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Nr. 2604

 

Die Stunde der Auguren

 

Das Solsystem in einem seltsamen Kosmos – und der Auftritt einer fremden Macht

 

Wim Vandemaan

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Der furchtbare, aber kurze Krieg gegen die Frequenz-Monarchie liegt inzwischen sechs Jahre zurück. Die Bewohner der Erde erholen sich langsam von den traumatischen Ereignissen.

Nun hoffen die Menschen sowie die Angehörigen anderer Völker auf eine lange Zeit des Friedens. Perry Rhodan und seine unsterblichen Gefährten wollen die Einigung der Galaxis weiter voranbringen; die uralten Konflikte zwischen den Zivilisationen sollen der Vergangenheit angehören.

Dabei soll die phänomenale Transport-Technologie des Polyport-Netzes behilflich sein. Mithilfe dieser Technologie bestehen Kontakte zu weit entfernten Sterneninseln, allen voraus der Galaxis Anthuresta, wo sich die Stardust-Menschheit weiterentwickelt.

Doch längst lauert eine ganz andere Gefahr, von der die Bewohner der Milchstraße bislang nichts ahnen können. Während es Perry Rhodan mitsamt der BASIS in die unbekannte Doppelgalaxis Chanda verschlägt, wird das gesamte Solsystem an einen fremden Ort entführt – und es schlägt DIE STUNDE DER AUGUREN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Terranische Resident kämpft mit dem Chaos im Solsystem.

Henrike Ybarri – Die Erste Terranerin plagt mehr als eine Sorge.

Shamsur Routh – Ein Journalist kommt einer fremden Macht auf die Spur.

Anicee und Auris – Zwei Terranerinnen hören die Botschaft der Auguren.

Die gestürzte Welt

 

Absolute Finsternis.

Schweigen.

 

*

 

Sie hörte Bull rufen: »Meldung! Ich will Meldung! LAOTSE!«

Er klang fern, fremd, eine Stimme aus einem tiefen Schacht.

Wo war er? Und wo war sie?

Henrike Ybarri hob die Hände, führte sie sich vor die Augen, sah sie nicht. »Was ist geschehen?«

Auch ihre Stimme klang in der Dunkelheit entstellt, ein Echo aus einer anderen Zeit. Sie räusperte sich, und selbst das Räuspern war falsch. Alles war falsch. Dort, wo ruhige Stimmen sein sollten, Erklärungen, Meldungen und Anweisungen, war nichts als auswegloses Schweigen. Und sie hörte – was für ein Wahnsinn zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort – das tiefe, selbstvergessene Atmen von Schläfern.

Warum sprang die Notbeleuchtung nicht an? Warum erhellte nicht wenigstens der fahle Schein der Holoprojektionen den Raum?

Tiefes, bewusstloses Atmen anstelle wachsamer Stimmen. Keine beruhigenden Hintergrundgeräusche arbeitender Maschinen, der Lebenserhaltungssysteme und des gelegentlichen Knisterns elektrostatischer Entladungen, dafür lag ein leises Heulen und Kreischen in der Luft, noch sehr fern zwar, aber es kam näher, und es näherte sich rasch.

Eine Lawine von Lärm.

Dann spürte sie eine Erschütterung, viel zu heftig, und das irritierende Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Ihn zu verlieren, weil er wegsackte.

Sie sinkt, dachte Ybarri. Sie stürzt ab. Wir stehen vor einer Notlandung.

»Was ist geschehen?«, rief Bull.

Es tat gut, ihn zu hören. Er schrie nicht, er hatte nur die Stimme erhoben, als müsste er ihre eigene, unbeantwortete Frage ins Hörbare retten.

Aber sie hörte – zum ersten Mal, seit sie mit Bull zusammenarbeitete, und das waren viele Jahre inzwischen – den Unterton einer Bestürzung heraus. Also auch Bully. Niemand ist immun.

Keine Antwort. Wer sollte sie auch geben?

