«, drängte Antonio.

Als Piero die Füße wieder unter sich hatte, preschte er mit seinem Freund zurück zu dem offenen Marktplatz. Sie visierten auf der Westseite eine Nebenstraße an, die zur französischen Botschaft führte. Mittlerweile Seite an Seite rannten die zwei Soldaten eine schmale Gasse hinunter, die in eine breite Straße vor der Botschaft mündete. Über ihnen hing noch die französische Flagge von einer Fahnenstange.

Früher hatte Piero nie wirklich gern zusammen mit Franzosen gekämpft, doch im Augenblick hätte er ihre Hilfe mit Freuden angenommen. Scheiße, er wäre demütig auf die Knie gesunken, um sie willkommen zu heißen.

Das Vibrieren des Bodens verstärkte sich. Ein Blumentopf fiel von einem Fenstersims eines nahen Gebäudes und zerschellte auf dem Kopfsteinpflaster.

»Schnell!«, rief Antonio. Er preschte eine enge Häuserschlucht rechts der Botschaft hinab. Die Geschäfte hier waren kleiner, gehörten überwiegend örtlichen Kunsthandwerkern. Piero hatte aus einem davon vor ein paar Tagen Wein erbeutet – denselben Wein, der sich nun in seinem Trinkrucksack befand.

Sie hatten ihre Zuflucht fast erreicht. Die Gasse mündete in eine Straße und danach lag nur noch eine Brücke zwischen ihnen und der Sicherheit. Antonio hielt neben einem Baum inne, setzte das Gewehr an der Schulter an und richtete das Zielfernrohr auf die Brücke vor ihnen. Dann gab er Piero mit der Hand ein Zeichen. Als sie auf die Straße vorrückten, füllten Vögel den Himmel über ihnen. Nasser Kot prasselte herab und traf Pieros Hand und Gesicht, doch das störte ihn nicht weiter. Scheiße ließ sich abwischen.

Er beging den Fehler, über die Schulter zurückzuschauen, als er die Brücke erreichte. Der Anblick der Herde Jung-Abartiger, die nach Süden galoppierte, brachte ihn beinahe zum Stolpern. Einen Moment lang bewegten sich ihre gepanzerten Körper wie eine Einheit und pflügten wie ein Panzer die Straße herab.

Dutzende gelbliche Augen schienen die Blicke gleichzeitig auf ihn zu heften.

Sein Herz drohte in der Brust zu explodieren.

Antonio riss seine letzte Granate mit Abwehrstoffen von der Splitterschutzweste. Mit den Zähnen zog er den Stift heraus, dann warf er die Granate auf die Straße und machte sich im Laufschritt davon.

Das Zischen der austretenden Chemikalie war aus dem Getrampel der Monster und dem durchdringenden Geheul herauszuhören, das erklang, als die Ungetüme auf die Wand aus Rauch trafen. Das Gas sollte die Kreaturen eigentlich durcheinanderbringen, doch sie brachen die Verfolgung nicht ab. Der hohe, schrille Lärm schwoll zu einer Kakofonie an, die Piero dermaßen in den Ohren schmerzte, dass er die Hände über sie schlug.

Vor ihm tat Antonio dasselbe. Er fiel auf die Knie und schrie vor Schmerzen. Piero biss die Zähne zusammen und zog seinen Freund wieder auf die Beine. Die beiden schleppten sich gegenseitig über den letzten Abschnitt der Brücke. Die Leiter zu ihrem Versteck befand sich noch um die 30 Meter entfernt – allerdings hatten die Monster bereits die andere Seite erreicht.

Es war vorbei. Sie konnten entweder kämpfen und auf dieser Brücke sterben oder flüchten und wie Feiglinge draufgehen. Piero setzte das Gewehr an der Schulter an und zielte auf die heranwalzende Wand der Monster, doch Antonio schlug den Lauf beiseite.

»Komm schon!«, befahl er. Dann stieg er auf den rechten Sims der Brücke, zog sich auf das Geländer hoch und blickte hinab. Es ging sechs Meter in die Tiefe. Die Strömung an der Stelle war stark. Und die Jung-Abartigen konnten wesentlich besser schwimmen als ihre Varianti-Eltern.