Wann hatte sie dieses Gefühl zum letzten Mal erlitten? Dass alles falsch war, dass sie selbst falsch schmeckte, krank und abgeschlagen, dass sie wie ein waidwundes Tier in ihrem eigenen Körper steckte?

Was war mit LAOTSE? Dem Zentralcomputer der Solaren Residenz? Der leistungsfähigsten autarken Biopositronik der Erde?

LAOTSE war verstummt. Vielleicht – was seinen bionischen Teil anging – völlig geistesabwesend.

Ein Schlag, wie aus dem Innersten, betäubte sie fast. Was noch?, dachte sie. Was kommt denn noch? Die immer gleichen Fragen setzten sich endlos fort, wie die Spiegelbilder in einem Spiegelkabinett. Keine Antwort.

Von irgendwoher drang ein metallisches Kreischen, vermischt mit einem unmenschlichen Geheul. Wir stürzen ab, dachte sie. Die ganze Welt stürzt ab.

Allmählich schälte sich eine Erkenntnis aus ihren verstörten Gedanken: Nein. Die Stahlorchidee kann nicht abstürzen.

Sie ist doch nach der Evakuierung in das Stahlplastikfutteral im Residenzsee versenkt und dort verankert worden. Um 14.05 Uhr. Statt sie zu beruhigen, versetzte diese Erinnerung sie nur noch mehr in Schrecken: Wenn die Solare Residenz verankert war und von zusätzlichen Prallfeldern gesichert wird – wohin stürzen sie dann?

Schlagartig wurde alles still. Das Gefühl, unterzugehen, verwandelte sich in das Gefühl zu schweben. Gleichzeitig spürte sie mit ihren Fußsohlen, dass sie auf dem Boden stand. Druck baute sich in ihren Ohren auf. Sie schluckte. Ganz betäubt. Alles sauer, bitter.

Atmen, atmen!, befahl sie sich. Sie glaubte ihren Herzschlag zu hören.

Licht sickerte in den Raum. Langsam wurde es heller. Als wäre das Licht vereist und müsste erst wieder schmelzen.

Die Holoschirme waren entweder erloschen oder zeigten desolate, schwindelerregende Bildfolgen, die für Ybarri keinen Sinn ergaben. Sie sah etliche Medorobots in den Raum schwirren, ein aufgescheuchter Schwarm Fliegen.

Plötzlich breitete sich der Geschmack von Blut in ihrem Mund aus. Sie presste ihre Lippen auf den Handrücken, ein roter Abdruck, nass und klebrig.

Der Raum kippte weg.

Sie schlug mit den Knien gegen etwas Hartes. Den Boden.

Jemand fasste sie an den Schultern, hielt sie fest und hob sie auf. Wieso? War sie tatsächlich in die Knie gegangen? Ja. Aber wann war das geschehen? Erschrocken bemerkte sie, dass ihr einige Phasen Erinnerung fehlten. Sie fühlte sich plötzlich zerstückelt, ein Schwarm, der sich vor dem zuschnappenden Hai teilt. Sie war nichts als Sorge. Sie sehnte sich nach Schlaf, nach Abwesenheit von sich selbst.

»Bleib bei mir. Nicht ohnmächtig werden. Du bist die Erste Terranerin. Das können wir uns jetzt nicht erlauben.«

Bullys Stimme war ganz nah bei ihr. An ihrem Ohr. Sie spürte seinen Atem. Er roch nach Minze. »Bleib bei mir«, sagte der Minzeatem.

Jemand rief. War das Edorta Asteasu? Vielleicht von Strattkowitz? Bulls Ordonnanzleutnant Lech Hallon oder Attilar Leccore, der Chef des Terranischen Liga-Dienstes? Ein Raum voller unbestimmbarer Stimmen. Fast hätte sie gelacht.

Was rief die Stimme?

Sie lauschte, während Bull sie hielt und leicht an den Schultern schüttelte.

Aber die ferne Stimme war nur ein akustischer Fleck, der zunehmend verwässerte, während die Dämmerung Einzug hielt in ihren Geist.

Das geht nicht, dachte Ybarri. Das ist nicht fair. Sie waren gewählt, um die Lage zu meistern. Die Menschen durften von ihnen mehr erwarten als Ohnmacht und Besinnungslosigkeit.

Sie hatten die Technik. Sie hatten Erfahrung. Sie verfügten über alle Mittel. Sie waren doch in der Solaren Residenz.

Sie befanden sich in der Stahlorchidee, dem Machtzentrum der Liga Freier Terraner.

Warum war ihnen alles entglitten? Was hatte sie so entmachtet?

Dann wurde es wieder dunkel um sie.

 

*

 

Absolute Finsternis.

Schweigen.

 

Ein Traum von Kranichen

 

Es war ein zähes Erwachen. Shamsur Routh hörte sich wie unter Schmerzen seufzen. Die Traumbilder hingen ihm nach. Immer noch meinte er, den Strand schmerzhaft unter den Fußsohlen zu spüren, die Splitter der Muscheln, die rauen Kanten der Steine.

Was für ein undurchschaubarer Traum! Es ärgerte Routh, dass er ihn nicht abschütteln konnte, sondern der Nachhall zäh wie Teer in seinen Gedanken klebte. Warum hatte er in diesem Traum eigentlich so schnell laufen müssen? War er auf der Flucht gewesen? Nein. Hatte er nicht versucht, jemanden zu erreichen? Aber wen?

Jedenfalls war er beim Laufen über einen toten Kranich gestolpert. Die schwarzen Augen des Vogels blind und offen. Die Beine ausgestreckt, der lange Hals verdreht. Routh sah den Sprung in der federlosen Kopfplatte des Vogels. Der schlanke Keil des Schnabels aufgesperrt. Dunkle, sämige Flecken wie von Öl auf dem schiefergrauen Gefieder. Das Tier hatte die Schwingen ausgebreitet, ganz so, als würde er im Tod noch fliegen.

Totenflug und nirgendhin, dachte er. Oder erinnerte er sich nur daran, diese Worte im Traum gedacht zu haben?

Routh roch immer noch das ätzende Aroma des Kadavers, Phosphor und Harn. Dazu der bittere Wind, der über den Goshun-See strich.

Routh hatte sich auf die Hände gestützt, die Muschelsplitter schnitten ein, die Steine. Er hatte sich aufgerichtet, über den See geblickt: alles schwarz, als wäre die Nacht über dem Wasser festgefroren.

Wo waren die Gläsernen Fähren, wo der Antares Pier mit dem großen, achtstöckigen Hufeisen des Restaurants Zum Gouldschen Gürtel an seinem Ende? Die Skyline der Antares Road? Kein Licht, kein Schimmer. Er sah es nicht, wusste aber, wie man überhaupt nur in Träumen etwas weiß, dass der See kein jenseitiges Ufer mehr hatte, sich bis ins Uferlose ausgedehnt hatte, groß und schwarz genug, den Himmel aller Welten zu spiegeln.

Auch der Himmel über dem Goshun-See war strukturlos und schwarz. Ein Schild aus kaltem, uraltem Eisen.

Routh war in diesem Traum weitergegangen, mit weit ausholenden, fast schwebenden Schritten, um die Berührung mit dem Muschelschutt zu vermeiden, den scharfkantigen Kieseln. Trotzdem war er wieder über einen toten Kranich gestolpert.

Merkwürdig.

Was hatten diese toten Kraniche gegen ihn?

Er fluchte und schaffte es damit endlich, die Beine aus dem Bett zu schwingen. Die Füße berührten den Boden, die kühlen Holzbohlen. Langsam stemmte er sich hoch.

Der Schlaf hatte ihn weniger erfrischt als erschöpft.