Piero kletterte neben ihn und eine Sekunde lang starrten beide zu den anrückenden Bestien. 50 gekrümmte Schädel schnitten durch die Luft, 200 Hände und Füße zerschmetterten Ziegelsteine, die jahrhundertelange Misshandlung durch Wagen und Fahrzeuge überstanden hatten.

Dann packte Antonio den Arm von Piero und zog ihn mit sich über die Seite. Mit angewinkelten Knien, wie es ihnen bei der Ausbildung beigebracht worden war, tauchten sie ins Wasser ein. Die Wucht des Aufschlags erschütterte Pieros Sinne. Ein Stein streifte sein Bein und ließ Schmerzen durch seine Knochen rasen. Kaum tauchte Piero wieder auf, hörte er das Platschen der Monster, die am anderen Ende von der Brücke sprangen.

Antonio schwamm mit der Strömung aufs Ufer zu. Piero hatte eine Weile gebraucht, nun jedoch begriff er, was sein Gruppenführer vorhatte. Die Entscheidung zu springen statt zu rennen hatte er deshalb getroffen, weil sie dadurch für ein paar Sekunden außer Sicht sein würden. Worin ihre einzige Chance bestand, ihr Versteck zu erreichen, ohne dabei gesichtet zu werden.

Hustend spuckte Piero Wasser aus und schwamm hinter seinem Freund her. Antonio mochte an Land schneller sein, doch im Wasser bewegte sich Piero flinker. Rasch schwamm er voraus. Schwimmzug, Atemzug. Schwimmzug. Schwimmzug, Atemzug. Wenige Augenblicke später erreichte er den Sims, packte ihn und zog sich hoch. Zwischen der Mauer und dem Ufer verlief ein Radweg. Die zum Wartungstunnel führende Tür befand sich direkt unter der Brücke.

Als sich Piero umdrehte, um Antonio die Hand entgegenzustrecken, zögerte er beim Anblick der gekrümmten Schädel und geriffelten Rücken der Monster, die durch das Wasser schnitten. Dutzende schwammen durch den Tiber und holten Antonio rasch ein, der den Fehler beging, innezuhalten, um zu den Bestien zurückzuschauen. Dabei trat er kostbare Sekunden lang nur Wasser, ohne sich vorwärtszubewegen, bevor er weiterstrampelte. Als er endlich weiterschwamm, hatte ihn die Strömung bereits gute drei Meter flussabwärts getragen. Piero rannte den Weg hinunter. Sein Blick schnellte von seinem Freund zu den Bestien, dann weiter zu den Vögeln, die immer noch den Himmel verstopften. Das Rauschen von Schwingen drang an seine Ohren. Allerdings entsprang das Geräusch nicht der Summe Tausender schlagender Flügel. Es stammte vielmehr von einem einzigen Paar …

Piero stolperte rücklings, als sich der Vorhang der Flügel teilte und den Blick freigab auf eine gewaltige Kreatur, die wie ein Dämon aus der Hölle über den Himmel schwebte. Ein dorniger Schwanz peitschte hinter der Abscheulichkeit hin und her.

»Großer Gott im Himmel«, murmelte Piero.

Die Bestie schwebte mit Flügeln einer Spannweite von mindestens dreieinhalb Metern durch die Luft. Ein unförmiges Gesicht mit einem langen Horn als Nase und umhersuchenden Augen blickte auf die Artgenossen im Wasser herab. Die Kreatur öffnete wulstige Saugnapflippen und stieß ein durchdringendes Zischen aus.

Das Geräusch ließ Piero unwillkürlich die Luft aus der Lunge pressen. Er hatte es schon in der Nacht gehört, war davon aus unruhigem Schlaf geweckt worden.

Mittlerweile konnte er die Tür bereits sehen, die zum Versteck führte. Wenn er rannte, könnte er vielleicht den Tunnel hinunter entkommen und es zur anderen Seite schaffen.

»Piero!«, schrie Antonio zwischen den Schwimmzügen. »Piero, hilf mir!«

Eine Sekunde lang überlegte er, seinen Freund im Stich zu lassen, bevor er zurück zum Rand des Wassers lief. In dem Moment, als Piero die Hand seines Kameraden ergriff, riss etwas Antonio zurück in die Fluten. Sein Helm verschwand mit einem Gewirr von aufsteigenden Blasen unter der Oberfläche.

Die geflügelte Abscheulichkeit stieß auf sie herab. Die Schwingen streiften Piero. Er plumpste auf den Hintern und robbte rücklings weg, starrte wie vom Donner gerührt hin.