Die Schuld seines wirren Traumes.

Vielleicht sollte er doch diese kleine Investition wagen und einen Trauminduktor kaufen. Phaemonoe schwor darauf. Diese biopositronischen Maschinchen, denen man das Traumthema nennen konnte, bestimmte Szenarien, Figuren. Sogar Speisfolgen und Musik. Und die Maschinchen griffen über das feine goldene Gespinst der Traumhauben ein. Sie bedienten sich aus dem Gedächtnis der Schläfer; sie fahndeten nach Wünschen und Sehnsüchten und erfüllten sie in idyllischen Szenarien.

Kurz: Sie verwandelten alles Begehren in Kitsch.

Aber Phaemonoe wollte jung bleiben und schwor auf allerlei. Worauf die Jungen eben schworen. Und die Jugend von Terrania schwor zurzeit auf Trauminduktoren.

Hin und wieder redigierte sie seine Berichte oder Kommentare – ein flittriges Eigenschaftswort hier, eine flapsige Nuance dort; eine Prise Dynamik in seine bedachtsamen Sätze. Es waren nur Kleinigkeiten, die sie manipulierte, aber schon hörte sich der Routh im Info-Holo an wie ein jugendlicher Rädelsführer: beschwingt und angriffslustig.

»Du hättest wenigstens darauf achten können, dass ich mit dem, was du mich sagen lässt, lippensynchron bleibe«, hatte er sich einmal beschwert.

»Synchronisier deine Lippen mit meinen«, hatte sie erwidert und explosiv gelacht. So lachte sie manchmal: explosiv, dass alle den Kopf nach ihr umdrehen mussten, im Café, im Restaurant oder eben vor den Augen und Ohren der anderen Redaktionsmitglieder des Solaren Informations-Netzwerkes Terrania City. Gerade so, als führte sie mit ihm eine erotisch aufwühlende Beziehung, die sie beide zu Opfern der Fleischeslust machten, an denen ein öffentliches Interesse bestehen sollte.

»Was soll ich mit einem Trauminduktor?«, hatte er sie gefragt.

»Du sollst gefälligst von mir träumen. Ohne Unterlass.«

Von ihr, Phaemonoe Eghoo, der in Terrania weltberühmten Redakteurin des SIN-TC.

Es gab eine Frau, von der er geträumt hatte, nicht auf ihr Geheiß, sondern einfach so.

Einfach so. Lange her.

Vielleicht argwöhnte Phaemonoe ja, dass es in ihrem Fall tatsächlich eines Trauminduktors bedurfte.

Er träumte ja tatsächlich nicht von ihr. Stattdessen träumte er von einem Strand voller toter Kraniche, die ihm die Nacht in den Weg geworfen hatte.

In den Weg wohin?

Er bemerkte, dass er noch nicht einen Schritt getan hatte. Wieso hatte er sich so im Vergangenen verloren?

Phaemonoe ...

Er mochte Phaemonoe durchaus, ihr schweres blondes Haar, ihr Haifischlachen mit den extrem hoch gezogenen Mundwinkeln und den Zähnen, weiß wie eine Waffe.

Er mochte sie ohne ihr Make-up sogar lieber als mit. Ihre Tiefencreme und die künstlichen Pheromone verliehen ihr eine Jugend, die sie längst passiert hatte, und sie gaben ihm bei ihren durchaus seltenen Treffs das Gefühl, die Nacht mit einer Freundin seiner Tochter zu verbringen: einer eben 20-Jährigen.

Er war knapp über 60 Jahre alt. Phaemonoe 50. Er ein gelegentlicher Korrespondent, sie eine Redakteurin beim SIN-TC. Eine Redakteurin? Darauf ein Haifischlächeln: die Redakteurin überhaupt. Eine Institution. Das blonde Wasserzeichen des Senders.

Werd endlich wach!

Die Wände seines Schlafzimmers waren noch auf »lichtundurchlässig« geschaltet. Nur das selbst leuchtende Wandbild spendete ein wenig diffuse Helligkeit. Die holografische Darstellung zeigte eine unbestimmte Unterwasserlandschaft, tiefblau, mit einigen goldgetupften Fischen, die langsam im Uhrzeigersinn über die Wände zogen. Tiefrote Korallen. Die Becher der Polypen nickten fast unmerklich in der Strömung.

Routh fühlte sich plötzlich und für einen Moment unsicher auf den Beinen, gerade so, als ob Wellen von Erschütterungen durch seine Wohnung liefen.

Ein Erdbeben!

Er musste selbst lachen. Schon möglich. Aber wenn die Lithosphärentechniker nicht in einen Streik getreten waren und ihren seismischen Maschinenpark lahmgelegt hatten, der in der Tiefe der Erde gegen große Erschütterungen vorsorgte, war die Wahrscheinlichkeit, auf dem Weg zum Bad über einige weitere tote Kraniche zu stolpern, größer, als dass tatsächlich ein Erdbeben Terrania erschütterte.

»Wünschst du Kunstlicht – oder soll ich die Wand öffnen?«, fragte der Wohnungsservo.

Routh überlegte.

Sein Schlafraum hatte einen ovalen Grundriss; auch sein Bett war oval, eine hochwertige Pneumoliege aus pataralonischer Produktion. Die Liege befand sich ziemlich genau inmitten des Zimmers, der Kopfteil bei dem einen, das Fußende bei dem anderen Brennpunkt. So viel Feng Shui musste sein.

Eine der Längsseiten des Schlafraums ließ sich transparent schalten und erlaubte einen Ausblick auf Neu-Alashan.

Einen wirklichen Ausblick – kein Holo.

Routh war im Jahr 1406 NGZ geboren worden, über ein Jahrhundert, nachdem das ursprüngliche Alashan nach Thorrim in der Galaxis DaGlausch versetzt worden war. Lange Zeit war das Alashan-Reservat mit der Dscherro-Gedenkstätte und dem neuen TLD-Tower ein stadtnahes Naturschutzgebiet gewesen, geprägt von blassgrünen Klaaf-Hecken und kugelkronigen Leva-Bäumen von Thorrim.

Mit dem neuen Alashan hatte Matis Villa, der damalige Bürgermeister von Terrania, das alte nicht nachbauen wollen: Man soll nie zurückschauen, leuchtende Zukunft, zugleich die weit Hinausgetriebenen immer in unserer Mitte, unserem Herzen. Routh hatte diese Rede irgendwann einmal im Werbeholo für Neu-Alashan angesehen.

Eine blödsinnige Rede, voller Klischees. Aber er hatte sich doch für den Erwerb einer Wohnung entschlossen.

Villas forscher Erklärung zum Trotz hatten ein paar Nostalgiker einiges an Alashan-Nostalgie und Restauration durchgesetzt. Das Erholungszentrum ALE – das Ancient Landscapes' Empire – war eine exakte Kopie des in die Tiefen des Universums abgestrahlten Originals, und es stand sogar wie damals auch wieder ein Luxushotel namens El Que Faltaba im neuen Alashan.

Wenn die Außenwand transparent geschaltet war, konnte Routh durch die grüne Schneise des Hyperion-Parks in Richtung des Ringwalls von Terrania Space Port schauen und eines der großen Schiffe starten oder landen sehen, lautlos hinter den unsichtbaren energetischen Startgerüsten und Schallschirmen, die die Schiffe bis in eine Höhe von mehr als fünfzig Kilometern umgaben.

Konnte – musste aber nicht. Seine Wohnung befand sich fast auf Augenhöhe mit den Mammutbäumen des Parks. Die Bäume erreichten hundert Meter Höhe und mehr, und Rouths Räume befanden sich im 25. Stock der Wohnanlage Gee Ghy.