»Hilfe!«, brüllte Antonio, als er wieder auftauchte.

Piero rappelte sich auf die Beine, setzte das nasse Gewehr an der Schulter an und suchte das Wasser nach einem Ziel ab. Antonio war bereits verschwunden, wieder unter die Oberfläche gezogen worden.

Piero lief am Ufer des Flusses auf und ab. Sein Blick schwenkte zwischen Himmel und Wasser hin und her. Der geflügelte Jung-Abartige war in die Dunkelheit verschwunden, aber er konnte immer noch das Geräusch der Flügel hören.

»Piero!«, schrie Antonio. Er war drei Meter weiter rechts erneut aufgetaucht und schnappte nach Luft. »Hilf mir!«

Bevor Piero die Hälfte der Entfernung zu seinem Freund zurückgelegt hatte, stieß das Ungeheuer vom Himmel abermals herab und packte Antonios Kopf mit zwei klauenbewehrten Füßen. Es zerrte ihn aus dem Wasser, weg vom Zugriff seiner hungrigen Brüder und Schwestern.

Der bleiche, gepanzerte Körper eines über zwei Meter großen Jung-Abartigen schoss aus den Fluten und streckte sich nach Antonios Füßen. Das Monster bekam das rechte Bein zu fassen und zerrte daran, während der geflügelte Jung-Abartige in die Luft aufsteigen wollte.

Piero beobachtete voll Grauen, wie die beiden Ungetüme in entgegengesetzte Richtungen zogen. Antonio brüllte vor Qualen. Für Piero gab es nur noch eins, das er tun konnte. Einen Herzschlag bevor Antonio in zwei Hälften gerissen wurde, jagte Piero eine Kugel ins Hirn seines Bruders.

Antonio hatte immer gesagt, dass er mit einem Lächeln im Gesicht sterben wollte. Er lächelte nicht. Vielmehr glich sein Gesicht einem blutigen Ausdruck blanken Grauens. Die Hälfte seines Körpers wurde gen Himmel gezogen, die andere Hälfte unter Wasser.

Piero wurde speiübel. Unwillkürlich wich er zurück, stolperte über ein zurückgelassenes Fahrrad und ließ das Gewehr fallen. Er versuchte, irgendetwas zu empfinden, nahm jedoch nur Taubheit in sich wahr. Nach Luft schnappend überwand er sich dazu, sich in Bewegung zu setzen, da ihm klar wurde, dass er sonst der Nächste sein würde. Die offene Wartungstür befand sich nur einen kurzen Lauf entfernt. Er stürmte hindurch und verriegelte sie hinter sich. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen das rostige Metall, schloss die Augen, atmete durch und versuchte verzweifelt zu verdrängen, was gerade geschehen war.

Was er gerade getan hatte.

Nein, dachte er. Das kann nicht wirklich passieren.

Dunkelheit umhüllte ihn undurchdringlich und erstickend. In seiner Lunge befand sich noch Wasser. Sosehr er sich bemühte, nicht zu husten, er konnte es nicht zurückhalten. Röchelnd beugte er sich vornüber und spie Wasser auf den Boden. Würgend erbrach er das bisschen Essen, das er im Magen gehabt hatte.

Schließlich wischte er sich mit einer Hand den Mund ab, während er mit der anderen zur Nachtsichtbrille griff. Seine Finger ertasteten nur den Helm. Die Brille fehlte, war im Tiber verloren gegangen. Wenigstens hatte sein Gewehr eine Nachtsichtoptik.

Piero stieß einen leisen Fluch aus.

Bei all dem Chaos hatte er das Gewehr draußen vergessen.

Allein, unbewaffnet und in vollkommener Finsternis schlurfte Feldwebel Piero Angaran den Tunnel entlang. Mit erhobenen Händen tastete er sich die feuchte Wand entlang. Wenig später krachte etwas gegen die Metalltür hinter ihm.

Da rannte er los, die Augen geschlossen, die Hände vor sich ausgestreckt, ohne auf die Gefahr zu achten, er könnte fallen. Die Tür ratterte, dann wurde sie von einem weiteren wuchtigen Schlag erfasst, der sie aus den Angeln riss. Mondlicht strömte in den Wartungsgang und im gespenstischen Licht zeichneten sich die Umrisse einer großen, geflügelten Bestie ab.