Übrigens lag auch das Zentralgebäude des SIN-TC in Sichtweite. Routh konnte zu Fuß in die Redaktion gehen, was er fast zweimal wöchentlich tat.

Die uralte, genetisch tief verankerte Neigung der Menschen, gemeinsam am Lagerfeuer zu sitzen und über Frauen, Jets und Urlaubspläne zu plaudern – statt praktisch und zeitsparend übers Holonetz zu kommunizieren.

Wenn Routh Licht durch die Außenwand strömen ließ, würde er den SIN-Tower sehen: das fast tausend Meter hohe, sehr ranke Bauwerk mit dem ausladenden, diskusförmigen Dach, das dem Tower das Aussehen eines zugleich größenwahnsinnigen wie magersüchtigen Champignons verlieh. Eine wunderbare architektonische Metapher für das Netzwerk, dachte Routh. Und ein Leben in Reichweite von Phaemonoes Haifischlächeln.

Routh ächzte. »Kein Licht hier«, entschied er endlich. »Nur im Bad. Mildes Licht. Milchig. Stell es auf ›Morgendämmerung‹.«

Er würde duschen gehen – nein, genau das würde er lassen. Zu nass. Und wahrscheinlich – er grinste schief – lagen noch ein paar tote, zusammengeträumte Kraniche in der Kabine. Er würde nur ein wenig Hygienegelee auftragen und sich davon reinigen lassen.

Er musste endlich seine Trägheit überwinden.

Also dann.

Rechts neben dem Torbogen, der vom Schlafraum ins Bad führte, hing immer noch Anicees Gemälde. Wann hatte sie es gezeichnet? Sie musste damals vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Es zeigte Anicee selbst, lachend wie ein Breitmaulfrosch, die Armstriche nach beiden Seiten ausgestreckt, die Hände wie Sterne. Die linke Hand war mit der Hand einer zweiten Figur verkrickelt und verbündet. Diese Figur stand mit furchtbar schiefer Schulter da. So schief, als wäre Anicee der Stift ausgerutscht. Darunter stand in erstaunlich runder Handschrift: »Dad ist da.«

Damals hatte er noch Dad geheißen und nicht Sham.

Die rechte Hand des Mädchens griff ins Leere. Ein Turm stand am Bildrand, also in großer Ferne. Das Ding ähnelte einer metallischen Blume, die über einem hingekrakelten Tümpel schwebte. Keine Menschenseele auf dieser Seite. Dazu die Erläuterung: »Ma regirrt.«

Ma regirrt. Wie ihn dieser kleine, aber hellsichtige Rechtschreibfehler damals gefreut hatte. Wie er ihn immer noch freute, auch wenn Anicee ihm längst entrückt war.

Routh löste seinen Blick und betrat das Bad. Er zog die Nachthose aus, warf sie ins Wäschesanitär und cremte sich Gesicht und Brust mit dem Gelee ein. Sofort erwärmte sich das Gelee. Langsam glitt es den Hals, die Brust, den Bauch, die Arme hinab.

Das Gelee weitete ihm die Poren, schwemmte alle Schmutzpartikel aus und absorbierte sie anschließend.

»Spiegelfunktion für die Kacheln?«, fragte der Servo.

»Nein.« Er wusste, was er sehen würde. Es wäre immer noch nur mittelgroß, immer noch schlank, mit den immer noch leicht schiefen Schultern, die er sich immer noch demnächst korrigieren lassen sollte. Dabei hatte Routh wie immer das Gefühl, aufrecht und geradeaus zu stehen, ein Sinnbild der Verlässlichkeit.

Mit den Spiegeln dieser Welt stimmte einfach etwas nicht. Er strich sich ein paar Strähnen des schwarzen Haars aus den Augen, die aber gleich wieder herunterrutschten.

Das Gelee war fertig und blubberte leise in Richtung Bodenabfluss. Die Hautporen kribbelten angenehm. Trotzdem fühlte Routh sich nicht besonders erfrischt. Ihm war, als bestünde der ganze Raum aus Gelee. Er fühlte sich müde, zerschlagen. Er konnte sich nicht recht konzentrieren.

Worauf auch?

Er versuchte, ein paar Sätze zu denken. Vorschläge, die er in einer Redaktionskonferenz SIN-TC unterbreiten könnte. Aber die Sätze blieben mit losen Enden in seinem Kopf hängen und verflüchtigten sich dann.

 

*

 

Immer noch hing ihm der Albtraum nach.

Die toten Kraniche.

Plötzlich stutzte er. »Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?«, grummelte er. Er trug anstelle eines MultiKoms nur Puc am Armgelenk, sein Implantmemo.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Wohnungsservo.

Routh zog die Brauen zusammen. »Wieso solltest du das nicht wissen?«

Das Zimmer zögerte eine ganze Ewigkeit. »Die Zeit hat ausgesetzt.«

Routh lachte auf. Natürlich. Was sonst. Und das Universum hat sich türkis gefärbt. Und Bull ist mit Adams durchgebrannt, um sich ein schönes, unsterbliches Leben zu machen.

Das Ding war defekt.

Das war allerdings ärgerlich. Der Servo war so neu wie die Wohnung. Wenn er nach so kurzer Zeit schon Schaden genommen hatte, würde sich Routh um eine Reparatur kümmern müssen, um einen Termin für die Reparatur, um all das, worum sich nach altem Brauch ein Wohnungsservo kümmern sollte.

»Weißt du wenigstens, wann ich zu Bett gegangen bin?«

Erschrocken stellte er fest, dass er sich nicht daran erinnern konnte.

»Du bist nicht zu Bett gegangen«, sagte das Zimmer. »Du bist eingeschlafen. Ich habe dich ins Bett gebracht.«

»Wo bin ich eingeschlafen?«

»Du bist aus dem Gemeinschaftskorridor gekommen und noch in der Lobby eingeschlafen. Im Stehen. Meinem Protokoll zufolge gestern Abend, am 5. September 1469 NGZ um 18.31 Uhr.«

»Im Stehen? Das hat dich nicht verwundert?«

»Das menschliche Verhalten ist nicht restlos berechenbar.«

»Warum hast du keinen Not-Mediker zu Hilfe gerufen?«

»Weil ich einen normalen Schlaf nicht zu den medizinischen Notfällen rechne.«

»Und wenn es kein normaler Schlaf war?«

»Alle mir zugänglichen Parameter wiesen auf einen normalen Schlaf hin.«

»Ich habe von toten Kranichen geträumt«, protestierte Routh.

»Das wusste ich nicht. Ich habe keinen Einblick in dein Traumgeschehen. Aber ein Traum von Vögeln scheint mir nicht unbedingt krankhaft. Vielleicht ein verkapptes erotisches Motiv? Ein Hinweis auf dein Liebesleben?«

»Es waren nicht einfach Vögel. Es waren tote Vögel.«

»Eben.«

Routh schüttelte den Kopf. Was für ein unergiebiges Gespräch. »Führ eine Selbstdiagnose durch«, wies er den Wohnungsservo an. »Puc aktiv«, murmelte er den Aktivierungskode für sein Implantmemo.

Das Gerät ähnelte einer altterranischen Armbanduhr. Das Band lag flach und breit um sein Handgelenk. Die Uhr wurde von einer sehr leicht gewölbten, kupferfarbenen Hülle bedeckt, in der er sich, wenn sie geschlossen war, spiegeln konnte.

In diesem Augenblick stieg aus der kupfernen Schale eine daumennagelgroße Figur, als tauchte sie geradewegs aus einem Kupfermeer auf. Sie saß, in einen Smoking gekleidet, auf einem Barhocker und lehnte an einem unsichtbaren Tresen.

»Hallo, Großer Bruder!«, sagte sie und prostete ihm mit einem winzigen Glas zu.